Historyland - Philipp Westerhoff - E-Book

Historyland E-Book

Philipp Westerhoff

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Beschreibung

Eigentlich wollte Felix nur seinen Großvater suchen. Doch diese Suche führte ihn auf eine seltsame Reise, wo er viel mehr fand, als er sich vorstellen konnte. Begleite ihn auf seine Reise in das Reich der Fantasie. Besuche eine Welt der Märchen, Sagen und Legenden. Erkunde ein Land, in dem jede geschriebene Geschichte ihre eigene Geschichte schreibt. Denn wer sagt, dass die Figuren eines Buches nur die Geschichte kennen und erleben, in die sie hineingesetzt wurden? Auch sie entwickeln sich weiter....oder nicht? Finde es heraus. Sei willkommen im Historyland!!!

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Träume verändern die Welt

Träume geben Liebe, Mut und Kraft Träume nehmen Angst, Wut und Trauer Träume bewahren Hoffnung und Erinnerung

Nur wer träumen kann, hat ein Herz Nur wer ein Herz hat, kann auch Lieben Nur wer lieben kann, kann wirklich Leben

Lebe deinen Traum

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 -

Der Brief

Kapitel 2 -

Das Volk der Winde

Kapitel 3 -

Chippolino

Kapitel 4 -

Die Fehde und ein Geheimnis

Kapitel 5 -

Earl Ernest Miell, Lord of Castle Hole

Kapitel 6 -

Neue Helfer, neue Feinde

Kapitel 7 -

Pascal und Sven

Kapitel 8 -

Das Pendel

Kapitel 9 -

Der römische Zirkus

Kapitel 10 -

Die Silberstadt

Kapitel 11 –

Die Rekrutierung

Kapitel 12 –

Schmerzhafte Erinnerung

Kapitel 13 –

Der alte Zecher

Kapitel 14 -

Das Land aus dem Nichts

Kapitel 15 -

Gefangen

Kapitel 16 -

Die Abkürzung

Kapitel 17 -

Der Gefängnisturm

Kapitel 18 -

Das Volk des Meeres

Kapitel 19 -

Kimmineva

Kapitel 20 -

Kadastranien, das Land der Untoten

Kapitel 21 -

Die Befreiung

Kapitel 22 -

Nabuloky

Kapitel 23 -

Deviolo

Kapitel 24 -

Im Reich der Schneekönigin

Kapitel 25 -

Der Liliaco-See

Kapitel 26 -

Die große Ebene

Kapitel 27 -

Die Schlacht

Kapitel 28 -

Ehre und Lüge

Kapitel 29 -

Das Reich der Finsternis

Kapitel 30 -

Rahourkoon, der schwarze Magier

Kapitel 31 -

Arroganz - Die Schwäche des Bösen

Kapitel 32 -

Trebor, der Hüter der Zeit

Kapitel 33 -

Freud und Leid

Epilog

Quellenverzeichnis

Danksagung

Prolog

Wie die Geschichte ihren Anfang nahm…

Es begann in einer kleinen Stadt, etwa zweihundert Meilen von Las Vegas entfernt. Die Sommerferien hatten gerade begonnen und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Es war sehr warm und die Eisdielen machten einen derart guten Umsatz, dass einige von ihnen Probleme bekamen, genügend Eis herzustellen, um den Wünschen all ihrer Kunden nachkommen zu können. Die Freibäder hatten aufgrund der großen Hitze von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und am Wochenende sogar bis spät in die Nacht hinein geöffnet.

Es bestanden also eigentlich perfekte Bedingungen, um die Ferienzeit zu genießen. Aber es war wie so oft: In den ersten Tagen machte man alles auf einmal und nach ein paar Tagen schon langweilte man sich. Denn wer hatte schon Lust, jeden Tag zu angeln, zu schwimmen und Eis essen zu gehen? Und vor allem: Wer hat schon das Geld dazu?

Vor diesem Problem stand auch eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Kinder, die in diesem Augenblick behäbig die Hauptstraße des 15000 Einwohner Städtchens entlangschlenderte. Sie wussten nicht, was sie mit ihrer scheinbar endlosen Freizeit anfangen sollten und langweilten sich. Angeln war auf die Dauer zu wenig aufregend, vom vielen Schwimmen in den letzten Tagen waren ihnen fast schon Schwimmhäute gewachsen und um Eis zu essen fehlte ihnen einfach das Taschengeld. Was also sollten sie tun? Sie beratschlagten eine Weile, bis eines der Kinder vorschlug: „Gehen wir doch zum Alten am Fluss! Vielleicht erzählt er uns etwas Schönes. Eine spannende Geschichte oder ein Abenteuer!“

Da den anderen auch nichts Besseres einfiel, stimmten sie dem Vorschlag zu und machten sich auf den Weg. Der so genannte ‚Alte am Fluss’ war ein sehr greiser Mann, welcher schon seit langer Zeit in der kleinen Stadt lebte. Er gehörte fast schon zur Geschichte der Stadt, wie das Rathaus oder die kleine Schule. Ihn umgab etwas Geheimnisvolles, denn niemand hatte ihn je arbeiten sehen und dennoch besaß er ein kleines Haus am Flussufer und war immer gut gekleidet. Auch konnte niemand sagen, woher er eigentlich gekommen war. Man wusste nur, dass er Deutscher war. Aber von wo genau aus Deutschland er stammte und was er dort gemacht hatte, bevor er nach Amerika übergesiedelt war, das wusste niemand.

Trotz dieser Unklarheiten war er bei den Einwohnern sehr beliebt. Wenn jemand Hilfe oder einen Rat brauchte, war er stets mit seinem Wissen oder mit handwerklichem Geschick zur Stelle. Außerdem wusste er hervorragend zu erzählen. Wenn er zum Beispiel abends in sein Stammlokal kam, was nicht oft war und eine seiner Geschichten zum Besten gab, dann war jeder im Raum ganz Ohr. Seine spannenden und oft auch lustigen Geschichten waren so faszinierend, dass ihm jedes Mal der Wirt oder einer der Gäste etwas zu trinken oder eine Kleinigkeit zu essen spendierte, damit er bloß fortfuhr. Besonders die Frau des Wirtes liebte seine Erzählungen und es kam nicht selten vor, dass sie für den Alten vom Fluss eine große Schale ihrer berühmten, selbstgemachten Mousse au Chocolat springen ließ. Manchmal kam der Alte auch im Kindergarten oder in der Schule vorbei und erzählte den Kindern kurze, aber fantastische Geschichten.

Aus diesem Grund gingen die Kinder nun zum ihm. Sein Haus stand etwas abseits, vor den Toren der Stadt, am Ufer des Flusses, welcher die nahegelegene Ortschaft durchfloss. Als die Kinder an seinem Grundstück ankamen, war der Alte jedoch nicht da. Sie beschlossen, ihn zu suchen. Sie gingen ein Stück am Wasserlauf entlang und fanden ihn nach kurzer Zeit ein Stück stromaufwärts, hinter einer kleinen Flussbiegung, an eine riesige Kastanie gelehnt, sitzen. Er rauchte gerade gemütlich seine Pfeife, hatte die Augen geschlossen und kühlte sich die Füße im vorbeifließenden Wasser. Die Kinder gingen zögernd auf ihn zu. Er hatte sie schon kommen hören und als die Kinder vor ihm standen, öffnete er die Augen, sah jedes Kind nacheinander an und fragte dann: „Na, ihr Racker, was kann ich für euch tun?“

Sie drucksten eine Weile herum, will sie nicht so recht wussten, wie sie ihn darum bitten sollen, ihnen ein Abenteuer zu erzählen. Es sollte nicht zu fordernd klingen, aber eben auch nicht zu zurückhaltend, denn sie waren ja hergekommen, um eine der berühmten Geschichten des Alten zu ergattern. So drückten sie sich verlegen umeinander herum und überlegten, wie sie dem Alten ihr Anliegen nahebringen sollten. Da nahm er ihnen lächelnd die Entscheidung ab: „Ich könnte wetten, ihr seid hergekommen, um eine meiner Geschichten zu hören. Richtig?“

Die Kinder atmeten auf und nickten eifrig mit den Köpfen. Der Alte nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und sprach: „Nun gut. Dann macht es euch mal möglichst bequem und ich werde euch eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe, als ich etwa in eurem Alter war. Es ist die Geschichte eines guten Kameraden und Freundes.“

Die Kinder kletterten auf die tief hängenden, breiten Äste der Kastanie, machten es sich in den Astgabelungen gemütlich und schauten erwartungsvoll zu dem Alten hinab. Dieser hatte sich nun so hingelegt, dass seine Beine bis zu den Knien im Wasser lagen und er selbst, ohne den Kopf verdrehen zu müssen, seine Zuhörer über sich sitzen sehen konnte. „Ich möchte euch um einen kleinen Gefallen bitten: Setzt euch so bequem und sicher hin, wie es nur geht. Dann schließt eure Augen und lasst eurer Fantasie freien Lauf, während ich erzähle. Ich verspreche euch: Das wird ein einmaliges Erlebnis für euch werden!“

