Morgen Kirche sein - Peter Zimmerling - E-Book

Morgen Kirche sein E-Book

Peter Zimmerling

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Beschreibung

Auch morgen wird es Kirche geben. Der Auftrag, Menschen einen Zugang zum Glauben zu ermöglichen und sich für die Gesellschaft einzusetzen, bleibt unabhängig von Mitgliederzahlen bestehen. Das Buch bietet eine Bestandsaufnahme und zeigt, wie Kirche und Gemeinde morgen aussehen könnten. Es wirft einen Blick ins Neue Testament und stellt exemplarische Stationen der Gemeindeentwicklung in der Geschichte der Kirche vor. Es folgen aktuelle Konzeptionen des Gemeindebaus sowie praktische Konkretionen wie z. B. die Erneuerung geistlicher Sprachfähigkeit oder offene Kirchen als missionarische Gelegenheit.

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Peter Zimmerling

Morgen Kirche sein

Gemeinde glauben, denken und gestalten

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutsch land; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Morgen Kirche sein_Adobe Stock_434755279_© mellsva

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99352-2

Inhalt

Geleitwort von Landesbischof Tobias Bilz

Zum Buch

1. Elf zusammenfassende Thesen zur Zukunft der Kirche

2. Gemeinde bauen unter den Bedingungen der Spätmoderne

2.1 Chancen und Grenzen

2.2 Begriffsklärungen: Kybernetik, Gemeindeaufbau, Oikodomik, Gemeindeentwicklung, Church Growth, Church Planting, Kirchentheorie, Fresh X

2.3 Gemeindebau als praktisch-theologisches Handlungsfeld – Versuch einer historischen Einordnung

3. Kirche und Gemeinde. Ein Blick in das Neue Testament

3.1 Die Hauskirche

3.2 Die vierfache Sozialgestalt der Kirche

3.3 Die vom Geist Gottes begabte Gemeinde

3.3.1 Jeder ist begabt

3.3.2 Jeder ist unterschiedlich begabt

3.3.3 Jeder ist zum Nutzen aller begabt

3.3.4 Die Charismen weisen über sich selbst hinaus

4. Kirche und Gemeinde im Verlauf der Geschichte: sieben exemplarische Stationen

4.1 Alte Kirche und frühes Mittelalter: Herausbildung der Parochie

4.2 Mittelalter: Entstehung der abendländischen Orden

4.3 Reformation: Hauskirche und Parochie

4.4 Pietismus: »ecclesiola in ecclesia« – Kirchlein in der Kirche

4.5 Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834): Personalgemeinde

4.6 Emil Sulze (1832–1914): Vereinskirche

4.7 Das Problem der toten Gemeinde – Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) Forderung nach Umstrukturierung des traditionellen Parochialsystems

4.7.1 Praktische Schritte des Gemeindebaus in toten Gemeinden

4.7.2 Revolutionäre strukturelle Konsequenzen angesichts toter Gemeinden – damals und heute

5. Ekklesiologische Grundentscheidungen

5.1 Theologische und spirituelle Essentials des christlichen Glaubens

5.1.1 Ein trinitarisches Gottesverständnis

5.1.2 Die Bibel als Inspirationsquelle und Korrekturinstanz

5.1.3 Rechtfertigung allein aus Gnaden

5.1.4 Kein Glaube ohne Kirche

5.1.5 Zusammengehörigkeit von Kontemplation und Aktion

5.1.6 Notwendige Impulse der Mystik für den evangelischen Glauben heute

5.2 Die notwendige »Selbstzwecklichkeit« der Kirche (Dietrich Bonhoeffer)

5.3 Die Gestalt kirchlicher Ordnung und Ämter

5.4 Notwendigkeit gelebter Nachfolge

5.5 »Ja« zur privilegierten Partnerschaft zwischen Staat und Kirche

5.5.1 Ausgangspunkt: Minderheitenkirche mit volkskirchlichen Strukturen

5.5.2 Fortschreitende Entinstitutionalisierung und Entkirchlichung

5.5.3 »Kirche auf dem Markt« (Peter L. Berger): von der Mitgliedschaft durch Geburt zur Freiwilligkeitskirche

5.5.4 Ziel: »Kirche in der Zivilgesellschaft« (Wolfgang Huber)

5.6 Verkündigung des Evangeliums und gesellschaftliche Mitverantwortung als die beiden Brennpunkte kirchlichen Handelns

5.6.1 Biblische Begründung

5.6.2 Konkrete Umsetzung

5.7 Kirche und Theologie als wahrheitssuchende Gemeinschaften: die Notwendigkeit religiöser Bildung und Kultur

5.7.1 Biblische Begründung

5.7.2 Konkretionen

5.8 Mission: begeistert und vielstimmig

5.8.1 Zur Situation heute: missionarische Wende in Kirche und Theologie?

5.8.2 Auf dem Weg zu einer Neufassung des christlichen Wahrheitsanspruchs angesichts von Pluralismus und Postmoderne: Konvivenz, Dialog, Mission

5.8.3 Zukünftige Herausforderungen. Thesen

6. Eine Vielfalt von Konzeptionen des Gemeindebaus. Eine Auswahl

6.1 Die Bedeutung der Konzeption für den Gemeindebau

6.2 Volkskirchliche Ansätze

6.2.1 Der gottesdienstorientierte Ansatz

6.2.2 Der empirische Ansatz: Beispiel Gemeinwesenarbeit

6.2.3 Der kommunikative Ansatz: Beispiel Gemeindeberatung

6.3 Missionarische Ansätze

6.3.1 Der ökumenisch-missionarische Ansatz

6.3.2 Der evangelistisch-missionarische Ansatz

6.3.3 Der charismatische Ansatz: das Konzept der »geistlichen Gemeinde-Erneuerung«

6.3.4 Gemeindeaufbau durch Gemeindeneugründung – Churchplanting

6.4 Vermittlungskonzepte

6.4.1 Die »Doppelstrategie« der VELKD

6.4.2 Betriebswirtschaftlich orientierte Ansätze

6.4.3 Fresh X – eine neue Form von Gemeinde (von Martin Henninger, Frankenthal)

7. Zur Praxis des Gemeindeaufbaus: exemplarische Konkretionen

7.1 »Eine neue Sprache – befreiend und erlösend« (Dietrich Bonhoeffer). Geistliche Sprachfähigkeit wiedergewinnen

7.1.1 Spurensuche: Drei Beispiele aus der Alltagsseelsorge zur Beschreibung der säkularen Situation in Leipzig

7.1.2 Grundlegungen

7.1.3 Dietrich Bonhoeffers Programm einer »nicht religiösen Interpretation biblischer Begriffe« zur Wiedergewinnung geistlicher Sprachfähigkeit

