Historical Exklusiv Band 91 - Louise Allen - E-Book
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Historical Exklusiv Band 91 E-Book

Louise Allen

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Beschreibung

DER DIEB IST EINE LADY von ANNE HERRIES
Ertappt! Captain Richard Hernshaw, Geheimagent des Königs, erwischt einen Straßenjungen beim Diebstahl. Doch er lässt Milde vor Recht ergehen – und entdeckt erstaunt, dass der Knabe in Wirklichkeit eine junge Frau in Verkleidung ist! Georgina Bridges, reiche Erbin auf der Flucht vor ihrem Verlobten, ist so hinreißend, dass sie seine Sehnsucht weckt …

EIN LORD FÜR MISS LILY von Louise Allen
„Ich heirate mindestens einen Baron!“ Das musste Lily, die Tochter eines reichen Teehändlers, ihrem Vater schwören. Doch als sie von einem adeligen Verehrer während einer Kutschfahrt unsittlich belästigt wird, flieht sie verzweifelt ins nächste Gasthaus – direkt in die Arme von Jack Lovell. Ausgerechnet dieser einfache Mann, ein Arbeiter ohne Adelstitel, weckt heißes Verlangen in ihr. Hin- und hergerissen zwischen Leidenschaft und Pflicht, steht Lily bald vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

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Anne Herries, Louise Allen

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 91

IMPRESSUM

HISTORICAL EXKLUSIV erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe HISTORICAL EXKLUSIV, Band 91 09/2021

© 2008 by Anne Herries Originaltitel: „The Homeless Heiress“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Eleni Nikolina Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 534

© 2006 by Melanie Hilton Originaltitel: „Not Quite a Lady“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Martina Manecke Deutsche Erstausgabe 2014 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 554

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751502290

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Der Dieb ist eine Lady

1. KAPITEL

London, 1815

Captain Richard Hernshaw hielt inne und lauschte angespannt in die bedrohliche Dunkelheit der engen Gasse, die hinter ihm lag. Er wurde verfolgt. Dank seiner Arbeit als Geheimagent der britischen Regierung hatte er ein untrügliches Gespür für Gefahren entwickelt. Er wusste, dass er ein Risiko einging, als er seine Kontaktperson im finsteren Straßenlabyrinth des Armenviertels getroffen hatte. Aber der Mann wollte sich an keinem anderen Ort zeigen. Es handelte sich um einen Erzhalunken, wenn nicht um weit Schlimmeres. Immerhin war das Treffen gut verlaufen. Richard hatte genau das erhalten, was er wollte. Doch seit er den Kontaktmann verlassen hatte, folgte ihm ein Schatten. Wer stellte ihm nach und aus welchem Grund?

Auf diese Frage brauchte er unbedingt eine Antwort. Die wichtigen Papiere, die er bei sich führte, enthielten vermutlich den Schlüssel zu einem Komplott, das er und seine Kollegen aufdecken mussten. Man befürchtete, dass ein Mordanschlag auf mehrere prominente Regierungsmitglieder und sogar auf den Prinzregenten vorbereitet wurde. Richard nahm an, dass die Dokumente, die er in der Innentasche seines Gehrocks trug, die Namen der Verschwörer verrieten. Wenn mein Verfolger von den Papieren weiß, laufe ich Gefahr, sowohl die Dokumente als auch mein Leben zu verlieren, dachte er.

Angriff ist die beste Verteidigung! Er bog um die Ecke und lehnte sich in Erwartung seines Verfolgers dicht gegen die Hauswand. Seine Ahnungen bewahrheiteten sich, denn schon nach wenigen Augenblicken eilte ein kleiner dunkler Schatten um die Ecke. Blitzschnell schnappte er nach dem Arm des Schurken. Sein Griff war eisern wie eine Handschelle.

„Lassen Sie mich los!“ Die Stimme klang wütend und furchtsam zugleich. „Was zum Teufel woll’n Sie von mir?“

„Das wollte ich dich eigentlich gerade fragen“, erwiderte Richard und blickte in das schmutzige Gesicht eines Straßenkindes. Die jugendliche Entrüstung in den Augen seines Gegenübers brachte ihn beinahe zum Lachen. „Du bist mir eine ganze Zeit gefolgt, Bürschchen. Ich mag es überhaupt nicht, verfolgt zu werden, schon gar nicht, wenn ich nicht weiß, warum.“

Der junge Kerl rieb sich die Nase und schniefte. „Ich tu niemand was, Sir“, erwiderte er trotzig. „Verdammt! Lassen Sie mich los, sonst tret ich!“

„Das würde dir sehr schnell leidtun“, versicherte Richard. Er überlegte, was er mit dem Jungen machen sollte. Sein Griff lockerte sich. Ein Bursche wie dieser mochte hinter seiner Geldbörse her sein, aber das war wahrhaftig nicht die Art von Gegner, mit der er gerechnet hatte. Fast musste er schmunzeln, als der Junge mit ihm rang. Doch schließlich trat der Festgehaltene ihm heftig gegen das Schienbein, riss sich los und floh in die Richtung, aus der er gekommen war.

Richard begriff sofort, dass er beraubt worden war. Der Junge hatte seine Hand in die Innentasche seines Gehrocks gleiten lassen und blitzschnell die Dokumentenmappe herausgezogen, während er ihn mit seiner Stiefelspitze am Schienbein traf. Für einen Augenblick hatte er den Halt verloren, und der Kerl hatte sich aus der Umklammerung lösen können. Richard fluchte. Wie konnte er nur auf so einen simplen Trick hereinfallen?

Unter Geschrei setzte er dem Burschen nach. Etwas beinahe Engelhaftes in den Zügen des Jungen hatte ihn dazu verleitet, fahrlässig zu werden. Verdammter Narr! Es war der älteste Trick, ein Kind vorzuschieben, um den Feind zu überrumpeln. Der Junge vor ihm rannte wie um sein Leben, doch Richard war ihm mit seinen längeren Beinen und der größeren Ausdauer dicht auf den Fersen. Früher oder später würde er ihn zu fassen bekommen. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, denn der Junge übersah in seiner Eile den Unrat auf dem Gehweg. Als seine Füße über den aufgeweichten Müll schlitterten, den ein argloser Händler liegen gelassen hatte, rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht und landete in der Gosse. Offensichtlich hatte der Kerl sich bei seinem Sturz nicht verletzt, denn er versuchte gerade, sich aufzurichten, als Richard vor ihm auftauchte.

„Verflucht, warum sind Sie hinter mir her?“, beschwerte er sich jammernd. „Ich hab nix getan, Sir. Ehrlich, gar nix.“

„Du hast mir etwas gestohlen“, antwortete Richard und streckte die Hand aus. „Gib es zurück und nicht noch so ein Trick, sonst werde ich dir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Hast du mich verstanden?“ Kraftvoll zog er den Burschen hoch und schüttelte ihn leicht. „Hast du verstanden, was ich sagte, Freundchen?“

„Ich heiß Georgie“, murmelte der Junge und zog die Nase hoch. „Hab seit Tagen nix gegessen und wollt’ nur ein paar Münzen ergattern. Wenn Sie mich nicht festgehalten hätten, hätt’ ich’s, verdammt nochmal, nie getan.“

„Tatsächlich?“ Misstrauisch zog Richard die Augenbrauen hoch. „Also Georgie, nicht wahr? Nun, Georgie, wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir schon einen Shilling gegeben, aber du verdienst es, dass man dich auf der Wache abliefert …“

Der Junge holte die Dokumentenmappe hervor und reichte sie Richard, der sie sofort wieder in seiner Innentasche verschwinden ließ. Das Siegel war unversehrt. Die Papiere verrieten Ahnungslosen nichts, die den Entzifferungscode nicht kannten. Aber wer sagte ihm, dass der Bursche nicht für einen Hintermann arbeitete?

„Lassen Sie mich geh’n, Sir“, bettelte Georgie. „Ich schwör, ich hab so was vorher noch nie getan, und ich bin schrecklich hungrig …“ Er schniefte und wischte seine Nase mit dem Ärmel ab. „Ich wollt’ wirklich nix Böses tun …“

„Du wolltest mich bestehlen“, stellte Richard klar und blickte den Jungen streng an. „Aber ich habe meine Mappe zurück, und wenn du wirklich hungrig bist, bekommst du etwas zu essen.“

„Geben Sie mir ’nen Shilling, Sir, und ich werd Sie nie wieder belästigen.“ Georgie hielt die Hand auf.

Schon wollte Richard eine Münze hervorholen, doch dann zögerte er. Etwas stimmte mit dem Straßenkind nicht, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was ihn irritierte.