Die Kinder ruckelten sich gehorsam auf ihren Plätzen zurecht und schlossen die Augen. Der Alte tat noch einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und ließ den Rauch in breiten Ringen aufsteigen. Der Geruch der Kastanie, des Flusses und des Rauches vermischten sich miteinander und die Kinder fühlten sich bereits jetzt weit, weit weg von zu Hause. Und nun der Alte begann mit ruhiger, klarer Stimme seine Geschichte:

Bevor ich euch diese Geschichte erzählen kann, muss ich euch ein bisschen von meiner Heimat berichten, damit ihr leichter in das Geschehen hineinfindet. Denn die Geschichte beginnt im fernen Europa, in Deutschland. Also dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Dieses Land ist im Norden von der stürmischen See und im Süden von einem Gebirge begrenzt. Es ist etwa 1 ¼-mal so groß wie unser schöner Staat Nevada. Es gibt dort Felsengebirge, große Wiesen, Hügel- und Seenlandschaften. Lediglich mit Wüsten kann dieses Land nicht dienen. Durch diese vielen verschiedenen Landstriche ist meine Heimat voll von unterschiedlichen, alten Sagen und Märchen. Die Bewohner des Nordens glauben an Geisterschiffe auf See, Spukgestalten im Moor und ruhelose Verstorbene im Nebel. Auch in den anderen Bereichen des Landes gibt es Geschichten über Zwerge, Kobolde, Riesen und Drachen. In diesem Land wuchs der Junge auf, von dessen Abenteuern ich euch heute erzählen will. Sein Name lautet Felix. Felix Friedrich Schönefelder. Den meisten von euch wird dieser Name nichts sagen, weil ihr ihn wahrscheinlich gar nicht kennt. Woher auch? Er lebte zwar auch einmal hier in dieser Stadt, aber das ist schon viele Jahre her. Und zu der Zeit, als die Geschichte begann, wohnte er gemeinsam mit seinem Vater und seinem Großvater in Kirchzarten. Das ist ein kleines Dorf im Süden Deutschlands, in einem Gebiet, das man ‚Schwarzwald’ nennt.

Diese Gegend ist für ihre Naturverbundenheit, vor allem aber für ihre vielen Fabelwesen bekannt - wie zum Beispiel Kobolde, Feen, Elfen und andere kleine Waldgeister. Viele der Märchen und Fabeln dieser Region spielen in unmittelbarer Umgebung zu seinem Heimatort. So war es kein Wunder, dass auch Felix viel über diese geheimnisvollen Wesen wusste, da man deren Geschichten in dieser Gegend fast mit der Muttermilch aufsaugte. Aber ich will nicht zu weit vorgreifen, da ich euch Felix erst einmal genauer vorstellen will:

Er war damals ungefähr fünfzehn Jahre alt. Er war weder besonders groß noch klein und seine Statur war weder dick noch dünn. Seine dunkelblonden, kurzen Haare standen meistens in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab. Obwohl er sehr neugierig und offen für alles Neue war, hatte er eigentlich nur drei große Leidenschaften: Die erste war das Fußballspielen, die zweite das Lesen und die dritte war das Theater. Sein drittes Hobby hatte er schon damals, nach vielen Theaterbesuchen, zum Beruf gemacht und er arbeitete in seiner Freizeit, neben der Schule, im Theater in Freiburg, einer kleinen Stadt in der Nähe von Kirchzarten, als Statist, Requisiteur und letztlich als ‚Mädchen für Alles’.

Was den Fußball betrifft, muss ich leider berichten, dass er, obwohl er mit viel Leidenschaft und Spaß bei der Sache war, fast das ganze erste Jahr mehr schlecht als recht spielte.. Aber sein Ehrgeiz trieb ihn an und nach einiger Zeit harten Trainings gehörte er, durch seine furchtlose und resolute Art als Verteidiger, zu den wichtigen Stützen seiner Mannschaft. Er war zwar nie ein großer Techniker, aber er gab auch nie einen Zweikampf oder gar ein Spiel verloren. Und diese Verbissenheit und Ausdauer, die er in diesem Jahr entwickelte, sollte ihm in der Geschichte, die ich euch erzählen will, zugutekommen.

Felix lebte gemeinsam mit seiner Familie in einem sehr alten Haus. Zum einen war da sein Großvater, über den ich nicht viele Worte verlieren möchte. Nicht, weil er es nicht wert wäre, sondern, weil er in der Geschichte noch ausreichend beschrieben wird. So wäre da nur noch sein Vater zu erwähnen. Dieser war von Beruf Werbetexter und verbrachte fast den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer, wo er sich neue Sprüche und Maßnahmen zum Verkauf ausdachte. Dafür entwarf er große Annoncen für Zeitungen, spielte mit Worten und ersann so manche, aufsehen erregende Wortschöpfung.

Felix bekam ihn eigentlich nur beim Frühstück und beim Abendessen zu Gesicht. Trotzdem war er für ihn der beste Vater der Welt, wahrscheinlich deshalb, weil dieser nur sehr selten etwas an ihm auszusetzen hatte. Er schimpfte nie mit ihm, wenn er eine schlechte Note hatte, sondern sagte nur: „Nächstes Mal wird’s besser.“ Dann setzten sich die beiden zusammen und gingen gemeinsam die misslungene Arbeit noch einmal durch, bis Felix alles verstanden hatte, was er falsch gemacht hatte. Und das hat wirklich geholfen, denn wenn die nächste Arbeit dieses Thema wieder aufgriff, war dann meistens das Ergebnis tatsächlich besser. Auch bestrafte der Vater ihn nie. Felix genoss viele Freiheiten und er durfte, wenn er die Hausaufgaben erledigt hatte, tun und lassen was er wollte. Es gab lediglich eine feste Regel, nämlich, dass er zum Abendessen zu Hause sein musste. So kamen Vater und Sohn im Allgemeinen sehr gut miteinander aus.

Das Einzige, was sein Vater ihm immer ein wenig verübelte, war, das er so viel las. Es kam nicht selten vor, dass Felix, wenn er gerade ein spannendes Buch las, die ganze Nacht wach blieb, weil er unbedingt wissen wollte, wie es endete.

Ihr werdet euch wahrscheinlich wundern, warum ich bisher nichts von Felix’ Mutter erzählt habe. Sie ist leider schon sehr früh gestorben. Auf sehr tragische Art und Weise. Felix war damals noch sehr klein, etwa 5 oder 6 Jahre alt. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass sie durch ein Feuer in ihrer ersten Wohnung gestorben war. Zu dieser Zeit hatte Felix mit seinen Eltern im Norden Deutschlands in einer Stadt namens ‚Bremerhaven’ gewohnt. Durch einen technischen Defekt hatte der Dachstuhl des Hauses zu brennen begonnen und Felix’ Mutter wurde von herunterfallenden Ziegelsteinen getroffen, als sie aus dem Haus floh. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo die Ärzte mehrere Tage um ihr Leben kämpften. Felix wurde in dieser Zeit nach Kirchzarten zu seinem Großvater geschickt, damit der Vater uneingeschränkt für seine Frau da sein konnte und sein Sohn trotzdem gut versorgt war.

Ein paar Wochen später kam auch der Vater nach Kirchzarten und erzählte seinem Sohn, dass die Mama nun im Himmel sei. Allerdings konnte sich Felix nicht erinnern, auf einer Beerdigung gewesen zu sein. Der Hausbrand und der damit verbundene Tod seiner Mutter, wurden nie wieder angesprochen und so hatte er kaum noch Erinnerungen an die Zeit, bevor er in den Schwarzwald gezogen war.

Nach dem Umzug zu seinem Großvater erblühte bei Felix die Faszination für das Theater und für Bücher. Besonders interessierten ihn Krimis, Märchen und Abenteuerromane. Stundenlang konnte er seinem Großvater abends zuhören, wenn dieser vor dem Schlafengehen an seinem Bett saß, um ihm eine erfundene Geschichte zu erzählen oder eine vorzulesen. Später, nachdem er in der Grundschule die ersten Buchstaben zu schreiben und zu lesen gelernt hatte, wurde seine Leidenschaft für Comics und andere Lektüre geweckt, vor allem, als er mit sieben Jahren die Schatzinsel als Lesebilderbuch für Schulanfänger gelesen hatte. Seitdem verschlang er nahezu jedes Buch, welches ihm in die Hände fiel.

Unter diesen Büchern fanden sich auch einige Theaterstücke. Und nachdem Felix mit seinem Großvater die Oper Hänsel und Gretel und wenig später das Musical Das Phantom der Oper gesehen hatte, war er vom Theater so begeistert, dass er sich zu Weihnachten ein Abonnement wünschte. Dies bekam er zu seiner großen Freude und verpasste kaum noch eine Premiere im Freiburger Theater. Als dann bald darauf für ein Die Operette „Der Wildschütz“ Kinderstatisten gesucht wurden, gab es für ihn kein Halten mehr. Er hatte Glück und durfte mitspielen und seit damals lernte er die faszinierende Welt des Theaters auch von der anderen Seite kennen. So, nun aber genug von Felix und seinem Lebenslauf!

