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Bilder der Leidenschaft von ROLLS, ELIZABETH
Das Wandgemälde in seinem Schlafgemach muss schuld daran sein, dass Everett, Viscount St. Austell, plötzlich erotische Träume hat! In denen er eine blondgelockte Schönheit so liebt wie Apoll die Nymphe auf dem Bild …
Nur eine Nacht mit dem Wikinger? von WILLINGHAM, MICHELLE
Diese Frühlingsnacht ist wie geschaffen für die Leidenschaft, die Auder mit dem Wikinger Gunnar genießt. Doch schon am nächsten Tag soll sie sich und ihre Liebe für Irland opfern …
Schleiertanz unterm Wüstenmond von SCOTT, BRONWYN
Verführerisch beginnt Susannah den Schleiertanz. Doch dabei lässt sie den englischen Gast des Scheichs nicht aus den Augen. Seine Blicke versprechen den Himmel auf Erden - ist er ihr langersehnter Retter?
Die erotische Wette von KAYE, MARGUERITE
Fieberhaft verfolgt Isabella das Glücksspiel: Drei sinnliche Nächte mit Captain Dalgleish sind ihr mutiger Einsatz, bei dem es um alles geht! Denn es heißt, der Captain gewinnt immer …
Die verbotene Berührung des Samurai von Radcliff, Ashley
apan im 12. Jahrhundert. Von verbotener Sinnlichkeit sind Mikus Gedichte, unpassend für eine Adlige. Ihr Onkel verbannt das Papier - doch Miku schreibt dem Samurai Takeshi ihre Sehnsucht auf die nackte Haut …
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2011
Elizabeth Rolls, Michelle Willingham, Marguerite Kaye, Ashley Radcliffe, Nikki Poppen
HISTORICAL COLLECTION, BAND 1
IMPRESSUM
HISTORICAL COLLECTION erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
© 2010 by Elizabeth Rolls Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Maria Fuks
© 2010 by Michelle Willingham Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Vera Möbius
© 2010 by Marguerite Kaye Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Barbara Kesper
© 2010 by Ashley Radcliffe Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gisela Grätz
© 2010 by Nikki Poppen Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Eleni Nikolina
Fotos: Harlequin Books S.A.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL COLLECTIONBand 1 - 2011 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Veröffentlicht im ePub Format im 03/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86494-188-7
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Erregt betrachtet Everett, Viscount St. Austell, das erotische Wandgemälde, das eine Nymphe und Apoll beim Liebesspiel darstellt. An wen erinnert ihn die Nymphe bloß?
Heiße Leidenschaft genießt die Irin Auder eine Nacht lang mit dem Wikinger Gunnar. Doch der Morgen bringt Unheil – sie soll einen Normannen heiraten …
Wenn Captain Dalgleish das Glücksspiel gewinnt, gehört die betörende Isabella drei Nächte lang ihm! Noch nie hat er so auf die Macht der Würfel gehofft …
Nur in Gedichten beschwört die junge Japanerin Miku die Lust – bis sie allein mit dem Samurai-Kriegers Takeshi ist. Aus süßen Worten werden verbotene Taten …
Gebannt beobachtet Alex die blonde Tänzerin im Beduinenzelt: Wie kommt sie in die Gewalt des Scheichs – und warum kann er sein Verlangen nach ihr kaum bezähmen?
* * *
Sie schaute über die Schulter zurück, lächelnd, das Gesicht halb verborgen unter der großen Kapuze ihres Umhangs. Sie sagte nichts, sondern neigte nur leicht den Kopf, unschuldig und einladend zugleich.
Er merkte, dass sein Atem jetzt schneller ging. Er wollte sie aufhalten, streckte die Hand nach dem sich im Wind aufbauschenden Umhang aus. Doch seine Finger glitten durch den Stoff hindurch wie durch Nebel. Dann war das Kleidungsstück verschwunden – und mit ihm auch die Gestalt, die er so verzweifelt hatte festhalten wollen. Er öffnete den Mund, um nach ihr zu rufen, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Sie war fort. Und nichts blieb außer einer unstillbaren Sehnsucht und dem Gefühl eines großen Verlustes …
Er erwachte abrupt und setzte sich ruckartig auf. Um ihn her war es dunkel. Seine Lunge schien zu brennen. Er musste wohl etwas Schlimmes geträumt haben. Bestimmt hatte ein Albtraum ihn heimgesucht. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, und sein Herz raste. Vergeblich versuchte er sich an Einzelheiten zu erinnern. Ja, er hatte geträumt. Von einem Umhang … Mehr wusste er nicht mehr. Oder doch! Er hatte sich etwas gewünscht, das er nicht haben konnte. Man hatte es ihm fortgenommen. Oder hatte er es verloren? Und was hatte dieser Umhang damit zu tun?
Langsam ließ er sich in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Auf der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen blitzte kurz eine Erinnerung auf. An etwas? Oder an jemanden? Ehe er den Gedanken zu fassen bekam, sank er in einen unruhigen Schlummer.
Everett Fitzhugh, Viscount St. Austell, starrte die Wandgemälde an, die er in Auftrag gegeben hatte, als er beschloss, sein Haus am Grosvenor Square zu renovieren. Insbesondere hatte er das Schlafzimmer umgestalten wollen. Vor Kurzem hatte der Maler mit der Arbeit begonnen.
Eine Zeile aus dem Brief des Künstlers fiel Everett ein.
Möglicherweise werden Sie feststellen, Mylord, dass die Bilder nicht ganz Ihren Erwartungen entsprechen.
Trehearne
Das unpersönlich kalte Mylord hatte ihn so gekränkt, dass er beim ersten Lesen kaum auf den Inhalt des Satzes geachtet hatte. Früher hätte Lionel ihn nie so förmlich angeredet. Auch hätte er ein Schreiben an einen Freund nicht einfach mit Trehearne unterzeichnet.
Die Schuld dafür musste er sich natürlich selbst geben.
Lionels Verhalten war die logische Folge dessen, was er ihm angetan hatte. Also hatte er seinen Ärger, seinen Trotz und sein Schamgefühl hinuntergeschluckt und Lionel den Auftrag erteilt.
Trotz des Klassenunterschiedes – auf der einen Seite der Erbe eines Viscounts und auf der anderen der Sohn eines Schulmeisters – war Lionel einst wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Statt ihm zu danken, hatte er seinen Freund hintergangen, hatte sein Vertrauen auf so üble Art missbraucht, dass er noch heute von Gewissensbissen geplagt wurde. Jugend und Unerfahrenheit mochten eine akzeptable Entschuldigung für das Begehen von Dummheiten sein. Eine Entschuldigung für einen Mangel an Moral und Ehre waren sie nicht.
Jetzt, da Everett die Wandgemälde eingehender betrachtete und sich den Inhalt jenes Briefes in Erinnerung rief, stellte er fest, dass Lionels Stil sich tatsächlich verändert hatte. Und zwar grundlegend! Die Maltechnik war noch die gleiche. Einfache Linien, die dennoch ausdrucksstark waren und mit ein paar Holzkohlestrichen alles Wichtige wiedergaben. Doch sechs Jahre zuvor hatten Lionels Bilder – obwohl sie auch damals schon brillant waren – Everett nicht den Atem geraubt. Seine Gemälde hatten schon damals eine starke erotische Ausstrahlung besessen, ja. Aber diese geradezu schmerzliche Sinnlichkeit war neu.