„Ich werde dir kein Geld geben“, erklärte er. „Gleichwohl biete ich dir eine Mahlzeit an. Wir suchen eine Gastwirtschaft auf, die ich kenne. Nicht hier in der Gegend. Ich halte nichts von diesen Pinten für Saufbrüder. Wir gehen in ein Lokal, wo wir beide unser Essen genießen können.“

Der Bursche wirkte unschlüssig. Einen Augenblick dachte Richard, er würde erneut versuchen, davonzulaufen. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Okay, wenn Sie das möchten, Sir.“

„Komm mit.“ Richard hielt ihn nach wie vor am Arm fest. „Und versuche nicht, wegzurennen, Georgie. Keine faulen Tricks, hast du verstanden? Die Mappe ist für mich wichtig, aber für dich besitzt sie keinen Wert. Wenn du noch einmal Anstalten machst, mir etwas zu stehlen, kenne ich kein Pardon.“

„Schon gut.“ Der Junge warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Außerdem tun Sie mir weh. Ich werd schon nicht abhau’n. Ich geb Ihnen mein Wort.“

Der eigenwillige Stolz des Burschen weckte Richards Argwohn. Er war sich fast sicher, dass Georgie – falls der Name überhaupt stimmte – kein gewöhnliches Straßenkind war. Der erste Eindruck schien trügerisch. Richard lockerte seinen Griff ein wenig, stellte aber sicher, dass er den Jungen unter Kontrolle hatte, als sie die letzte Gasse des Armenviertels hinter sich ließen. Hier gab es eine bessere Straßenbeleuchtung, und als er den Knaben musterte, wusste er, dass sein Misstrauen berechtigt war. Wenn ihn nicht alles täuschte, stammte dieser Junge nicht aus Londons Elendsviertel. War er aus einer Schule oder vor einem tyrannischen Vater fortgelaufen? Richard war sich sicher, dass der Bursche den Gossenslang nur vortäuschte, zumal er ihn nicht durchgängig beibehielt. Was führte dieser Georgie im Schilde?

„Wo gehst du zur Schule?“, wollte Richard wissen.

„Gar nicht“, entgegnete der Junge. „Bin ich auch nie gewes’n, Sir.“

Er sprach nicht die Wahrheit. Richard besaß eine gute Menschenkenntnis. Seine Neugier wuchs. Der Kerl machte einen ziemlich jungen Eindruck, und trotz des versuchten Diebstahls wollte er ihm helfen, falls das möglich war. Nur zu gut wusste er, wie rasch die stinkenden Gassen auch Unschuldige in den Abgrund zogen. Die Erinnerungen erfüllten ihn mit Verbitterung. Aber daran wollte er jetzt nicht denken! Es lag hinter ihm. Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, um zu vergessen. Nie wieder sollte die alte Tragödie ihn einholen.

Vor ihnen tauchten die Lichter eines ansehnlichen Gasthofs auf. Eine große Laterne erhellte den Gehsteig. Zahlreiche kleine Lampen beleuchteten den Torbogen, der in den Hof der Wirtschaft führte. Richard schritt zielstrebig auf die Eingangstür zu. Er spürte, dass der Junge sich sträubte und sah ihn an.

„Hier gibt es nichts zu fürchten, Georgie. Vielleicht bist du solche Orte nicht gewohnt, doch man wird uns schon bedienen. Keine Sorge.“

„Ich hab keine Angst“, erwiderte der Bursche. „Is’ nicht nötig, dass Sie länger an mir rumzerren. Ich lauf schon nicht weg. Ich fürcht’ mich nicht vor Ihnen. Außerdem krepier ich fast vor Hunger!“

„Hier wird tadelloses Essen serviert“, antwortete Richard. Während sie eintraten, betrachtete er das Gesicht des Jungen. Georgie besaß ein ungewöhnlich zartes Profil, eine blasse Gesichtsfarbe und reichte ihm kaum bis zur Schulter. Er wirkte sehr schlank, und Richard fand es schwierig, sein Alter einzuschätzen. Zuerst hatte er ihn für ein Kind von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren gehalten. Als er dem Knaben nach dessen Sturz aufgeholfen hatte, war ihm aufgefallen, wie wenig der Junge wog. Bei Lichte betrachtet, wirkte er älter – vielleicht war er schon fünfzehn.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?“ Der Gastwirt eilte mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu, das sich sichtlich eintrübte, als er das Straßenkind bemerkte. „Captain Hernshaw, nicht wahr? Ich glaube, ich hatte bereits die Ehre, Sir?“

„Bei einer ganzen Reihe von Gelegenheiten“, erwiderte Richard lässig und ignorierte den Gesichtsausdruck des Mannes. „Bei Ihnen gibt es hervorragende Koteletts und gute Pasteten. Mein junger Freund hier ist hungrig, und ich bin es ebenfalls. Wir wollen das Beste von allem, was Sie heute Abend anzubieten haben.“

„Natürlich, Sir. Wünschen Sie einen Tisch im Privatsalon, Sir?“

Richard zögerte. Er bemerkte die Anspannung seines Schützlings und überlegte, was dem Burschen durch den Kopf ging. „Ja, Goodridge. Wir nehmen Plätze am Kamin.“

„Ganz wie Sie wünschen, Sir. Bevorzugen Sie Wein oder Bier?“

„Bringen Sie mir Wein“, sagte Richard. „Haben Sie einen Stärkungstrunk für den Jungen? Er ist mein Stallbursche und hat mir mit den Pferden geholfen. Ich fürchte, er schwächelt ein bisschen.“

„Aha.“ Der Gastwirt nickte und schien erleichtert über die Erklärung. „Es ist immer dasselbe mit den jungen Kerlen, Sir.“

Georgie beäugte seinen Begleiter nachtragend, als sie in den Privatsalon eintraten, schwieg jedoch, bis der Wirt ging und die Tür hinter sich schloss.

„Warum haben Sie das gesagt?“

„Ich hielt es für besser, mir eine Geschichte auszudenken, sonst fantasiert sich Goodridge selbst etwas zusammen. Nicht, dass es nachher heißt, ich belästige kleine Jungs.“ Richard lächelte ironisch. „Sofern du selbst solche Verdächtigungen hegst, kannst du ganz beruhigt sein. Derartige Vorlieben sind nicht nach meinem Geschmack.“

„Oh …“ Georgie musterte ihn prüfend aus dunklen Augen, die klug und naiv zugleich wirkten. „Daran hab ich ohnehin nicht gedacht. Die Sorte kenn ich, und Sie sind keiner davon. Ich verbürg mich für Sie, falls er so dreist ist, so ’nen Blödsinn zu erzählen.“

„Ich danke dir“, entgegnete Richard mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme. „Wenn ich deine Hilfe brauche, gebe ich rechtzeitig Bescheid.“

„Sie müssen nicht so überheblich tun“, empörte sich Georgie. „Ich habs bloß angeboten …“

„Ich danke dir“, wiederholte Richard, diesmal mit einem Lächeln auf den Lippen. Georgies Verhalten bestätigte seinen Verdacht. Das ist kein Straßenkind! Er wusste nicht, warum der Knabe versucht hatte, ihn zu bestehlen, oder warum er auf der Straße lebte, was man ihm fraglos ansah. Dreck verunstaltete die feinen Gesichtszüge, seine Kleidung war völlig verschmutzt, und er roch unangenehm. „Ich denke, wir sollten Waffenstillstand schließen – meinst du nicht – zumindest solange wir unsere Mahlzeit einnehmen?“

Georgie antwortete nicht, ging stattdessen zum Kamin, blieb davor stehen und wärmte seine Hände über den Flammen. Er rieb sie aneinander und fröstelte, als bemerkte er jetzt erst, wie kalt es draußen war. Stumm blickte er in das Feuer, bis sich die Tür öffnete. Die Frau des Gastwirts und eine Dienstmagd traten ein. Sie trugen große Tabletts, auf denen sich Teller mit Speisen stapelten.

„Setz dich und iss, Junge“, forderte Richard ihn auf. „Es duftet vielversprechend.“

Der Bursche drehte sich um, betrachtete eine Weile die Speisen und näherte sich dem Tisch. Kaum hatte er auf der Bank Platz genommen, griff er nach einem Teller mit Lammkoteletts. Er nahm ein Stück und biss gierig in das zarte Fleisch.

Er hat ungewöhnlich weiße Zähne für einen Straßenjungen, dachte Richard.

Der Junge griff sofort nach dem nächsten Kotelett und schlang es genauso eilig hinunter wie das erste, wobei er das Fett von seinen Fingern leckte.

„Das reicht“, sagte Richard, als das zweite Fleischstück verschlungen war. „Iss jetzt anständig und langsamer. Wenn du seit Tagen nichts gegessen hast, wird dir nur schlecht, wenn du zu viel auf einmal in dich hineinstopfst. Probiere etwas von der Schweinepastete. Sie schmeckt großartig.“ Er schnitt sich selbst eine Scheibe herunter, legte dazu Salzgurken auf seinen Teller und brach ein Stück Brot ab.

Georgie schaute zu und machte es ihm nach. Mit sichtlichem Behagen begann er kleine Stücke der Pastete zu essen und bestrich dann sein Brot mit Butter.

Richard fiel auf, dass er geschmeidige, zarte Hände besaß. Jetzt, wo der Junge ohne Hast speiste, schien er sogar Tischmanieren zu besitzen. Er nippte an seinem Stärkungstrunk und war mit dem Geschmack offenkundig zufrieden.

Richard schmunzelte. Der Junge kommt aus gutem Hause. Was auch immer ihn bewogen hat, sein Heim gegen ein Leben auf der Straße einzutauschen, ich werde es herausfinden. Während sein Schützling das Messer niederlegte und sich gesättigt zurücklehnte, trank Richard Wein und beobachtete ihn nachdenklich.

„Besser?“, fragte er schließlich. Der Junge nickte. „Magst du mir davon erzählen?“

„Was meinen Sie?“ Verunsichert schaute der Bursche ihn an.

