Hirte, Meister, Freund - Peter Zimmerling - E-Book

Hirte, Meister, Freund E-Book

Peter Zimmerling

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Beschreibung

Wer war Jesus? Sohn Gottes. Ganz Mensch und ganz Gott. Das ist dogmatisch korrekt, bleibt aber abstrakt und lebensfremd. Als "der Mensch für andere", sah ihn Dietrich Bonhoeffer. Auf dieser Spur geht Peter Zimmerling weiter und stellt dem Leser Jesus als Seelsorger vor. Er lässt lebendig werden, wie Jesus mit Verwandten, Freunden und Gegnern, Kranken und Gesunden, Juden und Ausländern und vielen anderen Menschen umging. Jesus sorgte sich immer um das, was die Seele des Menschen brauchte, mit dem er gerade sprach. Er wollte jeder und jedem Einzelnen den Weg zum Vater zeigen. Dabei reagierte er oft überraschend und sprengte jede Methode des seelsorglichen Gesprächs. Trotzdem lassen sich Konturen erkennen, die zeigen, wie Jesus Menschen begegnete. Wer den Menschen Jesus kennen lernen will und wer Menschen seelsorglich begegnen will, sollte dieses Buch lesen!

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Seitenzahl: 209

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Peter Zimmerling

HIRTE,MEISTER,FREUND

Überrascht vonder Seelsorge Jesu

Bibelstellen folgen der Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Bildnachweise:

S. 31:

Der Gute Hirte, Calixtus-Katakomben, gemeinfrei.

S. 31:

Der Gute Hirte, Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna, gemeinfrei.

S. 32:

Ikone „Christus und Abbas Menas“, Louvre, gemeinfrei.

S. 33:

Imervard-Kreuz, Braunschweiger Dom (Romanik), ©„Ev.-luth. Domkirche St. Blasii zu Braunschweig

S. 34:

Christus am Kreuz (Gothik), © Zwiebackesser/Adobe Stock

S. 34:

Christus-Statue, Altar der Dresdener Frauenkirche, © Philip Enticknap/Adobe Stock

S. 35:

Christus im Stil der „Nazarener“, Richard Mayer, Creative Commons Attribution 3.0 Lizenz.

© der deutschen Ausgabe:

2022 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagfoto: James Ross/stocksy.com

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-2123-2

ISBN E-Book 978-3-7655-7633-1

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Stimmen zu diesem Buch

Vorwort

1. Jesus, der Seelsorger ohne Methode

1.1 Die Seelsorge Jesu: individuell, vielfältig und paradox

1.2 Die Seelsorge Jesu als Blaupause für seelsorgliches Handeln heute?

2. Bilder und Titel für Jesus als Seelsorger

2.1 Das Bild des Guten Hirten

2.2 Das Bild der Henne

2.3 Das Bild des liebenden Vaters

2.4 Der Titel Heiland

2.5 Der Titel Meister

2.6 Der Titel Freund

2.7 Sich wandelnde Bedeutung der Bilder und Titel

3. In der Seelsorge Jesu: Beispielgeschichten aus den Evangelien

3.1 Seelsorge als Glaubenshilfe

3.2 Seelsorge als Zuspruch der Vergebung

3.3 Seelsorge als Lebenshilfe

3.4 Seelsorge an Seelsorgerinnen und Seelsorgern

4. Der Raum der Seelsorge Jesu: Konturen

4.1 Entdeckung der Würde des Einzelnen

4.2 Ausrichtung auf die Menschen am Rande

4.3 Seelsorge im Raum der Freiheit

4.4 Grenzüberschreitende Seelsorge

4.5 Ganzheitliche Seelsorge

4.6 Jesus als Seelsorger teilt sich selber mit

4.7 Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen

4.8 Seelsorge als Einübung in die Nachfolge

4.9 Seelsorge im Horizont der Ewigkeit

5. Was wir heute von der Seelsorge Jesu lernen können. Elf Thesen

Anhang: Jesus als Seelsorger – Ein weithin unerforschtes Feld

Anmerkungen

Stimmen zu diesem Buch

„Der Autor greift ein wenig behandeltes, aber aktuelles Thema auf. Jesus als Seelsorger ohne Methode ist ‚nächstenorientiert‘ und erreicht darum den heutigen Christen in seiner Einsamkeit, Selbstgewissheit, in seinem Versagen an dem armen, bedrängten, verfolgten Mitmenschen. Dieses Buch hilft uns, Jesus als Mitmensch neu zu sehen und weckt die Lust zu eigenen Entdeckungen in der heiligen Schrift.“