Er schluckte und sah dann noch einmal zu der schlanken Nymphe hin, deren Umrisse jetzt gleich mehrfach seine Schlafzimmerwand zierten. Wer war sie? Noch gab es von der Gestalt nicht viel mehr als Skizzen. Doch auch wenn das Werk vollendet war, würde ihre Identität ein Geheimnis bleiben. In jedem der fünf Gemälde wandte sie das Gesicht ab. Nur einmal schaute sie über die Schulter zurück, wobei die übergroße Kapuze ihres Umhangs ihr Gesicht halb verbarg. Warf sie irgendjemandem einen Abschiedsblick zu?
Im nächsten Bild sah man sie von hinten, da sie sich an ihren Geliebten schmiegte, der gerade den Kopf beugte, um ihre Lippen zu kosten.
Im dritten Gemälde war es eine Fülle von Locken, die das Gesicht der vor einem Mann knienden Nymphe verbarg. Bewundernswert, wie es Lionel gelungen war, mit ein paar Strichen den Glanz ihres Haares einzufangen! Er hatte das Motiv „Die Nymphe huldigt dem Gott Apollo, indem sie ihm den Kuss der Venus überbringt“ genannt.
Die wilden Locken verbargen das eigentliche Geschehen. Doch der nackte Gott warf den Kopf in Ekstase nach hinten. Deutlich konnte man seine angespannten Muskeln erkennen, ebenso die Hand, die halb im Haar der Nymphe verborgen war, und die Finger, die sanft und besitzergreifend zugleich den Nacken der Schönen streichelten. Oh, es konnte kein Zweifel daran bestehen, womit sie gerade beschäftigt war.
Everett schluckte. Seine Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Kaum wagte er, den Blick auf das vierte Gemälde zu richten. Dort gab sich die Nymphe dem leidenschaftlichen Liebesspiel ihres unsterblichen Liebhabers hin.
Auf dem letzten Gemälde lag sie gesättigt und schlafend in den Armen ihres Geliebten, der zärtlich ihr Gesicht streichelte, sodass es auch hier nicht zu erkennen war.
Everett schloss die Augen und stellte sich vor, wie er selbst mit den Fingern sanft über die goldenen Locken der Nymphe strich. Ihm war, als spüre er ihre weiche Wange an seiner Schulter, als höre er ihren leisen Atem. Er würde alles tun, um sie nicht wieder zu verlieren. Ein Leben ohne sie würde er nicht ertragen …
Das Rattern von Kutschenrädern riss ihn aus seinem Tagtraum, und er richtet die Augen wieder auf die Gemälde, die er in Auftrag gegeben hatte.
Wer war sie? Wer hatte für diese Bilder Modell gestanden?
Verflucht, Lionel war der Letzte, den er freiwillig als Maler engagiert hätte!
Vor sechs Jahren hatte Lionel ihm ein Ultimatum gestellt. Er hatte es akzeptiert und versprochen, sich von ihm fernzuhalten. Gewissenhaft hatte er sein Versprechen gehalten. Nur durch Zufall hatte er von einem gemeinsamen Freund erfahren, dass Lionel nach Italien gegangen war. Warum? Ob er ihm trotz allem misstraut hatte?
Nachdem er England verlassen hatte, schien Lionel den Kontakt zu allen alten Bekannten abgebrochen zu haben. Everett hätte niemals von seiner Rückkehr in die Heimat erfahren, wenn sein ehemaliger Freund sich nicht schriftlich bei ihm gemeldet hätte. Lionel hatte ihm einen Brief geschickt, in dem er darum bat, den Auftrag ausführen zu dürfen. Dem Schreiben hatte er ein paar Skizzen beigelegt.
Wie mag Lionel davon erfahren haben, dass ich jemanden suche, der mein Schlafzimmer mit ganz speziellen Wandgemälden ausstattet? fragte sich Everett. War es allgemein bekannt, dass er auf diese Art den Auszug seiner Großtante feiern wollte? Die alte Dame hatte sich entschlossen, das Stadthaus am Grosvenor Square zu verlassen, um zu einem Cousin überzusiedeln, der auf dem Lande lebte.
Everett versank wieder in seine Gedanken. Vor vier Jahren, als er den Titel seines Vaters erbte, hatte er kurz überlegt, ob er das Haus am Grosvenor Square umgestalten und beziehen sollte. Denn natürlich konnte er mit seinem Besitz tun und lassen, was er wollte. Dann hatte er sich jedoch entschieden, seiner Großtante zu gestatten, auch weiterhin dort zu leben. Er selbst würde vorerst in seiner Junggesellenwohnung bleiben. Eines wusste er nämlich genau: Seine Großtante Millicent würde ihm jedes Mal die Leviten lesen, wenn er etwas auch nur im Entferntesten Skandalöses tat.
Was er ihr besonders verübelte, war die Tatsache, dass sie sein Interesse an Kunst rundheraus verdammte. Genauer gesagt, sie lehnte eher seinen künstlerischen Geschmack ab als die Kunst als solche. Das allein war schlimm genug. Unverzeihlich jedoch war, dass sie eines seiner Lieblingsbilder, einen wunderschönen Akt, der in einem der wenig benutzten Gästezimmer hing, mit scharlachroter Farbe bespritzt hatte.
Dafür wollte er sich nun rächen. Ja, die Wandgemälde waren eine wundervolle Rache. Vielleicht würde der Schlag Großtante Millicent treffen, wenn sie erfuhr, was die Bilder darstellten. Nun, dann würde sie zumindest nicht mehr unentwegt über die Tugenden ihres frommen Vaters sprechen. Da dieser schon vor vielen Jahren gestorben war, konnte er sich im Gegensatz zu seiner Tochter nicht mehr über die erotischen Bilder aufregen, die jetzt die Wände seines ehemaligen Schlafzimmers bedeckten.
Ein halbes Dutzend Maler hatte Vorschläge gemacht, wie das Zimmer gestaltet werden könne. Doch nicht eine Idee, nicht eine der eingereichten Skizzen hatte Everett gefallen. Sicher, er hatte etwas eindeutig Erotisches verlangt. Aber was man ihm zeigte, war geschmacklos und lüstern. Auch wenn es ihm in erster Linie darum ging, seine Großtante zu ärgern, so wollte er doch auf keinen Fall in einem Raum voll drittklassiger Bilder schlafen.
Lionels Skizzen waren die einzigen gewesen, die ihm zusagten. Als er sie betrachtete, hatte sein Pulsschlag sich beschleunigt. Trotzdem hätte er auch sie beinahe zurückgewiesen. Denn auch nach sechs Jahren konnte eine Wunde noch brennen, wenn man Salz auf sie streute. Doch dann hatte er den Absender gelesen. Eine Adresse in der Nähe der Westminster Bridge – was nur bedeuten konnte, dass es Lionel finanziell schlecht ging.
Nun fühlte er sich verpflichtet, Lionel den Auftrag zu erteilen. Denn dadurch konnte er ihm helfen und so vielleicht ein wenig von dem wiedergutmachen, was er ihm damals angetan hatte. Es quälte ihn noch immer, dass sein unehrenhaftes Verhalten zum Bruch ihrer Freundschaft geführt hatte.
Damit hatte er seine Entscheidung gerechtfertigt. Dann hatte er noch einmal die Skizze der Nymphe betrachtet, wie sie dem Gott huldigte. Erregung hatte ihn ergriffen.