„Dein Gassenjargon klingt nicht sehr glaubwürdig“, erwiderte Richard. „Da du nicht immer so sprichst, verrätst du dich zwangsläufig. Ich glaube nicht, dass du in den Elendsvierteln aufgewachsen bist, Georgie. Also, wo kommst du her, und wie bist du dorthin gelangt?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“ Der Junge starrte ihn argwöhnisch an. „Wozu?“

„Weil ich dir helfen möchte, falls ich das kann. Ein Leben als Dieb ist nichts für einen Jungen wie dich. Ich denke, du bist von zu Hause weggerannt oder von deiner Schule – warum?“

„Ich bin weggelaufen von …“ Georgie stockte der Atem. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie würden es mir nicht glauben.“ Plötzlich stand er auf. „Danke für das Essen …“

Richard streckte ein Bein aus und hinderte den Jungen daran, vorbeizugehen. „Setz dich, und erzähle mir die Wahrheit.“

„Nein! Sie können mich nicht zwingen …“ Georgie versuchte, sich durchzuschlängeln. Richard sprang auf und hielt ihn fest. Dabei rutschte die dreckige Kappe herunter, und lange dunkle Locken fielen herab, die ein Gesicht umrahmten, das nun entschieden feminin aussah. Richard nickte grimmig und fühlte sich bestätigt. Er hatte sich gleich gedacht, dass etwas nicht stimmte! Das war gar kein schwächlicher Bursche, sondern ein Mädchen! „Oh!“ Georgie versuchte verzweifelt, ihre Haare wieder zu verstecken. „Verflucht! Sie versprachen doch, mich gehen zu lassen …“

„Das werde ich auch tun, wenn du mir eine befriedigende Antwort gibst. Wer bist du, und was hattest du im Armenviertel zu suchen?“

Sie zögerte einen Moment und atmete tief aus. „Mein Name ist Georgie Brown. Ich habe als Zofe gearbeitet“, sagte sie und nahm wieder Platz. „Ich bin von meiner Herrin weggelaufen, weil ihr Sohn nicht aufhörte, mich zu belästigen. Ständig versuchte er, mich zu küssen, und … ich konnte es nicht länger ertragen, nahm ein paar alte Kleidungsstücke und lief davon.“

„Du hast doch sicherlich Familienangehörige, die dich aufnehmen können?“ Georgie schüttelte den Kopf. Richard zog die Stirn in Falten. „Gar keine Freunde? Warum hast du dir nicht einfach eine neue Anstellung gesucht?“

„Ich konnte meine Herrin nicht um das Entlassungsschreiben bitten, sie gibt mir alle Schuld … niemals hätte ich ein brauchbares Zeugnis erhalten …“ Tränen traten in ihre Augen. „Sie haben keine Ahnung wie es ist, von der Gnade anderer abhängig zu sein …“ Ein ersticktes Schluchzen brach aus ihr hervor.

Richard blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Das erklärt nicht, warum du ausgerechnet auf der Straße leben und zur Diebin werden musst. Du kannst doch unmöglich so leben wollen?“

Georgie schniefte. Nach wie vor standen Tränen in ihren Augen, gegen die sie tapfer ankämpfte. „Ich besaß etwas Geld, doch es wurde mir am ersten Tag gestohlen, als ich in London ankam. Ich hoffte, Arbeit zu finden und hatte genug gespart, um mich bis dahin über Wasser zu halten. Aber …“ Tränen kullerten ihre Wangen hinunter, trotz ihrer Anstrengungen, sie aufzuhalten. Mit dem schmutzigen Ärmel rieb sie sich über das Gesicht, sodass sich der Dreck verteilte. „Als mein Geldbeutel gestohlen wurde, wusste ich einfach nicht mehr, was ich tun sollte. Niemand wollte mir Geld oder Essen geben.“

„Also dachtest du, Taschendiebstahl sei eine passable Lebensgrundlage?“ Richard blickte befremdet zu Boden. „Unglücklicherweise hast du dir ausgerechnet mich als erstes Opfer ausgesucht – oder war ich vielleicht doch nicht der Erste?“

„Ich habe ein paar Früchte von einem Marktstand geklaut und … und einen Schal von einem älteren Herrn. Den habe ich verkauft …“ Georgie wurde über und über rot. „Schauen Sie mich nicht so an! Ich war schrecklich hungrig!“

„Das bestreite ich nicht.“ Richard zweifelte, ob sie ihm die ganze Wahrheit erzählte. „Und du hast ganz sicher keine Familie? Falls sie auf dem Land wohnt, könnte ich dir helfen, dorthin zu gelangen.“

Einen Moment wirkte Georgie unentschlossen, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie band ihr langes Haar wieder unter der Kappe zusammen, und ihre Tränen trockneten. „Lassen Sie mich gehen. Sie haben mir zwar eine Mahlzeit spendiert, aber auch versprochen, mich wieder ziehen zu lassen.“

„Ich werde dich nicht festhalten“, beteuerte Richard. „Allerdings kenne ich eine Dame, die dich aufnehmen könnte. Sie ist schon älter und braucht jemanden, der nach ihr sieht – und sie nimmt dich vielleicht meinetwegen in ihre Dienste.“

„Ich komme schon zurecht.“ Georgie musterte ihn skeptisch, ganz offenkundig vertraute sie ihm noch immer nicht. „Ich weiß nicht …“

„Gut, ich gehe“, entschied Richard. Er stand auf und warf ein paar Münzen für die Dienstmagd auf den Tisch. „Du kannst mitkommen oder deinen eigenen Weg suchen … das liegt ganz in deiner Hand.“

Georgie antwortete nicht, folgte ihm jedoch aus dem Privatsalon und blieb ein wenig abseits stehen, als ihr Begleiter dem Wirt das Essen bezahlte.

Ohne sie nochmals anzusehen, verließ Richard den Gasthof. Er verharrte einen Augenblick unter der Straßenlaterne, deren verqualmtes Licht einen gelben Ring auf den Gehsteig warf. Als er sich gerade abwandte, näherten sich einige Gentlemen. Plötzlich spürte er, wie Georgie ängstlich an seiner Seite Schutz suchte und rasch neben ihm herging. Richard schwieg, bis die Wirtschaft außer Sicht war. Ihm blieb nicht verborgen, dass das Mädchen sich mehrfach furchtsam umblickte.

„Was ist los?“, wollte er schließlich wissen. „Was hat dich so erschreckt, als wir aus dem Wirtshaus kamen?“

Georgie kämpfte mit sich. „Haben Sie es ernst gemeint, als Sie anboten, mir zu helfen, aufs Land zu kommen?“

„Ich sage niemals etwas, das ich nicht ernst meine.“

„Bitte – ich muss London verlassen. Ich kann hier unmöglich bleiben …“ Ein stummer Hilfeschrei lag in ihren Augen. „Bitte helfen Sie mir. Ich habe Angst …“

„Ja, das sehe ich“, entgegnete Richard und zog die Stirn in Falten. Bis dahin hatte sie auf ihn furchtlos gewirkt, doch jetzt stand ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben. „Möchtest du mir vielleicht verraten, warum?“

Georgie schüttelte stumm den Kopf. Richard spürte, dass er in eine Sache hineingezogen wurde, die ihm eine Menge Ärger einbrachte. Ärger, auf den er wahrhaftig verzichten konnte. Doch ihre hilflosen Blicke rührten ihn zutiefst, sie erinnerten ihn an etwas … an jemand anderen. Er hatte diesen Menschen im Stich gelassen, auch wenn es nicht wirklich seine Schuld gewesen war. Niemals würde er es noch einmal geschehen lassen.

„Also gut, ich nehme dich mit“, entschied er. „Du bekommst einen Platz zum Schlafen und anständige Kleidung, und dann sehen wir weiter. Wenn ich dir beistehen soll, musst du mir allerdings vertrauen. Ich verspreche dir, dass ich dir kein Leid zufüge, aber helfen kann ich dir erst, wenn ich die Wahrheit weiß.“ Er seufzte, als er sah, wie sie zu Boden blickte. Es fiel ihr sichtlich schwer, Zutrauen zu fassen. „Gut, behalte deine Geheimnisse vorerst für dich, Kind. Wenigstens schläfst du heute in einem sauberen Bett, und vielleicht ist dir morgen danach zumute, mir deine wahre Geschichte zu erzählen.“

Scheu musterte Georgie das strenge Profil des Mannes, der neben ihr ging. Er war groß und stark, sein Gesicht wirkte ansprechend, wenn auch nicht schön. Ärger verhärtete seine Züge. Sie fand, dass er ein gutes Recht besaß, zornig auf sie zu sein. Immerhin hatte sie ihm gegen das Schienbein getreten und versucht, seine Mappe zu stehlen. Zweifelsfrei hätten die meisten Männer sie geohrfeigt oder nach einem Konstabler gerufen. Er hingegen führte sie in ein gutes Wirtshaus und spendierte ihr eine Mahlzeit. Es gab keinen Grund, ihm zu misstrauen. Aber das Leben hatte sie gelehrt, dass Menschen oft nicht das waren, was sie zu sein schienen. Sie wollte ihm vertrauen und brauchte jemanden, auf den sie sich verlassen konnte. Die beiden letzten Wochen auf der Straße hatten ihr gezeigt, dass sie nicht darin geübt war, auf sich aufzupassen.