7.1.4 Zwei Beispiele für gelungene geistliche Sprachfähigkeit in der Gegenwart

7.1.5 Konsequenzen. Sechs Thesen

7.2 Offene Kirchen als missionarische Gelegenheit

7.2.1 Zwei persönliche Erfahrungen

7.2.2 Das rein funktionale Verständnis von Kirchenräumen und seine Überwindung

7.2.3 Neuere praktisch-theologische Deutungen von Kirchenräumen

7.2.4 Ursachen für die heutige Attraktivität von Sakralräumen

7.2.5 Konkrete missionarische Gelegenheiten

7.2.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Umnutzung von Kirchen

7.3 Kommunitäten und Einkehrhäuser als evangelische Gnadenorte

7.3.1 Ein kurzer Blick zurück

7.3.2 Kommunitäten und Häuser der Stille als Zentren evangelischer Spiritualität

7.3.3 In Kommunitäten und Häusern der Stille primär gepflegte Formen der Spiritualität

7.3.4 Die Notwendigkeit von spirituellen Zentren wie Kommunitäten und Einkehrhäusern für die Zukunft der Gesamtkirche

7.4 Pilgern heute – eine theologische und spirituelle Herausforderung und Chance für Kirche und Theologie

7.4.1 Persönliche Vorbemerkungen

7.4.2 Drei theologische Problemfelder

7.4.3 Spirituelle Herausforderungen

7.5 Erprobungsraum: senfkorn. STADTteilMISSION Gotha (von Ute Paul, Gotha)

7.5.1 Die Vorgeschichte

7.5.2 Grundverständnis der senfkorn. STADTteilMISSION

7.5.3 Mit Gottes Wirken rechnen

7.5.4 Das Team als Community

7.5.5 Ausblick

7.6 »GLAUBE.DIGITAL«, ein Arbeitsbereich der überkonfessionellen christlichen Missionsgesellschaft Campus für Christus. Ein Interview mit dessen Leiter Jochen Geck (Berlin)

Nachwort vom Ratsvorsitzenden i. R. Nikolaus Schneider

Literaturverzeichnis

Geleitwort von Landesbischof Tobias Bilz

Ich übertreibe nicht, wenn ich verrate, dass die Fragen nach der Gestalt der Kirche von morgen meine ständigen Begleiter sind. Ob ich mich mit Ehrenamtlichen oder Hauptberuflichen treffe, Gemeinden besuche oder an Beratungen von leitenden Gremien teilnehme, immer ist auf die eine oder andere Weise die Ahnung im Raum, dass wir in unseren verfassten evangelischen Kirchen vor tiefgreifenden Umbrüchen stehen oder schon mittendrin stecken. Viele fragen sich bange, was von der Kirche übrig bleiben wird, wenn alle gegangen sind, die das jetzt oder bald beabsichtigen, und immer weniger sich für die Taufe (ihrer Kinder) entscheiden. Andere halten freilich hoffnungsvoll nach einer neuen Gestalt von Kirche Ausschau, weil sie den aktuellen Druck durch Mitgliederschwund und Skandale, Krisen und Bedeutungsverlust eher als Geburtswehen für eine neue Kirche deuten.

Zu welcher Gruppe man sich zählt, hängt durchaus davon ab, wie stark man sich den Ausdrucksformen und Lebensäußerungen unserer traditionellen Kirche verbunden fühlt. Was für die einen »weg kann«, ist für die anderen geliebte geistliche Heimat.

Mir kommt es manchmal so vor, als ob wir uns noch in einem Stadium der Unentschiedenheit befinden. Es ist in unseren Gemeinden und Diensten so viel Lebendiges und Verheißungsvolles zu finden. Was davon sollen wir aufgeben? Zugleich bekommen wir die Hände nicht für Neues frei, solange wir alles festhalten wollen, was noch wertvoll erscheint. Wie kommen wir heraus aus diesem Dilemma?

Hinzu kommt, dass viele kirchliche Akteure und Akteurinnen sehr wohl eine Ahnung haben, wohin es gehen könnte. Sie spüren hier und dort Ansätze neuen Lebens und machen sich auf den Weg ins unbekannte Land, ohne darauf zu warten, dass die Amtskirche mit ihren teils umständlichen Entscheidungswegen ihnen dafür einen Auftrag erteilt. Das setzt die unter Druck, die lieber in Ruhe Chancen und Risiken abwägen, bevor sie weitreichende Entscheidungen treffen. Wer hat wirklich den Schlüssel für die Trendwende? Liegt die nicht viel weniger in unserer Hand, als wir meinen? Brauchen wir nicht zuerst eine tiefgreifende geistliche Erneuerung, damit wir mit neuer Kraft und zukunftsträchtigen Ideen ins Gestalten der Kirche von morgen hineinkommen?

In das dreifache Spannungsfeld von Bewahren und Bewegen, Gottes Wirken und menschlichem Beitrag sowie äußerer Gestalt und innerer Substanz hinein hat Peter Zimmerling sein Buch geschrieben. Es ist das geworden, was man einen »Wurf« nennt. Woran liegt das? Zimmerling widersteht der Versuchung, die genannten Gegensätze aufzulösen. Zugleich bleibt er nicht im Ungefähren. Vielmehr benennt er sehr konkret, worin er die Chancen der aktuellen Situation sieht und wünscht seiner Kirche, diese mutig zu ergreifen. Nirgendwo finde ich einen erhobenen Zeigefinger. Da ist auch keine Distanz zu spüren, Distanz zu einer Kirche, der er keine Zukunft mehr geben würde. Stattdessen traut er der vielfältig begabten Gemeinde zu, unter der Führung des Geistes Gottes die Wege unter die Füße zu nehmen, die vor ihr liegen.

Das alles ist bei Peter Zimmerling nicht (nur) eine Frage von persönlicher Überzeugung. Er stürzt sich buchstäblich hinein in die vielfältigen Äußerungen kirchlichen Lebens der Gegenwart, prüft Erneuerungsansätze auf ihre Substanz hin und gewichtet sowohl theologische Grundüberzeugungen als auch konkrete Erfahrungen. Seine Maßstäbe dafür gewinnt er aus Theologie und Kirchengeschichte. Damit wird sein Buch ganz nebenbei zu einem tragenden Fundament für diejenigen, die sich nicht nur auf ihre persönliche Erfahrung und Einsichten verlassen, sondern gut begründete Entscheidungen treffen wollen.

Wenige Dinge, die mich besonders stark ansprechen, möchte ich konkret benennen. An erster Stelle steht für mich, dass Peter Zimmerling zunächst nach der Identität von Kirche fragt, bevor er überlegt, was zu tun ist. Er weiß davon, dass wir zuerst durch das ausstrahlen, was wir sind. Danach kommt, was wir unternehmen. Wenn unsere Worte und Taten nicht in unserer Existenz und somit auch in unserer Bestimmung als Kirche gegründet sind, werden sie ihre Wirkung nicht ausreichend entfalten können.

Davon abgeleitet befasst sich Peter Zimmerling mit dem, was uns als landeskirchlich verfassten evangelischen Christen und Christinnen gegeben ist. Wir können seiner Meinung nach auf wesentliche Erfahrungen und Einsichten zurückgreifen, die tragfähig waren und es auf neue Weise wieder werden könnten. Ich spüre auf vielen Seiten dieses Buches eine große Liebe zur Volkskirche mit ihren Stärken und Schwächen. Es kommt mir so vor, als ob Peter Zimmerling darauf abzielt, dass die Leserinnen und Leser seines Buches mehr die vorhandenen Potentiale der Kirche wahrnehmen und nutzen, als sich an ihren Grenzen abzuarbeiten.

Am Ende des Buches gibt es einen Blick auf verheißungsvolle neue Ansätze von Gemeinde- und Kirchenentwicklung. Sie sind zur Ermutigung und Inspiration gedacht. Auf die eine oder andere Weise ragt die Zukunft immer in die Gegenwart hinein. Deshalb wird der suchende Blick nach vorn gebraucht, der mit einem prophetischen Sensor erspürt, was Neues kommen will. Mit diesem Blick schaut Peter Zimmerling auf das, was Menschen in unterschiedlichen Projekten und Initiativen erproben. Diesen Blick wünsche ich auch den Leserinnen und Lesern, die zu diesem Buch greifen. Mögen sie durch die Lektüre ermutigt werden, ihre eigenen Einsichten mit Hilfe des Gelesenen zu schärfen und daraus Schlussfolgerungen für ihren Beitrag für die Kirche von morgen zu ziehen.

Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens Tobias Bilz, Dresden

Zum Buch

Ich lebe seit 18 Jahren in Leipzig, einer Stadt, deren Bürgerinnen und Bürger zu 85 % keiner christlichen Kirche angehören. Nur ungefähr 11 % sind Mitglieder der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und 4 % gehören zur römisch-katholischen Kirche.1 Mitglieder von Freikirchen fallen statistisch nicht ins Gewicht. Meine Überlegungen sind daher geprägt von der Perspektive eines ostdeutschen Hochschullehrers. Manche theologische Positionen, die ich aus meiner Zeit in Hessen und Baden-Württemberg mitgebracht hatte, verloren in Leipzig ihre Plausibilität. Die kontinuierliche Beschäftigung mit Dietrich Bonhoeffer half mir, die eigenen Gedanken zu präzisieren. Die überwiegende Konfessionslosigkeit der Bevölkerung in Ostdeutschland ließ für mich die Frage nach der Zukunft von Kirche und Theologie von Anfang an besonders dringlich erscheinen. Vielleicht kann der ostdeutsche Blick helfen, deren Zukunft in Deutschland insgesamt »ungeschminkter« wahrzunehmen, als das vom Westen aus möglich ist.

Überlegungen zur Zukunft der Kirche sollten aus einer Haltung der Dankbarkeit erwachsen für das, was Gott durch die christlichen Kirchen dem Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt in der Vergangenheit geschenkt hat. Sie haben uns das Evangelium vermittelt, indem sie die Bibel bewahrten. Mir ist bewusst, dass in vielen gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Diskursen nicht die Dankbarkeit, sondern stattdessen die Kritik das Bild bestimmt. Aber wie schon Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis feststellte, ist Dankbarkeit die unerlässliche Voraussetzung für klare und ruhige Gedanken und für einen langen Atem.2 Es geht bei der Dankbarkeit nicht um ein sentimentales Gefühl. Dankbarkeit ist vielmehr ein in ganz konkreten Erfahrungen und Hoffnungen begründeter Lebenshorizont, der vom persönlichen Leben ausgehend gesellschaftliche Dimensionen mitumfasst. Nur in dieser unaufgeregten Nüchternheit werden sich die im Hinblick auf die Zukunft der Kirche notwendigen Einsichten gewinnen und umsetzen lassen.

Dabei sollte zunächst festgehalten werden: Der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, bleibt unabhängig von Größe und Gestalt der Kirche allezeit in Kraft: »Gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe« (Mt 28,19 f.). Von dieser Auftragsgewissheit her werden alle strukturellen Fragen relativiert. Überdies ist damit im Hinblick auf die zukünftige Gestalt der Kirche ein Spielraum der Freiheit eröffnet.

Aus der lutherischen Perspektive auf den Menschen kommt noch etwas anderes hinzu: Wenn es stimmt, dass das Wesen des Menschen darin besteht, ein von Gott geliebter und zu rechtfertigender Sünder beziehungsweise eine Sünderin zu sein, bleibt das Evangelium von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott von zeitloser Aktualität. Egal, wie groß das religiöse Interesse in einer Gesellschaft jeweils ist, es wird immer Menschen geben, die sich in ihrer Sehnsucht nach Vergebung und Neuanfang vom Evangelium ansprechen lassen. Vielleicht ist das Evangelium nicht systemrelevant – was in einer zunehmend säkularen Gesellschaft wahrscheinlich nur folgerichtig ist –, es ist und bleibt jedoch existenzrelevant.3

Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments sind das geistliche Amt und die christliche Gemeinde gleichursprünglich. Daraus ergibt sich einerseits die notwendige Reintegration des Amtes in die Gemeinde, andererseits aber seine Unverzichtbarkeit für die Kirche. Aus Sicht der reformatorischen Theologie ist mit dem Amt die Forderung des allgemeinen Priestertums verbunden. Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann sprach in diesem Zusammenhang von der »vielleicht kühnste[n] theologische[n] Idee, die Luther je gehabt hatte«.4 Konkret leitet sich daraus ab, dass im Prinzip sämtliche Gemeindeglieder ein Amt haben. Wenn die Rede vom allgemeinen Priestertum keine Ideologie bleiben soll, führt sie zur mündigen Gemeinde – und zwar nicht nur im politischen, sondern auch im theologischen Sinn. Alle Gemeindeglieder sind in unterschiedlicher Weise vom Geist Gottes begabt, und es geht in der Kirche darum, dass diese Begabungen entdeckt, gefördert und eingebracht werden.

In diesem Zusammenhang legt sich auch eine Neuausrichtung des hauptamtlichen pastoralen Amtes nahe. Seine Aufgabe bestünde in Zukunft verstärkt darin, als Gesprächspartner und Mentor für die ehrenamtlich Mitarbeitenden zur Verfügung zu stehen. Konkret z. B. die Mitglieder des gemeindlichen Besuchsdienstes regelmäßig zum Austausch einzuladen, um ihnen auf diese Weise eine Form von Supervision anzubieten. Unabhängig von allen notwendigen Wandlungen der Gestalt des Pfarramtes in Zukunft wird seine spirituelle Bestimmung gleich bleiben. Es geht darin nicht primär um Karriere oder Selbstverwirklichung, sondern um den Dienst für Gott.

Eine wesentliche Konsequenz aus der Erkenntnis der mündigen Gemeinde besteht überdies darin, dass die bisher vorherrschende Struktur der Kirche von oben nach unten, das heißt vom jeweiligen Landeskirchenamt oder Oberkirchenrat zur Ortsgemeinde, zur Diskussion gestellt werden sollte. In den vergangenen Jahren ist vielfach die Ortsgemeinde auf Kosten übergeordneter Strukturen vernachlässigt worden. In den kommenden Jahren wird der Pfarrerinnen- und Pfarrermangel diesen Trend noch verstärken. Um keine weißen Flecken kirchlich unversorgter Gebiete entstehen zu lassen, musste das von Pfarrerinnen und Pfarrern zu versorgende Gemeindegebiet sukzessive vergrößert werden – je nach personellen und finanziellen Ressourcen einer Landeskirche in unterschiedlichem Maße. Vom Neuen Testament, aber auch von der reformatorischen Theologie her, wäre eine Umkehrung dieser Entwicklung nötig. Dazu ist jedoch ein Paradigmenwechsel notwendig: die kirchenamtliche Verabschiedung von der Vorstellung der flächendeckenden pastoralen Versorgung. Sukzessive, in einem langsamen Umbauprozess, sollten nur noch die Gemeinden bestehen bleiben, die lebendig sind (zugegebenermaßen ein ziemlich weiches Kriterium) und sich selbst erhalten können. Sinnvoll wäre eine damit verbundene Veränderung der bisherigen kirchlichen Finanzstruktur: Alles Geld sollte zunächst der jeweiligen Einzelgemeinde zukommen und von dort ein bestimmter Prozentsatz für die Unterstützung finanzschwacher Gemeinden und übergemeindliche Aufgaben bereitgestellt werden. Daraus ergibt sich logischerweise der Rückbau der kirchlichen Verwaltungsstrukturen, der auch angesichts abnehmender Kirchenmitgliedschaftszahlen naheliegend wäre. Ich könnte mir ein ähnliches Modell vorstellen, wie es für die lutherischen Kirchen in den USA prägend ist: kein rein freikirchliches Modell, aber doch eine Stärkung der einzelnen Gemeinden und damit der kirchlichen Basis.