Später hatte er einen Antwortbrief an Lionel verfasst, in dem er Einzelheiten bezüglich des Auftrags aufzählte, aber mit keinem Wort den Anlass ihres Streits erwähnte. Zum Schluss hatte er höflich angefragt, ob es ihm und seiner Schwester gut ginge.
Auch heute noch schämte er sich, wenn er an Loveday Trehearne dachte. Nie würde er aufhören zu bereuen, was er aus Selbstsucht, Dummheit und jugendlichem Leichtsinn getan hatte. Er hätte es nicht über sich gebracht, ihren Namen in einem Brief an Lionel zu erwähnen. Erst recht nicht in einem Brief, in dem es um diese besondere Art von Wandgemälden ging. Nein, er würde nicht einmal andeutungsweise etwas über Loveday schreiben.
In seiner Antwort war Lionel nur auf die Gemälde und die vorgeschlagene Entlohnung eingegangen. Er hatte allen Bedingungen zugestimmt, selbst aber auch eine Forderung gestellt: Das Honorar sollte bei der Hoare’s Bank eingezahlt werden, man würde nur schriftlich Kontakt halten und sich niemals treffen.
Das – fand Everett – legte die Vermutung nahe, dass Loveday noch in seinem Haushalt lebte.
Stirnrunzelnd wandte er sich wieder den halb vollendeten Wandgemälden zu. Bisher handelte es sich um kaum mehr als Holzkohleskizzen von fünf verschiedenen Motiven. Mit dem Auftragen der Farben würde Lionel erst beginnen, wenn er den ersten Abschlag auf sein Honorar erhalten hatte. Die Bezahlung musste dringend in die Wege geleitet werden. Denn je eher Lionel sein Geld erhielt, desto eher würden die Gemälde fertig werden. Und desto eher kann ich das Haus beziehen, dachte Everett.
Er hätte nicht hier sein sollen. Schließlich hatte er sich damit einverstanden erklärt, dass es keine Treffen geben würde. Warum, zum Teufel, war er also in das Viertel an der Westminster Bridge gegangen und hatte dort einen Ladeninhaber bestochen, damit dieser ihm die genaue Adresse verriet?
Längst hatte Everett die Summe, die er Lionel schuldete, bei der Hoare’s Bank eingezahlt. Trotzdem stand er jetzt am Eingang zu einem ärmlichen, von schiefen Häusern umgebenen kleinen Platz, einem Hof eher, der den Namen Little Frenchman’s Yard trug. Er war im Begriff, die Vereinbarung mit Lionel zu brechen, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gab. Es sei denn …
Verflucht, ich will Lione leben unbedingt wiedersehen! Sonst nichts.
Vielleicht konnte er so etwas wie Wiedergutmachung leisten. Ganz gewiss würde er nicht noch einmal etwas tun, das er sein Leben lang bereuen musste. Allerdings kam es ihm nun, da er sich der feuchten stinkenden Passage näherte, die den einzigen Zugang zum Hof bildete, äußerst unwahrscheinlich vor, dass Loveday noch bei ihrem Bruder lebte. Lionel hätte niemals zugelassen, dass seine Schwester an einem Ort wie diesem wohnte. Vielleicht hatte sie geheiratet oder …
Geheiratet!Everett bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und zwang sich, sich zu entspannen. Es ging ihn nichts an, wenn Loveday geheiratet hatte. Er selbst war im Begriff, sich zu verloben. Sicher, noch hatte er Miss Angaston nicht persönlich kennengelernt. Doch seine Tanten hatten sich sehr taktvoll mit der Familie der jungen Dame in Verbindung gesetzt. Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass es eine hervorragende Partie sein würde. Phoebe Angaston war reich und schön, und er war ebenfalls reich und trug zudem einen Titel. Es war genau die Art von Verbindung, die er nach der Meinung all seiner Verwandten schließen sollte.
Seit seiner Kindheit hatte man ihm immer wieder erklärt, dass die Ehe eine Verpflichtung sei, der er sich nicht entziehen könne. Es ging um die Sicherung der gesellschaftlichen Stellung, um die Vermehrung des Reichtums, um das Fortbestehen der Familie. Liebe spielte keine Rolle.
Lionel hatte das nie infrage gestellt. Und er selbst? Nun, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater mit ruhiger Stimme die Namen von Mädchen aufgezählt hatte, die er für passende Ehekandidatinnen hielt, ehe er lächelnd sagte, dass nichts übereilt werden müsse. Dass Everett, wenn es sein Wunsch sei, sich vor der Hochzeit ruhig etwas austoben könne, wie es so viele Männer täten. Damals war ihm das vollkommen normal und logisch erschienen. So ging es in der Welt nun einmal zu.
Inzwischen allerdings war sein Vater seit vier Jahren tot, und Everett spürte, dass es an der Zeit war, eine Familie zu gründen. Die wiederholten, nur allzu deutlichen Hinweise seiner Tanten waren völlig überflüssig. Er wusste selbst, was zu tun war. Er wusste es, seit er am Morgen seines letzten Geburtstags mit schmerzendem Kopf und trockenem Mund aufgewacht war und sich im Spiegel kaum erkannt hatte. In jener Sekunde war ihm klar geworden, dass er als Viscount Verantwortung trug, dass es Menschen gab, die von ihm abhängig waren, dass er endlich erwachsen werden musste.
Everett blieb am Eingang der Passage stehen. Ihm war, als höre er jemanden schnarchen. Er schnupperte vorsichtig. Es roch unangenehm sauer. Welch schreckliche Gegend! Dabei hatte Lionel noch vor sechs Jahre mit Loveday, die ihm den Haushalt führte, in einer hübschen Wohnung in Bloomsbury gelebt. Sicher, es hatte sich um kein besonders elegantes Haus gehandelt, aber die Zimmer waren nett und bequem eingerichtet gewesen. Und Lionel hatte alles problemlos von seinen Einkünften als Maler finanzieren können. Warum, um Himmels willen, lebte er jetzt hier?
Zögernd ging Everett weiter. In der Passage war es erstaunlich dunkel. Trotzdem erkannte Everett jetzt, dass das Schnarchen von einem Menschen kam, der in der Nähe der feuchten Wand inmitten alter Zeitungen auf der Erde lag und den er zunächst für einen Haufen weggeworfener Kleidungsstücke gehalten hatte.
Wegen des unangenehm sauren Geruchs atmete er flach und ging rasch weiter. Dennoch konnte er, als er an dem schlafenden Mann vorbeieilte, deutlich dessen Gin-Fahne riechen. Rasch trat er auf den Hof. Im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends wirkten die Häuser noch trostloser. Um überhaupt aufrecht stehen zu können, schienen sie sich aneinander zu lehnen. Everett versuchte sich einzureden, bei Tageslicht sähe alles besser aus. Vergeblich. Alles hier würde immer feucht und ärmlich wirken. Und an einem regnerischen Abend wie diesem schien jede Kleinigkeit Verzweiflung auszudrücken.
In einer offenen Tür stand ein Junge und starrte ihn an. Als Everett sich dem Knaben näherte, flammte in dessen trüben Augen Angst auf. Er blieb stehen. „Hallo, ich will zu Lionel Trehearne.“
Der Junge zuckte die Achseln.
Eine zerzauste rotgefleckte Katze schlich vorbei. Im Maul trug sie eine Ratte, die beinahe ebenso groß war wie sie selbst.
