Hitler - Eine Bilanz: Der Spiegel-Bestseller als Sonderausgabe. Fundiert, informativ und spannend erzählt - Guido Knopp - E-Book

Hitler - Eine Bilanz: Der Spiegel-Bestseller als Sonderausgabe. Fundiert, informativ und spannend erzählt E-Book

Guido Knopp

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Beschreibung

Guido Knopp zieht Bilanz über Adolf Hitler - den Diktator und den Privatmann. Waren die Deutschen ihm hilflos ausgeliefert oder fiel seine Ideologie auf fruchtbaren Boden? Der Bestsellerautor gibt einen ausgezeichneten Überblick über bekannte und unbekannte Fakten zur Person Hitlers, seiner Politik, seinen Verbrechen und den Wurzeln seiner Schreckensherrschaft.

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Seitenzahl: 452

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Guido Knopp

Hitler

EINE BILANZ

In Zusammenarbeitmit Stefan Braubruger, Christian Deick,Rudolf Gültner, Peter Hartl, Jörg Müllner

Dokumentation:Sönke Neitzel, Ursula Nellessen,Klaus Sondermann

Buch

Guido Knopp zeichnet ein umfassendes Porträt jenes Mannes, der für die schrecklichsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts steht und die Geschichte vieler Völker auf grausame Art geprägt hat. Bei der Suche nach den Wurzeln seiner Schreckensherrschaft lenkt der Autor den Blick sowohl auf den Politiker als auch auf den Privatman Adolf Hitler. Das Buch präsentiert die Ergebnisse jahrelanger Recherche, die unter Mitarbeit einer Gruppe international angesehener Berater zusammengetragen wurden. Guido Knopp faßt das komplexe Thema verständlich und gut lesbar zusammen, so daß es auch geeignet ist, jüngere Leser an die unvergeßlichen Geschehnisse der Vergangenheit heranzuführen.

Autor

Prof. Dr. Guido Knopp, war jahrzehntelang der Chefhistoriker des ZDF. Er gilt als der wohl populärste Historiker Deutschlands. Sein Name ist untrennbar verbunden mit erfolgreichen TV-Formaten wie »Die Deutschen«, » History« und »Hitlers Helfer«, die allesamt auch internationale Buch-Bestseller wurden. Seine Bücher sind in bislang 52 Sprachen übersetzt, seine Filme begeistern in über 130 Ländern weltweit ein großes Publikum. Guido Knopp wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt, darunter dem Bayerischen, Deutschen und Österreichischen Fernsehpreis, dem Goldenen Löwen, der Goldenen Kamera, dem Europäischen und Japanischen Fernsehpreis, dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, zweimal dem Internationalen Emmy sowie dem Lifetime Achievement Award für sein Lebenswerk.

ISBN 978-3-641-29781-7

Genehmigte Sonderausgabe

© 2022 by Bassermann Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

© der Originalausgabe 1995 by Siedler Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Jegliche Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise,ist ohne die Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar.

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Dieses Buch ist in alter Rechtschreibung verfasst.

Projektleitung dieser Ausgabe: Martha Sprenger

Umschlaggestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling

Herstellung: Franziska Polenz

118058670195

Inhalt

Keine Angst vor Hitler

Der Verführer

Guido Knopp/ Peter Hartl

Der Privatmann

Guido Knopp/ Stefan Brauburger

Der Diktator

Guido Knopp/ Christian Deick

Der Eroberer

Guido Knopp/ Rudolf Gültner

Der Verbrecher

Guido Knopp/Jörg Müllner

In Sachen Hitler – 50 wichtige Bücher ausgewählt von Guido Knopp

Bildnachweis

Keine Angst vor Hitler

Wer sich nur schaudernd abwendet, macht es sich

zu leicht. . . . Er mag ein schreckliches historisches

Phänomen gewesen sein, aber er war ein wichtiges

historisches Phänomen, und wir können es uns

nicht leisten, ihn unbeachtet zu lassen.

Hugh Trevor-Roper, 1961

Hitler heute

»Keine Angst vor Hitler« habe ich das Einführungskapitel meines Buches damals ganz bewußt genannt. Wenn ich dessen Zeilen heute lese, so kann ich die Befunde großteils nur bekräftigen. Allenfalls in wichtigen Details hat uns die Wissenschaft weitere Erkenntnisse vermittelt.

Ich nenne hier drei Fragen: Wie wurde Hitler zum Antisemiten? Wie erklären sich so scheinbar irrationale Anweisungen wie der Haltebefehl vor Dünkirchen 1940 und die Kriegserklärung an die USA 1941? Und was wissen wir inzwischen wirklich über Hitler als den eigentlichen Urheber und Antreiber des Holocaust?