Dr. Dietrich Meyer, Archivdirektor a.D., Herrnhut

„Unter dem Druck zu fachlich-therapeutischer Kompetenz und professioneller Spezialisierung wird oft die Grundorientierung der christlichen Seelsorge vernachlässigt: in allen Herausforderungen den Spuren der Seelsorge Jesu zu folgen. Peter Zimmerling zeichnet dazu sachkundig und eindrucksvoll markante und auch heute relevante Schlüsselereignisse und Worte des ‚Seelsorgers Jesus‘ nach, wie sie in den Evangelien berichtet werden.“

Prof. emeritus Dr. Wolfgang Ratzmann, Leipzig

„‚Jesus, der Seelsorger ohne Methode‘, das ist ein Versprechen dieses Buches, das mich sofort angesprochen und herausgefordert hat.“

Pfarrer Michael Wacker, Haus der Stille, Weitenhagen bei Greifswald

„Jesus begegnet Menschen aller gesellschaftlicher Schichten von ausgestoßenen Ärmsten bis zu höchsten Würdenträgern und Machthabern. Stets hat er den Einzelnen im Blick und lässt sich nicht von Konventionen einschränken. Er sprengt Grenzen und Erwartungen und überrascht durch seine Zugewandtheit zu den Menschen. Peter Zimmerling ist es gelungen, ein Portrait von Jesus zu zeichnen, in dem diese Züge Kontur gewinnen. Darin seelsorgerliches Handeln zu entdecken, hat mir eine neue Sichtweise eröffnet.“

Michael Wolf, Offensive Junger Christen, Reichelsheim im Odenwald

Vorwort

Trotz Säkularisierung – vor allem in den westlichen, ursprünglich christlichen Ländern – ist Jesus die Person der Weltgeschichte, die bis heute das meiste Interesse auf sich zieht. Kein Jesus-Film, der nicht Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern in die Kinos lockte, und kein noch so schräges Jesus-Buch, das nicht seine Leserinnen und Leser fände. Das Christentum ist die Religion mit den weltweit meisten Anhängern. In seinem Zentrum steht der Glaube an Jesus als den von Gott gesandten Eretter der Welt. Selbst Muslime sind überzeugt, dass Jesus ein großer Prophet war, der im Namen Gottes zur Welt gesprochen hat. Auch Vertreter des Judentums haben in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Jesus als Bruder für sich entdeckt.1

Nur selten wurde in den letzten 100 Jahren das Wirken Jesu aus der Perspektive der Seelsorge betrachtet (Näheres hierzu findet sich im Anhang „Jesus als Seelsorger – Ein weithin unerforschtes Feld“, in dem auch die Frage der Zuverlässigkeit der Jesus-Überlieferung angesprochen wird). Zweifellos erschöpft sich seine Bedeutung für die Menschheit nicht in seinem seelsorglichen Handeln. Ich hoffe dennoch, zeigen zu können, dass es sich lohnt, Jesus unter dem Blickwinkel anzuschauen, wie er Menschen seelsorglich begegnet ist, weil er uns darin in besonders menschlicher – und, wie ich finde, sehr sympathischer – Weise vor Augen tritt. Viele Zeitgenossen stehen den traditionellen dogmatischen Aussagen über Jesus als dem Sohn Gottes distanziert gegenüber und können mit den altkirchlichen philosophisch-abstrakten Bestimmungen über die Zuordnung von Göttlichkeit und Menschlichkeit Christi wenig anfangen. Die Frage nach Jesus als Seelsorger legt dagegen den Fokus auf seinen Umgang mit anderen Menschen: mit Verwandten, Freunden und Gegnern, Frauen und Männern, Reichen und Armen, Kranken und Gesunden, politisch Einflussreichen und am Rand der Gesellschaft Befindlichen, Juden und Ausländern. Dadurch besteht die Chance, frei von dogmatischen Bestimmungen, die notwendigerweise abstrakt sind, seiner Bedeutung für uns heute auf einem selten begangenen Weg näherzukommen. Auf diese Weise eröffnen sich unbekannte, mindestens aber vernachlässigte, Perspektiven auf die Person und das Wirken Jesu.