Everett wandte keinen Blick von dem Kind ab, als er die Hand in die Tasche steckte und begann, mit ein paar Münzen zu spielen. Klirrend schlugen sie gegeneinander. „Ist das deine Zunge, die die Katze gestohlen hat?“
Der Junge schüttelte den Kopf, und vielleicht glomm einen Moment lang so etwas wie Humor in seinen Augen auf. „Nee, ne Ratte, ne dicke fette Ratte.“
„Stimmt. Und wie ich höre, kannst du tatsächlich sprechen. Also, wo wohnt Mr Trehearne?“ Wieder klimperte er mit den Münzen.
Der Knabe hob scheinbar gelangweilt den Arm und wies auf eine Tür auf der anderen Seite des Platzes hin. Ein paar schiefe Stufen führten zu ihr hinauf. „Da vielleich’. Sons’ wohnt hier keiner, der nen Kerl wie Sie kenn’ könnt’.“
„Danke.“ Everett warf dem Jungen eine Münze zu.
Überraschend geschickt fing er sie auf, und schon war sie irgendwo in den dreckigen Lumpen, mit denen er bekleidet war, verschwunden.
Nachdem er den Platz überquert hatte, stieg Everett vorsichtig die hölzernen Stufen hinauf. Sie gaben seltsame Laute von sich, so als wollten sie dagegen protestieren, dass jemand auf sie trat. Tatsächlich fürchtete Everett, die Konstruktion könne jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch sie hielt stand, und dann hatte er die Tür erreicht, die aus verschiedenfarbigen Brettern zusammengenagelt war. Er musterte sie misstrauisch und klopfte dann. Da sie nicht gleich in ihre Teile zerfiel, konnte er wohl darauf hoffen, dass Lionel sie öffnen würde.
Wenn er mich nur nicht gleich die Treppe hinunterwirft, ohne mich ausreden zu lassen, dachte Everett.
Nach einer Weile hörte er, wie sich leichte Schritte näherten. Dann fragte jemand: „Wer ist da?“
Sein Herz machte einen Sprung. Das war nicht der männliche Bariton, mit dem er gerechnet hatte. Er kannte diese sanft klingende helle Stimme, die ihn unweigerlich an ein Musikstück erinnerte. In seinem Kopf ging plötzlich alles durcheinander, und einen Moment lang brachte er kein Wort über die Lippen. Dann war da nur noch ein einziger Gedanke: Loveday!
Loveday, dachte er, sie ist hier! Und im gleichen Augenblick überrollte ihn eine Woge des Zorns.
„Ich bin es, Everett“, brachte er endlich hervor. „Lassen Sie mich herein!“
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür wurde geöffnet.
„Wie ich sehe“, stellte Loveday Trehearne spöttisch fest, „haben Sie in den letzten sechs Jahre nichts von Ihrem Charme eingebüßt.“
Einen Augenblick lang konnte er nichts anderes tun, als die Frau anzustarren, die in der Türöffnung stand. Er gab sich große Mühe, Lovedays Erscheinung mit dem Bild in Einklang zu bringen, das er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. Damals war sie ein hübsches junges Mädchen gewesen, fröhlich und unbeschwert. Die Zeit hatte sie verändert. Aber die hellbraunen Augen mit den langen Wimpern, das wie Rotgold glänzende Haar und das kleine runde Kinn hätte er immer und überall erkannt. Jetzt hob sie eine zierliche, von der Arbeit gerötete Hand, um sich mit einer vertrauten Geste eine Locke aus der Stirn zu schieben.
Es ist Loveday, dachte er, unverkennbar Loveday. Aber ihm war nicht entgangen, dass ihre Augen, die einst vor Lebensfreude gesprüht und so viel glückliche Unschuld ausgedrückt hatten, nun mit großer Vorsicht in die Welt blickten. Auch war da noch etwas anderes, etwas Dunkles, das er nicht zu benennen vermochte. Trauer? Verzweiflung womöglich? Ihr Haar, das sie damals zu einem losen Knoten geschlungen trug, aus dem sich immer wieder einzelne Strähnen lösten, war jetzt fest zusammengefasst. Dennoch fiel ihr diese Locke schon wieder in die Stirn. Ach, welcher Mann hätte nicht den Wunsch verspürt, sie zu berühren?
Everett schluckte und richtete den Blick auf Lovedays Mund. Ein bezaubernder Mund. Doch während er damals so gern und oft gelächelt hatte, sah er nun so aus, als wisse er gar nicht, was ein Lächeln ist.
„Bei Jupiter, Loveday“, stieß Everett hervor, „was denkt Lionel sich dabei, Sie in einem Loch wie diesem unterzubringen?“ Er machte einen Schritt nach vorn, trat, da es keinen Flur gab, in das feuchte dunkle Zimmer.
Ihre Augen blitzten zornig auf. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie hereingebeten zu haben.“
Ihr Ton war so eisig, dass Everett schlagartig manches einfiel, was er lieber vergessen hätte. Er straffte die Schultern. „Sie wollten mich nicht hereinlassen, obwohl Sie mir doch die Tür geöffnet haben?“ Im gleichen Moment schon bedauerte er seine Worte. Himmel, Loveday hatte allen Grund und jedes Recht, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen!
Sie ballte die Hände zu Fäusten, und ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Nur wenn die Tür offen ist, Mylord, kann ich Sie die Treppe hinabstoßen.“
Er musste ein paar Mal tief durchatmen, so schmerzhaft trafen ihn ihre Worte. Aber, weiß Gott, er hatte es nicht besser verdient! „Es tut mir leid“, sagte er dann leise. „Es war nie meine Absicht, Ihnen wehzutun.“
„Natürlich nicht. Wahrscheinlich beabsichtigten Sie überhaupt nichts!“
Früher war sie nicht so abweisend und hart gewesen! „Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Ich hätte Sie nie berühren dürfen.“
„Sie haben Fehler gemacht?“ Ihre Augen blickten eiskalt. „Wie bedauerlich für Sie.“ Um ihren Mund zuckte es. Wie schmal ihre Lippen plötzlich waren! „Es war vereinbart, dass Sie nicht herkommen. Warum halten Sie sich nicht an die Abmachung?“
„Haben Sie darauf bestanden, diese Bedingung in den Vertrag aufzunehmen?“
Sie zuckte die Schultern. „Es ist doch gleichgültig, wer sich diese Bedingung ausgedacht hat.“
Das fand er nicht.
„Wo ist Lionel?“ Noch immer fassungslos schaute Everett sich um. „Er hat doch als Maler nie schlecht verdient. Und die Skizzen, die er mir geschickt hat, waren so gut, dass er bestimmt auch jetzt hohe Preise für seine Werke fordern könnte. Warum also leben Sie hier?“
Loveday hob eine ihrer fein geschwungenen Brauen. „Hier in diesem Loch, meinen Sie? Nun, die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Mode. Das, Mylord, gilt für die Kunst ebenso wie für … Frauen.“
„Bitte, tun Sie das nicht!“
„Was? Die Wahrheit aussprechen?“
„Sprechen Sie mich nicht mit Mylord an, so als seien wir Fremde.“ Er bemühte sich, seinen Zorn unter Kontrolle zu bringen und sich nicht anmerken zu lassen, wie heftig Loveday seine Gefühle verletzt hatte. „Bitte, erlauben Sie mir doch, Ihnen und Lionel zu helfen! Ich kann Ihnen Geld geben. Oder …“
„Nein!“, stieß sie hervor.