Im ersten Halbjahr 1919 war der Kriegsheimkehrer Hitler noch kein virulenter Antisemit. Natürlich mochte er den stets latenten Antisemitismus, der in der alten Donaumonarchie grassierte, in seinen Wiener Jugendjahren aufgesogen haben. Doch ein Bestandteil seines damals noch diffusen Weltbilds war er nicht. Wir wissen heute noch viel besser als vor dreißig Jahren, daß Hitler in München mindestens zehn Wochen lang die linke Räte-Regierung unterstützte – ja mehr noch, daß er persönlich der alten bayerischen Sozialdemokratie, der MSPD unter ihrem Führer Erhard Auer, zuneigte. In diesen Wochen war er alles andere als ein radikaler Judenfeind.

Der wurzellose österreichische Gefreite hatte sich sogar zum Soldatenrat wählen lassen. Und am Trauerzug für den ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Eisner hatte er tatsächlich teilgenommen. Die wirkliche Inkubationszeit des Antisemiten Hitler lag in den Wochen zwischen seiner Wahl zum »Ersatz-Bataillonsrat« im April 1919 und seiner Abordnung zu einem Lehrgang im Juni 1919, der ihn zu antibolschewistischer Propaganda befähigen sollte. Da einige Protagonisten der brutal zerschlagenen Münchner Räterepublik aus jüdischen Familien stammten, war die neue völkische Melange »Judentum plus Kapitalismus plus Bolschewismus sind der Untergang Deutschlands« für Hitler ein willkommenes Gebräu. Und denkbar war wohl auch der opportunistische Drang des frischgebackenen Renegaten, sein im Rückblick fehlgeschlagenes Engagement für die Räte durch übermäßigen Eifer zu kompensieren. Letzten Endes aber war es dann im Juni 1919 der als Diktat empfundene Versailler Friedensvertrag, der Hitlers Weg zum radikalen Antisemiten komplettierte. Daß das Judentum als solches mit Versailles gar nichts zu tun hatte, war für Hitler unwichtig. Der fixe Gedanke, daß hinter dem Endziel der Niederwerfung Deutschlands der »zionistische Kapitalist« zu stecken habe, blieb bis zum Ende in den letzten Bunkertagen unverändert.

Betrachten wir nun zwei aus heutiger Sicht nur schwer erklärbare Anweisungen: zunächst den Ende Mai 1940 erlassenen Haltebefehl für seine Panzer in den alliierten Kessel von Dünkirchen. Er führte letzten Endes dazu, daß die Royal Navy rund 330 000 Soldaten in allen möglichen Schiffen und Booten evakuieren konnte – darunter viele erfahrene Truppen, die später gegen Rommel in Nordafrika kämpften. Warum Hitler diesen Haltebefehl erteilte, ist bis heute ein historischer Streitfall. Daß es sich um ein verdecktes Waffenstillstandsangebot an Churchill handelte, kann ausgeschlossen werden. Denn so dachte Hitler nicht. Auch, daß er dem großspurigen Versprechen seines Luftwaffenchefs Göring traute, die Eingeschlossenen im Kessel könnten aus der Luft bezwungen werden. Alle deutschen Siege hatten bis dahin gezeigt, daß es letzten Endes stets die Bodentruppen waren, die den endgültigen Erfolg erreichten.

Am plausibelsten scheint daher eine Interpretation, auf die letzthin der Publizist Sven Felix Kellerhoff verwiesen hat. Zum Zeitpunkt des Haltebefehls am 24. Mai 1940 waren die deutschen Panzerverluste immens. Zudem hatte der französische Brigadegeneral De Gaulle mit seiner Panzerdivision gerade einen heftigen Angriff auf die eroberte Stadt Abbeville begonnen, dem die deutsche Besatzung nur mit Mühe widerstand. Die deutschen Kommandeure fürchteten einen Einbruch in die eigene Flanke. Und so empfahl Generaloberst Rundstedt, geprägt vom Grabenkampf des Ersten Weltkriegs, die Eroberung des Kessels von Dünkirchen der Infanterie zu überlassen. Hitler stimmte zu. All das mißglückte. Doch der Aufschub brachte den Briten drei kostbare Tage – und damit die Rettung der eingeschlossenen Soldaten. Es war der erste Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs.

Ebenso irrational erscheint die Kriegserklärung Hitlers an die USA im Dezember 1941. Während die Wehrmacht vor Moskau ihre erste große Niederlage erlitt, erklärte der Diktator ohne Not der Weltmacht USA den Krieg.

Zwar unterstützten die Vereinigten Staaten schon seit über einem Jahr die Briten massiv mit allem möglichen Kriegsgerät. Im August 1941 beschlossen Roosevelt und Churchill die Atlantik-Charta – die erhoffte Ordnung einer Welt nach Hitler. Und dennoch: Warum aus heiterem Himmel eine solche Kriegserklärung?

Wenn Hitler glaubte, daß die USA durch den Pazifikkrieg so ausgelastet seien, daß für Deutschland dieser zusätzliche Feind keine größere Bedeutung habe, war das eine grobe Fehleinschätzung.