Ihre Flucht war spontan und ohne langes Nachdenken erfolgt. Weltfremd wie sie war, hatte sie geglaubt, es wäre leicht, eine Weile allein zurechtzukommen, wenigstens so lange, bis sie weitere Entscheidungen treffen konnte. Doch der Verlust ihres Geldbeutels am allerersten Tag hatte die Situation schlagartig geändert. Sie war so unvorsichtig gewesen, den Beutel beim Einkaufen lose an den Schnüren zu halten, anstatt ihn sofort wieder einzustecken. Der Mann, der sich ihr Geld schnappte, handelte so schnell, dass sie seine böse Absicht erst bemerkte, als er längst auf und davon war. Wie betäubt war sie von da an verloren durch die Straßen geirrt. Wie sollte sie genug verdienen oder stehlen, um zu überleben? Sie war völlig verzweifelt, als sie ihn durch Zufall entdeckte … Captain Hernshaw, wie der Wirt ihn genannt hatte.

Was ist das für ein Mann? Georgie konnte es nicht genau sagen. Er wirkte wie ein Militär, und sein Titel bestätigte es. Doch er war anders als die Offiziere, die sie kannte. Er hatte etwas Hartes und Wachsames an sich, als befände er sich in ständiger Alarmbereitschaft. Zuweilen bekam sie eine Gänsehaut, wenn er sie ansah. Ein Teil von ihr hieß sie wegzurennen, solange die Möglichkeit dazu bestand. Ihn zum Feind zu haben, schien keinesfalls ratsam. Zweifelsfrei war mit seinem Zorn zu rechnen, sobald er erfuhr, dass sie ihn angelogen hatte. Doch das Grauen, dass sie erfasste, als sie ihn sah, während sie mit Captain Hernshaw aus der Wirtschaft trat, ließ alle anderen Überlegungen in den Hintergrund treten. Sie wusste, was ihr bevorstand, wenn er sie fand.

Sie lief nun dicht neben dem Captain her, den sie unwillkürlich als Beschützer empfand. Ihre Furcht kannte keine Grenzen, bevor sie sich nicht so weit wie möglich von ihm entfernt hatten. Sollte sie Captain Hernshaw die ganze Wahrheit anvertrauen, sich seiner Gnade ausliefern und hoffen, dass er ihr half? Er ist doch ein Fremder! Wenn er die Wahrheit kennt, kann er das ausnutzen. Es war schwierig zu entscheiden, auf wen sie sich verlassen konnte … wenn es überhaupt noch jemanden gab, der ihr Vertrauen verdiente.

Georgie fröstelte. Sie erreichten eine Zeile mit vornehmen Stadthäusern an einem eleganten Platz. Wenigstens handelte es sich um eine gute Adresse, um einen Ort, an dem sie sich vielleicht ein paar Tage verstecken, wieder zu Kräften kommen und ihre Lage überdenken konnte. Sie blieb nahe bei ihrem Beschützer, der den Türklopfer betätigte. Ein alter Butler, ganz in Schwarz gekleidet, öffnete.

„Ah, da sind Sie ja, Sir.“ Seine blassblauen Augen streiften Georgies Gesicht, aber er ließ kein Anzeichen von Neugier erkennen. „Sie sind heute Abend früh dran, Captain Hernshaw.“

„Ja, Jensen“, erwiderte Richard mit mattem Lächeln. „Wie Sie sagen, bin ich früh dran, obwohl ich später noch einmal los muss. Hat Mrs. Jensen sich schon zurückgezogen?“

„Nein, Sir. Soll ich ihr melden, dass Sie ihre Dienste benötigen?“

„Sie soll mich bitte im Salon aufsuchen. Ich möchte, dass sie diesen jungen Burschen in ihre Obhut nimmt.“

„Den jungen Burschen in ihre Obhut?“ Einen Augenblick lang schien Jensens Gesicht zu versteinern, doch innerhalb von Sekunden fing er sich wieder. „Ja, natürlich, Sir. Ich werde es Mrs. Jensen sofort ausrichten. Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Sir?“

„Danke, Jensen“, sagte Richard anerkennend. „Nichts bringt Sie aus der Fassung, nicht wahr? Nein, ich brauche sonst nichts. Ich beabsichtige, das Haus noch einmal zu verlassen, sobald ich eine Kleinigkeit erledigt habe.“

„Ganz wie Sie wünschen, Sir.“

Der Butler entfernte sich. Georgie folgte ihrem Beschützer in ein Zimmer von mittlerer Größe. Es war mit schweren Mahagonimöbeln ausgestattet, die ihm einen herrschaftlichen Anstrich verliehen. In diesem Haus wohnte eindeutig ein alleinstehender Mann. Vitrinen mit naturwissenschaftlichen Geräten aus Messing oder Stahl dominierten den Raum, außerdem zwei große Globen auf Ständern zu beiden Seiten des Fensters, vor dem ein Schreibtisch stand, auf den das Licht der Straßenlaterne fiel. Er war überhäuft mit seltsamen Fundstücken, die Georgie zunächst für alte Knochen hielt.

„Sind Sie Wissenschaftler?“, fragte sie ihren Retter neugierig.

„Nein, aber mein Onkel war Wissenschaftler“, erläuterte Richard. „Er hinterließ mir dieses Haus, und ich habe nichts daran verändert, wie du siehst. Onkel Frederick hat nie geheiratet. Er vermachte mir seinen Besitz, weil ich sein Lieblingsneffe war und …“ Er brach ab. Schmerz lag in seinen Augen. „Ich habe einmal viele seiner Interessen geteilt, aber ich war lange Jahre fort.“

„Oh …“, Georgie nahm einen Gegenstand in die Hand. „Was ist das?“

„Das Fragment eines urzeitlichen Echsenknochens“, erklärte Richard. „Mein Onkel beschäftigte sich mit Fossilien aller Art. Ich selbst hege kein besonderes Interesse für Knochen. Ich nutze dieses Haus fast nie, außer wenn ich in der Stadt bin.“ Er sah sie nachdenklich an. In der besseren Beleuchtung seines Hauses erkannte er, dass sie kein Kind mehr war. „Dich wird das alles nicht sonderlich interessieren. Willst du mir nicht lieber erzählen, wer du wirklich bist und was dich veranlasst hat, wegzulaufen?“

„Ich …“, begann Georgie, noch immer unsicher, ob sie ihm die ganze Geschichte anvertrauen sollte. Erleichtert nahm sie wahr, dass jemand an die Tür klopfte. Richard verzog ein wenig das Gesicht, zögerte aber nicht.

„Kommen Sie herein, Mrs. Jensen.“

Eine ältere Frau trat ein. Sie war von molliger Statur, hatte weiße Haare und machte einen freundlichen Eindruck, auch wenn sie etwas überrascht und besorgt schien. Offensichtlich konnte sie sich keinen Reim aus dem machen, was ihr Gatte ihr berichtet hatte.

„Kann ich etwas für Sie tun, Sir?“

„Ja, Mrs. Jensen“, antwortete Richard. „Ich möchte, dass Sie diesem Jungen helfen. Er steckt in Schwierigkeiten. Ich habe ihn aus Sicherheitsgründen mitgebracht. Er hat bereits gegessen, allerdings braucht er ein Bad, angemessene Kleidung und ein Bett zum Schlafen. Könnten Sie das bitte in die Wege leiten, Dora?“

„Selbstverständlich, Sir.“ Dora Jensen schaute Captain Hernshaw mit einer solchen Verehrung an, dass Georgie sofort klar wurde, dass sie ihn seit vielen Jahren kannte und ihm bedingungslos vertraute. „Der arme kleine Kerl. Ich nehme ihn sofort mit, wenn es Ihnen recht ist, Sir?“

„Ja, wenn Sie so nett wären.“ Er drehte sich zu Georgie um. „Dora war lange Jahre die Haushälterin meines Onkels. Sie kannte mich schon, als ich noch kurze Hosen trug. Sie wird sich um dich kümmern, Georgie. Ich muss noch einmal geschäftlich fort, aber wir sehen uns morgen früh. Dann sollten wir weiterreden.“

„Ja … vielen Dank.“ Sie lächelte ihn unsicher an. „Sie waren sehr … freundlich.“

Wortlos nickte er ihr zu. Georgie bemerkte, dass die Haushälterin auf sie wartete, und folgte ihr aus dem Salon die Stufen hinauf.

„Wir halten stets ein paar Zimmer für den Fall parat, dass der Captain einen Gast zum Übernachten einlädt. Obwohl er uns normalerweise wenig Aufwand bereitet.“ Mrs. Jensen blickte über die Schulter, um sicherzugehen, dass Georgie hinter ihr war. „Ich sage immer zu Jensen, dass sich kaum etwas geändert hat, seit der alte Herr verstarb.“

„Sie sprechen von Mr. Frederick Hernshaw?“

„Sir Frederick“, verbesserte Mrs. Jensen. „Er war ein Gelehrter, ruhig und überaus gebildet. Er hatte manchmal ein paar Dozenten zu Gast – Universitätsprofessoren wie er selbst – aber niemals eine Dame. Es gab in diesem Haus nie eine Herrin, so lange ich zurückdenken kann …“ Sie setzte eine grüblerische Miene auf. „Das führt mich zurück zu Ihnen, junger Mann, wenn Sie es nicht unhöflich finden, dass ich danach frage. Wer sind Sie, und wie sind Sie dem Captain begegnet?“

Georgie holte tief Luft und lächelte. „Das ist eine lange Geschichte, Mrs. Jensen. Captain Hernshaw weiß noch nicht alles über mich, aber wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten, werde ich Ihnen einen Teil meines Geheimnisses anvertrauen.“ Sie streifte die hässliche Straßenkappe vom Kopf, und ihre langen dunklen Locken ringelten sich über ihre Schultern. Tapfer hielt sie dem erstaunten Blick der Haushälterin stand. „Ich möchte Sie nicht irreführen, Mrs. Jensen. Ich bin nicht, was ich derzeit zu sein scheine“, verriet Georgie und verbarg ihr Haar wieder unter der Kappe.