„Verflucht, Loveday! Es ist doch nur Geld! Es bedeutet nichts.“
„Das lässt sich leicht sagen, wenn man genug davon hat“, spottete sie. „Außerdem muss ich mich zwangsläufig fragen, warum Sie uns Geld anbieten. Etwa als Entschädigung für das, was Sie vor sechs Jahren getan haben?“
Sie dachte, er wolle sich mit Geld von seiner Schuld freikaufen? Jetzt ballte er die Hände zu Fäusten.
Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Wie kalt sie ihn anschaute! Er musste die Augen abwenden. O Gott, es war so schwer, die Beherrschung zu wahren!
Als er schließlich wieder zu Loveday hinsah, wusste er weniger als je zuvor, wie er sich in dieser unangenehmen Situation verhalten sollte. Sie beobachtete ihn noch immer, dabei war ihr Gesicht so ausdruckslos wie eine Maske. Aufs Neue wallte Zorn in ihm auf. Er biss die Zähne zusammen – und dann erkannte er die Lösung.
Bisher hatte er dem schäbig eingerichteten Zimmer, das zudem nur von einer einzigen Kerze erleuchtet wurde, kaum Beachtung geschenkt. Nun jedoch bemerkte er die vielen Gemälde, die überall standen.
„Ich werde ein paar Bilder kaufen“, verkündete er.
„Ich verstehe nicht …“
War das nicht eigentlich sein Text? Nun, wie auch immer, es war eine Erleichterung zu sehen, dass Lovedays Gesicht nun nicht mehr einer leblosen Maske glich, sondern einen verwirrten Ausdruck trug.
„Lionels Bilder haben mir immer gefallen“, erklärte er. „Ich möchte einige kaufen.“ Wenn er sich ein paar aussuchte, würde er den Trehearnes Geld genug geben können, um ihnen einen Umzug zu ermöglichen. Ja, so vermochte er ihnen zu helfen, ohne ihren Stolz zu verletzen. Sie würden diese Hölle verlassen können, ohne dass er Loveday mit seiner finanziellen Unterstützung das Gefühl gab, wie eine Dirne bezahlt zu werden.
„Sie haben doch keines der Gemälde auch nur angeschaut!“, protestierte Loveday.
Tatsächlich standen die Bilder so, dass man nur die leere Rückseite der Leinwand sah. Aber eigentlich war es auch überflüssig, sie zu begutachten. Da Lionel sie gemalt hatte, würden sie gut sein. Trotzdem sagte Everett nun beruhigend: „Das lässt sich ändern.“ Zielstrebig ging er zu einem Stapel hin, der gegen ein Tischbein gelehnt war, bückte sich und begann, die Gemälde durchzuschauen.
Es gab ganz unterschiedliche Motive. Eine Gebirgslandschaft zum Beispiel, wohl in Italien von Lionel erschaffen. Ein wunderschönes stimmungsvolles Gemälde, das – genau wie alle anderen auch – eine Bereicherung jeder ernstzunehmenden Kunstsammlung sein würde. Er zog es heraus, stellte es an die Seite und schaute sich das nächste an.
Ihm stockte der Atem. Diese Farben! Diese Weite! Dieses allumfassende Gefühl der Einsamkeit! Ein Strand, kleine Wellen und in einer Ecke eine winzige menschliche Gestalt, die vom Licht der untergehenden Sonne wie in Gold getaucht wirkte. Ein Traum, aber ein sehr trauriger Traum …
Everett zog das Bild aus dem Stapel heraus und stellte es zu der Gebirgslandschaft.
Er würde sich noch ein drittes aussuchen. Das nächste stellte ein buntes Blumenmeer dar. Und dann … Er kannte dieses Bild! Nein, er kannte es nicht als Gemälde. Er kannte es aus der Vergangenheit, aus der Wirklichkeit. Eine junge Frau, die mit hoch gezogenen Beinen in einem zerschlissenen alten Sessel saß und ein getigertes Kätzchen streichelte, das sie auf dem Schoß hielt. Da ihr Kopf ein wenig nach vorn gebeugt war, fielen ihr die rotgolden glänzenden Locken ins Gesicht. Wie schön sie war …
Hatte Lionel das Werk vor oder nach dem unverzeihlichen Ereignis geschaffen?
O Gott, ich muss es haben!
Vorsichtig stellte er es zu den anderen beiden Bildern. „Wie viel kosten sie?“
Sie starrte ihn an. Es dauerte einen Moment, ehe Loveday fragte: „Sie wollen alle drei? Auch das Strandbild?“
„Ja, gerade das gefällt mir besonders gut. Wie viel also?“
Plötzlich sah sie verängstigt, gehetzt, beinahe panisch aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihre Lippen bebten. „Ich … Ich weiß nicht“, stammelte sie.
„Fünfzig?“, schlug er vor.
„Fünfzig für alle?“ Sie schien sich gefangen zu haben, schaute jetzt beinahe entrüstet drein.
„Fünfzig für jedes.“
„Das“, stellte Loveday fest, „ist zu viel.“
„Durchaus nicht“, widersprach er. „Sie sind gut. Sie sind sogar hervorragend. Etwas Besonderes.“ Und das war nicht gelogen. Vor allem das Strandbild war wunderbar. Genau wie die Wandgemälde in seinem Schlafzimmer drückte es eine tiefe Sehnsucht aus. Dazu eine Traurigkeit, die bei den anderen Werken zum Glück fehlte. Lionel musste seinen Stil irgendwann geändert haben. Denn seine früheren Arbeiten waren zwar ebenfalls bewundernswert, aber insgesamt sachlicher, weniger gefühlsbetont.
„Was ist mit ihm geschehen, Loveday?“, fragte Everett, ohne den Blick von dem Gemälde abzuwenden.
„Ich … Er … Was genau meinen Sie?“
Er schaute auf. „Der Mann, an den ich mich erinnere, hätte ein so … so eindringliches Bild wie dieses Strandmotiv nicht gemalt.“
Alles Blut schien aus ihren Wangen zu weichen. „Aber …“
„Es ist offensichtlich“, fuhr Everett fort,„dass irgendetwas ihn verändert hat. Er hat seine Technik beibehalten, doch alles andere hat sich gewandelt. Das ist nicht der alte Lionel.“
Loveday biss sich auf die Unterlippe, doch ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas. „Ich denke, das italienische Lebensgefühl hat ihn beeinflusst. Ja“, sie sprach jetzt schnell, und ihre Wangen röteten sich wieder, „Italien verändert alle, die dort leben.“
Sie war nie eine gute Lügnerin gewesen. Ihre Hände, die sie auch jetzt nervös öffnete und schloss, hatten sie immer verraten. Doch Everett wollte nicht mir ihr streiten. „Hm …“, murmelte er daher nur. „Ich nehme also diese drei. Das Geld werde ich direkt bei Hoare’s einzahlen, wenn es Ihnen recht ist. Und morgen komme ich wieder, um noch ein paar Bilder zu holen.“
Fassungslos starrte sie ihn an. „Noch ein paar?“
„Ja.“ Er nickte. „Diese hier möchte ich gleich mitnehmen. Doch gewiss werde ich noch mehr finden, was mir gefällt. Ich werde mich gleich jetzt entscheiden, die Bilder aber vorerst hier lassen. Deshalb muss ich morgen noch einmal wiederkommen.“
Loveday beobachtete, wie er sich dem nächsten Stapel zuwandte. Ihr Magen schien sich verknotet zu haben, und jeder Schlag ihres Herzens schmerzte. Was sollte sie nur tun? Er stellte so viele Gemälde beiseite.