Eher wahrscheinlich, nach wie vor, ist für mich die Interpretation, die ich in »Hitler, eine Bilanz« 1995 formuliert habe: »Seine Entscheidung im Dezember 1941 kann, wie frühere Entschlüsse auch, mit einem Argument erläutert werden, das Hitler selbst zur Motivation einsetzte: ›Man muß die eigenen Rückzugslinien selbst abschneiden, dann kämpft man leichter und entschlossener.‹ Umgeben von Gegnern, attackiert an allen Fronten, blieb den Deutschen nach dieser Logik nur noch eine Möglichkeit: der Kampf bis zum bitteren Ende.« Der Hasardeur, der Hitler immer war, er zeigte sich auch hier.

Und der vielzitierte »Holocaust-Befehl«, den es in schriftlich dargelegter Form nie gab, weil Hitler die Niederschrift seines Verbrechens so scheute wie der Teufel das Weihwasser?

Wir wissen heute noch genauer, daß es mannigfache mündliche Befehle Hitlers zur Durchführung von Judenmorden gab. Sein Helfer Himmler sprach in beiden Posener Reden 1943 ebenso von den ihm auferlegten Befehlen zur »Endlösung« wie auch in Briefen und Privatnotizen. Auf dem Gipfelpunkt der Schlacht um Stalingrad am 8. November 1942 rief Hitler im Münchener Löwenbräukeller seinen Paladinen zu, das Ergebnis des internationalen Weltkriegs werde die »Ausrottung des Judentums in Europa« sein.

Der vielzierte Streit zwischen »Intentionalisten«, die auf Hitlers Intention als Auslöser des Holocaust beharren, und den »Strukturalisten«, die den Weg zum Massenmord als »kumulative Radikalisierung« beschrieben haben – er ist längst überholt. Einerseits waren am Holocaust viele Institutionen und Amtsträger in den besetzten Gebieten beteiligt, die zum Teil selbständig den Judenmord vorangetrieben haben. Andererseits war letzten Endes jeder wirklich wichtige Schritt mit Hitlers Helfer Himmler abgestimmt – und damit mit dem eigentlichen Urheber Hitler. So war die Anweisung zum Judenmord letzten Endes doch schon ein Befehl – aber, wie der Historiker Peter Longerich schrieb, ein »ungeschriebener Befehl«.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Guido Knopp im September 2022

1927

Dieses Buch will nicht nur zeigen, was wir über Hitler heute wissen, sondern auch belegen, wie wir uns an ihn erinnern: 2 000 Interviews in allen Teilen Deutschlands und mit Deutschen jeden Alters geben Aufschluß, daß wir mit dem lästigen Sujet A. H. nicht fertig sind – noch lange nicht.

Auch deshalb braucht die Beschäftigung mit Hitler keinen Jahrestag. Sie ist in sich ein Akt politischer Kultur.

Über Hitler schreiben ist riskant. Wer es wagt, muß sich rechtfertigen. Ihm wird mitunter vorgehalten, wer sich literarisch mit der Unperson A. H. beschäftigt, diene damit nur postumer Nostalgie. Hitler-Analyse sei im Grunde pseudowissenschaftlicher Personenkult. Legitim sei allenfalls Faschismus-Forschung.

Da wird übersehen, daß die modische Gleichung »Nicht Männer machen Geschichte, sondern sozioökonomische Strukturen« für Hitler nicht gilt. Erst machte die Geschichte ihn, dann machte er Geschichte. Das »Dritte Reich« war ohne ihn, das Zentrum böser Emotionen, mannigfacher Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen, nicht denkbar. Ohne ihn zerfiel der ganze Spuk. Er war der Super-Gau der deutschen Nationalgeschichte, ihre denkbar größte Katastrophe.

Jacob Burckhardts Formel »Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht« paßt zu keinem anderen besser als zu ihm. Im gleichen Sinne urteilen Joachim Fest (»In Hitlers Person hat ein einzelner noch einmal seine stupende Gewalt über den Geschichtsprozeß demonstriert«) und Rudolf Augstein (»Hitler war der letzte Attentäter der Geschichte«).

So bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Karl Kraus (»Zu Hitler fällt mir nichts ein«) bei aller Reverenz zu widersprechen, denn zu Hitler sollte uns noch immer etwas einfallen. Hitler-Nostalgien siedeln auf dem Nährboden der Ignoranz. Faszinieren kann Hitler nur den, der wenig oder gar nichts von ihm weiß. Das beste Mittel gegen infektiöse Hitleritis ist das Wissen über Hitler. Die beste Therapie ist Hitler selbst. Das private Leben dieses Mannes war belanglos, arm. Alles, was ein Menschenleben ausmacht, was es adelt, fehlte: Bildung, Freundschaft, Liebe, Ehe. Zwar hat er ungeheuer viel gelesen, ja verschlungen, Militärisches besonders. Aber was nicht in sein Weltbild paßt, nimmt er nicht wahr. Er ist der geborene Narziß.