Der bekannte Christ und Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), der wegen seiner Mitwirkung am Widerstand gegen Hitler kurz vor Kriegsende hingerichtet wurde, schrieb aus dem Gefängnis, dass ihn die Frage umtreibe, wer Jesus Christus für uns heute eigentlich sei.2 Er kommt zu dem Ergebnis, dass er „der Mensch für andere“3 ist. Bonhoeffer bringt hier die Bedeutung von Jesus für moderne, dem christlichen Glauben entfremdete, Menschen unabhängig von abstrakten dogmatischen Begriffen zum Ausdruck. Durch die leicht verständliche Formulierung wird die Hürde, sich mit Jesus zu beschäftigen, niedrig gehalten. Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit Jesus als Seelsorger: Sie zeigt ihn in seiner tiefen Menschlichkeit, geradezu idealtypisch „als Mensch für andere“.

Damit soll nicht bestritten werden, dass Jesus von Nazareth sich schon zu seinen Lebzeiten von anderen Menschen unterschied. Ein besonderer Glanz lag auf dem Leben dieses Mannes. Ihn umgab ein Geheimnis. In seinem seelsorglichen Handeln wird einerseits seine Menschlichkeit sichtbar, andererseits erscheint er ganz anders und unvergleichlich. Daran schieden sich schon damals die Geister: Während seine Anhänger von seiner göttlichen Sendung überzeugt waren, lehnten seine Gegner sie ab. Jesus löste durch seine Predigten und Wundertaten in Galiläa eine Volksbewegung aus. Viele Männer und Frauen Israels erkannten in ihm den von Gott verheißenen Befreier aus Unrecht und Unterdrückung. Menschen, die an ihrem Leben verzweifelten, erfuhren durch ihn Vergebung und bekamen eine zweite Chance. Andere wurden durch seine ungewöhnlichen Heilkräfte überzeugt: „Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden“ (Markus 7,37). Selbst sein Sterben am Kreuz vermochte den Glanz, der auf dem Leben Jesu lag, nicht völlig auszulöschen. Der römische Hauptmann, der Jesu Kreuzigung überwachte, rief angesichts seines Sterbens aus: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ (Matthäus 27,54). Der göttliche Glanz hatte auch seinen engeren Jüngerkreis, die sogenannten 12 Apostel, ergriffen. Darum gaben sie ihr bürgerliches Leben auf und begleiteten Jesus auf seinen Evangelisationsreisen zu Fuß durch Israel. Nach Ostern wurden sie in der ganzen damals bekannten Welt zu Zeugen seiner Auferstehung. Ich wünsche mir, dass die Leserinnen und Leser sich von ihrem Beispiel inspirieren lassen.

Vorformen des Buchmanuskripts habe ich mit theologischen Weggefährten und geistlichen Freunden diskutiert. Für Anregungen und Verbesserungsvorschläge habe ich vor allem zu danken: Dietrich Meyer, Wolfgang Ratzmann, Johannes Schütt, Michael Wacker und Michael Wolf. Margitta Berndt hat wie gewohnt die Endkorrektur übernommen: ganz herzlichen Dank auf dafür. Die Zusammenarbeit mit Uwe Bertelmann vom Brunnen Verlag war auch diesmal höchst erfreulich.

Leipzig und Potsdam im Herbst 2021

Peter Zimmerling

1.Jesus, der Seelsorger ohne Methode

1.1Die Seelsorge Jesu: individuell, vielfältig und paradox

Etwas provozierend könnte man sagen: Jesus hatte überhaupt keine bestimmte seelsorgliche Methode, sondern begegnete den Menschen mit der größten individuellen Vielfalt.4 Beim Lesen der Evangelien fällt zuallererst die große Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit auf, mit der Jesus Menschen seelsorglich begegnet ist.