Als sie nach unten schaute, bemerkte sie, dass ihre Finger die Schürze gepackt hatten und an dem Stoff zerrten. Die Schürze war voller Farbflecke. O Gott! Wenn ihm das nun auffiel! Möglichst unauffällig zog sie das schmutzige Kleidungsstück aus und stopfte es in eine Schublade.
Everett war so versunken in seine Begutachtung der Gemälde, dass er ihr zum Glück keinerlei Beachtung schenkte. Sie betrachtete ihn, fügte den Bildern von ihm, die sie in ihrer Erinnerung bewahrte, neue hinzu, spürte, wie der Knoten in ihrem Inneren sich langsam löste.
Warum nur war es immer noch so faszinierend, ihn zu beobachten? Er war in die Hocke gegangen, um die Bilder durchsehen zu können. Die Stellung musste unbequem sein, aber er wirkte ganz entspannt. Von jeher war er ein sportlicher Typ gewesen. O ja, sie hatte nicht vergessen, wie muskulös er war. Einen Moment lang war ihr, als könne sie unter ihren Fingern seine kräftigen Muskeln spüren. Sie musterte seine breiten Schultern, seine Schenkel, die schmalen Hüften, die starken männlichen Hände.
Was mochte in ihm vorgehen? Ahnte er die Wahrheit womöglich? Angst flackerte in Loveday auf, und ihr Mund fühlte sich plötzlich trocken an.
„Morgen werde ich die Kutsche mitbringen“, meinte er. „Denken Sie, dass Lionel mir weiterhin aus dem Weg gehen will? Was werden Sie ihm sagen?“
Sie holte tief Luft. In ihrem Kopf ging alles durcheinander, aber sie musste eine Antwort auf Everetts Frage finden! Eine ehrliche Antwort. „Wann hätte ich Lionel jemals etwas anderes als die Wahrheit gesagt?“
Seine dunkelblauen Augen verrieten nichts außer einer gewissen Neugier. „Nie, das weiß ich. Ich frage mich nur, ob er Ihnen zürnen wird, weil Sie mich eingelassen haben. Schließlich hat er sich geweigert, mich zu treffen. Er will mich nicht sehen, nicht wahr.“
„Ich war es, die …“ Sie unterbrach sich.
Everett richtete sich langsam auf. Er sah aus, als habe er gerade ein paar schmerzhafte Schläge einstecken müssen. „Sie vertrauen mir nicht.“
„Doch. Das heißt … Also …“ Vergeblich versuchte sie, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. „Ich bin ein solcher Dummkopf gewesen.“
„Nein“, sagte er ernst, „machen Sie sich keine Vorwürfe. Es war alles mein Fehler.“
„O nein, nicht alles“, murmelte sie. Und da er so aussah, als wolle er widersprechen, fuhr sie rasch fort: „Ich schäme mich noch immer für meine Dummheit. Wenn ich mich anders verhalten hätte, wäre es nie dazu gekommen. Das habe ich auch Lionel gesagt.“
„Ich brauche also nicht zu befürchten, dass Lionel sich mit dem Fleischmesser auf mich stürzt, wenn er von meinem Besuch hier erfährt?“
O Gott!„Lionel hat Ihnen schon vor langer Zeit vergeben.“
„Wirklich?“, vergewisserte Everett sich. „Aber Sie können mir nicht verzeihen.“
Ihr Stolz hatte gelitten, aber verloren hatte sie ihn nicht. „Es gibt nichts zu verzeihen“, erklärte sie. „Ich habe einen Fehler gemacht, genau wie Sie.“ Natürlich war es ein sehr dummer Fehler gewesen. Wie hatte sie nur glauben können, die Tochter eines Schulmeisters würde einem Adligen wie Everett wirklich etwas bedeuten? „Und ich ziehe es vor, nicht daran erinnert zu werden.“
Ein Muskel in seinem Kinn zuckte. „Dann werde ich Sie jetzt von meiner Anwesenheit befreien.“ Er beugte sich zu den Gemälden hinunter.
„Warten Sie!“
„Ja?“
„Es hat zu regnen begonnen. Wir müssen die Bilder in Ölpapier wickeln, um sie zu schützen.“
Unglücklicherweise befand sich das Ölpapier in der Schublade, in die sie ihre Schürze gestopft hatte.
Loveday zog die Schublade auf und bemühte sich, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Sie griff nach dem Ölpapier, holte es vorsichtig heraus und wandte sich um. Everett hatte die drei Gemälde auf einem Stuhl abgestellt. Zögernd ging sie auf ihn zu, das Ölpapier wie einen Schutzschild vor sich haltend. Vor dem Stuhl kniete sie sich auf den Boden und begann, das erste der Bilder einzuwickeln.
Es handelte sich um das Porträt. Lionel hatte es gemalt, bevor sie nach Italien gegangen waren. Um genau zu sein: Er hatte es sogar vor allem gemalt. Wie unbeschwert sie damals gewesen war! Wie sie gelacht, geplaudert und Pläne geschmiedet hatte! So wenig hatte ihr Kummer bereitet. Der Tod des Kätzchens natürlich … Ja, der arme kleine Oliver … Sie erinnerte sich noch so genau an ihn. Wie lange das her war!
Ein Seufzen unterdrückend griff Loveday nach dem nächsten Bild, um es einzupacken. Dass Lionel die Berglandschaft gemalt hatte, lag nun auch schon Jahre zurück. Wie großartig die Berge aussahen, einer höher als der andere, ein wildes Durcheinander von Gipfeln, die in den Himmel zu streben schienen.
„Es ist wichtig zu wissen, warum man etwas malt“, hatte Lionel gesagt. „Hier geht es mir um den Gegensatz Fassbarem und Unfassbarem, von Himmel und Erde, von irdischen Grenzen und Unendlichkeit.“ Sie hatte genau verstanden, was er meinte. Und nun, da sie sich an seine Worte erinnerte, füllten ihre Augen sich mit Tränen. Rasch wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem dritten Gemälde zu.
Es half nichts. Ihr war noch immer nach Weinen zumute. Sie schluckte und schaute zum letzten Mal den weiten Strand an mit der einsamen Gestalt, die gefangen war zwischen Land und Meer, verloren …
Langsam atmete Loveday aus. Sie trennte sich nur ungern von diesen Werken, obwohl sie wusste, dass es besser war, sie herzugeben. Viel besser. Vor allem, da die Miete bezahlt und etwas zu essen gekauft werden musste.
Sie erhob sich und schaute zu Everett auf. Sie fühlte, dass sie ihm die Gemälde anvertrauen konnte, weil er ihren Wert kannte. Dann bemerkte sie, dass er die Stirn runzelte.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung? Haben Sie es sich anders überlegt?“
„Nein. Ich dachte nur gerade, wie wichtig es ist, dass ich gut auf die Bilder achtgebe.“
Schon immer hatte er in bestimmten Situationen ihre Gedanken lesen können. Aber daran wollte sie sich jetzt nicht erinnern. „Sie hätten Ihr Geld verschwendet, wenn die Gemälde Ihnen nichts bedeuteten. Hier!“ Sie hielt ihm die drei Pakete hin. „Nehmen Sie sie!“
Als er nach ihnen griff, berührten sich ihre Finger, und ein heißer Schauer überlief Loveday. Everett stand jetzt so nah bei ihr, dass sie jede einzelne seiner Wimpern erkennen konnte. So nah, dass sie sah, wo er sich am Morgen rasiert hatte, und dass ihr der Duft seines Rasierwassers in die Nase stieg.