Nur was ihn interessiert, das gilt.

Was ihn vor allem ausmacht, ist das Absolute und zugleich Verhuschte seines Wesens – die forcierte Form, mit der er frühe Mißerfolge kompensiert. Die Fähigkeit zum konstruktiven Dialog mit anderen besitzt er nicht. Widerspruch erträgt er anfangs kaum, am Ende gar nicht mehr. Auf Fotos sieht man ihn recht oft mit Kindern oder Hunden abgebildet. Kinder und Hunde bleiben immer untergeordnet. Kinder und Hunde stellen keinen intellektuellen Anspruch, Kinder und Hunde widersprechen nicht. Am liebsten redet er mit Sekretärinnen, Chauffeuren, Adjutanten. Sein Wesen ist früh festgelegt, bleibt starr. Er haßt das Neue. Er mißtraut der Abwechslung.

Er aß immer das gleiche. Er trug immer das gleiche. Er wollte immer gleich aussehen: »Denken Sie nur an die Pharaonen!« Er verlangte von seiner Geliebten, daß sie immer gleich aussah. Er erzählte der Entourage immer die gleichen Geschichten.

Frauen hat er unglücklich gemacht. Er hat sie nie geachtet. Einige begingen Selbstmord wegen ihm, andere versuchten es. Er wurde geliebt, doch lieben konnte er nicht. Er war nicht glücklos, aber glücksfeindlich. Er mochte Frauen, die ihm unterlegen waren: »Es gibt nichts Schöneres, als sich ein junges Ding zu erziehen: Ein Mädchen mit achtzehn, zwanzig Jahren, das biegsam ist wie Wachs.«

Er hatte Angst, sich einem anderen zu öffnen. Sich zu binden hieß für ihn auch, etwas von sich preiszugeben. Stets war da die stilisierte Maske, die gestelzte Pose, die uns in den frühen Fotos seines Fotografen Hoffmann auffällt. Hitler ist genußunfähig, raucht nicht, trinkt nicht, kann sich nicht entspannen. Lust empfindet er vor allem in Begegnungen mit Massen. Eigentlich ein armer Teufel.

Aber Mitleid mit ihm lohnt sich nicht. Er war ein kranker Schweinehund, der seine Frustrationen kompensierte und dafür ein ganzes Volk mißbrauchte. Einen Sündenbock dafür zu finden, daß aus Hitler Hitler wurde, ist versucht worden – mit mäßigem Erfolg. Wenn es nur gelänge, jenes eine Kindheitstrauma zu ermitteln, das uns alles weitere erklärt! Wenn es nur gelänge, jenen einen Juden ausfindig zu machen, der den Urgrund für den Holocaust geliefert hat!

Die einfache Erklärung birgt verführerischen Reiz. In Sachen Hitler aber trägt sie nicht. Wir müssen uns die Mühe machen, das komplexe Hitler-Mosaik selbst Stück für Stück zusammenzusetzen.

Alles hängt miteinander zusammen. Der monomane Wüterich der späten Kriegsjahre, der seine Generäle anschrie, weil sie seinen Idiotien widerstrebten, ist derselbe Mensch, der als Junge von seinem Vater gebrochen wurde. Dieser unglückliche Mensch hat seine Frustrationen überkompensiert.

Als Junge hatte er sein Selbstvertrauen verloren. Als Mann lief er ihm hinterher. Er brauchte Erfolge, zuerst nur den Beifall der Massen, dann die Süße der Macht, am Ende den Rausch, Millionen Tote verursacht zu haben.

Alles hängt miteinander zusammen. Warum hat er Frauen unglücklich gemacht? Er hat nie Nähe geben können, menschliches Interesse für den anderen. Er hat Distanz gebraucht. Er hatte etwas zu verbergen.

Am Anfang hat er Frauen einfach so verführt. Das konnte er. Und dann? Dann ließ er sie am ausgestreckten Arm verhungern. Maria Reiter wollte sich umbringen. Angelika Raubal tat es. Eva Braun hat es zweimal versucht.

Sie haben es nicht ertragen können, daß sie für den »Wolf« nicht wichtig waren, den Narziß, der sich nach den tröstenden Schalmeien seiner Mutter sehnte, die ihn nach den Quälereien seines Vaters immer wieder aufgerichtet hat. Frauen hatten ihm zu dienen, aber keine Ansprüche zu stellen. Anerzogen war ihm seine Neigung, sich zu überheben: er, der insgeheim doch Größte. Wer so von sich denkt, fällt doppelt tief, wenn Mißerfolg sich ballt.