Marion Gräfin Dönhoff, die langjährige Herausgeberin der »Zeit«, brachte in verschiedenen Interviews vor ihrem Tod die Überzeugung zum Ausdruck, dass ein Mensch sich nur dann verändert, wenn er nicht anders kann. Ich denke, dass das auch für Gemeinschaften, Organisationen und Institutionen wie die Kirche gilt.

Der Gedankengang des Buches folgt – nach einigen notwendigen Begriffsklärungen – dem für meine Praktische Theologie konstitutiven Dreischritt: Geschichte, Theologie, Praxis. Ihm vorangestellt ist ein Ausblick zur Zukunft der Kirche in Form von elf Thesen.

Zu danken habe ich einer Reihe von Personen, die am Werden des Buches Anteil hatten: meinem Studienfreund und langjährigen württembergischen Pfarrer Reinhard Sayer (Zwerenberg), meinen Mitarbeitern Michael Klein (inzwischen Tübingen) und Kevin Hosmann (Harztor), Margitta Berndt (Herrnhut), die wiederum die Endkorrektur übernommen hat, und Jana Harle und Carlotta Koch für die fabelhafte Begleitung vonseiten des Verlags. Dass Landesbischof Tobias Bilz und Ratsvorsitzender i. R. Nikolaus Schneider ein Geleit- beziehungsweise ein Nachwort verfasst haben, ist für mich mehr als ein freundliches Zeichen unserer langjährigen Verbundenheit.

Leipzig, im Frühjahr 2023

Peter Zimmerling

1 Laut Statistischem Jahrbuch der Stadt Leipzig.

2 Vgl. dazu z. B. Bonhoeffer (1992, S. 64): »Liebste Maria, wir wollen doch bei allem täglichen Hoffen und Bitten um ein baldiges Wiedersehen und Zusammensein keinen Tag vergessen, Gott für das unendlich Viele zu danken, das er gegeben hat und noch täglich gibt. Dann werden alle unsere Gedanken und Pläne klarer und ruhiger werden und wir werden unser persönliches Schicksal leicht und willig auf uns nehmen.«

3 So Wolfgang Huber in seinem Festvortrag vor der Rheinischen Genossenschaft des Johanniterordens in Düsseldorf-Kaiserswerth am 5.9.2020.

4 Vgl. Kaufmann (2013).

1. Elf zusammenfassende Thesen zur Zukunft der Kirche

1. Die Kirche braucht ein Bewusstsein ihrer »Selbstzwecklichkeit«, muss selbstgewiss Kirche sein wollen.

Zwar sind gerade Dietrich Bonhoeffers Überlegungen von einer »Kirche für andere«5 weltweit bekannt geworden. Es war aber derselbe Bonhoeffer, der kurz vor seiner Inhaftierung von der notwendigen »Selbstzwecklichkeit« der Kirche sprach und beklagte, dass das Bewusstsein dafür im Protestantismus weithin unterentwickelt sei.6 Die Selbstzwecklichkeit der Kirche ist gerade wegen ihres »Für-andere-daseins«, wie Bonhoeffer im »Entwurf für eine Arbeit« in »Widerstand und Ergebung« die Aufgabe der Kirche definiert, unverzichtbar.7

Paradoxerweise ist tatsächlich die Berücksichtigung der »Selbstzwecklichkeit« der Kirche die Voraussetzung dafür, dass sie ihren universalen Auftrag erfüllen kann. Nur eine Kirche, die sich ihrer selbst gewiss ist, kann Menschen kraftvoll das Evangelium verkündigen – wobei Selbstgewissheit Unaufdringlichkeit und Unaufgeregtheit impliziert. Essenzieller Bestandteil ihrer Verkündigung ist dabei der Ruf in die Gemeinschaft der Kirche. Mit Bonhoeffers Worten: »Die Kirche als eigenes Gemeinwesen steht also unter einer doppelten göttlichen Bestimmung, der sie gerecht zu werden hat, der Ausrichtung auf die Welt und gerade darin der Ausrichtung auf sich selbst als der Stätte der Gegenwart Jesu Christi. Es ist die Eigenart der Kirche als eines eigenen Gemeinwesens, dass [sie] in der Umgrenztheit ihres eigenen geistigen und materiellen Bereiches die Unbegrenztheit der Christusbotschaft zum Ausdruck bringt und dass gerade die Unbegrenztheit der Christusbotschaft wieder in die Begrenztheit der Gemeinde hineinruft.«8 Das Kirchesein gehört daher, wie schon das Glaubensbekenntnis zeigt, nicht nur zur Form, sondern auch zur Substanz des christlichen Lebens. Auf Dauer ist kein Christsein ohne Gemeinde und Kirche überlebensfähig. Das wird spätestens im Blick auf die Weitergabe des Glaubens an die nachwachsende Generation deutlich. Eltern sind völlig überfordert, wenn sie darin nicht von gemeindlichen Aktivitäten wie Kindergottesdienst, Jungschar, Religionsunterricht, Konfirmandenarbeit, Jugendarbeit etc. unterstützt werden.

Die Frage ist, ob es in einer von zunehmendem Individualismus geprägten Gesellschaft wie der unseren möglich ist, diese Überlegungen zum Kirchesein auch an Zeitgenossen zu vermitteln, die dem Glauben distanziert gegenüberstehen. Ich denke, dass das durchaus möglich ist. Denn die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist aufgrund von zunehmender Einsamkeit in der Gesellschaft groß. Dabei können Gemeinschaftsangebote auf Zeit eine Brücke sein. Ich denke etwa an geistliche Konzertprojekte und das Angebot von gemeinsamen Fastenwochen und von Pilgertagen. Auch der Deutsche Evangelische Kirchentag stellt ein zeitlich begrenztes Gemeinschaftsangebot dar und bietet gerade jungen Menschen die Möglichkeit, die soziale Dimension evangelischer Spiritualität zu erfahren.

2. Spätestens die Geschichte der DDR hat gezeigt, dass ein unaufhebbarer Unterschied zwischen Kirche und Welt besteht, der für das Wesen der Kirche konstitutiv ist.

Auch wenn zu DDR-Zeiten vonseiten mancher kirchlicher Gruppen und Repräsentanten versucht wurde, diesen Unterschied zu verwischen, hat das SED-Regime die Kirchen immer wieder auf die bleibende weltanschauliche Differenz hingewiesen. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es umgekehrt auch Versuche des Staates gab, die Kirche für seine Zwecke zu vereinnahmen und auf diese Weise seinerseits den Unterschied zwischen Kirche und Welt unkenntlich zu machen. Heute sorgen in Sachsen mehr als 75 % Konfessionslose dafür, dass dieser Unterschied unübersehbar ist. Deren Konfessionslosigkeit ist meist ererbt, und nicht – wie im Westen häufig – erworben. Es gibt inzwischen in vielen Familien eine stabile agnostische Identität. Konfessionslosigkeit gilt als das Natürliche und Normale. Die überwiegende Mehrheit der Konfessionslosen kann offensichtlich gut ohne christlichen Glauben und Kirche leben.