Ich werde euch nun eine Geschichte erzählen, die tatsächlich genauso stattgefunden hat, auch wenn sie höchst unwahrscheinlich und fantastisch klingt. Kinder, macht euch auf etwas gefasst! Lasst eurer Fantasie freien Lauf! Die Reise ins ‚Historyland’, in das Land ohne Grenzen, beginnt!

1. Kapitel

- Der Brief -

Die Geschichte beginnt im Haus von Felix’ Großvater in Kirchzarten.

Er lebte da schon einige Jahre mit seinem Vater dort und hatte sich gut in seine Umgebung eingewöhnt. Ganz im Gegenteil zu seinem Vater. Dieser vergrub sich in seiner Arbeit und nahm nur wenig am Familienleben oder dem Alltag im Dorf teil. Die meiste Zeit verbrachte Felix, wenn er nicht gerade im Theater oder beim Fußballspielen war, mit lesen. Es war ein ruhiges, gemütliches Leben, bis vor wenigen Wochen etwas passierte: Sein Großvater war plötzlich über Nacht verschwunden. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, wohin er gegangen war. Seine Kleidung, Koffer und andere Sachen waren alle noch da. Er hatte irgendwann einfach das Haus verlassen und war verschwunden. Jegliche Suche nach ihm blieb erfolglos. Nach kurzer Zeit war er deshalb als verschollen erklärt worden. Trotzdem man ihn nicht für tot, sondern lediglich als verschollen erklärt hatte, teilte Felix’ Vater seinem Sohn mit, dass er sich mit dem Tod seines Großvaters abfinden müsse. Von diesem Tag an zog der Vater sich noch mehr in sich zurück, als er es vorher bereits getan hatte. Auch Felix suchte stärker die Einsamkeit und verkroch sich noch weit häufiger zum Lesen in eine ruhige Ecke als zuvor.

Es war an einem Nachmittag im August. Felix hatte Sommerferien und draußen brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Anstatt wie seine Schulkameraden ins Schwimmbad zu gehen oder sonst etwas an der frischen Luft zu unternehmen, hielt er sich wieder einmal auf dem Dachboden des Hauses auf. Er stöberte in den alten Kisten, die dort oben zuhauf herumstanden. Hier war er besonders gern und genoss den leicht muffigen, staubigen Geruch der schiefen Dachbalken, das Zwielicht, das die Sonne durch einige kleine Fensterluken hereinschickte und das leichte Knarzen, wenn er über den alten Holzboden tappte. In diesem Raum standen sehr viele alte Kisten, in den sich verschiedenste Erinnerungen seines Großvaters befanden, welche er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte und in denen Felix nach Herzenslust herumwühlen durfte. Diese Zeugen aus früheren Zeiten bestanden nicht etwa nur aus abgelegten Kleidungsstücken, sondern auch aus alten Bildern der Familie und vielen, teilweise von Hand gezeichneten Landkarten. Zusätzlich fanden sich dort auch Zugfahrkarten und Flugtickets aus aller Welt. Felix’ Großvater war, als er noch als Architekt gearbeitet hatte, über Jahrzehnte sehr viel gereist. Genau wie Felix hatte schon sein Großvater eine Schwäche für Bücher gehabt; speziell für Märchen und Sagen. Daher bestand der Großteil der Schätze auf dem Dachboden aus alten Wälzern mit Märchen, Sagen und Fabeln aus allen Teilen der Welt. Sein Großvater hatte die Angewohnheit gehabt, aus allen Ländern, in die er beruflich oder privat gereist war, mindestens ein Buch mitzubringen. Aber auch die vielen Krimis und Abenteuerromane, die Felix’ Großvater sich als Reiselektüre für die langen Zug- und Schiffsreisen mitzunehmen pflegte, fanden sich in den Kisten. Überhaupt erinnerte der ganze Dachboden eher an den Abstellraum oder das Lager einer Bibliothek als an einen gewöhnlichen Dachboden, wo man eher alte Kleidungsstücke oder ausrangierte Möbel und Haushaltsgeräte erwartet hätte.

Der Dachboden wurde durch ein großes Regal längs in zwei Hälften geteilt. Es zog sich über die gesamte Länge des Hauses unter dem Dachfirst entlang und reichte vom Boden bis zum Giebel. An einer Stelle waren ein paar Regalbretter ausgelassen worden, damit man hindurchtreten und beide Seiten des Dachbodens nutzen konnte. Dieses Regal war ebenfalls vollgestopft mit Druckerzeugnissen verschiedenster Art. Atlanten, alten Karten, Zeitungen und Lehr- und Wissensbücher teilten sich den Platz mit Wörterbüchern und Romanen aus allen Teilen der Welt. Für einen Bücherwurm wie Felix war dieser Ort ein Paradies, da er hier tausende Bände zur Auswahl hatte. Oft, wenn er Abenteuerromane las, hatte er neben sich eine Karte liegen, um die Wege, sofern sie gut genug beschrieben waren, auch verfolgen zu können. Dadurch konnte er noch tiefer in die Geschichte eintauchen.

In einem dieser vielen alten Wälzer fand Felix eines Tages den größten Schatz, denn sich ein Büchernarr nur vorstellen konnte, vergleichbar in etwa mit dem Wert, den die englischen Kronjuwelen für England haben. Er fand ihn in einem Buch, welches ihm vorher noch nie aufgefallen war. Aber manchmal schien es ihm sowieso, als würden sich die Bände in diesem Regal vermehren und ihre Standorte verändern, obwohl er wusste, dass dies Unsinn war. Und doch kam es immer wieder vor, dass ihm ein Heft, ein Roman oder ein Atlas in die Hände fiel, das er vorher weder in dem Regal noch auf dem Brett, wo es nun stand, gesehen hatte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Wälzer, den er soeben entdeckt hatte.

Er hatte sich an diesem Nachmittag wieder einmal in seine Leseecke, die er sich unter einem der kleinen Fenster eingerichtet hatte, zurückgezogen. Dieser Rückzugsort bestand zwar nur aus drei großen, alten Kissen, die wohl einst die Rückenlehne eines Sofas gewesen waren, einer alten Holzkiste zum Anlehnen, über die er ein altes Tischtuch gelegt hatte und aus zwei großen Wolldecken, um den Boden zu polstern und sich einkuscheln zu können - aber für ihn war es der schönste Platz der Welt. Unzählige Stunden hatte er hier schon im Schein der Sonne oder im Licht einer kleinen Lampe gesessen und gelesen.

An diesem Nachmittag blätterte Felix gerade in den 1000 Sagen des Königs Rah, als plötzlich eine kleine Maus auf einem Regalbrett entlang zu ihrem Loch huschte. Dabei stieß sie gegen eine kleine Porzellanfigur, die daraufhin aus dem Regal fiel und direkt neben Felix in tausend Stücke zersprang. Felix erschrak über die plötzliche Bewegung und den Krach der zersplitternden Figur auf dem Dachboden so sehr, dass er zusammenfuhr und die Hände hochriss, um sein Gesicht zu schützen. Durch diese unbedachte Bewegung schleuderte er das Buch in weitem Bogen von sich. Es prallte mit dem Rücken voran auf den, in dieser selten genutzten Ecke, sehr staubigen Boden hinter seiner Leseecke. Ein dumpfes Poltern hallte durch den Raum und kleine Staubwölkchen stiegen behäbig in die Luft. Felix musste zweimal heftig niesen, wartete dann einen Moment, bis der Staub sich wieder gelegt hatte und ging dann zu der Stelle, an der seine Lektüre gelandet war. In einer Ecke hörte Felix die Maus aufgeregt piepsen. Vorsichtig, um das Buch nicht noch mehr zu zerstören, als es durch den Sturz möglicherweise schon war, hob er es auf.

Durch den Aufprall auf den Boden hatte der alte Ledereinband einen Knick bekommen, der fast wie eine Delle in einer Autotür aussah. Felix versuchte vorsichtig, den Ledereinband wieder auszubeulen. Dabei bemerkte er, dass sich in dem Buch eine an den dicken Ledereinband geklebte Seite gelöst hatte. Unter dieser Seite konnte man zart eine bauchige Wölbung erkennen. Sachte löste er die Seite vollständig aus dem Ledereinband. Die darunter nun zum Vorschein kommende Wölbung, die, wie Felix nun erkannte, wohl eine Art Geheimfach darstellte, war mit einem Stück Pappe notdürftig abgedeckt. Dieses war nur zum Teil am Einband befestigt, sodass man es wie eine Tür benutzen konnte, um das Fach zu öffnen. Ein etwa fingergroßes Loch in der Mitte dieser Abdeckung erleichterte das Aufklappen. Langsam öffnete Felix das kleine Geheimfach.