Dieses Charakteristikum der Seelsorge Jesu zeigt sich schon in den ganz unterschiedlichen Forderungen, die er an Menschen stellt. Die Mitglieder des Zwölferkreises fordert er auf, Familie und Beruf zurückzulassen und ihn auf seinen Wegen durch Palästina zu begleiten (vgl. z. B. Markus 1,16-20). Der durch Jesus geheilte Gerasener will von sich aus in den Jüngerkreis eintreten und den Alltag fortan mit Jesus teilen. Das wird ihm jedoch verwehrt: „Aber er ließ es ihm nicht zu, sondern sprach zu ihm: Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Dinge der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat“ (Markus 5,19).

Als Jesus den Zollbeamten Zachäus besucht, verspricht dieser, die Hälfte seines Besitzes den Armen zu geben und die, die er betrogen hat, vierfach zu entschädigen (Lukas 19,1-10). Er ist sicherlich auch danach noch ein vermögender Mann geblieben. Nirgendwo findet sich ein Wort, dass Jesus von ihm verlangt hätte, seinen ganzen Besitz wegzugeben. Vom reichen Jüngling fordert er dagegen: „Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Markus 10,21).

Einerseits sind die Evangelien voll von ungewöhnlichen Wunderberichten. Jesus erweckte die Tochter des Jairus (Markus 5,21-43), den Sohn der Witwe von Nain (Lukas 7,11-17) und seinen Freund Lazarus vom Tod (Johannes 11,1-45), um drei herausragende Wundererzählungen zu nennen. Jesus weist seine Zuhörer sogar selbst auf die positive Bedeutung seiner Wunder für den Glauben hin: „Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir“ (Johannes 10,25; vgl. auch V. 38). Oder einige Kapitel später: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen“ (Johannes 14,11). Andererseits weist Jesus die Zeichenforderung der Pharisäer und Schriftgelehrten, die seinen Anspruch, der Messias zu sein, ablehnen, entschieden zurück: „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein“ (Matthäus 12,39f).

Jesus führt die Samariterin in einem längeren Gespräch am Jakobsbrunnen mit großer Geduld zur Erkenntnis, dass er der Messias ist. Ihre Begegnung gipfelt in den Worten: „Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet“ (Johannes 4,25f). Die Frau glaubt an ihn und legt in ihrer Heimatstadt von seinem Messias-Sein Zeugnis ab.

Vollkommen anders verläuft das Gespräch, das Jesus im gleichen Evangelium mit dem Skeptiker Pontius Pilatus führt. Jesus deutet seine Messianität nur in verhüllter Weise an: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. … Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. … Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (Johannes 18,36f; 19,11). Pilatus bleibt in seiner skeptischen Weltsicht gefangen: „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38).

Auf der einen Seite verkündigt Jesus die Liebe Gottes ohne Vorbedingungen und Vorleistungen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15) ist dafür das eindrucksvollste Beispiel. Auch die gemeinsamen Mahlzeiten, die Jesus mit Wirtschaftskriminellen und Prostituierten einnimmt, dokumentieren diese Liebe auf anschauliche Weise. Auf der anderen Seite fordert Jesus von Menschen, die ihm nachfolgen wollen, klare Entscheidungen. Der schon erwähnte reiche Jüngling steht beispielhaft dafür. Ein anderer Mann möchte, bevor er Jesus nachfolgt, erst seinen Vater begraben. Jesu Antwort: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“ (Lukas 9,60). Der Ruf in die Nachfolge duldet keinen Aufschub!