Wiederum stellt sich die Frage, wo es in der Kirche Räume für das Gespräch mit Konfessionslosen, mit Agnostikern und Atheisten, gibt. Ich fürchte, dass die meisten Kirchgemeinden – vor allem, aber nicht nur im Osten – an dieser Stelle überfordert sind. Sie bilden aufgrund ihrer jahrzehntelangen Distanz zur übrigen Gesellschaft weithin geschlossene Milieus, zu denen Nicht-dazu-Gehörende kaum Zugang finden. Dafür könnten evangelische Akademien und die evangelische Erwachsenenbildung entsprechende Plattformen zur Verfügung stellen. Ihre Programmorientierung erlaubt eher als die gemeinschaftsorientierten Ortsgemeinden eine Teilnahme bei Gelegenheit. Lebenspraktische und seelsorgliche Themen beschäftigen alle Menschen. Wenn überhaupt, wollen sie den Glauben nicht nur denken, sondern vor allem auch erfahren.

3. Eine wichtige Aufgabe der evangelischen Landeskirchen wird auch in Zukunft in der Pflege der im Grundgesetz verankerten privilegierten Partnerschaft zwischen Staat und Kirche bestehen.

Über siebzig Jahre bewährte Partnerschaft zwischen Staat und Kirche im Bereich der alten Bundesrepublik und mittlerweile über dreißig Jahre im wiedervereinigten Deutschland lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass sich daran in nächster Zeit etwas grundlegend ändern wird.9 Allein die Fülle der diakonischen und bildungsbezogenen Aufgaben, die die Kirchen nach dem verfassungsmäßigen Subsidiaritätsprinzip für den Staat übernommen haben, spricht gegen eine Veränderung. Dabei wird nur eine ihres geistlichen Auftrags gewisse Kirche in der Lage sein, in Zukunft als selbstbewusste Partnerin des Staates aufzutreten – und von diesem mit ihren eigenen Anliegen ernst genommen zu werden. Das gilt nicht nur in diakonischer und sozialethischer Hinsicht, sondern ebenso für ihre missionarische Präsenz in der Gesellschaft und für ihre Rolle als Gegengewicht zu einer immer attraktiveren Erlebnisreligion nicht christlicher Prägung.

Der Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, besteht unabhängig von der zahlenmäßigen Größe und dem gesellschaftlichen Ansehen der Kirche. Nur eine evangelische Kirche, die sich selbst aufgegeben hat und für sich keine Zukunft mehr sieht, verurteilt sich selbst zu gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit und zum Untergang.

Dass es sich bei der privilegierten Partnerschaft um eine echte Partnerschaft handelt, ist immer wieder in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Gerade Menschen, die der Kirche fernstehen, erscheint sie als »Fortsetzung des Staates mit religiösen Mitteln«.10 Von einem Großteil der Bevölkerung wird sie deshalb – trotz ihrer maßgeblichen Beteiligung an der Friedlichen Revolution – auch im Osten Deutschlands nicht mit Freiheit, sondern mit Obrigkeit und Unfreiheit konnotiert. Darüber hinaus muss sich die Kirche in Zukunft offensiver mit der Situation auseinandersetzen, zwar weiterhin volkskirchliche Strukturen zu besitzen, in der Gesellschaft aber lediglich eine qualifizierte Minderheit zu sein. Die mit dieser neuen Situation verbundenen Chancen sollten in Zukunft weiter ausgelotet werden. So muss die Kirche nicht mehr alles machen, sondern könnte sich auf bestimmte Arbeitsbereiche konzentrieren, für die sie eine besondere Kompetenz besitzt, z. B. Kinder- und Jugendarbeit, die Begleitung älterer Menschen, Seelsorge, Kirchenmusik. Auch ist das Prinzip »keine weißen Flächen«, das heißt keine Gegend ohne kirchliche Präsenz, angesichts der damit verbundenen Überdehnung der vorhandenen Kräfte zu hinterfragen.

4. Die Verkündigung des Evangeliums und die gesellschaftliche Mitverantwortung bilden die beiden Brennpunkte des kirchlichen Handelns.

Die Verantwortung der christlichen Kirche für die Welt besitzt zwei Brennpunkte. Der erste besteht in der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Mit Bonhoeffer gesprochen: »Eine Verkündigung an die Welt ohne Christuszeugnis, d. h. ohne den allein tragfähigen Grund einer solchen Verkündigung ist für das Neue Testament undenkbar. So ist die entscheidende Verantwortlichkeit der Gemeinde für die Welt immer die Christusverkündigung.«11 Der andere Brennpunkt besteht in der Mitverantwortung für das menschliche Zusammenleben:12 »Je ausschließlicher wir Christus als unseren Herrn erkennen und bekennen, desto mehr enthüllt sich uns die Weite seines Herrschaftsbereiches.«13 Der persönliche Glaube an Jesus Christus und die Teilhabe am Leben der Mitmenschen in der Gesellschaft gehören untrennbar zusammen.

Je nach Größe der christlichen Gemeinde und je nach Staatsform ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der Mitverantwortung. Noch einmal Dietrich Bonhoeffer: »Es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten für die Gemeinde, ihre Verantwortung gegenüber der Welt wahrzunehmen; anders wird sie es tun in der Missionssituation, anders in der Situation staatlicher Anerkennung der Kirche, anders in Verfolgungszeiten. Die Missionsgemeinde in der Minorität wird durch volle Konzentration auf die Christuspredigt als Ruf zur Gemeinde sich erst die Bahn brechen müssen, um irgendwie weltlich mitverantwortlich arbeiten zu können; für die staatlich anerkannte Kirche und für die Christen in weltlichem Amt und Verantwortung gehört die Bezeugung des Gebotes Gottes über Staat, Wirtschaft etc. zum Christusbekenntnis. Je mehr die Christen in der Situation nach Apokalypse 13 nicht die am Unrechttun der Welt Verantwortlichen, sondern selbst die Unrecht Leidenden sind, desto mehr wird sich ihre Verantwortung für die Welt nur noch in gehorsamem Leiden und in ernster Gemeindezucht bewähren.«14

Heute befinden wir uns in Deutschland in einer Situation des Übergangs, was es nicht leicht macht, die Aufgabe der Kirche zwischen Mission und gesellschaftlicher Mitverantwortung konkret zu bestimmen. Beobachter sind sich uneins, ob wir noch in einer spät- oder bereits in einer nachvolkskirchlichen Zeit leben. Die Situation der großen Kirchen wird wahrscheinlich bis auf Weiteres von einer privilegierten Partnerschaft mit dem Staat geprägt bleiben. Daher hat die Stimme der Kirche in gesellschaftlichen Debatten Gewicht. Aufgrund fortschreitender Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesse wird jedoch gleichzeitig die Erfüllung des missionarischen Grundauftrags der christlichen Gemeinden immer wichtiger und sollte nicht von ihrem diakonischen und sozialethischen Engagement in den Hintergrund gedrängt werden. Eberhard Jüngel sprach auf der EKD-Synode in Leipzig 1999 zu Recht von Mission als dem Herzschlag der Kirche.

Die kirchliche Verkündigung darf sich nicht mit einer allgemeinen Ethik der Liebe zufriedengeben, sondern muss in gegenwärtigen ethischen Streitfragen wagen, das konkrete Gebot Gottes in öffentlichen Diskussionen engagiert zu vertreten. Während des Dritten Reiches trat Bonhoeffer dafür ein, dass die kirchliche Verkündigung die weltlichen Ordnungen unter die Christusherrschaft und unter den Dekalog zu führen habe.15 Ohne explizite Verkündigung der Christusherrschaft und des Dekalogs können, so seine Überzeugung, die weltlichen Ordnungen ihren Dienst nur in beschränktem Maße und in vorläufiger Weise tun. »Also nicht zum Absehen von Christus, sondern zur vollen Verkündigung der Gnade der Christusherrschaft, kann die Kirche durch die Erkenntnis geführt werden, daß hier und da auch ohne gehörte Predigt – aber doch niemals ohne das Dasein Jesu Christi! – weltliche Ordnung möglich ist. Der unbekannte Gott wird nur als der bekannte, weil offenbarte, gepredigt.«16 Für die nationalsozialistische Ideologie war der Ruf zur Unterstellung unter die Herrschaft Jesus Christi und die Zehn Gebote eine ungeheure Provokation. Für Christen bedeutete er die innere Befreiung von Führerkult und ideologischer Verblendung. Die Frage ist, an welchen Stellen die Kirche heute gegen Entwicklungen der gegenwärtigen Gesellschaft das konkrete Gebot Jesu Christi zu verkündigen hat.