„Meine Güte“, sagte Dora Jensen. „Sie sind eine junge Dame! Ich dachte mir schon, dass etwas an Ihnen sonderbar ist, als ich Sie eben zum ersten Mal sah. Sie wirkten auf mich wie ein Mädchen, aber Ihre derzeitige Bekleidung machte es unwahrscheinlich. Wenn ich geradeheraus sprechen darf – es gehört sich nicht für eine Dame, sich im Haus eines unverheirateten Gentlemans aufzuhalten.“

„Da haben Sie völlig recht“, pflichtete Georgie ihr bei. „Wenn ich Ihnen jedoch erzähle, dass ich beinahe verhungert war, als er mich fand, haben Sie vielleicht ein Nachsehen mit mir.“

„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, sprach Mrs. Jensen sanft. „Ich erkenne eine anständige Person, wenn ich sie sehe, und etwas sagt mir, dass Sie in schrecklichen Schwierigkeiten stecken.“

„Ja, das stimmt“, gab Georgie zu, und ihre Unterlippe zitterte. „Ich bin in einer entsetzlichen Lage – und ich habe fürchterliche Angst. Nur deshalb bin ich hierhergekommen, in das Haus eines Fremden. Er gab mir zu essen und sicherte mir seine Hilfe zu, aber er kennt die wahre Geschichte noch nicht, auch wenn er weiß, dass ich ein Mädchen bin.“

„Sie sollten ihn niemals anlügen, Miss!“

„Ja, das ist sicher richtig. Doch ich konnte ihm zunächst nicht alles anvertrauen“, erklärte Georgie, die zu der älteren Frau Zutrauen fasste. „Ich bin in großer Gefahr. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten, denn … nun, ich kann es einfach nicht!“

„So etwas“, Dora schüttelte den Kopf. „Das muss ja eine schreckliche Angelegenheit sein – wenn es stimmt, was Sie da andeuten …“

Georgie kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken. Es kam der Wahrheit näher, als das, was sie Captain Hernshaw gestanden hatte. Sie hatte Angst, dass ihr Beschützer ihr keinen Glauben schenken und sie zurück zu ihrer Familie schicken würde. Das musste sie um jeden Preis verhindern.

„Ich lüge Sie nicht an, Mrs. Jensen. Ich kann nur niemandem die ganze Geschichte erzählen.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie mich nicht belügen“, entgegnete die Haushälterin und musterte Georgie. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was wir mit Ihnen tun sollen, Miss. In diesem Haushalt gibt es keine jungen Damen, und meine Kleider sind viel zu groß für Sie.“

„Oh, ich will mich gar nicht wie ein Mädchen kleiden“, offenbarte Georgie. „Ich könnte hier unmöglich bleiben, wenn die Leute mich erkennen – und das wäre wahrscheinlich der Fall, sobald ich in Mädchenkleidung gesehen werde. Ich gehöre der feinen Gesellschaft an. Wenn man erfährt, dass ich mich in diesem Haus aufhalte, setze ich meinen guten Ruf aufs Spiel. Könnten Sie mir nicht etwas Passendes besorgen?“

„Also ich weiß nicht, Miss.“ Dora blickte sorgenvoll drein. „In diesem Haus gibt es praktisch nur Herrenbekleidung, weil hier immer nur Junggesellen wohnten – aber möglicherweise besitzt der Captain noch das ein oder andere Stück aus seiner Jugendzeit.“

„Notfalls könnten Sie vielleicht meine Kleidung waschen?“ Georgie schaute fragend an sich herunter.

„Das werde ich keinesfalls tun“, sagte Dora entschieden. „Diese Sachen gehören in die Lumpensammlung. Sie können einen Morgenmantel des Captains anziehen. Ich werde Henderson bitten, Entsprechendes für Sie herauszusuchen – er ist sein Diener und hat ihn bereits während seiner Militärzeit begleitet.“

„Oh …“, Georgie zögerte. „Sie verstehen doch, dass es besser ist, die Leute glauben, ich sei ein Junge?“

„Ja, Miss“, erwiderte Dora, obwohl sie skeptisch blieb. „Hier ist Ihr Zimmer, Miss – oder vielleicht sollte ich Sie besser Master nennen?“

„Nennen Sie mich Georgie. Das ist mein Name, und er kann sowohl für einen Jungen als auch für ein Mädchen stehen, nicht wahr?“

„Sie sind mir ja was“, sagte Dora und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was wir mit Ihnen anstellen sollen, aber der Captain hat Sie in meine Obhut gegeben, und ich werde mein Bestes tun. Henderson kommt gleich mit dem Badezuber hoch. Das heiße Wasser bringe ich selbst. Machen Sie es sich bequem, Master Georgie, ich bin bald zurück.“

Georgie dankte ihr und betrat den Raum. Es war ein hübsch geschnittenes Schlafgemach, auch wenn es – wie das Arbeitszimmer – mit schweren dunklen Möbeln eingerichtet war, und die Vorhänge und Bettbezüge düstere Farben aufwiesen. Alles wirkte sehr junggesellenhaft und anders als das, was sie ihr ganzes Leben lang umgeben hatte. Allerdings war es hier weit besser als auf der Straße.

Als Mrs. Jensen die Tür hinter sich schloss, ließ sich Georgie in einem Sessel am Fenster nieder und schaute hinaus. Vorläufig war sie hier in Sicherheit. Niemand würde in diesem Haus nach ihr suchen. Noch saß der Schrecken tief, dass sie ihn gesehen hatte, als sie mit Captain Hernshaw das Gasthaus verließ, und sie war erleichtert, dass ihr neuer Bekannter ihr Schutz gewährte. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie fühlte sich krank vor Angst. Dieser schreckliche Mann war ganz in der Nähe! Sie war darüber zutiefst beunruhigt, auch wenn er sie in ihrer Jungenkleidung wahrscheinlich nicht erkannt hatte. Doch die Bedrohung ließ ihr keine Ruhe, denn sie wollte lieber sterben, als zurückzukehren. Man würde sie zu einem Leben zwingen, das sie nicht ertragen konnte.

Sie war von ihrer Tante und ihrem Onkel fortgelaufen, die mit diesem Unmenschen unter einer Decke steckten, um sie ihres Erbes zu berauben. Sie wollten sie zwingen, einen Mann zu heiraten, den sie hasste.

Ich werde ihn niemals heiraten! Nie und nimmer! Lieber sterbe ich, als seine Frau zu werden.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber es gelang ihr, sich zusammenzureißen. Der schlimmste Teil der Prüfung lag hinter ihr. Sie hungerte und fror nicht mehr, und vielleicht war es möglich, die schrecklichen Erinnerungen an das Leben auf der Straße zu vergessen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren und entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte, denn sie befand sich nach wie vor in einer heiklen Lage.

Sie hob den Kopf, als sie das Klopfen an der Tür vernahm. „Herein!“

Ein Mann Mitte dreißig betrat den Raum mit einem großen Metallzuber, den er direkt vor dem Kamin abstellte. Dann kniete er nieder, steckte den Zunder an und schob die Flamme in die Mitte der trockenen Holzscheite, die rasch Feuer fingen, als er mit dem Blasebalg nachhalf.

Georgie schaute ihm gedankenverloren zu. Er blickte zu ihr auf, und sie sah die schreckliche Narbe auf seiner Wange. Anstatt zurückzuschrecken, empfand sie Sympathie für ihn und lächelte, in der Hoffnung er würde bemerken, dass seine Entstellung bei ihr keinen Ekel hervorrief.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen, Sir.“

„Nennen Sie mich Henderson“, entgegnete er, und seine dunklen Augen verengten sich. „Ich bin der Kammerdiener des Captains. Ich war mit ihm bei der Armee. Er rettete mein Leben, als ich verwundet war, und gab mir Arbeit. Wie Mrs. Jensen mir erklärte, sind Sie hier, weil er Sie ebenfalls gerettet hat.“

„Ja …“ Georgie zögerte, da sie nicht genau wusste, was die Haushälterin ihm noch erzählt hatte. „Ich brauche Kleidung, Henderson. Besitzt der Captain etwas, das mir passen könnte?“

„Seine Sachen werden Ihnen zu groß sein, aber ich kümmere mich darum“, versprach er. „Ich denke, vorerst müssen Sie mit dem Vorhandenen vorlieb nehmen, Master, obwohl Sie natürlich nicht damit ausgehen können.“

„Ich danke Ihnen. Ich will das Haus heute ohnehin nicht mehr verlassen“, erwiderte Georgie. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mrs. Jensen mit einem großen Krug eintrat. Ihr folgte ein junger Bediensteter, der zwei Wasserkannen trug, die er im Zuber leerte. Beim Hinausgehen warf er ihr einen neugierigen Blick zu.