Unter der Pappe kam ein, durch einen schmalen Holzrahmen eingefasstes, Fach zum Vorschein. Darin lagen ein kleiner, gefalteter Zettel und ein hölzernes Amulett. Felix nahm zuerst das Amulett aus der Vertiefung und drehte es für einen Moment in seiner Hand hin und her, wusste aber vorerst nichts damit anzufangen. Also legte er es erst einmal beiseite und wandte sich wieder dem Buch zu. Er angelte den Zettel mit den Fingerspitzen aus der Vertiefung des Faches heraus. Das Papier fühlte sich ungewohnt an, etwa wie altes Pergament. Felix drehte es mehrmals in der Hand hin und her und betrachtete es von allen Seiten.

Auf den Außenseiten stand nichts geschrieben. Dann begann er ganz vorsichtig, den Zettel auseinanderzufalten und achtete dabei besonders darauf, dass an den Knickstellen keine Risse entstanden. Das Pergament knisterte beim Öffnen und fühlte sich ganz anders an als jedes andere Papier, dass er bisher in der Hand gehabt hatte. Mit langsamen Bewegungen glättete er das Schriftstück auf dem Boden. Auseinandergefaltet war es gerade einmal doppelt groß wie sein Handteller und mit mehreren Zeilen dicht beschrieben. Die Schrift kam ihm bekannt vor, obwohl die Tinte schon ziemlich stark verblasst war, als wäre dieser Zettel schon vor längerer Zeit beschrieben worden. In dem Zwielicht, in dem er saß, konnte er die Schrift nicht deutlich erkennen. Also erhob Felix sich und trat an die nächste Luke, durch die das kräftige Licht der Nachmittagssonne fiel. Er betrachtete das Schreiben eingehender, ohne auf den Inhalt zu achten und überlegte, wessen ihm bekannte Handschrift dies wohl sein mochte. Schließlich dämmerte es ihm: Diese Schrift ähnelte der seines Großvaters! Nun stellte er sich so ins Licht, dass er die Nachricht, welche offensichtlich in großer Eile geschrieben worden war, entziffern konnte und begann zu lesen:

Lieber Felix!

Ich hoffe sehr, dass du diesen Brief irgendwann einmal finden wirst. Du bist meine letzte Hoffnung. Das Amulett, welches diesem Brief beiliegt, ist ein unbezahlbarer Schatz. Es ist eine Art Schlüssel und die wahrscheinlich einzige Möglichkeit, wie du allein ins ‚Historyland’, dem Land ohne Grenzen, kommen kannst.

In dieser Welt leben alle bisher geschriebenen Geschichten, Märchen und Erzählungen weiter. Es ist vergleichbar mit Phantasien aus der ‚Unendlichen Geschichte’. Obwohl dies nicht ganz richtig ist, denn das grenzenlose Phantasien gehört ebenfalls zu dieser Welt. Somit ist Historyland einerseits wie Phantasien, aber andererseits auch genau das Gegenteil.

Ich werde in dieser Welt gefangen gehalten. In unserer Welt bin ich wahrscheinlich inzwischen für tot erklärt worden. Aber ich lebe noch. Ich bin in dieser Welt einem alten Feind in die Hände gefallen und kann mich nicht selbst befreien. Daher brauche ich deine Hilfe. Dein Vater glaubt leider nicht daran, dass man in eine Geschichte hineingehen kann. Deshalb bist du meine letzte Rettung.

Glaube an deine Träume und gib dich deiner Phantasie hin. Lies dieses Buch und halte dabei die ganze Zeit das Amulett ganz fest in deiner rechten Hand. So wirst du in das Land ohne Grenzen gelangen. Ich bitte dich, komm so schnell wie möglich nach Historyland, rette mich und bring mich zurück in unsere Welt!

Dein dich liebender Großvater

Archilles-Archimedes Schönefelder

Felix war sehr verwirrt über das, was ihm in dem geheimnisvollen Brief mitgeteilt wurde. Sein Großvater war noch am Leben? In Gedanken sah er ihn vor sich: Sportlich, schlank, immer mit einem Lächeln und einem gütigen Gesichtsausdruck. Das Gesicht umrahmt von einem grauen Stoppelbart und den grauen Haaren mit den Geheimratsecken auf der hohen Stirn.

Felix sah seinen Großvater vor seinem inneren Auge an kalten Winterabenden, bei einer Tasse mit warmem Kakao, vor dem Kamin sitzen und die schönsten Geschichten erzählen oder vorlesen. Er erinnerte sich, wie er gegen Ende der Geschichte in dessen Armen, mit einem Lächeln im Gesicht und voller schöner Gedanken, einschlief und die Geschichte zu Ende träumte. Sein Großvater trug ihn dann nach oben in sein Zimmer, legte ihn sanft in sein Bett, deckte ihn warm zu und schlich dann, um ihn bloß nicht zu wecken, sachte aus dem Zimmer. Nach einem solchen Abend wachte Felix am nächsten Morgen stets mit dem wohligen Gefühl eines wunderschönen Traumes auf.

Während diese Erinnerungen an Felix’ innerem Auge vorbeizogen, wurde ihm klar, dass er seinem Großvater auf jeden Fall helfen musste und wollte. Doch hatte er im Moment noch keine Idee, wie er dies anstellen sollte. Und bevor er sich diesem Problem näher widmen konnte, drängte sich ihm schon die nächste Frage auf: Was meinte sein Großvater mit diesem ‚Historyland’? Ein Land der Geschichte der Welt? Ein Land, in dem alle Kriege und sonstige Ereignisse der Weltgeschichte immer noch real waren? Oder doch eher eine Art Märchenland, ein Reich der unbegrenzten Phantasie? Felix wusste nichts mit diesem Begriff anzufangen und war verunsichert, ob das, was in dem Brief stand, wirklich wahr sein konnte, oder ob es vielleicht nur ein seltsamer Scherz war.

Also untersuchte er den Brief noch einmal genauer. Das Papier war ein sehr altes Pergament, wie von einer Schriftrolle oder etwas Ähnlichem, doch die Schrift auf dem Papier war unverwechselbar die Handschrift seines Großvaters. Schließlich hatte Felix früher oft handgeschriebene Briefe von ihm bekommen, wenn er auf Klassenfahrten oder mit seinem Vater verreist war. In solchen Fällen schrieb sein Großvater ihm regelmäßig Briefe, welche oft eine Geschichte enthielten, die er in mehreren Fortsetzungen erzählte. So konnte Felix den nächsten Brief von ihm oft kaum erwarten, weil er so gespannt war, wie die Geschichte weiterging. Da er im Moment in dieser Richtung nicht weiterkam, beschied er kurzentschlossen, Weiteres herauszufinden, indem er versuchte, in dieses Historyland, was immer es sein mochte, hineinzugelangen. Doch da beunruhigte ihn auch schon die nächste Frage: Wie sollte er dort hinkommen? Dieses Land lag anscheinend nicht auf dieser Erde, sodass er nicht einfach so würde hinfahren können. Aber wo sonst sollte er dieses Land suchen, wenn es keines war, das sich auf üblichem Wege bereisen ließ?

Doch dann fiel ihm etwas ein: Hatte sein Großvater nicht etwas von einem Amulett geschrieben? Einer Art Schlüssel? Felix nahm das Amulett erneut in die Hand und betrachtete es eingehend. Es ließ sich mit nichts vergleichen, was er je zuvor gesehen hatte. Ein stacheliger Rahmen, der Rosenranken ähnelte, umrahmte eine Figur, die im ersten Augenblick an einen Vampir in einem weiten Umhang erinnerte. Doch beim zweiten Blick auf das Amulett musste er bei der Figur eher an ein gehörntes Tier denken. Und schon im nächsten Augenblick sah es wieder völlig undefinierbar aus. Diese Gestalt war pechschwarz und auf ihr stand in ebenfalls schwarzen, eingeprägten Lettern ‚Nirvrin’. Die grünen Ranken, die dieses Gebilde umrahmten, waren mit giftgelben Stacheln versehen. Auf diesen grünen Geästen, die in an die Stängel von Rosen erinnerten, stand ebenfalls etwas geschrieben und zwar auf jeder ein Satz. Auf der rechten Ranke stand: ‚Glaube an dich und du wirst siegen!’ Und auf der linken: ‚Lass dich von deinem Herzen führen!’ Als Felix das hölzerne Amulett umdrehte, sah er, dass auf der Rückseite von ihnen noch etwas Anderes geschrieben stand: ‚Nur wer an seine Träume glaubt, ... ’ begann der Satz auf der linken Ranke und wurde auf der rechten beendet mit den Worten: ‚ ... ist ein Mensch mit einer guten Seele!’