5. Die Verkündigung sollte von Angeboten zu Begegnung und Geselligkeit flankiert werden.

Der emeritierte Heidelberger Missionswissenschaftler Theo Sundermeier hat schon vor Jahren den Begriff der Konvivenz als zentrale Kategorie der Mission ins Gespräch gebracht.17 Konvivenz umfasst für Sundermeier die gegenseitige Hilfeleistung, das wechselseitige Lernen und das gemeinsame Feiern. Ich würde als Viertes das evangelistische Zeugnis hinzufügen. Was für die missionarische Begegnung mit Andersgläubigen gilt, trifft meiner Überzeugung nach auch für die Arbeit in Kirchengemeinden zu.

Die Verschränkung von Verkündigung und Begegnungsangeboten lässt sich schon am Wirken Dietrich Bonhoeffers beobachten: Er hielt nicht nur Kindergottesdienst in der Berliner Grunewaldkirche, sondern lud die Kinder gleichzeitig zu Spielenachmittagen in sein Elternhaus ein. Neben den Konfirmandenunterricht traten Ausflugsfahrten mit den Konfirmanden in ein kleines Wochenendhaus im Umland von Berlin. Neben den Kollegs und Seminaren an der Berliner Theologischen Fakultät bot Bonhoeffer Gesprächsabende und Wochenendfreizeiten für Studierende an. In Finkenwalde gehörten im Rahmen von Predigerseminar und Bruderhaus theologische Arbeit und Vita communis von Anfang an untrennbar zusammen.

Heute stellen gerade Frei- beziehungsweise Rüstzeiten eine nicht zu unterschätzende Form der Glaubensvermittlung beziehungsweise -vertiefung dar.18 Sie werden für alle nur denkbaren Zielgruppen angeboten: für Kinder, Jugendliche, Senioren, Männer, Frauen, Singles, Ehepaare, Geschiedene, Verwitwete, Familien, Gemeinden etc.19 Ebenso finden sie an den verschiedensten Orten statt: in der Nähe und in der Ferne, im In- und im Ausland, im Luxushotel und auf dem Luxusschiff, in der einfachen Blockhütte und im Kanu. Es gibt Badefreizeiten, Wanderfreizeiten, Fastenfreizeiten und Freizeiten mit Wellnessprogramm, um nur einige wenige zu nennen. Am Beispiel von Gemeindefreizeiten möchte ich kurz zeigen, wie Verkündigungs- und Gemeinschaftsangebote auch dabei zusammengehören. Das Zusammensein der Gemeindeglieder während des ganzen Tages – also anders als im normalen Gemeindeleben über die Gottesdienstzeiten und übrigen Gemeindeveranstaltungen hinaus – führt dazu, ein Stück Alltag miteinander zu teilen und dadurch eine Fülle von Begegnungsmöglichkeiten zu haben. Dadurch wird praktisch erfahrbar, dass Nachfolge Jesu Christi nicht nur die gemeinsame Beschäftigung mit geistlichen Dingen, sondern auch die gegenseitige Fürsorge in alltäglichen Dingen umfasst. Dazu tritt das gemeinsame Feiern, woran deutlich wird, dass Christsein eine festliche Angelegenheit ist.

6. Angesichts zunehmender Verdunstung des christlichen Grundwissens innerhalb und außerhalb der Kirche sollten Theologie und Kirche eine religiöse Bildungsinitiative starten.

Diese religiöse Bildungsoffensive ist umso nötiger, als im Raum der evangelischen Kirche Spiritualität und Bildung von Anfang an zwei Seiten derselben Medaille waren. Ohne Bildung bleibt der Glaube unbegriffen: »Zwei Begriffe sind es, auf die gleichsam als auf das Ziel das ganze Leben ausgerichtet ist: Frömmigkeit und Bildung.«20 Ich frage mich, wie in der Kirche in Zukunft effektiver als bisher elementares Glaubenswissen vermittelt werden könnte. Trotz Konfirmandenarbeit und jahrelangem Religionsunterricht herrscht bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein eklatanter Mangel an Basiswissen. Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendarbeit, im Religionsunterricht, aber auch Lehrende in der Ausbildung an theologischen Fakultäten, evangelischen Fachhochschulen und Kirchenmusikhochschulen sollten sich nicht scheuen, bei der Vermittlung von Glaubensinhalten zu elementarisieren.

Gerade in einer zunehmend säkularen Gesellschaft ist es darüber hinaus dringend nötig, das Vorurteil einer szientistischen Ineinssetzung von christlichem Glauben und Unwissenschaftlichkeit aufzusprengen und zu überwinden. Leider wird der Diskurs zwischen Theologie und Naturwissenschaft in Deutschland derzeit nur von wenigen Theologinnen und Theologen geführt.

7. In einer pluralistischen Gesellschaft ist für die Kirche eine profilierte evangelische Spiritualität überlebensnotwendig.

Solange Kirche und Gesellschaft identisch waren, war die Unterscheidung zwischen beiden vielleicht nicht so dringlich. Je mehr die christliche Gemeinde aber zur Minderheit wird, ist ein klares Profil überlebensnotwendig.21 Schon vor Jahren hat der amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger die Situation der Kirche in Deutschland als »Kirche auf dem Markt« gedeutet. Die Konkurrenz anderer spiritueller Anbieter hat seitdem weiter zugenommen. Längst haben die christlichen Groß- und Freikirchen in unserer Gesellschaft ihr religiöses Monopol verloren.

Was ist angesichts dieser Situation konkret zu tun? Einerseits geht es darum, sich der eigenen spirituellen Grundlagen zu vergewissern und andererseits mit anderen konfessionellen und religiösen Traditionen respektvoll umgehen zu lernen. Ich bin überzeugt, dass sich beides gegenseitig bedingt. Das ist auch in psychologischer Hinsicht gut begründbar: Jemand, der in der eigenen spirituellen Tradition zu Hause, sich des eigenen Glaubens gewiss ist, wird eher willig und fähig sein, sich angstfrei auf das Kennenlernen anderer Traditionen einzulassen als jemand, der sich seiner eigenen Glaubenstradition unsicher ist. Die Begegnung mit einer anderen Religion stellt immer eine Fremdheitserfahrung dar, die automatisch eine Infragestellung der eigenen Position bedeutet. Das beste Mittel, die instinktiven menschlichen Abwehrmechanismen gegenüber dem religiös Fremden außer Kraft zu setzen, ist eine reflektierte eigene Spiritualität. Theologie und Kirche werden sich gerade auf dem Weg der Selbstvergewisserung ihrer eigenen spirituellen Traditionen in der Gesellschaft dauerhaft am wirksamsten für die Achtung anderer religiöser Traditionen einsetzen können.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend nötig, den traditionellen protestantischen Vorbehalt gegenüber jeder Form von Glaubensvermittlung an Erwachsene zu überwinden. Im Zusammenhang damit wurde vor allem die Glaubensübung lange als mit evangelischer Spiritualität unvereinbar betrachtet. Diese sei gesetzlich und verdunkle die voraussetzungslose Annahme des Menschen durch Gott. Heute gewinnt das Lernen durch Erfahrung auf allen Gebieten des Lebens immer mehr an Bedeutung. Es ist darum unerlässlich, mit den genannten Vorbehalten gegenüber der Vermittlung von Spiritualität zu brechen. Dietrich Bonhoeffer war einer der ersten wissenschaftlichen Theologen, der im vergangenen Jahrhundert gezeigt hat, dass der Aspekt der Vermittlung und Einübung des Glaubens dessen Geschenkcharakter keineswegs schwächen muss, sondern ihn erst zur Entfaltung kommen und zur persönlichen Erfahrung werden lässt.22 Wo finden religiös suchende Menschen Anschauungsfelder des Glaubens? Benötigt werden unterschiedliche Experimentierfelder für spirituelle Erfahrungen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag, aber auch Freizeiten unterschiedlichster Art sind ein Beispiel dafür. Genauso erfüllen evangelische Kommunitäten wie Taizé in diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe.