Einerseits bringt Jesus Frieden mit Gott, mit sich selbst und mit den Mitmenschen: durch das Angebot, Schuld bedingungslos zu vergeben, durch Heilung von inneren und äußeren Verletzungen und durch eine neue Ethik, wie er sie in der Bergpredigt entfaltet. Vom Gerasener, der von einer Legion unreiner Geister besessen war, heißt es, nachdem Jesus ihn befreit hatte, dass er „bekleidet und vernünftig“ dasaß (Markus 5,15). Andererseits zerstört Jesus falsche Harmonie, entlarvt schonungslos Selbstsucht, Selbstgerechtigkeit, Selbsttäuschung, Selbstbetrug und Heuchelei. Mit schneidenden Worten deckt er falsche Handlungsweisen auf, die in Tod und Verderben führen. Die Verkäufer, Käufer, Geldwechsler und Taubenhändler treibt er aus dem Jerusalemer Tempel hinaus und stößt deren Tische und Stände um mit der Begründung, dass der Tempel Gottes keine Räuberhöhle, sondern ein Bethaus sei (Matthäus 21,12-17). Jesus ist kein „erbarmungslos verständnisvoller“ Seelsorger!

An vielen Stellen in den Evangelien wird von der Vollmacht berichtet, mit der Jesus alle Menschen von Krankheiten heilte und aus Bindungen befreite. Im Gegensatz dazu wird in Markus 6,4f ausdrücklich festgehalten, dass Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth nichts tun konnte: „Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun …“ (Markus 6,4-5).

Auf der einen Seite lädt Jesus Menschen mit warmherzigen Worten in seine Nachfolge ein, um sich von ihm erquicken zu lassen: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. … denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Matthäus11,28f). Auf der anderen Seite kündigt er einzelnen Menschen, Gruppen und ganzen Städten das Gericht Gottes, Vernichtung und Tod, an: „Da fing er an, die Städte zu schelten, in denen die meisten seiner Taten geschehen waren; denn sie hatten nicht Buße getan: Wehe dir, Chorazin! Weh dir, Bethsaida! … Und du, Kapernaum, wirst du bis zum Himmel erhoben werden? Du wirst bis zur Hölle hinabfahren“ (Matthäus 11,20-24).

Wie ist diese Unterschiedlichkeit der seelsorglichen Begegnung mit seinen Zeitgenossen zu erklären? Der Mensch ist mithilfe der Logik des Aristoteles nicht zu erfassen, die davon ausgeht, dass wo ein Widerspruch ist, keine Wahrheit sein kann. Das Wesen des Menschen ist unendlich komplizierter! In der Seelsorge Jesu kommt das menschliche Leben in seiner ganzen Komplexität zur Sprache. Seine seelsorglichen Interventionen sind so paradox, wie das Leben komplex ist. Deshalb lässt sich seine Seelsorge weder methodisch noch inhaltlich auf einen Nenner bringen.5

Hinter der Paradoxität der Seelsorge Jesu steht eine Auffassung vom Menschen und von Gott, die selbst von großen Paradoxien geprägt ist. Einerseits wagt Jesus es, den Menschen in seiner ganzen Abgründigkeit anzuschauen und seine Verstrickung in Sünde, Tod und Teufel ungeschminkt beim Namen zu nennen. Seine Sicht reicht bis in die dämonischen Abgründe des Menschen hinab. Andererseits würdigt Jesus seine Fähigkeit, zu lieben und Verantwortung zu übernehmen. Der Blick in die Abgründe soll den Menschen weder kleinmachen noch entmündigen. Im Gegenteil: Die ungeschminkte Sicht der Wirklichkeit ist Voraussetzung für ein Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Indem Jesus beim Zöllner Zachäus einkehrt und dieser Wiedergutmachung leistet, erhält er seine menschliche Würde zurück: „… denn auch er ist ein Sohn Abrahams“ (Lukas 19,9).

Auch im Rahmen seines Gottesverständnisses denkt Jesus in großen Paradoxien. Gott ist für ihn kein „lieber Gott“. Der „liebe Gott“ ist eine Wunschvorstellung, die in keiner Weise der Wirklichkeit standhält und für die gegenwärtige Abwendung vieler Menschen vom christlichen Glauben mitverantwortlich ist. Für Jesus ist Gott zwar ein liebender Vater, wie an seiner Anrede „Abba“ erkennbar wird. Aber ebenso rechnet er mit dem Zorn und der Konsequenz Gottes im Kampf gegen die Sünde und die lebenszerstörenden Mächte des Bösen.