Die beiden Sätze auf der Vorderseite waren im sofort klar. Nicht umsonst sagt man: der Glaube versetzt Berge. Und das man auf sein Herz hören soll, hatte er schon in vielen Büchern gelesen und die Figuren, welche danach handelten, dort oft damit auch die richtigen Entscheidungen trafen. Aber die auf der anderen…„Nur wer an seine Träume glaubt, ist ein Mensch mit einer guten Seele!“ murmelte Felix, nachdem er die Zeilen gelesen hatte, vor sich hin. Was für ein seltsamer Spruch. Ob das eine Art Zauberformel oder eine Lebensweisheit ist? Doch soviel er auch über den Sinn des Spruches nachdachte, so wenig kam er dem Historyland oder dessen Bedeutung näher. Vielleicht muss man diese Sprüche aufsagen und kommt dann durch eine Art magisches Tor in dieses Historyland? Felix versuchte es ein paarmal, aber nichts geschah. Dann fiel ihm ein Satz aus dem Brief seines Großvaters ein: ‚Glaube an deine Träume und gib dich deiner Phantasie hin.’

Er las den Brief erneut. Beim zweiten Lesen fiel ihm erst auf, das sein Großvater ihm am Ende des Briefes einen Hinweis gegeben hatte, wie er in dieses Historyland gelangen konnte. Erleichtert gab er das Rätseln auf und wandte sich nun wieder dem Buch zu und begann es mit höchster Konzentration und voller Neugierde zu lesen. Währenddessen hielt er das Amulett ganz fest in seiner rechten Hand.

In seinem Kopf erwachte das alte Ägypten zu neuem Leben. Flache, einfache Lehmhütten tauchten auf, ein alter Brunnen, an dem ein paar Kinder Wasser holten. Er wandelte durch die schmalen, mit Treppenstufen versetzen, schmalen Straßen, erblickte bald ein paar größere Häuser von vermutlich reicheren Leuten und ein paar Tempel. Die heiße Luft umfächelte ihn, er schmeckte den leicht wirbelnden Wüstensand und in der Ferne schienen ein paar Pyramiden in der flirrenden Hitze zu schweben.

Felix verlor während des Lesens völlig das Gefühl für Raum und Zeit. Wie ein behutsamer Sog zog es ihn ganz langsam immer tiefer in die Geschichte hinein. Er bekam von seiner Umwelt überhaupt nichts mehr mit, spürte er weder Wärme noch Kälte um sich herum, hörte nicht den Lärm von draußen, von der Straße und der kleinen Bahnstation. Er war binnen Kurzem vollkommen in der Geschichte gefangen. Zusammengekauert, wie ein eingerollter Igel, der sich vor etwas schützen will, saß er mit gebeugten Rücken völlig bewegungslos über dem Buch. Nur seine Augen bewegten sich, während sie Zeile für Zeile über die Buchstaben glitten.

Das Buch schien, während Felix darin las, ein sonderbares Eigenleben zu entwickeln. Es begann auf einmal von innen heraus zu leuchten und die Seiten blättern sich auf fast magische Weise wie von selbst um. Zunächst war er darüber etwas irritiert, doch der Sog der Geschichte war so stark, dass diese Irritation innerhalb von wenigen Augenblicken schon wieder verflogen war. Die Buchstaben schienen sich vor seinen Augen zu verändern. Sie verschwammen in den Zeilen, wackelten und verschoben sich, wogten nach allen Seiten. Zudem nahmen sie immer seltsamere Formen an, bis sie, ohne dass Felix dies merkte, sich zu Bildern verformten, sodass das, was er eigentlich las, sich wie eine Art Film vor seinen Augen in dem Buch widerspiegelte.

Seine Augen bewegten sich immer schneller, die Seiten raschelten immer beharrlicher und er wurde von einem seltsamen Sog erfasst, einer Macht, die ihn in das Buch hineinzuziehen versuchte. Dies nahm er nur am Rande wahr, wie er immer tiefer in das Reich der Fantasie hinabglitt. Er wehrte sich nicht, sondern gab sich vielmehr unbewusst diesem Sog hin, so gefesselt von dem, was in dem Buch passierte, dass er gar nicht bemerkte, wie der Dachboden um ihn herum langsam in einer herangleitenden Dunkelheit verschwand.

Dann auf einmal ließ der Sog nach. Von einem Augenblick auf den nächsten war es plötzlich vollkommen still um ihn herum. Das Buch klappte zu und zerfiel in der gleichen Sekunde in hunderte kleiner Funken, welche wie von einer Böe erfasst für einen kurzen Moment vor seinem Gesicht tanzten und dann in der Dunkelheit verschwanden. Nun erst fiel Felix auf, wie dunkel es um ihn herum war. Überrascht sah er sich um und bemerkte erst jetzt, dass er sich gar nicht mehr auf dem Dachboden seines Großvaters befand. Wo er war, wusste er in diesem Moment auch nicht so recht. Über sich entdeckte er unzählbar viele Lichter, welche in verschiedensten Farben und Helligkeiten leuchteten. Ansonsten war es völlig finster.

Felix tastete etwas herum, konnte aber keinen Boden fühlen, wohin er auch griff. Es war fast so, als würde er schweben. Nun bekam er es doch etwas mit der Angst. Wo war er bloß? Verunsichert kauerte er sich zusammen. Da hörte er auf einmal ein leises Zischen in der Luft und eine sanfte Stimme raunte: „Glaube an dich und gib dich deiner Phantasie hin. Vergiss nie dein Ziel und du wirst es erreichen. Werde dir bewusst, warum du dich auf den Weg nach Historyland gemacht hast und halte dich an diesem Grund fest.“

Felix sah sich überrascht um, aber er konnte niemanden entdecken. „Großvater?“ rief er verunsichert. „Großvater, bist du das?“

Keine Antwort. Es war wieder absolut still. Vorsichtig stand er auf. Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Plötzlich hörte er wieder die Stimme durch die Dunkelheit raunen: „Glaube an dich… glaube an dich… glaube an dich!“ Nur langsam verhallten die letzten Worte im Dunkel. Felix schaute sich um, konnte jedoch immer noch niemanden entdecken. Nachdem er einen Moment verloren dagestanden hatte und sich umzusehen versuchte, beschloss er, sich wieder auf seinen Großvater, auf den Brief und sein Vorhaben, ins Historyland zu kommen zu konzentrieren.

Auf einmal hörte er ein leises Klingeln in der Luft, als wenn tausende kleiner Glöckchen ganz leise läuteten. Er schaute auf und sah, wie die Lichtpunkte sich auf ihn zubewegten. Sie begannen regelrecht auf ihn herunterzufallen. Er fühlte sich wie in einem Sternenregen. Diejenigen, die ihn berührten, zerplatzten beim Auftreffen auf seinem Körper sofort, ohne dass er ihre Berührung spürte. Wie Seifenblasen. Die anderen, die ihn nicht trafen, sanken weiter zum unsichtbaren Boden und leuchteten dort noch ein paar Augenblicke weiter, bevor sie langsam verloschen. Die Sternenflut über ihm schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Durch die am Boden glimmenden Lichter breitete sich um ihn herum ein schwacher Lichtschein aus, welcher seine Umgebung in einem sanften Schimmer erglühen ließ.

Als sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah er, dass er auf einem watteähnlichen Boden stand, über welchem grünlichblaue Nebelschwaden etwa knöchelhoch hinwegzogen. Der Boden war weich und warm und an seinen bloßen Füßen kribbelte es behaglich. Er hatte das Gefühl, noch nie auf einem derart perfekten Untergrund gestanden zu haben. So ungefähr hatte Felix es sich im Himmel vorgestellt. Er blickte durch die herabfallenden Lichter wie durch einen Vorhang.

Dann wurde es langsam heller und auf einmal fegte ein lauer Windstoß durch die Dunkelheit. Die Lichter schienen nun kreisförmig um ihn herumzutanzen, er fühlte sich in die Luft gewirbelt und schien sich um sich selbst zu drehen. Ihm wurde schwindlig und er fiel in eine wohltuende Bewusstlosigkeit. Nun umgab ihn nur noch völlige Finsternis. Doch obwohl er einerseits bewusstlos war, war er zugleich geistig und körperlich wach. Trotz dessen musste er bewusstlos gewesen sein, denn er hatte nicht bemerkt, wie er seine reale Welt nun endgültig verlassen hatte. Es war alles wie in einem Traum. Er befand sich in völliger Dunkelheit und spürte dennoch, dass er sich auf nicht erklärbare Weise irgendwohin bewegte.

Felix hätte nicht sagen können, wie lange er sich in diesem seltsamen Zustand befunden hatte. Er erwachte irgendwann von einem sanften, aber durchdringenden Plätschern. Lautes Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Er schlug die Augen auf, sah sich um und fand sich in einer ihm völlig fremden Welt wieder.

Es war tatsächlich wie im Paradies. Vor ihm lag ein kleiner See, der türkis-blau schimmerte und zum Teil von einem schmalen, glitzernden Sandstreifen umgeben war. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich eine kleine Hügelgruppe. Von einem dieser Hügel rauschte ein Wasserfall über eine Felsschwelle hinweg in den See. Das Wasser dieses Katerakts leuchtete in allen Regenbogenfarben. Im See schwammen viele kleine, bunte Fische sehr nah unter der Wasseroberfläche umher.