8. Da die Rechtfertigungslehre das Zentrum evangelischen Glaubens bildet, sind spirituelle Formen nötig, die sie für jeden Menschen erfahrbar machen.

Es wird eine Vielfalt an Formen gebraucht, damit von der Postmoderne geprägte Menschen die christliche Botschaft von Schuld und Vergebung erfahren können. Sonst bleibt der Rechtfertigungsglaube eine abstrakte Glaubenslehre. Dazu gehören Formen der gottesdienstlichen Beichte. Die Thomasmesse z. B. hat hier vielversprechende Riten entwickelt. Dazu gehört die persönliche Beichte. Im Hinblick auf Jugendliche und junge Erwachsene bilden neuere meditative Beichtformen die Chance, Beichte im Vollzug kennenzulernen.

Allerdings gilt es in diesem Zusammenhang, ein tief sitzendes Vorurteil zu überwinden. Es ist für Theologie und Kirche höchste Zeit, Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis als Zeichen der Würde des Menschen zu entdecken. Sündersein darf nicht länger als Ausdruck einer entmündigenden Erfahrung missverstanden werden, sondern muss als heilsam rettende Erfahrung begriffen werden. Schuldigwerden gehört zum Humanum wesentlich dazu. Eine Leugnung, Bagatellisierung oder Verdrängung meiner Schuld bedeutet demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins. Das Eingeständnis des Sünderseins wahrt den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf.

9. Evangelische Theologie und Kirche müssen endgültig ihre Phobie vor geprägten Formen überwinden.

Im Laufe der Geschichte des Protestantismus, verstärkt im 20. Jahrhundert, sind spirituelle Formen mehr und mehr verloren gegangen. Bis vor wenigen Jahren konnte der Eindruck aufkommen, als sei die Gestaltlosigkeit geradezu ein Markenzeichen des landeskirchlichen Protestantismus.23 Es ist hier nicht der Raum, die Gründe für diesen Vorgang zu erläutern. Mitverantwortlich war jedenfalls ein »Transponieren der Christusnachfolge ins ›Bürgerliche‹«.24 Daneben führte die protestantische Angst vor der toten Form zu einer regelrechten Phobie vor festen Formen.25 Dem Mangel an spirituellen Formen im Protestantismus stehen exegetische Beobachtungen, die Selbstverständlichkeit spiritueller Formen bei den Reformatoren und neuere humanwissenschaftliche Einsichten diametral entgegen. Angesichts der Pluralität religiöser Angebote, aber auch des Lebens in einer Risikogesellschaft, »[bedarf] die Bewahrung und Weitergabe von grundlegendem Orientierungswissen […] einer Absicherung durch Symbole und Riten«.26 Für die Zukunft des Protestantismus wird entscheidend sein, ob es gelingt, der nächsten Generation Zugänge zu alltagsverträglichen spirituellen Formen wie z. B. Tischgebeten und Zu-Bett-bring-Ritualen zu eröffnen.

Damit ist impliziert, dass evangelische Spiritualität in Zukunft stärker Emotionalität und Sinnlichkeit integrieren sollte. Eine trinitarisch konzipierte Frömmigkeit bietet dafür die theologische Begründung. Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch spüren. Ob Menschen in Zukunft Zugang zum christlichen Glauben bekommen, ist nicht zuletzt auch davon abhängig, ob ihre Emotionalität und Körperlichkeit darin vorkommt.27 Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil lässt sich in der evangelischen Frömmigkeitspraxis eine Rezeption vieler ursprünglich katholischer Spiritualitätsformen beobachten (z. B. Lichterbäume, die Öffnung von Kirchen außerhalb der Gottesdienstzeiten, Pilgern, Exerzitien). Darin steckt einerseits ein wichtiges ökumenisches Potenzial. Mit einem abgewandelten Wort Karl Rahners gesprochen: Die Zukunft des Christentums wird in unserem Land ökumenisch sein oder es wird nicht mehr sein. Andererseits stellt sich die Frage, wie die entsprechenden, ursprünglich im katholischen Raum beheimateten, Formen mit dem evangelischen Rechtfertigungsglauben stärker theologisch verbunden werden können.

10. Kirchenräume sind in der säkularen Gesellschaft eine missionarische Gelegenheit.

Menschen strömen in die Kirchen, wenn keine Gottesdienste stattfinden, und verlassen sie wieder rechtzeitig vor Gottesdienstbeginn. Das konnte ich jahrelang in der Leipziger Nikolaikirche unmittelbar vor dem Universitätsgottesdienst beobachten: Zwischen dem Ende des Gemeindegottesdienstes und dem Beginn des Universitätsgottesdienstes war gewöhnlich eine Pause, in der zahlreiche Besuchergruppen in die Kirche kamen. Wenn dann der Gottesdienst der Universitätsgemeinde begann, verließen die Besucherinnen und Besucher fluchtartig die Kirche. Es stimmt nachdenklich, dass Menschen gerade dann in die Kirchen strömen, wenn darin keine Gottesdienste stattfinden.

Um in der postmodernen Risikogesellschaft emotional überleben zu können, braucht es Orte der Verlässlichkeit. Darin liegt ein wesentlicher Grund für die wachsende Sehnsucht vieler Zeitgenossen nach sakralen Räumen. Von ihnen – offensichtlich eher als vom Gottesdienst – erhoffen sie sich symbolische und rituelle Vergewisserung ihres Lebens und Glaubens. Diese Sehnsucht wird angesichts der prognostizierten Zunahme des globalen Risikopotenzials in Zukunft noch stärker werden. Wie könnte die Kirche auf die Sehnsucht nach Räumen der Verlässlichkeit gerade auch bei Konfessionslosen eingehen? Ich denke hier an ein vermehrtes Angebot individuell zu vollziehender, niedrigschwelliger spiritueller Rituale in kunsthistorisch wichtigen Kirchen und in Citykirchen. Vorstellbar sind Lichterbäume, Gästebücher, Karten mit vorformulierten Gebeten, Zettel zum Aufschreiben persönlicher Fürbitten, aber auch Angebote zu Segnung, Handauflegung, Salbung und Einzelbeichte. Ebenso hat die Kirchenpädagogik Methoden aus der Museumspädagogik aufgegriffen, um Menschen geistliche Zugänge zum Kirchenraum auf sinnliche und emotionale Weise zu eröffnen.