„Sie können jetzt gehen, Henderson“, erklärte Mrs. Jensen dem Diener des Captains, dem es inzwischen gelungen war, das Feuer vollständig zu entfachen. „Ich werde dem Jungen helfen.“

„Ich finde etwas zum Anziehen“, beteuerte Henderson und verließ den Raum. Georgie blieb allein mit der Haushälterin zurück.

„Sie sollten besser die Tür abschließen“, empfahl Mrs. Jensen. „Wenn wir Ihr Geheimnis bewahren wollen, sollte niemand ohne Vorwarnung eintreten. Im Kleiderschrank ist ein Morgenrock, den ein Gast hier vergessen hat. Ziehen Sie ihn unbedingt an, bevor Sie die Tür öffnen, oder möchten Sie, dass jemand Verdacht schöpft?“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte Georgie zu. „Vielen Dank, Mrs. Jensen. Ich war mir nicht sicher, was Sie Mr. Henderson erzählt haben.“

„Ich habe ihm nicht mehr als nötig gesagt“, erwiderte Dora. „Aber er ist kein Dummkopf. Ich bezweifle, dass er lange braucht, um von selbst dahinterzukommen.“

Georgie nickte. Sie schloss die Tür hinter der Haushälterin und zog sich aus. Der Anblick des Dampfes, der vom Badezuber aufstieg, war verlockend. Seit ihrer Flucht aus dem Haus ihres Onkels hatte sie kein Bad mehr nehmen können. Das Wasser duftete angenehm. Sie seufzte vor Vergnügen, als sie in die Wanne stieg und ganz in das warme Wasser eintauchte. Es besaß genau die richtige Temperatur, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Sie schloss ihre Augen und lehnte sich entspannt mit dem Rücken gegen ein Handtuch. Was für eine Wohltat! Wie sehr hatte sie die gewohnten Annehmlichkeiten vermisst! Sie fand es schrecklich, sich schmutzig zu fühlen. Wie ertragen es Menschen bloß, so zu leben? Wohl nur, weil sie keine andere Wahl haben, genau wie ich, nachdem mir mein Geld gestohlen wurde.

Eine Träne lief ihr über die Wange. Vor zwei Jahren war sie noch das geliebte einzige Kind nachsichtiger Eltern gewesen. Der tragische Kutschenunfall, bei dem sie gleichzeitig die Mutter und den Vater verlor, veränderte ihr Leben von Grund auf. Sie geriet in die Obhut Henry Mowbrays, des ältesten Bruders der Mutter. Zunächst gaben sich Tante und Onkel einigermaßen freundlich, aber kaum rückte ihr neunzehnter Geburtstag näher und damit auch ihr Anrecht auf das Vermögen der Eltern, verhielten sie sich mit einem Mal ganz anders. Zunächst waren ihr nur die seltsamen Blicke und die abrupt abgebrochenen Gespräche aufgefallen, sobald sie den Raum betrat. Doch dann hatte sie eines Morgens zufällig gehört, wie sie über sie sprachen.

„Er erlässt mir die Schulden, wenn wir ihm das Mädchen geben“, hatte Onkel Henry gesagt, als Georgie sich der Salontür näherte. „Ich bin ihm völlig ausgeliefert. Wenn ich ablehne, kann er mich ruinieren – und er wird nicht zögern, es zu tun!“

„Du hättest dich niemals auf seine Pläne einlassen dürfen“, hatte Tante Agatha ungehalten erwidert. „Sie bedeutet mir nichts, natürlich nicht, aber nichtsdestotrotz … bei diesem Mann läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich kann das nicht gutheißen. Bist du sicher, dass es keinen anderen Ausweg gibt?“

„Er will sie und das Geld, aber wenigstens willigt er ein, uns die Schulden zu erlassen. Die Kleine schnappt er sich ohnehin, auch wenn ich ablehne – und mich kann er in vielerlei Hinsicht ruinieren.“

„Aber dieser Mann … er macht mir Angst, Henry. Und sie ist doch fast noch ein Kind. Ich mag gar nichts davon hören.“

„Er will sie oder sein Geld zurück, und du weißt, dass ich nicht zahlen kann.“

Da ihr Onkel auf die Salontür zugeschritten war, hatte Georgie sich schleunigst entfernt. Es schien ihr besser, ihn nicht wissen zu lassen, dass sie alles mit angehört hatte. Sonst hätte er sie eingeschlossen, bis er sie dazu gebracht hatte, diesen Mann zu heiraten! Sie wusste, wen der Onkel meinte. Ihr war nicht entgangen, wie er sie bei seinem letzten Besuch beäugt hatte. Seine schmutzigen Blicke widerten sie an! Sie würde diesen Kerl niemals heiraten, was immer sie ihr auch antun mochten.

Noch in derselben Nacht war Georgie aus dem Haus ihres Onkels geflohen, entschlossen, ein Versteck zu finden, bis sie ihr Erbe antreten konnte. Sobald sie es in Händen hielt, würde sich problemlos ein eigenes Heim mit angemessener Gesellschaft finanzieren lassen. Ihre Pläne waren zunächst unausgereift gewesen. Sie hatte ganz intuitiv gehandelt, als sie in die Postkutsche nach London stieg, mit der Idee im Hinterkopf, die Anwälte ihres Vaters aufzusuchen. Aber nachdem ihr der Geldbeutel gestohlen worden war, hatte sich ihre Situation dramatisch verschlechtert. Es ging nur noch ums Überleben. Und nun befand sie sich im Haus eines Gentlemans, dem sie heute zum ersten Mal begegnet war!

Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das Glück ihr hold gewesen war. Londons Straßen waren weit gefährlicher, als sie es sich jemals hatte vorstellen können. Wenn sie es geschickt anstellte, würde Captain Hernshaw ihr weiterhelfen. Vielleicht konnte sie sich an ihre Großtante wenden, obwohl es ihr widerstrebte, denn die alte Dame hatte sich stets distanziert verhalten. Unter den gegebenen Umständen stellte sie trotzdem einen Hoffnungsschimmer dar. Möglicherweise wäre es klüger gewesen, sie direkt um Hilfe zu bitten, doch Georgie hatte in ihrer Not ganz impulsiv gehandelt, erfüllt von der Angst, zu lange zu warten.

Sie verweilte im Bad, bis das Wasser erkaltete, dann stieg sie aus der Wanne und trocknete sich ab, bevor sie den weichen Seidenmorgenmantel überzog, den die Haushälterin für sie herausgelegt hatte. Er war so groß, dass er ständig von ihren Schultern rutschte. Sie musste ihn hochraffen und weit über der Taille festknoten, damit sie nicht ständig über seinen Saum stolperte. Aber er fühlte sich warm an. Sie ging zur Frisierkommode und betrachtete sich im Spiegel. Ihr langes dunkles Haar glänzte. Es war noch feucht, und die Locken umspielten ihre Schultern. Ein verräterisches Merkmal meiner Weiblichkeit! Sie biss auf ihre Unterlippe, denn sie wusste, dass sie die Wahrheit nicht lange verbergen konnte, wenn sie ihre Haare so beließ. Sie wollte sie nicht abschneiden, doch ihr war klar, dass ihr nicht viel anderes übrig blieb.

Georgie zog die obere Schublade der Kommode hervor und entdeckte eine Schere. Zögernd tastete sie nach dem ringförmigen Griff und fasste das Werkzeug schließlich mit Entschiedenheit. Wenn sie nicht entdeckt werden wollte, musste sie tapfer sein. Sie hielt eine Hand voll Haare nach oben und setzte die Schere an. Es nutzte nichts, sie musste ihre Lockenpracht opfern!

„Das würde ich nicht tun, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.“ Georgie drehte sich erschrocken um und sah, dass Henderson durch den Ankleideraum eingetreten war. Sie hatte bis dahin gar nicht bemerkt, dass es eine zweite Tür gab. „Eine echte Schande, die schönen Locken abzuschneiden, wenn Sie mich fragen.“

Georgie stand auf, Bestürzung lag in ihrem Gesicht. „Ich hatte abgeschlossen …“

„Ich habe die angrenzende Tür benutzt. Ich klopfte an, aber Sie haben mich nicht gehört.“

„Ich war ganz in Gedanken versunken.“ Georgie blickte ihn an. „Sie wussten von Anfang an, dass ich ein Mädchen bin, nicht wahr? Hat Mrs. Jensen es Ihnen gesagt?“

„Ich habe es nur vermutet“, erklärte Henderson. „Ich habe zwar schon zarte Jungen gesehen, und bei schlechter Beleuchtung kann man sich irren. Aber jeder, der Sie jetzt sieht, wäre sich ganz sicher. Ich habe Ihnen ein paar Kleidungsstücke mitgebracht – und eine Kappe, sodass Sie Ihr Haar verbergen können.“

„Ich muss es abschneiden“, sagte Georgie. „Würden Sie mir dabei helfen, Henderson? Ich weiß nicht, ob es mir am Hinterkopf gelingt.“

„Ich schneide es ab, wenn Sie das wirklich ernst meinen“, erwiderte der Diener. „Doch wenn Sie mich fragen, ist es eine gehörige Schande, Miss.“

„Nennen Sie mich Georgie“, bat sie. „Wenn irgendjemand die Wahrheit erfährt … Sie müssen wissen, ich bin in fürchterlicher Gefahr. Es gibt jemanden, der mir … großen Schaden zufügen will.“ Es war alles, was sie ihm mitteilen konnte, sie wagte nicht, ihm mehr zu verraten. Mit Tränen in den Augen schaute sie ihn an.