Als Felix sich weiter umsah, bemerkte er, dass er auf einer saftigen grünen Wiese lag, auf der, neben Gras, auch Pflanzen wuchsen. Blumen in allen Farben und Größen, wie man sie sonst in einer derartigen Vielfalt nur auf einer besonders üppigen Almwiese fand. Die alles war rundum von einem dichten Wald umgeben. Dieser zog sich auf der anderen Seite des Sees in sanften Wellen die Hügel hinauf, wobei an einigen Stellen vereinzelte, schlanke Bäume die umliegenden Baumkronen um mehrere Meter überragten. Sie wirkten wie Wächter auf einer weiten Ebene. Im Waldesinneren war es wegen des dichten Wuchses und des breit wuchernden Unterholzes sehr dunkel. Man konnte kaum hineinsehen.

Felix stand auf und ging zum See. Als er sein Spiegelbild im Wasser betrachtete, sah er, dass in seinen Haaren und auf dem T-Shirt eine Art grün und blau schimmernder Watte haftete. Er tauchte seine Hände ins Wasser, um sich das Gesicht zu waschen. Dabei stellte er erstaunt fest, dass das Wasser tatsächlich Türkis schimmerte und dass es nicht so durchsichtig war, wie er es von zu Hause her kannte. Wo war er nur gelandet? War dies das Historyland, welches er gesucht hatte? Nach kurzem Überlegen entschied er sich dazu, erst einmal ein Bad im See zu nehmen, um die eigenartig schimmernde Watte von seinem Körper zu waschen.

Er zog sich aus, wobei ihm auffiel, dass er barfüßig war und glitt vorsichtig in den See. Das Wasser war angenehm warm und erfrischend zugleich. Es fühlte sich so wundervoll weich an wie das Wasser in Baggerkuhlen oder Moorseen. Felix schwamm quer durch den See zu dem Wasserfall, stellte sich dort auf einen unter Wasser liegenden Felsen und ließ das Wasser auf sich niederprasseln. Nach ein paar Minuten schwamm er gemächlich zurück. Dabei versuchte er immer wieder die Tiefe des Sees zu erfassen. Es schien nicht besonders tief zu sein, da Felix bis zum Grund sehen konnte. Doch als er versuchte hinab zu tauchen, merkte er bereits nach wenigen Metern, dass der See wesentlich tiefer war, als er aussah. Die Fische wichen vor ihm zurück, wenn er ihnen zu nahe kam. Aber sie schwammen nicht fort, sondern zogen sich nur so weit zurück, dass er sie nicht greifen konnte. Sie schienen ihn zu beobachten.

Nach einer Weile stieg Felix wieder aus dem See, trocknete sich mit seinem T-Shirt ab, legte es auf einen kleinen Busch, damit es schneller trocken konnte und zog sich seine Hose an. Dann legte er sich mit freiem Oberkörper auf die Wiese und ließ sich von der Sonne und der warmen Brise, welche über die Wiese strich, trocknen. Während er auf dem Rücken lag und die Schäfchenwolken am Himmel betrachtete, stellte er plötzlich erstaunt fest, dass am Himmel zwei Sonnen standen. Eine genau im Zenit und die andere, etwas kleinere, etwa zwei Handbreit rechts daneben. Nun stand zumindest fest, dass Felix sich definitiv nicht mehr auf der Erde befand. Hatte er es also geschafft? War er in dem mysteriösen Historyland angekommen, von dem sein Großvater in dem Brief gesprochen hatte? Es musste einfach so sein! Felix ging noch einmal zum Ufer und ließ gedankenverloren etwas von dem ungewöhnlichen Wasser durch seine Finger rinnen. Türkises Wasser, zwei Sonnen am Himmel… - ja, dies musste das Historyland sein!

Schon bald war Felix wieder getrocknet. Er blieb noch eine Weile im Gras liegen und hing mit geschlossenen Augen seinen Gedanken nach. Auf einmal merkte er, wie ein großer Schatten über ihn hinweg zog. Er öffnete die Augen und sah einige Meter über sich ein großes Tier fliegen. Es flog in weiten Kreisen über ihm und schien langsam an Höhe zu verlieren. Durch die Blendung der Sonnen konnte er allerdings nicht genau sehen, was es war. Rasch stand er auf und zog sich sein T-Shirt über. Innerlich verfluchte er sich ein bisschen, dass er zuhause im Sommer fast nur Barfuß lief und nun ohne Schuhe mit nackten Füßen hier war. Was war, wenn er rasch fliehen musste und dabei über felsiges Gestein laufen muss? Während er sich diese Gedanken machte, beobachtete er, wie das Tier einen weiten Bogen über den See flog und dann direkt auf ihn zuhielt. Beunruhigt blickte er sich um, ob irgendwo in seiner Nähe ein Stock oder Stein lag, mit dem er sich würde verteidigen können, doch er fand nichts dergleichen. Als er wieder aufblickte, sah er, dass dieses seltsame Wesen nun rascher an Höhe verlor. Es rauschte noch einmal über ihn hinweg, breitete dann seine mächtigen Schwingen aus und landete etwas entfernt von ihm auf der Grasfläche. Felix war starr vor Staunen. Ein solches Tier hatte er noch nie gesehen.

Es hatte einen riesigen Kopf, der ihn an den eines Reptils erinnerte, dessen Namen ihm aber nicht einfallen wollte. Dieser Kopf war geprägt von einem breiten, länglichen Maul, zwei großen Nüstern und grünlich-gelben Krokodilsaugen. Spitze Ohrlappen standen rechts und links des Kopfes wie zwei kleine Stacheln in die Höhe. Getragen wurde dieser mächtige Schädel von einem kräftigen Hals, mit dem das Tier seinen Kopf in scheinbar jede Richtung drehen konnte. Es hatte den geschmeidigen, aber um ein vielfaches mächtigeren und längeren Körper eines Hundes, der in einen langen, peitschenartigen Schlangenschwanz überging. Das riesige Wesen besaß außerdem sehr große Flügel.

Sie sahen aus wie die einer Fledermaus, mit dem kleinen Unterschied, dass sie nicht nur aus Haut bestanden, sondern auf der Oberseite mit Fell bedeckt waren. Sie wirkten durch ihre immense Größe im Verhältnis zur Länge des restlichen Tieres etwas zu groß und verliehen dem Tier so auch ein leicht unheimliches Aussehen. Der Kopf, der Rücken und die Flanken des Tieres waren ebenso mit Fell bewachsen wie die Oberseite seines Schwanzes. Aber die Unterseite des ganzen Körpers war mit schwarzen Schuppen bedeckt, welche mit einer dünnen, dunkelgrünen Verhornung umrahmt waren, sodass das Wesen auch von unten gut geschützt war. Die Haut der vier kräftigen Beine war von kleinen, schwarzen, beweglichen Hornplatten bedeckt, welche sich wie ein schützender Panzer um die Beine legte. Die vier Beine mündeten in große Drachenfüße, die jeweils mit vier nach vorn gewachsenen Krallen bewehrt waren und an den Hacken noch eine zusätzliche kleine, nach unten gebogene Kralle aufwiesen. Am bedrohlichsten an diesem Wesen wirkten jedoch die Stacheln, die den Kopfansatz fast vollständig umgaben. Lediglich an der Unterseite des Schädels war der Kranz durchbrochen.

Felix war völlig verwirrt wegen dieser seltsamen Erscheinung und wusste das Tier zunächst nicht einzuordnen. Doch nach dem ersten Schreckmoment dämmerte ihm, was für ein Tier er da vor sich hatte. Das war ein Meunug! Meunugs sind die seltensten und seltsamsten Fabelwesen überhaupt. Niemand wusste genau, woher sie kamen, warum sie existierten und über welche Kräfte oder Mächte sie verfügten. Sie waren einfach irgendwann dagewesen, ohne jemals zuvor in einer Geschichte erwähnt worden zu sein. Das war auch schon so ziemlich alles, was im Reich der Geschichten über sie bekannt war. Einige der Völker und Stämme des Historylands glaubten sogar, dass die Meunugs eine Art Wächter dieses Reiches ohne Grenzen seien. So hatte es Felix’ Großvater seinem Enkel zumindest erklärt, als die Meunugs zum ersten Mal in seinen Erzählungen auftauchten, wobei der Großvater das Historyland immer nur als ‚das Land’ bezeichnet hatte.