Hinter der Unterschiedlichkeit des seelsorglichen Handelns Jesu steht außerdem seine Einsicht in die menschliche Individualität. Jeder Mensch muss aufgrund seines besonderen Charakters und Werdegangs anders behandelt werden. In der Seelsorge gibt es deshalb keine wiederkehrenden „Fälle“. Dazu kommt noch die jeweils besondere Lebenssituation, in der sich jeder Mensch befindet: Unterschiedliche äußere Umstände machen ein gegensätzliches seelsorgliches Vorgehen notwendig. Schließlich hängt die Vielfalt seelsorglichen Vorgehens mit dem Ziel der Seelsorge Jesu zusammen. Wie die Bergpredigt zeigt, möchte er Menschen in ein „hohes, sorgloses Leben in Gott“6 hineinziehen: „Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. … Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft“ (Matthäus 6,25a.32b). Um dieses Ziel zu erreichen, sind bei jedem Menschen verschiedene Mittel und Wege nötig.

1.2Die Seelsorge Jesu als Blaupause für seelsorgliches Handeln heute?

Jesu Seelsorge zu imitieren, verbietet sich schon deshalb, weil jede Seelsorgerin und jeder Seelsorger genau wie jede und jeder Seelsorgesuchende eine eigenständige und unverwechselbare Persönlichkeit ist. Allein aus diesem Grund eignen sich die Seelsorgegeschichten der Evangelien nicht als Blaupause für heutiges seelsorgliches Handeln. Dazu kommt, dass Jesus keine spezielle Seelsorgemethode entwickelt hat, sondern gerade als „Seelsorger ohne Methode“ charakterisiert werden kann. Überdies besaß Jesus als der von Gott gesandte Messias seelsorgliche Vollmachten und Fähigkeiten, die ungetrübt von Sünde und Schuld waren. Das Neue Testament betont zwar, dass Jesus wirklich Mensch, also kein Übermensch war (Johannes 1,14). So heißt es vom jugendlichen Jesus ausdrücklich, dass er an Weisheit zunahm (Lukas 2, 52), d. h. die ganz normalen menschlichen Reifungsprozesse durchlief. Gleichzeitig wird aber festgehalten, dass er nicht gesündigt hat (Hebräer 4,15). Seine Seelsorge war daher nicht wie jede andere menschliche Seelsorge durch Projektionen, Fehleinschätzungen, Unaufmerksamkeit oder mangelnde Empathie gefährdet. Dazu kommt, dass die von Jesus vollbrachten Wunder messianischen Charakter besaßen und ihn als Messias ausweisen sollten. Johann Christoph Blumhardt sprach zu Recht von den „Reichswundern“ Jesu.7 Vor allem ist Jesus als der auferstandene Gekreuzigte, der lebt und gegenwärtig ist, in jedem Seelsorgegespräch bis heute das eigentliche Subjekt der Seelsorge. Er ist der unsichtbare Dritte, der zwischen dem Seelsorgesuchenden und dem Seelsorger steht. Als Mittler zwischen beiden sorgt er dafür, dass die seelsorgliche Begegnung gelingt. Jesus ist daher nicht einfach als der erste am Anfang einer langen Kette christlicher Seelsorger zu verstehen. Die Seelsorge Jesu, wie sie uns in den Evangelien vor Augen tritt, kann deshalb nur bedingt als Vorbild für heutige Seelsorge dienen. Vielmehr geht es darum, sie in reflektierter Weise als Impulsgeberin und Maßstab für heutige Seelsorge zu gewinnen. Ziel ist eine Seelsorge, die vom seelsorglichen Handeln Jesu, wie es in den Evangelien erkennbar wird, inspiriert und korrigiert wird.

Um aus der Seelsorge Jesu, wie sie in den Evangelien gezeichnet wird, Inspirationen und theologische Kriterien für die heutige christliche Seelsorge gewinnen und die Impulse auf unsere Situation heute übertragen zu können, müssen wir uns einerseits bewusst machen, dass das Wesen des Menschen, seine Beziehungen und seine Stellung vor Gott durch die Zeiten hindurch gleich geblieben sind. Das gibt den Seelsorgegeschichten der Evangelien die Bedeutung von klassischen Texten. Sie beschreiben den Menschen einschließlich seiner Konflikte paradigmatisch. Andererseits war der gleiche Geist Gottes in der Seelsorge Jesu am Werk, der bis heute in der christlichen Seelsorge wirkt.