Sein Leben war bis 1920 ein einziger Mißerfolg. Er hat keine Schule zu Ende besucht; er wurde zweimal von der Wiener Kunstakademie abgewiesen; er hat keinen Beruf gelernt. Das hätte unsensiblere Gemüter als den jungen Hitler umgehauen. Der spätere Hitler kompensiert auch die Verletzungen der Jugend, rächt sich an den Umständen, an denen er oft gescheitert ist. Er tut es rücksichtslos, gelegentlich brutal.

Vielleicht hat er zum erstenmal als Frontsoldat Erfolgserlebnisse verspürt. Doch ist es wirklich ein Erfolg, wenn man es gerade zum Gefreiten bringt? Eigentlich waren auch die zwanziger Jahre, seine »Kampfzeit«, nicht besonders erfolgreich. Gewiß, er »konnte reden«, und das kostet er nach Kräften aus. Doch der Putsch von 1923 scheitert, das Gefängnis ist Zäsur, der Wahlaufstieg ist kläglich. Erst 1930 kommt der Durchbruch. Was macht ihn so besonders? Wie, um Himmels willen, war es möglich, daß ein abgebrannter Außenseiter aus dem Innviertel die Herrschaft über ein erfahrenes Kulturvolk gewinnen, es binnen weniger Jahre zugrunde richten, Europa in Schutt und Asche legen und ein Gebirge von Leichen hinterlassen konnte?

Ein logisches Produkt der neueren deutschen Geschichte war er nicht.

1938

Von Luther über Bismarck führt kein gerader Weg zu Hitler, höchstens eine Zickzacklinie. Hitler steht in keiner deutschen Tradition, schon gar nicht in der protestantisch-preußischen. Der Preuße Ludwig Beck, der ihn ja stürzen wollte, meinte: »Dieser Mensch hat gar kein Vaterland.« Golo Mann, von Hitlers Schergen aus dem Vaterland vertrieben, mutmaßt, Hitler sei aus einem »Niemandsland« gekommen. So weit wollen wir nicht gehen, denn aus Österreich kam er schon. Schön hat es Sebastian Haffner formuliert: »Hitler kam für die Deutschen immer von weit her, erst eine Weile vom Himmel hoch, nachher dann, daß Gott erbarm, aus den tiefsten Schlünden der Hölle.«

Hitlers Reich war keine zwangsläufige Form eines deutschen Sonderweges. Einen schicksalhaft vorherbestimmten Todespfad von Leuthen über Langemarck nach Auschwitz gibt es nicht. So automatisch funktioniert in der Geschichte gar nichts. Das gilt auch für Hitlers Machtergreifung, die in Wahrheit eine Machterschleichung war. Obwohl es immer eher möglich war, daß es so kommen konnte, hat es nicht so kommen müssen.

Denn zwangsläufig scheitern mußte Weimar nicht. Eine andere internationale Lage, eine andere ökonomische Entwicklung hätten es der Republik erleichtert, ihre Bürden zu ertragen und sie nach und nach ganz abzuwerfen. Versailles war objektiv nicht jenes Schanddiktat, als das es im geschlagenen Deutschen Reich empfunden wurde: Der geschmähte Friede von Versailles war eigentlich sogar ein milder Friede angesichts der radikalen deutschen Kriegszielpläne und des rabiaten Zwangsfriedens von Brest-Litowsk.

Heute sagt sich das natürlich leicht.

Für die Deutschen damals wirkten die Bedingungen der Sieger wie ein Schock. Sie maßen Versailles an den klassischen, maßvollen Friedensschlüssen des 19. Jahrhunderts und an den 14 Punkten des amerikanischen Präsidenten Wilson – und empfanden diesen Frieden als Verrat, ja als verletzendes Diktat. Es waren weniger die materiellen Konditionen, die die Emotionen hochpeitschten, als die moralischen.

Es waren nicht die Arbeitslosen, die mit ihren Wählerstimmen Hitlers Durchbruch erst ermöglicht haben. Diese Stimmen gingen eher an die Linksparteien, nicht zuletzt auch an die KPD. Dennoch war es die von Arbeitslosigkeit geprägte depressive Grundstimmung der Zeit, die Hitler nützte.

Hätte es verhindert werden können? Jene, die ihn 1933 möglich machten, trieben keine »sozioökonomischen Notwendigkeiten« oder irgendwelche dunklen Mächte, sondern nur eigene Schwäche, eigener Ehrgeiz, eigene Illusionen.

Als er an die Macht kam, war sein Stern bereits im Sinken. Im November 1932 hatte seine NSDAP bei den Reichstagswahlen über zwei Millionen Stimmen verloren. Zu Silvester waren sich die politischen Orakel nahezu einig: Die Gefahr sei nun vorüber. Doch dann wurde er Kanzler. Es war tatsächlich seine letzte Chance. Und es war wahrhaftig keine Machtergreifung, sondern eine Machterschleichung.