Einst hatte dieser Duft ihre Welt erfüllt. Damals hatte sie noch Träume gehabt. Sie hatte geglaubt, Everett würde irgendwann bemerken, dass sie kein Kind mehr war, sondern eine Frau, die ihn sehr glücklich machen konnte. Sie hatte sich vorgestellt, wie er sie zärtlich streicheln würde und wie sie seine Wange an die seine legte.
Manchmal wurden Träume wahr. Doch einige von ihnen hinterließen einen bitteren Nachgeschmack.
Lovedays Herzschlag beschleunigte sich, als Everett die Lider hob und sie direkt in seine tiefblauen Augen schaute.
„Sie müssen loslassen“, sagte er.
Das hatte sie doch getan. Schon vor langer Zeit. Aber dann verstand sie, was er meinte: Sie hielt noch immer die Bilder umklammert. Rasch zog sie die Hände zurück. Die Gemälde waren in Everetts Besitz übergegangen. Ihr allerdings war, als habe sie etwas verloren, was untrennbar zu ihr gehörte.
Er klemmte sich die in Ölpapier gewickelten Pakete unter den Arm und reichte Loveday ein paar Goldmünzen.
„Wofür?“
„Ein Vorschuss.“ Er schaute sich im Raum um. „Das Geld ist doch sicher hier?“
„Es gibt einen sicheren Platz.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Everett brauchte nicht zu erfahren, dass sie Geld stets in ihrem Mieder aufbewahrte.
Er hob die Brauen und richtete den Blick kurz auf ihre Brüste, woraufhin sie errötete. Natürlich hatte er sofort gewusst, was sie mit dem sicheren Platz meinte. Sie straffte die Schultern und schaute ihm ins Gesicht. Er sollte nur nicht wagen, einen Kommentar dazu abzugeben!
Noch immer hielt er ihr die Münzen hin, schweigend.
Sie nahm sie. Fünf Sovereigns, das war mehr, als sie seit einer halben Ewigkeit in den Händen gehalten hatte. Sie hatte vergessen, wie schwer eine solche Münze war. Sie würde sich etwas zu essen kaufen können. Ihr Magen schmerzte vor Hunger, und ihr Puls raste. Aber es gelang ihr, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen.
Everett beobachtete sie aufmerksam. Ihr Verhalten schien ihn ein wenig zu verwirren. „Wann soll ich morgen kommen?“, fragte er.
„Um fünf.“ Ihr würde dann genug Zeit bleiben, um nach der Heimkehr alles fortzuräumen, was er nicht sehen sollte.
„Gut. Wird Lionel dann hier sein?“
„Nein. Er wird nichts dagegen haben, dass Sie kommen. Aber da sein wird er nicht.“ Sie konnte den Blick nicht von seinen dunkelblauen Augen abwenden, und es kostete sie einige Mühe, eine gleichgültige Miene zur Schau zu stellen.
Everett wandte sich zur Tür, wo er sich allerdings noch einmal umdrehte und erneut ihren Blick suchte. „Loveday, ich habe einmal an Lionel geschrieben, um mich zu vergewissern, dass Sie …, dass wir …, dass es keine Folgen …“ Unzufrieden mit sich selbst, schüttelte er den Kopf. „Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Haben Sie ein Kind von mir empfangen?“
Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Ihre Stimme aber klang ruhig. „Nein, Everett. Ich schwöre, dass es kein Kind gibt.“
Sie sah, wie er sich entspannte.
„Gut“, sagte er, verbeugte sich leicht und verließ die Wohnung.
Loveday schloss die Augen und versuchte mit aller Macht, die Tränen zurückzuhalten. Schließlich war die Tür zwischen Everett und ihr nicht zum ersten Mal geschlossen worden.
Gott, ich danke dir dafür, dachte Everett.
Loveday hätte es wirklich nicht verdient, auf diese Art für seine Dummheit bestraft zu werden. Er hatte Lionel damals gesagt, wenn Loveday ein Kind erwartete, so würde er sich nicht vor der Verantwortung drücken. Später hatte Lionel ihm einen Brief geschickt, in dem er versicherte, seine Schwester sei nicht schwanger und es bestünde daher kein Grund, irgendein Opfer zu bringen.
Warum hätte er Lionel nicht glauben sollen? Er hatte sich also mit der Auskunft zufriedengegeben. Doch nun bei dem Wiedersehen mit Loveday hatte er das dringende Bedürfnis verspürt, auch von ihr zu hören, dass alles in Ordnung sei. Sein Gewissen verlangte das von ihm.
Besser wäre es natürlich, wenn ich sie nie verführt hätte …
Everett stieß einen Seufzer aus und winkte eine Droschke herbei. In erster Linie ging es ihm darum, die Gemälde vor dem Regen zu schützen. Zudem kam ihm die Gelegenheit gerade recht, während der Fahrt in Ruhe nachdenken zu können. Es gab so viel, das ihm leid tat. Nun, wenigstens würde er Loveday bald wiedersehen. Aber warum, um alles in der Welt, bedeutete ihm das so viel? Wenn er nur einen Funken Ehre in sich hatte, durfte er sie nie wieder berühren.
Verflucht, er brauchte nur einmal in ihre goldbraunen Augen zu sehen, und schon erwachte wieder das Verlangen in ihm. Er wollte sie noch immer genauso sehr wie vor sechs Jahren. Es war ein Zufall gewesen, dass er sie damals allein angetroffen hatte. Ihr getigertes Kätzchen war von einer Kutsche überrollt worden, was ihr fast das Herz gebrochen hatte. Er hatte sie trösten wollen. Nur einen Moment lang hatte er sie in die Arme schließen wollen. Doch er hatte sein wachsendes Verlangen nach Loveday unterschätzt. Seine Standhaftigkeit und seine moralische Stärke wiederum hatte er überschätzt.
Er bemühte sich, an etwas anderes zu denken.
Es wollte nicht gelingen. Morgen würde er Loveday wiedersehen. Leider war er sich nicht sicher, was seine moralische Stärke betraf. Nun, er würde einen Diener mitnehmen, damit dieser ihm beim Tragen der Bilder behilflich war. Und am darauffolgenden Tag würde er London sowieso verlassen. Er hatte versprochen, an einer Hausparty teilzunehmen, die seine Tante Caroline in Steynings gab. Sie hatte ihn gebeten, als Gastgeber zu fungieren. Nach einigem Zögern hatte er sich damit einverstanden erklärt, vor allem, da die Party ihm die Möglichkeit bot, Miss Angaston näher kennenzulernen, die junge Dame, die er wahrscheinlich heiraten würde.
Wenn er Miss Angaston den Hof machte, konnte er unmöglich Loveday verführen. Dazu war er nun doch zu sehr Gentleman. Schade nur, dass er vor sechs Jahren so vollkommen vergessen hatte, wie ein Gentleman sich zu benehmen hat. Im Rückblick fand er den draufgängerischen jungen Dummkopf, der er damals gewesen war, ziemlich unsympathisch.
Der Aufenthalt in Steynings würde ihm guttun. Wenn er schließlich nach London zurückkehrte, würden die Wandgemälde fertig sein und es würde keinen Grund geben, Loveday Trehearne noch einmal aufzusuchen.
Er konnte sie nicht fassen, obwohl sie doch in seinen Armen lag. Ihr Haar erinnerte ihn an einen duftenden Schleier. Ihr Körper war flüchtig wie feiner Nebel. Und doch genoss er ihre Gegenwart.