In inhaltlicher Hinsicht liegt die Inspirationskraft der Seelsorge Jesu für heutiges seelsorgliches Handeln in der bedingungslosen Annahme des Sünders. Daher rührt ihre besondere Kraft. Die Reformation hat dieses besondere Merkmal der Seelsorge Jesu in ihrer Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade wiederentdeckt. Außerdem besaß die Seelsorge Jesu nach den Evangelien eine nicht zu unterschätzende Kraft, dem Bösen und Zerstörerischen zu widerstehen. Zu ihr gehörte die Dimension des Außergewöhnlichen. Sie zeichnete sich durch außergewöhnliche Charismen und Wunder aus. Darin stellt sie eine Provokation für die traditionelle kirchliche Seelsorge dar. Erst durch die Brille einer jahrtausendealten kirchlichen Tradition gelesen, haben die Seelsorgeerzählungen der Evangelien ihre Anstößigkeit verloren. Diese Erkenntnis ist wichtig, weil sie uns helfen kann, sensibel zu werden für das kritische Potenzial dieser Texte im Hinblick auf heutiges seelsorgliches Handeln.

Bei genauerem Hinschauen ergibt sich, dass das seelsorgliche Handeln des irdischen Jesus bereits unter seinen Zeitgenossen höchst umstritten war und er heftig um dessen Anerkennung kämpfte. Zwar konnten die Gegner Jesu den Erfolg seiner Heilungen und Exorzismen nicht bestreiten, aber sie behaupteten, dass er nicht im Namen Gottes, sondern in der Vollmacht des Teufels heilen und Dämonen austreiben würde (Lukas 11,14-26). Der Vorwurf ist sprichwörtlich geworden: „Den Teufel durch Beelzebub austreiben“. Die Heilungen, die Jesus vollbrachte, habe er nicht durch die Kraft Gottes, sondern die Vollmacht ägyptischer Zauberpriester bewirkt. Weil Jesus mit seinen Heilungen am Sabbat in den Augen seiner Gegner das Sabbatgebot übertrat, versuchten sie sogar, ihn zu töten (Markus 3,1-6). Sein Argument, dass auch sie am Sabbat einen in den Brunnen gefallenen Sohn oder sogar einen Ochsen befreien würden, überzeugte sie nicht (Lukas 14,1-6). Auch die Tischgemeinschaft Jesu mit Wirtschaftskriminellen und Prostituierten, die diesen die Liebe Gottes seelsorglich veranschaulichen sollte, rief aufseiten der Gegner Jesu heftigen Widerstand hervor. „Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“ (Lukas 15,2).

2.Bilder und Titel für Jesus als Seelsorger

In den Evangelien kommen eine Reihe von Bildern und Titeln vor, in denen sich die Seelsorge Jesu brennpunktartig verdichtet. Jesus vergleicht sich selber mit einem Guten Hirten, einer fürsorglichen Henne und einem liebenden Vater. Die Titel des Heilands, des Meisters und des Freundes erhält er entweder von seinen Zeitgenossen oder legt sie sich selbst bei. Herkunft und Bedeutung der genannten Bilder und Titel sind sehr unterschiedlich. Sie thematisieren die Seelsorge Jesu jeweils aus einem anderen Blickwinkel. Erst zusammen illustrieren sie sein seelsorgliches Handeln und verleihen ihm seine besondere Kontur.

2.1Das Bild des Guten Hirten

Das Bild des Guten Hirten besitzt in den Evangelien eine herausragende Bedeutung. Darüber hinaus wird es auch außerhalb der Evangelien im Neuen Testament verwendet, um die seelsorgliche Dimension des Handelns Jesu zum Ausdruck zu bringen: „Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen“ (1. Petrus 2,25). Im gleichen Brief nennt Petrus Jesus sogar den „Erzhirten“ (1. Petrus 5,4), den Hirten aller Hirten. Dabei reicht das Bild des Hirten einerseits bis in das Alte Testament zurück und steht andererseits in der Geschichte der Alten Kirche beherrschend an der Spitze der für Jesus gebrauchten Bilder.