Alle Aufpeitschung der Massen, aller rednerischer Aufruhr hätten Hitler nicht zur Macht verhelfen können. Die erhielt er erst durch das Intrigenspiel um einen altersmüden Präsidenten und durch das Versagen jener Kräfte, die die kranke Republik beschützen sollten.

Denn trotz aller inneren Verzagtheit wären Weimars Machteliten stark genug gewesen, um die Diktatur zu stoppen: die geschrumpften, aber noch vitalen demokratischen Parteien durch ein »Nein« zum Ermächtigungsgesetz; die Gewerkschaften durch eine Neuauflage jenes triumphalen Generalstreiks, der den Kapp-Putsch 1920 gleich im Keim erstickte; die Industrie durch finanzielle Renitenz; die Reichswehr durch die Drohung, ihre Macht auch anzuwenden. Doch kaum einer wollte mehr so richtig. Man nahm Hitler hin wie ein Verhängnis.

Die Armee besaß die Mittel, um dem Spuk eine Ende zu bereiten. Blieben sie nur deshalb in den Arsenalen, weil der Kanzler Hitler auf legalem Weg ernannt wurde? Das wollten manche Generäle später gerne glauben machen. Hitler wußte, wie er sie zu korrumpieren hatte: er verhieß verstärkte Rüstung und die Renaissance der alten Herrlichkeit. Natürlich war es schon ein starkes Stück, dem hergelaufenen Parvenü das Steuer Bismarcks in die Hand zu geben! Doch Putsch kam nie in Frage: nicht weil preußisch-deutsche Generäle prinzipiell nicht meutern, sondern weil die jungen Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften der Reichswehr »hitlerhörig« waren.

Natürlich schilderte der General von Hammerstein als Chef der Heeresleitung seinem altersmüden Obersten Befehlshaber die dringlichsten Bedenken gegen die Berufung Hitlers zum Regierungschef. Doch Hindenburg ließ die Demarche dankend zu den Akten nehmen.

Vierzehn Tage später spielte Hammerstein den Gastgeber für Hitler. Just in dessen Wohnung offenbarte der Gekürte seine Ziele vor den Generälen, die sie ohne Widerspruch zur Kenntnis nahmen: erst im Innern »rücksichtslose Ausrottung« von Pazifismus und Marxismus, dann die Schaffung einer »breiten Kampf- und Wehrbereitschaft« unter »straffster Staatsführung«, nach außen, vorsichtig agierend, erst nur Kampf gegen »das Unrecht von Versailles«, dann »mit gesammelter Kraft Eroberung von neuem Lebensraum im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung«. Sage niemand, Hitler hätte seine Ziele vor den Generälen zu verheimlichen versucht!

Und die demokratischen Parteien? Alle unterwarfen sich der Diktatur und dankten ab, meist sang- und klanglos. Niemand zwang das Zentrum, die Partei der deutschen Katholiken, dem Ermächtigungsgesetz die notwendige Mehrheit zu verschaffen. Hitler führte sie auf nahezu groteske Weise hinters Licht. In den ersten Wochen nach der Machterschleichung war die Front der deutschen Katholiken noch intakt. In Schlesien, Bayern und im Rheinland hatten ganze Regionen nicht Hitler gewählt, sondern Zentrum oder BVP. Die deutschen Bischöfe hatten den Nationalsozialismus verurteilt. Daß diese geschlossene Front so plötzlich aufbrach, hatte mehrere Gründe: die merkwürdige Aufbruchstimmung, die das Land erfaßt hatte und Nationalgestimmte an das »Augusterlebnis« von 1914 erinnerte; die korrumpierende Wirkung des »Tages von Potsdam«; ein ominöser Brief, den Hitler dem Prälaten Kaas versprochen hatte und der niemals eintraf. Und vor allem auch die Rücksicht auf das Konkordat des Reiches mit dem Vatikan. Naiver waren Katholiken nie als 1933.

Und die SPD? Das mutige Nein der Reichstagsfraktion zum Ermächtigungsgesetz bleibt stets ein Ruhmesblatt der deutschen Sozialdemokratie. Doch warum mußte die Fraktion am 17. Mai 1933 Hitlers heuchlerischer Friedensbotschaft an die Westmächte zustimmen? Zu einem Zeitpunkt, als schon Tausende von SPD-Mitgliedern in den Lagern festgehalten wurden? Hitler hat der SPD-Fraktion in dieser Sitzung höhnisch zugeklatscht. Hätte es nicht gerade für die SPD noch Bündnismöglichkeiten zur Verteidigung der Weimarer Verfassung geben können? Etwa ein Aktionsbündnis aller demokratischen Kräfte, über die Parteigrenzen hinweg? Eine Kooperative mit der Reichswehr, wie sie Hitlers Amtsvorgänger Schleicher in den letzten Tagen seiner Kanzlerschaft erstrebte? Oder gar, horribile dictu, die »Einheitsfront der Arbeiterbewegung«, das Bündnis mit der schon verfolgten KPD, gewiß dem kleineren Übel?