Wie lange es zurücklag, dass sie einander so nahe gewesen waren! Er wagte kaum zu glauben, dass sie nun wirklich bei ihm war. Dass sie sein Gesicht mit kleinen Küssen bedeckte. Dass er tatsächlich ihren Atem wie eine Liebkosung auf seiner Haut spürte.
Sein Körper war geradezu schmerzhaft angespannt, so sehr sehnte er sich danach, sie zu besitzen. Er wandte den Kopf, um ihre Lippen zu küssen. Eine kurze Berührung – und schon war da wieder dieser Nebel, der sie trennte. Er wollte sie festhalten. Doch sie entglitt seinen Fingern. Er wollte nach ihr rufen, sah, dass sie weinte. Und dann war sie fort.
Seine Kehle schmerzte, als er mit einem Schrei erwachte.
Everett ließ sich in die Kissen zurückfallen. Kalter Schweiß bedeckte seine Haut. Er fühlte sich schwach und zittrig. War er womöglich krank? Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, griff er nach einem Glas Wasser, das auf dem Nachttisch stand, und trank in langen Zügen.
In den vergangenen Wochen war er oft so aufgewacht. Und jedes Mal war er so erregt gewesen, dass sein Körper schmerzte. Was auch immer er geträumt hatte – es machte ihn nicht glücklich. Diese Art von Verlangen empfand er als eine schreckliche Qual. Er litt körperlich ebenso wie seelisch. Wenn er wenigstens wüsste, wovon seine Träume handelten! Aber alles, woran er sich erinnern konnte, war ein dichter Nebel.
Noch immer zitternd schloss er die Augen. Wenn seine Erregung endlich nachließ, würde er wieder einschlafen können.
Die Glocken von St. Clement Danes schlugen gerade vier Mal, als Loveday die Tür zu der kleinen Wohnung am Little Frenchman’s Yard öffnete. Ihr blieb also eine Stunde, um sich zu waschen, sich umzuziehen und aufzuräumen. Es gab einiges, was sie vor Everett verstecken wollte. Aber die Arbeit fiel ihr schwer. Ihr Rücken schmerzte ebenso wie ihre Arme und Beine. Wie sehr sie sich nach einer Tasse Tee sehnte! Aber in letzter Zeit hatte sie sich keinen Tee leisten können.
Während sie Pinsel reinigte, dachte sie daran, dass sie nun über genug Geld verfügte, um Tee zu kaufen. Sie besaß sogar genug, um in eine bessere Gegend zu ziehen! Allerdings gab es viele Hausbesitzerinnen, die nicht an Künstler vermieten wollten. Und was die Hausbesitzer betraf … Nun, sie zog es vor, nicht darüber nachzudenken, was die zusätzlich zur Miete wohl fordern mochten. Wie gut, dass sie sich nun keine Sorgen mehr darüber machen musste. Bald schon würde sie in Sicherheit sein. Und sie würde Erfolg haben.
Es war das Läuten der Kirchenglocken, das Loveday aus ihren Überlegungen riss. Fünf Schläge! Und sie hatte noch nicht alle Pinsel gereinigt! Sie musste sich beeilen!
Als es sechs Mal läutete, war Everett noch immer nicht da. Hatte er sich verspätet? Oder würde er gar nicht kommen? Zweifellos machte er sich keine Gedanken darum, dass sie hungrig war. Wahrscheinlich hatte er sich noch nie klar gemacht, dass es Menschen gab, die nicht einfach nach einem Bediensteten rufen und sich etwas zu essen und zu trinken bringen lassen konnten.
Sie hasste diese Anfälle von Verbitterung. Sie waren so unfair. Schließlich hatte Everett ihr am Tag zuvor fünf Sovereigns dagelassen. Von dem Geld würde sie sich viele Tage lang etwas zum Abendessen kaufen können.
Vielleicht hatte er beschlossen, nicht selbst zu kommen, sondern lediglich einen seiner Diener zu schicken. Er hatte die Bilder ja schon tags zuvor ausgesucht. Und sie hatte sie mittlerweile eingepackt. Seine Anwesenheit in ihrer Wohnung war also überflüssig. Eigentlich war es sogar besser, wenn sie ihm nicht mehr begegnete. Es war sicherer.
Loveday begann, an ihrer Unterlippe zu nagen. Warum sollte sie um ihre Sicherheit fürchten, da er doch klar und deutlich gesagt hatte, dass er sie nicht berühren würde? Ach, in Wirklichkeit machte sie sich lediglich Sorgen um ihr Herz. Hatte dieses törichte Organ denn in den vergangenen Jahren nicht Zeit genug gehabt, vernünftig zu werden?
Als es an der Tür klopfte, begann ihr Herz zu rasen. Wahrhaftig, es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es noch genauso unvernünftig reagierte wie damals.
Loveday schaute sich ein letztes Mal prüfend im Zimmer um, holte tief Luft und öffnete die Tür.
Erleichterung überkam ihn, als er Loveday sah. Er starrte sie an. Noch konnte er kaum fassen, dass er solche Angst gehabt hatte. Bei Jupiter, es war ihm nicht einmal bewusst gewesen! Ob es daran lag, dass sie schon einmal aus seinem Leben verschwunden war? Hatte er gefürchtet, auch diesmal würde nichts von ihr bleiben als eine schöne und zugleich schmerzliche Erinnerung?
„Guten Tag, Mylord. Die Bilder stehen schon bereit. Brauchen Sie Hilfe, um sie zur Kutsche zu tragen?“
Ich wünschte, sie würde mich Everett nennen!
Früher hatte sie ihn immer mit dem Vornamen angesprochen. Aber er hatte ihre Freundschaft zerstört, und es war ihr Recht, ihn daran zu erinnern. Daran und an die Tatsache, dass ein gesellschaftlicher Abgrund zwischen ihnen klaffte.
„Ich habe einen Mann mitgebracht, der sich um die Gemälde kümmern wird“, erklärte er. Es bedrückte ihn, dass Loveday ihn offensichtlich so rasch wie möglich wieder loswerden wollte. „Wir werden Sie nicht lange aufhalten.“
Sie schien etwas entgegnen zu wollen, wandte sich dann jedoch schweigend ab.
Er beobachtete, wie sie ihre verkrampften Schultermuskeln zu lockern versuchte. Am liebsten hätte er sie gefragt, ob er sie massieren solle. Gewiss wäre es ihm rasch gelungen, ihr Entspannung zu verschaffen. Aber daran war natürlich nicht zu denken. Er konnte sie unmöglich berühren, wenn sein Diener sich im gleichen Raum aufhielt.
Er unterdrückte einen Fluch und meinte zu dem wartenden Mann: „Fangen wir an!“
Es dauerte nicht lange, bis sie alle erworbenen Bilder unter den staunenden Blicken der im Hof versammelten zerlumpten Anwohner zur Kutsche gebracht hatten.
Everett hatte eigentlich nicht vorgehabt, noch einmal in die schäbige Wohnung zurückzukehren. Doch dann schickte er den Kutscher mitsamt dem Diener und den Bildern fort und stieg erneut die wackeligen Stufen hinauf. Er musste Loveday unbedingt noch sagen, dass er das Geld bereits bei der Bank eingezahlt hatte.
Die Tür stand offen. Das gefiel ihm nicht. In dieser Gegend musste man vorsichtig sein. Er hob die Hand, um mit einem Klopfen auf sich aufmerksam zu machen – und erstarrte mitten in der Bewegung.