„Nicht, wenn ich nah genug bin, um ihn daran zu hindern“, versicherte Henderson und zog ein grimmiges Gesicht. „Sie sollten es dem Captain erzählen, Georgie. Er wird es nicht zulassen.“

„Ich kann ihm das unmöglich aufbürden“, erwiderte sie. „Er hat mir bereits genug geholfen. Ich muss zu meiner Großtante. Sie lebt in Yorkshire und ist die einzige Person, der ich vertrauen kann.“

„Reden Sie mit dem Captain. Er wird Ihnen helfen, dorthin zu gelangen.“ Henderson näherte sich, betrachtete skeptisch ihr langes Haar und die Schere. „Sind Sie sicher, dass es abgeschnitten werden soll?“

„Ja …“, bevor Georgie weiterreden konnte, hörte sie Geschrei. Jemand schlug verzweifelt gegen die Tür. Sie sprang auf, um zu öffnen, und Mrs. Jensen stolperte in den Raum. „Ist etwas passiert?“

„Der Captain“, schrie die Haushälterin. „Er ist schwer verletzt worden, Miss, gar nicht weit entfernt von hier. Er ist gerade ins Haus getaumelt, von oben bis unten voller Blut. Er ist von Blut durchtränkt! Was für ein grauenhafter Anblick! Er braucht Sie, Henderson!“ Ihre Hände zitterten. „So etwas ist nie passiert, als Sir Frederick noch lebte. Ich kann den Anblick von Blut nicht ertragen. Das konnte ich noch nie.“

„Wo ist er?“, herrschte Henderson sie an. „Reißen Sie sich zusammen, Frau! Ich brauche Ihre Hilfe.“

Mrs. Jensen schlotterte am ganzen Körper und schien völlig außer sich. „Sie haben ihn in sein Schlafgemach getragen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Es tut mir leid, aber es geht einfach nicht …“

„Dann mache ich es“, rief Georgie sofort. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Blut. Gehen Sie zu ihm, Mr. Henderson. Ich folge Ihnen, sobald ich angekleidet bin.“

„Oh, Miss“, wimmerte die Haushälterin und vergaß in ihrer Not alle Diskretion. „Der arme Herr! Wir haben nach dem Doktor gerufen, aber es steht schlecht um ihn.“

2. KAPITEL

Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Henderson hinaus. Georgie schlüpfte eilig in die Kleidung, die er für sie dagelassen hatte. Während sie hastig die viel zu großen Breeches und das weite Hemd anzog, kehrte sie der Haushälterin den Rücken zu. Georgie rollte die Hemdsärmel und versteckte ihr langes Haar unter der Kappe.

„Sagen Sie mir, wo er ist“, forderte sie Mrs. Jensen auf, die noch immer wie benommen vor sich hinstarrte. „Mr. Henderson braucht Hilfe, wenn Captain Hernshaw ernsthaft verletzt ist.“

„Folgen Sie mir“, sprach Dora, die Georgies Worte aus dem Trancezustand rissen. „Ich bringe Sie hin, aber fragen Sie nicht, ob ich helfe, denn allein der Anblick macht mich ohnmächtig. Blut konnte ich noch nie ertragen. Das ist nicht zu ändern!“

„Wir schaffen das schon“, entgegnete Georgie, die Verständnis für Dora Jensens Reaktion aufbrachte. „Meiner Tante erging es genau wie Ihnen. Als mein Onkel eine Schussverletzung hatte, musste ich ihn verarzten, bis der Doktor kam …“ Georgie hielt inne. Sie hatte schon zu viel gesagt. Ihren Onkel hatte sie überhaupt nicht erwähnen wollen!

„Ich dachte …“ Dora schüttelte den Kopf. Der Anblick des Captains, wie er blutüberströmt ins Haus gestolpert war, hatte sie zutiefst erschüttert und sie in einen Schockzustand versetzt. Sie war davon ausgegangen, dass Georgie ganz allein auf der Welt war. Nun stellte sich heraus, dass sie eine Tante und einen Onkel hatte. Es war jedoch nicht die Zeit, um an etwas anderes zu denken als an Captain Hernshaw. „Kommen Sie schnell mit.“

Georgie eilte hinter der Haushälterin her durch den Korridor bis zu einer Flügeltür, die in die Räume des Captains führte. Sie trat ein und ließ Mrs. Jensen an der Türschwelle zurück. Sie erreichte einen Salon, der weniger dunkel eingerichtet war als der Rest des Hauses, und hörte eine Stimme aus dem dahinterliegenden Schlafgemach.

„Hierher!“

Rasch folgte Georgie Hendersons Ruf und fand ihn über den Körper seines Herrn gebeugt. Überall war Blut. Henderson versuchte verzweifelt, eine Kompresse gegen eine offene Wunde an Captain Hernshaws Schulter zu pressen, während er einen anderen Bediensteten anwies, dasselbe mit einer Wunde am Oberschenkel zu machen.

„Was soll ich tun?“, fragte Georgie.

Henderson blickte auf. „Sie fallen mir nicht in Ohnmacht?“

„Nein“, versicherte sie. „Soll ich versuchen, den Verband gegen die Wunde an der Schulter zu pressen, während Sie den offenen Schenkel behandeln? Er sieht am schlimmsten aus. Versuchen Sie es zu nähen oder abzubinden, bis der Doktor da ist!“

„Wir können nicht warten“, entgegnete Henderson knapp. „Wenn ich die Wunde nicht schließen kann, wird er verbluten.“

„Dann tun Sie, was Sie können“, sagte Georgie. „Ich werde die Kompresse an seiner Schulter anbringen, dann können sie den Captain zu zweit festhalten. Er wird wahrscheinlich wieder zu Bewusstsein kommen und gegen den Schmerz ankämpfen, sobald Sie mit dem Nähen beginnen.“

„Sie haben damit Erfahrung“, bemerkte Henderson und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. Er schob den Bediensteten auf die andere Seite und untersuchte die tiefe Wunde am Oberschenkel seines Patienten. „Ich werde es erst einmal nur grob zunähen, um die Blutung zu stoppen. Das wird nicht schön ausschauen, aber vielleicht rettet es ihn.“

„Verlieren Sie keine Zeit“, riet Georgie und drückte die Kompresse so fest wie sie konnte gegen die zweite Wunde. „Andernfalls stirbt er. Keiner übersteht einen solchen Blutverlust.“

Fast eine Stunde später betrachtete Georgie den Mann, der inmitten der blutbefleckten Bettlaken lag. Sein Gesicht war kreidebleich. Sie hielt ihn für bewusstlos, denn er hatte so heftig getobt, als Henderson anfing, die Wunde am Oberschenkel zu nähen, dass der Kammerdiener ihn mit einer hohen Dosis Laudanum hatte außer Gefecht setzen müssen.

Sie zitterte, denn sie wusste, wie knapp er in dieser Nacht dem Tod entkommen war. Nach den Anstrengungen, sein Leben zu retten, fühlte sie sich schwach. Es war weit schlimmer gewesen als bei der Schussverletzung ihres Onkels. Und nach wie vor gab es keine Garantie, dass der Captain überleben würde. Wie leicht konnte er Fieber bekommen. Außerdem bestand die Gefahr, dass sich die genähte Wunde entzündete.

„Sie sehen schrecklich aus“, sorgte sich Henderson. „Sie sollten sich hinlegen, Georgie. Ich schaffe es jetzt allein.“

„Er wird viel Pflege benötigen“, erwiderte Georgie. Sie wusste nicht, warum, doch es widerstrebte ihr, den Captain zu verlassen, der so reglos und blass dalag. „Ich habe etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Es war nicht ganz so furchtbar, aber schlimm genug. Ihr Herr schwebt weiterhin in Lebensgefahr, weil er so viel Blut verloren hat.“

„Ja, das weiß ich. Der Doktor muss noch nach ihm sehen, aber wir hätten nichts anderes tun können.“

„Besser als Sie hätte es ein Arzt auch nicht machen können“, lobte Georgie. „Haben Sie das beim Militär gelernt?“

„Mein Vater war Wundarzt in der Armee. Er wünschte sich, dass ich in seine Fußstapfen trete, aber ich wollte Soldat werden. Da draußen habe ich dann rasch gelernt, wie wichtig die Fähigkeiten meines Vaters waren. Deshalb habe ich versucht, mir so viele Kenntnisse wie möglich anzueignen – von ihm und aus Büchern.“

„Sie haben Captain Hernshaw das Leben gerettet.“

„Falls er durchkommt.“

Georgie nickte, denn sie wusste, dass der Ausgang offen war. „Ich lege mich jetzt hin, aber ich komme später und löse sie ab.“

Todmüde ging sie auf ihr Zimmer, und Henderson beseitigte das Durcheinander, das sie bei der Operation verursacht hatten.