Im alten Israel wird – im Gegensatz zum übrigen Orient – der Titel „Hirte“ nie als Königstitel verwendet.8 Der Titel bleibt Gott bzw. dem Messias vorbehalten und stellt diese zugleich als machtwie als liebevolle Hirten ihres Volkes dar. Von herausragender Bedeutung für die Vorstellung von Gott als Gutem Hirten sind im Alten Testament Aussprüche der Exilspropheten, die das Hirtesein Gottes gegenüber seinem Volk als Ganzem thematisieren, und Psalm 23, der das Hirtesein Gottes gegenüber dem einzelnen Menschen zum Inhalt hat.

Nach Hesekiel 34,11-16 wird Gottes Hirtesein gegenüber seinem Volk im Zurückbringen des Verirrten, im Suchen des Verlorenen, im Stärken des Schwachen und im Pflegen des Kranken konkret. Wie aus dem Gesamtzusammenhang des Kapitels hervorgeht, gehört zur Hirtentätigkeit Gottes gleichzeitig das Begrenzen und Unschädlichmachen des Bösen. Der Prophet hat dabei die schlechten Hirten des Volkes vor Augen, die ihre Regierungsaufgabe ins Gegenteil verkehren. Anstatt für die Schafe zu sorgen, die Schwachen zu stärken, die Kranken zu heilen, die Verwundeten zu verbinden, die Verwirrten zurückzubringen und die Verlorenen zu suchen, haben sie nur ihr eigenes Wohlergehen im Kopf. Sie weiden sich selbst, bereichern sich auf Kosten des Volkes und vernachlässigen ihre Regierungsaufgaben (V. 8). Voraussetzung dafür, dass Gott sich seines Volkes annehmen und seine Schafe weiden kann, ist, dass er sie aus der Gewalt der schlechten Hirten befreit: „So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen“ (Hesekiel 34,10).

Die ersten Christen gehörten allesamt zum jüdischen Volk. Das Alte Testament war die Bibel der jungen Christenheit. Es ist darum nicht verwunderlich, dass sie angesichts der römischen Besatzung Palästinas die prophetischen Verheißungen aus dem Alten Testament auf Jesus übertrugen. Sie glaubten, dass er der Gute Hirte war, der sie vom Joch der Römer und aller anderen selbstsüchtigen Hirten befreien würde (vgl. Johannes 10). Die frühe christliche Gemeinde fand vor allem in den Aussagen von Psalm 23 das Wirken Jesu als ihres guten Hirten wieder. Bis heute ist er im Christentum der beliebteste und bekannteste Psalm. Viele Menschen kennen ihn auswendig. Psalm 23 beschreibt in einprägsamer, anschaulicher Weise, warum Jesus, der Gute Hirte, vorbehaltloses Vertrauen verdient. Sicher hat zu seiner Beliebtheit beigetragen, dass in ihm das Hirtesein Jesu nicht auf die Gemeinde insgesamt, sondern auf den einzelnen Menschen bezogen wird. Der Gute Hirte sorgt für das leibliche Wohl: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser“ (Psalm 23,2). Aber er ist auch am seelischen Wohlergehen des Gläubigen interessiert: „Er erquicket meine Seele“ (V. 3). Wörtlich übersetzt heißt es: „Gott lässt mich zur Ruhe kommen; er lässt mich zu mir selbst finden.“ Wer in Gott den Ankerpunkt seiner Seele gefunden hat, findet dadurch auch zu sich selbst!

Der 23. Psalm war für die ersten Christen das Gebet kindlichen Vertrauens auf Jesus Christus. Dieses Vertrauen will der Psalm mit dem Bild vom Guten Hirten in jedem Menschen nähren. Ohne Vertrauen erstirbt das Leben. Pädagogen und Psychologen haben festgestellt: Je mehr Urvertrauen einem Kind vermittelt wird, desto unproblematischer wird es zum erwachsenen Menschen heranreifen.9