Vom Rücken des Meunugs stieg nun ein seltsam aussehender Junge hinab. Er hatte eine hellblaue, ins beige changierende Hautfarbe und satt dunkelgrüne Haare. Felix schätzte anhand des Gesichts und der Größe, dass der Junge wohl etwa so alt wie er selbst sein musste. Er trug nur eine Wildlederhose mit Fransen und ein schwarzes Stirnband mit einer grünen Musterung, welche entfernt an Tiere erinnerte. An den Füßen trug er Schuhe aus Leder, die aussahen wie die Mokassins, die er aus Ausstellungen und Büchern über Indianern kannte. Felix war sich unsicher, wer dieser Junge war oder was er von ihm wollte. Obwohl er mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zuging, hatte dieser ein seltsames Gefühl in der Magengegend, während er dem Ankömmling entgegensah. Irgendetwas sagte ihm, dass er diesen Jungen bereits kannte. Diese Hautfarbe, das seltsame Reittier, die Kleidung… all dies kam ihm unterschwellig vertraut vor. Er überlegte fieberhaft, während der Junge weiter auf ihn zukam. Woher könnte er ihn kennen? Wie kam es, dass er einen Meunug als Reittier benutzte? Den Geschichten seines Großvaters zufolge waren dies freie Drachen, die nicht dressiert werden konnten und die nur denjenigen auf sich reiten ließen, der Tiere grundsätzlich nicht ausnutzte, sondern sie als Teil seines eigenen Volkes ansah. Rasch überlegte er, ob ihm sein Großvater einmal eine Geschichte erzählt hatte, in der sich Meunugs reiten ließen. Hilfreicherweise konnte er anhand der Kleidung des Jungen erkennen, dass es, wenn überhaupt, eine Indianergeschichte gewesen sein musste. Rasch ging er die Stämme, die er kannte, in Gedanken durch. Und tatsächlich fiel ihm eine Erzählung über ein Volk ein, welches genauso mit den Meunugs und der Natur umging, wie man es tun musste, wenn man diese geheimnisvollen Wesen als Nutztiere einsetzen wollte. Plötzlich wurde ihm schlagartig klar, wen er vor sich hatte: Der Junge, der dort auf ihn zukam, war Vulpino! Der einzige Sohn des Häuptlings Sopartrax, des Häuptlings des Volkes der Winde.

Dieses Volk zog immer dann weiter, wenn der Wind am Morgen in Richtung der aufgehenden Sonne blies. Wehte er in eine andere Richtung, dann lagerte das Volk der Winde wie viele andere Indianerstämme in Zelten, ging auf die Jagd oder sammelte Kräuter für Medizin oder um sie mit dem weißen Mann gegen Werkzeuge oder andere Dinge, derer sie bedurften, zu tauschen. Geld und Gold spielten für sie keine Rolle. Sie zogen immer nur so lange weiter, wie sie der Wind der aufgehenden Sonne entgegenführte.

Dieses Volk lebte schon sehr lange mit einigen Meunugs zusammen, seit sie einmal einen weiblichen Meunug samt seinem Gelege vor einem Schwarm Greifgeier beschützt hatten. Dies war nun schon viele Dekaden her und der Nachwuchs aus dem Gelege sowie die Elterntiere waren dauerhaft bei dem Volk der Winde geblieben. Felix kannte die Sage über den Stamm aus einer der vielen Erzählungen seines Großvaters. Er hatte ihm sehr viel über ihr Leben im Einklang mit der Natur erzählt. Durch diese Erzählungen kannte Felix auch Vulpino. Oft hatte er ihn abends, wenn er am Kamin den Geschichten lauschte, im Geiste auf der Jagd oder bei anderen Abenteuern begleitet.

Vulpino kam langsam und fast ein wenig ehrfürchtig auf ihn zu. Als er näherkam, sah Felix, dass er leuchtend grüne Augen hatte. Der Junge vom Volk der Winde sah ihn eine Weile prüfend an und fragte dann: „Du bist Felix, der Glückliche, nicht wahr?“

„Du sprichst meine Sprache?“, wunderte sich Felix.

„Ja“, antwortete dieser, „hier in diesem Land sprechen alle die Sprache der Shiren. So nennen wir jene, die diese Welt geschaffen haben.“ „Ihr wisst von denen, welche dieses Land geschaffen haben? Das es noch ein Reich außerhalb des euren gibt? Woher?“ „Nun. Seit vielen Jahren kommen immer wieder Weltenwanderer zu uns. So wie auch der große, silberne Weise. Durch sie wissen wir vom Volk der Winde schon sehr lange, dass es zwei Welten gibt. Unsere und die andere. Wir sprechen schon immer die Sprache der Shiren, die wir die alte Sprache nennen. Unsere eigene hat sich erst über sehr lange Zeit entwickelt. So ist es auch bei den anderen Völkern, mit denen wir bisher Kontakt hatten. Sie alle sprechen die alte Sprache, mit der wir uns mit ihnen verständigen können und haben auch eine eigene. Wenn Fremde zu uns kommen, sprechen wir sie immer in der Sprache der Shiren an.“ Felix starrte den Indianerjungen sprachlos an, völlig überrumpelt davon, in einem fremden Land in seiner eigenen Sprache angesprochen zu werden.

Nach ein paar Momenten des Schweigens ergriff der junge Indianer wieder das Wort. „Du bist also tatsächlich Felix, der Enkel des großen, silbernen Weisen, der oft zu uns kam und uns mit Rat und Tat zur Seite stand, wenn wir seine Hilfe brauchten.“

„Du sprichst von meinem Großvater?“

„Ja, den meine ich.“ „Ja, dann bin ich der, den du suchst, Vulpino. Aber woher wusstest du, dass ich hier bin und wie ich heiße?“, wollte Felix wissen.

„Der große silberne Weise sagte einmal zu uns: ‚Wenn ich einmal gefangen genommen werden sollte, wird nach einiger Zeit ein gewaltiger Sternenschauer am helllichten Tag vom Himmel stürzen. Mit ihm wird mein Retter kommen, um mich zu befreien. Er trägt den Namen Felix, was in unserer Sprache ‚der Glückliche’ bedeutet.’ Dann zeigte er uns ein Bild von dir, damit wir auch wissen, wie du aussiehst.“ „Aha. Und wie hast du mich gefunden?“ „Das war ganz leicht: Meunugs haben einen Sinn dafür, Menschen zu finden. Du brauchst bloß zu sagen, zu wem du willst, dir den Ort, wo die Person zu finden ist, vorzustellen und schon fliegt es dich zu der genannten Person. So halten wir zu den anderen Stämmen unseres Volkes Kontakt.“

„Aber wenn man so Jeden finden kann, warum habt ihr dann meinen Großvater noch nicht gefunden oder befreit?“

„Wir konnten ihn tatsächlich nicht finden“, gab der junge Indianer bedrückt zu. „Diejenigen, die ihn gefangen halten, scheinen mit sehr großer Macht ausgestattet zu sein, die selbst die Kräfte der Meunugs übertreffen. Außerdem wissen wir ja nicht, wo er gefangen gehalten wird. Und wenn man dem Meunung nicht sagen kann, wo jemand zu suchen ist, kann selbst ein so mächtiges Tier ihn nicht finden. Deswegen haben wir so sehnsüchtig auf dich gewartet.“

Eine Weile schwiegen sie beide und sahen sich nur in die Augen. Die Zeit um sie herum schien plötzlich still zu stehen. Das Vogelgezwitscher verstummte und sogar der Wasserfall schien für einen Augenblick zu erstarren. Eine nahezu feierliche Stimmung lag in der Luft. In diesem Moment des Innehaltens verbanden sich ihre Seelen insgeheim zu einer Freundschaft, die keine Macht der Welt mehr zerstören konnte. Felix und Vulpino sahen sich noch eine Weile schweigend an und beiden lag ein kleines Lächeln auf den Lippen.

Dann fragte Vulpino auf einmal: „Woher wusstest du eigentlich sofort, wer ich bin?“

„Mein Großvater, den ihr den Großen Silbernen Weisen nennt, hat mir viel von dir und Hogy, deinem Meunug, erzählt. Durch die Geschichten, die er mir erzählte, habe ich euch oft auf der Jagd und bei vielen Abenteuern begleitet. Apropos Großvater: Wenn ihr ihn nicht finden konntet, wie soll ich das in einem fremden Land schaffen? Wisst ihr den irgendwas, wo er gefangen gehalten wird und von wem? Hatte er hier in eurer Welt vielleicht Feinde oder ist er für irgendwen vielleicht wertvoll? Könnte Geld der Grund der Entführung sein oder irgendwas anderes, was er oder vielleicht sogar ihr besitzt? “ „Wir wissen nicht alles. Wir haben nur ein paar Hinweise. Aber das erzähle ich dir später. Zuerst kehren wir in unser Lager zurück. Du bist sicher müde und wirst wahrscheinlich etwas essen wollen nach deiner Reise zu uns, nach Historyland.“

„Da hast du Recht, Vulpino“, bestätigte Felix. „Ist es weit bis in euer Lager?“

„Nein, wir werden nicht lange unterwegs sein. Dort bist du unser Gast und kannst dich stärken. In unserem Lager wirst du dann auch meinen Vater Sopartrax kennenlernen. Von ihm bekommst du auch die Antworten auf alle deine Fragen.“