Für die Handelnden von damals gab es viele Gründe, nicht zu handeln. »Wir dachten ja, es werde alles nicht so schlimm. Vielleicht dauert ja der ganze Spuk nur ein paar Monate. Die Zeit muß eben überstanden werden. Und wenn irgendwas passiert – dann ist ja noch die Reichswehr da.« Doch für die Reichswehr war die Republik schon längst kein Thema mehr.

Hitler täuschte alle, und sie täuschten sich in ihm. Die Nationalkonservativen hielten ihn noch immer für den »Trommler«, den sie vor den Karren ihrer Herrschaft spannen konnten – bis er sie entmachtete. Die Kommunisten sahen in ihm den Popanz der Konzerne, und an seiner Statt bekämpften sie mit Inbrunst die »Sozialfaschisten« von der SPD. Diese wiederum dachten, wer die Sozialistenhetze unter Bismarck überstanden habe, brauche Hitler nicht zu fürchten. Katholiken waren dankbar für das Konkordat, Protestanten für die Wiedereinführung des Schulgebets, und Preußen wähnten nach dem »Tag von Potsdam«, daß der Glockenklang der Garnisonkirche naturgemäß des neuen Kanzlers Wahlspruch sei: »Üb immer Treu und Redlichkeit!« Der aber dachte nicht daran. Mit Preußen hatte Hitler nichts im Sinn.

Kaum einer hat sein Buch gelesen, in dem alles stand. Wir kennen keinen Deutschen, der es damals ernst nahm. Die Geschichte Hitlers ist auch die Geschichte seiner Unterschätzung. »Mein Kampf« blieb bis zu Hitlers Ende ein ungelesener Bestseller in Millionenauflage – obwohl auch viele Buchbesitzer daran mitwirkten, die Absicht des Autors zu verwirklichen. Während die als Feindbild ausgemachten Opfer starben, verstaubte die verräterische Schrift in den Regalen der Nation.

1939 hat ein kritischer Historiker aus Oxford jenes autobiographische Pamphlet nach Kräften durchgeackert.

Das Ergebnis seiner Analyse legte er in einem dünnen Bändchen dar, das sieben Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges erschien: »Herr Hitler wird versuchen, die Juden in ihrer Gesamtheit loszuwerden und einen Eroberungskrieg gegen Rußland zu führen.« Zwei Jahre später war es soweit. Der Mann hieß E.C.K. Ensor und hatte nichts anderes getan, als »Mein Kampf« gründlich zu lesen.

Hitlers Macht beruhte 1933 weder auf der Rückendeckung durch die Clique um den Präsidenten, die ihn engagiert hatte, noch auf der Mehrheit aller Stimmen. Es gab noch immer eine Mehrheit, die ihn nicht gewählt hatte. Doch Hitlers Macht bestand aus seinem ganz persönlichen brutalen Willen und vor allem aus der angestauten kraftvollen Dynamik, die nur er entfesselt hatte. Noch stand nicht die ganze Macht des Staates hinter ihm – doch schon die ungestümste Leidenschaft, der radikalste Massenwille, das fanatischste Bekennen. Das war seine Macht – das Kapital, mit dem er wucherte.

Heute kommt es vielen nahezu unfaßbar vor, daß Hitler Massen faszinieren konnte. Waren unsere Väter und Mütter, unsere Großväter und Großmütter blind und taub?

Gute Form vorausgesetzt, war er imstande, willfährige Massen erst in Trance zu versetzen, dann in kollektiven Rausch. Das war sein erstes und für lange Zeit auch einziges Kapital. Er übertrug den Haß, der in ihm wütete, auf andere. Sein wölfischer Instinkt erkannte, wo er sie am besten packen konnte. Wolf wollte er genannt werden, nicht Adolf. Wolfsburg hieß der Standort seines Autowerkes, Wolfsschanze sein Hauptquartier.

Er schrie heraus, was viele vage fühlten. Er konnte mit Worten Luftschlösser bauen. Er konnte den Menschen das geben, was sie am meisten vermißten: den Glauben daran, daß ihre eigenen Gefühle, Ängste, Zweifel überhaupt nicht klein und spießig waren, sondern groß und wichtig – Mosaiksteine des »Volksgeistes«.

Sich der von ihm entfachten Hysterie zu entziehen oder zu widersetzen, schafften wenige. Nur einzelne durchschauten ihn. Den Massen aber schien er regelrecht zu suggerieren, jedes seiner Worte sei authentisch, echt und wahr. Was ihn so glaubhaft machte, war die inbrünstige Energie, die er verstrahlte. Er vermittelte den Eindruck, daß er an das glaubte, was er sagte.