11. Ein zentrales Problem von Theologie und Kirche ist die Sprache.

Schon Dietrich Bonhoeffer bemühte sich mit seinem Programm einer »nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe« um eine neue Sprache, »dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden«.28 In dem Gedicht »Von guten Mächten treu und still umgeben« ist ihm die Umsetzung dieses Programms mindestens an einer Stelle gelungen.29 Es ist nicht ohne Grund heute das bekannteste geistliche Gedicht des 20. Jahrhunderts.

Wie schon gesagt, strömen Menschen in die Kirchen, wenn kein Gottesdienst stattfindet, das heißt, wenn keiner redet. Viele Predigten sind wenig anziehend, weil viel zu abstrakt. Von den Kanzeln werden – im Bild gesprochen – häufig Goldbarren ausgeteilt, die im Alltag als Zahlungsmittel untauglich sind. Die Kunst würde darin bestehen, schwierige theologische Sachverhalte in einfachen Bildern auszudrücken und so mit dem Alltag der Hörerinnen und Hörer kompatibel zu machen. Ich schlage vor, in der Verkündigung der Poesie mehr Platz als bisher einzuräumen. Sie führt über die nüchterne Informationssprache der Gegenwart hinaus und vermag Menschen existenziell anzusprechen. Darin liegt – je nach Lebensalter – ein wesentlicher Grund für die Hochschätzung von Paul-Gerhardt-Liedern oder für die Begeisterung für Lobpreis-Lieder. Überdies sollten in Zukunft nonverbale Elemente wie Segnung, Handauflegung und Salbung die verbale Verkündigung flankieren und unterstützen. Schließlich ist zu fragen, welche Ideen heute praktikabel sind, um in Kirche und Gesellschaft wieder eine Bibelbewegung auszulösen. Denn ich bin überzeugt: Ohne biblischen Rückbezug wird auch die gelungenste religiöse Sprache den Menschen das Evangelium von Jesus Christus nicht nahebringen können.

5 Bonhoeffer (1998e, S. 560).

6 Bonhoeffer (1998a, S. 411); vgl. hier und im Folgenden Zimmerling (2006, S. 198 f.).

7 Bonhoeffer (1998e, S. 558–560).

8 Bonhoeffer (1998a, S. 406, Hervorhebungen im Text).

9 Zimmerling (2011, S. 91–99).

10 Christoph Schwöbel, zit. bei Huber (1999, S. 269).

11 Bonhoeffer (1996i, S. 554).

12 Bonhoeffer (1996i, S. 555).

13 Bonhoeffer (1998a, S. 347).

14 Bonhoeffer (1996i, S. 555).

15 Bonhoeffer (1996i, S. 561).

16 Bonhoeffer (1996i, S. 562).

17 Sundermeier (1986).

18 Vgl. im Einzelnen Zimmerling (2010, S. 273–276).

19 Vgl. z. B. den Prospekt der Liebenzeller Mission. Freizeiten & Reisen GmbH, Bad Liebenzell für 2023, der auch digital aufbereitet vorliegt; vgl. auch die entsprechenden Prospekte der AR [Anders Reisen] Reisen Reisevertrieb GmbH, Berlin.

20 Melanchthon (1910, S. 373).

21 So auch Fritz Lienhard in Aufnahme von Überlegungen Michael Nüchterns in Lienhard (2012, S. 31).

22 Vgl. dazu vor allem seine Bücher »Nachfolge« (Bonhoeffer 2002a), »Gemeinsames Leben« (Bonhoeffer 2002b), aber auch »Widerstand und Ergebung« (Bonhoeffer 1998b).

23 Grethlein (1991, S. 114).

24 Grethlein (1991, S. 114).

25 Vgl. z. B. Steffensky (2000).

26 Grethlein (1991, S. 115).

27 Vgl. dazu speziell im Hinblick auf den Gottesdienst Meyer-Blanck (1997, S. 133).

28 Bonhoeffer (1998c, S. 436).

29 Bonhoeffer (1998f, S. 607 f.).

2. Gemeinde bauen unter den Bedingungen der Spätmoderne

2.1 Chancen und Grenzen

Ein wichtiger Grund für die Aktualität von Fragen im Zusammenhang mit dem Gemeindebau liegt in Folgendem: Dass die Volkskirche gegenwärtig in einer Krise steckt, ist gemeinsame Überzeugung aller Beobachter. West- und Mitteleuropa gehen durch eine Phase der Entkirchlichung und Entchristlichung, für die es in anderen Weltgegenden keine Parallelen gibt. Der amerikanische Soziologe Peter L. Berger sprach im Hinblick auf diese Länder schon vor Jahren von einem »Katastrophengebiet für die Kirche«.30 Die Kirche steht deshalb unter Veränderungsdruck. Die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle spricht von »Reformstress«.31 In der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens etwa hat in den vergangenen Jahren eine Strukturreform die andere abgelöst. Auch die EKD insgesamt hat mit ihrem im Juni 2006 vorgelegten Impulspapier »Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert«32 und neuerdings mit dem Papier »Hinaus ins Weite – Kirche auf gutem Grund. Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche«33 von 2020 die Unausweichlichkeit von Reformen zum Ausdruck gebracht. Vor allem die demografische Entwicklung, aber auch Kirchenaustritte etwa aufgrund von forcierten Säkularisierungsprozessen werden in den kommenden Jahrzehnten zu einem weiteren Mitgliederverlust führen. Dazu kommt – bedingt durch den Mitgliederschwund und die staatliche Steuergesetzgebung – ein gravierender Rückgang der Kirchensteuereinnahmen.

Im Bild gesprochen: Über Zähne redet man erst, wenn sie einem wehtun. Genauso ist es mit der Diskussion über die Zukunft der Kirche und neue Formen des Gemeindebaus: Die Kirche steckt in einer Krise. Darum die Suche nach Wegen aus ihr heraus.

Ist man sich in der Diagnose weithin einig, sehen die vorgeschlagenen Therapien sehr unterschiedlich aus.34 Allerdings lässt sich trotz aller Unterschiedlichkeit mindestens eine Gemeinsamkeit ausmachen: Den meisten Lösungsansätzen, jedenfalls denjenigen, die sich nicht fatalistisch mit dem weiteren Mitgliederverlust abfinden wollen, ist die Fortentwicklung der Kirche im Hinblick auf mehr Partizipation und Mündigkeit ihrer Mitglieder gemeinsam.35

Ich selbst gehe im Folgenden von zwei Voraussetzungen aus: zum einen davon, dass Überlegungen und Aktivitäten zum Gemeindebau nur dann nachhaltig sein werden, wenn sie an Vorhandenes anknüpfen. Konzeptionen, die die bestehenden volkskirchlichen Verhältnisse nicht berücksichtigen, werden wirkungslos verpuffen. Im Hinblick auf die Zukunft der Kirche gilt: Nicht Revolution, sondern Reformation! Auch in den politischen Revolutionen sind meist nur die alten Eliten durch neue ersetzt worden. Positive Veränderungen hat es auf Dauer allein durch den mühsamen und langwierigen Umbau bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse gegeben.

Zum anderen ist mir die Erkenntnis wichtig, dass die Sache des Gemeindebaus so alt ist wie die christliche Kirche. Dabei hat es – wie wir gleich sehen werden – seit dem Urchristentum eine schier unendlich anmutende Vielfalt von Gestaltungsformen von Kirche und Gemeinde gegeben. Das zeigt schon der oberflächliche Blick auf die Gestalt der gemeindlichen Versammlungsorte durch die Zeiten hindurch. Angefangen hat alles mit der ersten kleinen Hausgemeinde nach Ostern im (vor einigen Jahren wieder ausgegrabenen) Wohnhaus des Petrus in Kapernaum.36