2. Kapitel

- Das Volk der Winde -

Die Jungen gingen gemeinsam zu Hogy, dem Meunug und Vulpino half Felix beim Aufsteigen, was für ihn gar nicht so einfach war, da das Meunug nicht nur mehr als sechs Manneslängen lang, sondern auch etwa eineinhalb Mal so hoch wie ein ausgewachsener Mensch war. Doch Felix schaffte es, indem er sich an einem der Flügel hochzog, so, wie Vulpino es ihm zeigte. Der Junge vom Volk der Winde wies Felix einen Platz direkt hinter dem Hornkranz des Meunugs zu, an dem eine lederne Decke mit einem dünnen Seil am Körper des Tieres befestigt war. Hier also saßen die Indianer, wenn sie mit den Meunugs durch die Lüfte flogen. Nachdem sich Vulpino hinter Felix auf den mächtigen Hals des Meunugs gesetzt hatte, warnte er ihn: „Halte dich gut fest! Der Abflug ist ein bisschen haarig, aber man gewöhnt sich daran.“

„Wo kann ich mich denn festhalten, ohne Hogy wehzutun?“

„Halte dich an den beiden Hörnern direkt vor deinen Knien fest. Du kannst ruhig fest zupacken, dort spüren es die Meunugs nicht.“

Felix nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und packte die Hörner vor sich mit beiden Händen. Angespannt wartete er ab, was nun geschehen würde. Vulpino rückte etwas weiter nach hinten, wo er seine Beine in den Flügelansätzen des Drachen einklemmen konnte, damit er beim Abflug nicht nach hinten rutschte. Dann rief er Felix zu: „Achtung, festhalten! Es geht los!“

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da entfaltete Hogy seine mächtigen Flügel, spannte seinen ganzen Körper an, dass Felix die Muskeln unter sich beben spürte, dann presste er sich an den Boden und kurz darauf schnellte er empor. Er drückte sich mit aller Kraft vom Boden ab und machte gleichzeitig einen Schlag mit seinen gewaltigen Flügeln. Felix spürte, wie es ihn nach hinten riss und beinahe hätte er den festen Griff an den Hörnern verloren. Der Meunung stieg derweil mit mehreren starken Flügelschlägen senkrecht in den Himmel, wo er nach einer Weile die Flügel weit spreizte, einen kleinen Bogen, verbunden mit einem kurzen Sturzflug flog und dann wie ein Pfeil in eine bestimmte Richtung durch die Luft sauste. Während sie flogen, legte Hogy seine Flügel beinahe vollständig an seinen Körper an und trieb sich nur noch durch schlängelnde Bewegungen seines langen Schwanzes an.

Felix wurde während des Starts ganz flau in der Magengegend. Besonders der kurze Sturzflug machte ihm zu schaffen. Doch nach diesem ersten, beängstigenden Manöver des Drachen ging es ihm rasch besser. Langsam löste er den Griff um die Hörner und entspannte sich etwas. Als er jedoch sah, dass das Meunug seine Flügel einfaltete, fragte er Vulpino beunruhigt: „Warum benutzt er seine Flügel nicht? Stürzen wir dann nicht ab?“

„Keine Sorge“, erwiderte Vulpino, der mittlerweile wieder ein Stück weiter vorgerückt war, sodass er dicht hinter Felix saß, „Meunugs benutzen ihre Flügel in der Luft nur zum Steuern, nicht zum Fliegen. Sie schwimmen sozusagen durch die Lüfte. Ihre Flügel nehmen sie nur dann hinzu, wenn sie es besonders eilig haben. Meunugs sind sehr intelligente Tiere. Sie können sich und ihre Körperform einer Situation immer genau so anpassen, wie es für den Reiter und sie selbst am praktischsten ist.“

Nach dieser Auskunft entspannte sich Felix wieder und beobachtete eine Weile interessiert, wie das Meunug sich durch die Luft bewegte. Vulpino hatte Recht: Das gewaltige Tier schien tatsächlich fast zu schwimmen.

„Hat dein Großvater dir nie etwas über Hogy und seine Artgenossen erzählt?“

„Doch schon, aber in seinen Erzählungen waren die Abflüge immer irgendwie eleganter, nicht so brachial.“

„Brachial?“

„Hart. Also nicht so ruckartig, sondern irgendwie … fließender.“

„Ach, ich weiß, was du meinst“, lächelte Vulpino. „Normalerweise heben Meunugs von einem Abhang oder Felsen aus ab, indem sie sich nur abdrücken, dann ein Stück gleiten und schließlich mit ein bis zwei Flügelschlägen an Höhe gewinnen, bevor sie durch die Luft schwimmen. Die Art zu starten, die du eben kennengelernt hast, nutzen sie nur dann, wenn zu wenig Platz vorhanden ist, um zu gleiten, bevor sie aufsteigen.“

„Dann hat mein Großvater wohl nur die sanfte Variante kennengelernt, wenn er bei euch war“, lachte Felix und Vulpino nickte grinsend. Sie glitten ruhig dahin und während des Fluges konnte Felix sich in aller Ruhe den ‚Wald der Wunder’, wie sein neuer Freund den unter ihnen dahinziehenden Wald bezeichnete, von oben ansehen. Die Bäume waren alle fast doppelt so hoch, wie die Laub- und Nadelbäume, die er in seiner Heimat kannte. In den breiten Baumkronen der Laubbäume flogen Vögel in allen Farben und Größen herum. An den Nadelbäumen konnte man deutlich Spechte klopfen hören. Die Bäume standen so dicht, dass man nur ganz selten den Waldboden erkennen konnte. In diesen Lücken sah man dann viele Rehe und andere Waldbewohner, etwa Bären, Füchse und Wildschweine herumstreichen.

Während sich Felix umsah, fiel ihm endlich ein, wo er hier sein musste. Er befand sich offensichtlich in Nagula, dem Waldland. Dieses Waldland ist ein ganz besonderer Landstrich. Es ist wahrscheinlich das älteste Stück Land, das in Historyland existiert. Er fragte Vulpino, ob Nagula möglicherweise das letzte Überbleibsel eines ganz besonderen, heiligen Ortes sein könne, dessen Erreichen für die Menschen immer das große Ziel gewesen sei.

Vulpino erwiderte: „Ich glaube schon. Du meinst wahrscheinlich das Paradies. Von diesem heiligen Ort, den es im Glauben eurer Welt gibt, hat dein Großvater uns erzählt. Auch wenn wir Indianer andere Götter, Totenreiche und Orte des ewigen Lebens haben, so kennen wir auch den Glauben aus deiner Welt, da viele Trapper ebenfalls…ähm, wie heißt das…Chrasteten sind?“ „Du meinst Christen.“ „Ja. Bei unserem Volk gibt es eine uralte Sage, die sich auf diesen Glauben und diesen Waldland zugleich bezieht: Als die Shiren, was in deiner Welt die Menschen sind, nach der Vertreibung aus dem Paradies, die reale Welt eroberten, dachten sie nicht mehr daran, wie das Paradies gewesen war oder wie man dorthin zurückkehren könnte. Dadurch geriet das Paradies in Vergessenheit und wurde zu einem Mythos, welcher in der Bibel als Teil der Geschichte des Glaubens niedergeschrieben wurde. Doch durch die Entwicklung der Menschen und die damit eintretenden Veränderungen des Glaubens schrumpfte das Paradies nach und nach und verschwand langsam fast komplett aus Historyland. Das Waldland Nagula ist dieser Geschichte zufolge eines der letzten Stückchen des unendlichen Paradieses, das einmal existierte.“

„Eines der letzten Stückchen?“

„Ja, es soll im Historyland noch viele kleine und größere Teile des Paradieses geben. Und laut einer uralten Legende soll derjenige, der es schafft, alle Teile des Paradieses wieder miteinander zu verbinden, ewigen Frieden in alle Welten bringen.“

„In alle Welten? Was ist damit gemeint? Die verschiedenen Gegenden,

Reiche und Länder von Historyland, oder auch meine Welt?“

„Ich weiß auch nicht, welche Welten gemeint sind. Das ist nicht überliefert.“

„Du sprachst von der ‚realen Welt’. Wissen alle Lebewesen von Historyland, dass es eine andere Welt gibt? Ich meine, für die ist doch diese Welt die reale Welt, oder nicht?“

„Für uns ist diese Welt die reale Welt, ja“, nickte Vulpino, „allerdings haben dein Großvater und andere Weltenwanderer uns vor vielen Jahren erzählt, woraus Historyland besteht und wie es entstanden ist. Seitdem wissen wir vom Volk der Winde auch von eurer Welt. Ich weiß nicht, ob auch andere Völker Kontakt zu Menschen aus deiner Welt haben, aber wir haben uns angewöhnt, wenn wir von eurer Welt sprechen, von der ‚realen Welt’ zu sprechen. In unserer Welt gelten die Reste des sogenannten Paradieses nur als die magischen Flecken, wo derjenige, der sie allesamt bereist, Macht sammeln kann, um ewigen Frieden zu bringen.“