Alles war so schnell gegangen. Erst jetzt begriff Georgie, was geschehen war. Während sie um Captain Hernshaws Leben gekämpft hatten, war sie nur von dem Gedanken angetrieben worden, dass er nicht sterben sollte! Ihn in Lebensgefahr daliegen zu sehen, hatte sie mehr berührt, als sie es sich hatte vorstellen können. Sie kannte ihn erst wenige Stunden und bangte bereits um ihn wie um einen guten Freund. Sie wusste nicht, warum, aber sie spürte, dass es für sie bedeutsam war, dass er am Leben blieb.

Kaum dass ihr Kopf ins Kissen gesunken war, schlief Georgie ein. Als sie erwachte, krochen die ersten Strahlen der Morgensonne durch das Fenster. Einen Augenblick streckte sie sich wohlig aus, bemerkte, dass sie in ihrer Kleidung eingeschlafen war, und all die Ereignisse der vergangenen Nacht kamen ihr zu Bewusstsein. Sie sprang auf und eilte den Korridor entlang in die Räume des Captains. Als sie das Schlafgemach betrat und zum Bett ging, legte Henderson dem Patienten gerade ein nasses Tuch auf die Stirn.

„Wie geht es ihm?“

„Er hat Fieber“, erwiderte Henderson. „Das Laudanum hat ihn zunächst ruhiggestellt. Doch jetzt beginnt er zu kämpfen.“

„Sie waren die ganze Nacht auf“, sorgte sich Georgie. „Ich wollte Sie ablösen, aber ich bin zu fest eingeschlafen. Geben Sie mir das Tuch. Ich werde mich um ihn kümmern, dann können Sie sich endlich ausruhen.“

„Ja, ich brauche ein bis zwei Stunden“, stimmte Henderson zu. „Der Arzt war inzwischen hier und brachte Medizin gegen das Fieber. Ich habe dem Captain bereits eine Dosis verabreicht. Mehr sollte er in den nächsten zwei Stunden nicht einnehmen. Wenn ich zurück bin, werde ich ihm wieder etwas geben. Nur damit Sie für alle Fälle Bescheid wissen, er soll dann nicht mehr als einen Löffel einnehmen.“

„In Ordnung“, antwortete Georgie und schaute zu der Kleidertruhe hinüber, auf der die braune Flasche stand. Sie blickte auf die Wanduhr und merkte sich die Zeit. „Er muss also die Medizin wieder um neun Uhr fünfundvierzig einnehmen.“

„Richtig“, bestätigte Henderson. „Dann überlasse ich Ihnen jetzt eine Weile die Pflege – ich danke Ihnen.“

„Er hat mir geholfen. Es ist nur recht und billig, dass ich ihm beistehe.“

Henderson sah sie einen Augenblick an, sagte aber nichts mehr, drehte sich um und ließ sie mit dem Patienten allein.

„Justin …“ Georgie wandte sich dem Captain sofort zu, als sie dessen fiebriges Gemurmel vernahm. „Verzeihe mir … ich hätte dort sein müssen … stirb nicht … es tut mir leid … es war nicht deine Schuld … es war nicht deine Schuld …“

Georgie tauchte das Tuch in kaltes Wasser, wrang es aus und legte es auf seine erhitzte Stirn. Sein dunkles Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er trug es etwas länger als die meisten Männer. Wie ein Rebell schaut er aus, einer, der sich nichts aus der Tagesmode macht.

„Justin … nein …“ Er gab einen gequälten Schrei von sich, richtete den Oberkörper auf und stierte mit wildem Gesichtsausdruck geradeaus. „Du darfst nicht sterben … vergib mir … vergib mir …“

„Er vergibt Ihnen“, beruhigte ihn Georgie, während er stöhnend zurück in die Kissen sank. Sie war sich nicht sicher, ob er sie in seinem Fieberwahn hören konnte. Um ihn zu besänftigen, streichelte sie ihm die Wangen. Ihn zu berühren, fühlte sich seltsam an. Sie merkte, dass er sie brauchte, und sie sehnte sich danach, ihm zu helfen. Seine Schmerzen rührten sie zu Tränen. „Er weiß, dass Sie ihn retten wollten … es ist nicht Ihre Schuld, wenn er …“

Plötzlich fasste er nach ihrem Handgelenk. Er blickte sie an, aber seine Augen sahen durch sie hindurch. „Ich wusste es“, murmelte er. „Ich wusste, was sie ihm antaten! Ich hätte sie stoppen müssen. Es war nicht seine Schuld … sie haben ihn getötet …“

„Es ist alles in Ordnung.“ Wieder streichelte Georgie ihn zärtlich. „Ruhen Sie sich aus. Justin ist in Sicherheit …“

„Nein, er starb …“ Tränen rannen seine Wangen hinunter. „Er starb, weil ich nicht dort war, um ihm zu helfen …“

„Aber Sie wollten es“, tröstete ihn Georgie, deren Herz sich angesichts seiner Verzweiflung zusammenzog. „Sie hätten ihm geholfen, wenn Sie gekonnt hätten …“

„Ich habe ihn im Stich gelassen …“ Seine Augen schlossen sich wieder, und er schien ein wenig ruhiger zu werden.

Sie strich ihm über das Haar und wischte mit dem kühlen Tuch den Schweiß von seiner Stirn und die Tränen aus seinem Gesicht. Der fiebrige Anfall hatte viel über ihn offenbart. Wer hätte gedacht, dass ihn etwas so tief bewegte? Er schien ein ernster Mann zu sein, der sich keine Gefühle anmerken ließ, aber offenkundig täuschte dieser Eindruck. Ohne es zu wollen, hatte er eine andere Seite seines Charakters preisgegeben, eine, die sie vermutlich nie kennengelernt hätte, wenn er nicht so gefährlich verletzt worden wäre. Es berührte sie und weckte zarte Gefühle, die ihr neu vorkamen. Um wen es sich wohl bei Justin handelt? rätselte Georgie. Warum fühlte sich Captain Hernshaw für dessen Schicksal verantwortlich?

Es geht mich nichts an, beschloss sie und setzte sich wieder auf den Stuhl, den Henderson ans Bett gerückt hatte. Wenigstens ruhte der Captain sich eine Weile aus. Er hatte noch immer Fieber, sprach aber nicht mehr vor sich hin und schien sich etwas wohler zu fühlen.

Sie betrachtete seine Gesichtszüge. Er war kein schöner Mann, wenn man die üblichen Maßstäbe zugrunde legte. Seine Züge wirkten rau, die Nase war gerade und herrisch. Sein Mund kam ihr nun weicher vor, nicht hart oder verbittert, wie er anfangs gewirkt hatte, als er erbost gewesen war. Dichte dunkle Wimpern umrahmten seine geschlossenen Augen. Sie wusste, dass sie grau waren – Augen, die kalt blicken oder vor Heiterkeit funkeln konnten. Er machte sie neugierig. Was für ein Mann nimmt einen Straßendieb mit zu sich nach Hause? Wer wird so von etwas Vergangenem gequält? Hat er etwas Schreckliches getan? Ist das der Grund, weshalb er im Fieber um Vergebung bat?

Sie gestand sich ein, dass sie es wahrscheinlich nie erfahren würde. Sie hatte ihn überreden wollen, ihr zu helfen, sodass sie zu ihrer Großtante gelangen konnte. Aber er würde das Bett voraussichtlich einige Wochen nicht verlassen. Sollte sie die ganze Zeit bleiben, wenn er es ihr erlaubte?

Sie war hin- und hergerissen, während sie ihn ansah. Einerseits war es klüger, fortzugehen und sich nicht weiter auf ihn einzulassen. Vielleicht würde einer seiner Bediensteten ihr genug Geld leihen, damit sie die Postkutsche nach Yorkshire nehmen konnte … Andererseits konnte sie den Verwundeten in diesem Zustand nicht im Stich lassen. Gegen ihren Willen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Überdies brauchte Henderson Hilfe, bis sein Herr das Schlimmste überstanden hatte. Ich will ihm helfen, für ihn sorgen und sehen, wie er wieder zu Kräften kommt, gestand Georgie sich ein. Ich will ihn berühren und … Eilig verbannte sie die törichten Gedanken. Sie würde nicht davonlaufen, solange er sie brauchte, aber sie würde auch keine albernen Gedanken mehr zulassen!

Genau zwei Stunden später kam Henderson wieder zurück. Georgie zweifelte, ob er überhaupt geschlafen hatte. Als sie sich erkundigte, erklärte er bloß, er sei ausgeruht.

„Ich habe mich daran gewöhnt, nicht viel Schlaf zu bekommen, als wir in Spanien gekämpft haben“, erklärte er. „Mrs. Jensen sagt, Sie sollen herunterkommen, Georgie. Sie serviert Ihnen im Kleinen Salon Frühstück.“

„Oh … danke schön“, entgegnete Georgie, die Hunger verspürte. „Möchten Sie, dass ich Ihnen vorher noch helfe, ihm die Medizin zu verabreichen?“

„Das ist nicht nötig“, antwortete Henderson. „In seinem Zustand ist es einfach mit ihm. Sobald er wieder mehr er selbst ist, wird er ruhelos. Dann ist er kein angenehmer Patient.“

„Sie haben ihn schon einmal gesund gepflegt?“

„Ja, er wurde schon mehrmals schwer verwundet.“

„Er konnte sich glücklich schätzen, Sie an seiner Seite zu haben.“