Die Gefühle, die er ansprach, mußte er nicht schaffen, denn es gab sie schon. Sie waren da, oft unbewußt, und warteten darauf, geweckt zu werden. Joachim Fest hat diesen Explosivstoff überzeugend als »die große Angst« beschrieben: Angst vor Deklassierung, Arbeitslosigkeit, dem Bolschewismus, Angst vor all dem Neuen, Ungewohnten, Ungewollten, das nach dem Zusammenbruch des Jahres 1918 kam.

Hitler war der rechte Mann, um diese Ängste auszubeuten, denn er brachte sie selbst mit: die Angst des Deutsch-Österreichers vor der Überfremdung, die Angst des Absteigers vor der modernen Technik, die Angst des Kleinstädters vor Großstadt-Zivilisation. Und über allem stand die Angstvision vor dem verderbenbringenden, blutschänderischen Judentum. All die Ströme nationaler Frustration, aus denen Hitler schöpfte, die er reflektierte und verstärkte, mündeten in dem Verlangen, daß es nach der Schande des Zusammenbruchs zu einem nationalen Neuanfang zu kommen habe.

1941

Die Hoffnung, auf die Hitler baute, war die Sehnsucht nach der »Volksgemeinschaft«, nach dem wollüstigen Rausch der Augusttage 1914, für viele die begeisterndste Erinnerung in ihrem Leben. Angst und Sehnsucht – beide Grundgefühle richteten sich bald auf Hitler, weil er sie selbst spiegelte. Er begrüßte, wie uns eine Augenzeugin heute schildert, den Ausbruch des Krieges 1914 mit Tränen der Freude und beweinte den Zusammenbruch mit Tränen der Wut.

Solche Emotionen hatten zwar die Nationalkonservativen, die ihn engagieren wollten, auch. Doch sie verkörperten allein das alte Reich, das man gehabt hatte und kannte – auch in seinen Schattenseiten. Hitler aber schien das Neue zu verkörpern, und das machte ihn so anziehend. Er versprach die Rettung, bot sich als der Starke Mann an, der den »Saustall Republik« ausräuchern würde. Die verquere Sehnsucht nach dem »deutschen Messias« – sie wurzelt in der Volkssage, die das Motiv des Retters aus der Not parat hält, und gipfelt in berühmten Versen Stefan Georges, der 1921 eine Krise prophezeite, die »Den einzigen der hilft den Mann gebiert« und dem auch gleich empfahl, was er zu leisten hatte:

Der sprengt die Ketten

Fegt auf Trümmerstätten

Die Ordnung, geißelt die Verlaufenen heim . . .

Er führt durch Sturm und grausige Signale

Des Frührots seiner treuen Schar zum Werk

Des wachen Tags und pflanzt das Neue Reich.

Natürlich gab es bei den Völkischen nur einen, der sich als »der Mann« gebärdete. Er hatte nicht sofort die Chuzpe, die es brauchte, um sich als den kommenden politischen Messias auszugeben. Erst wollte er, bescheiden, wie er war, nur »Trommler« sein für einen Größeren. Doch mit dem Hochverrats-Prozeß nach seinem Putsch erkannte er: Da war kein »Größerer« da, für den er trommeln konnte, als er selbst, der »Führer«.

Und so leitet sich der pseudoreligiöse Anstrich, den er seinen Auftritten mitunter gab, auch aus dem Anspruch ab, er sei der Messias, der Erlösung bringen würde. Der Messias, den das Volk erwartet hatte.

Hitler sah, im Gegensatz zu Stalin, im Personenkult um sich kein notwendiges Übel für den Machterhalt. Er glaubt selbst daran. Leidenschaftlichster Verkünder Hitlers, inbrünstigster Jünger seines Kults war Hitler selbst: »Das ist das Wunder unserer Zeit – daß ihr mich gefunden habt.«

Zwischen Hitler und den Deutschen gab es lange eine Teilidentität der Ziele. Der Einmarsch ins Rheinland, die Einverleibung Österreichs, die Besetzung des Sudetenlandes wurde von den meisten Zeitgenossen enthusiastisch akklamiert. Ja, solche Blumenkriege waren populär. Die Deutschen außerhalb der Grenzen »heim ins Reich« zu holen, ohne Krieg, das »Unrecht von Versailles« zu tilgen – konnte man dagegen sein? Mehr wollte man ja nicht. Und viele dachten, daß auch Hitler nicht mehr wollte. Doch da gab es ein enormes Mißverständnis. Hitler dachte, daß die Deutschen ihm durch dick und dünn schon folgen würden, wohin immer er sie führte. Und das taten sie zwar auch, doch die Begeisterung war eher lau. Denn weder während der Sudetenkrise 1938 noch bei Kriegsbeginn im Sommer 1939 jubelten die Massen, als Hitler eine Division der Wehrmacht feldmarschmäßig durch Berlin marschieren ließ. Im Gegenteil: Die Menschen kehrten dem Geschehen schweigend und bedrückt den Rücken. Da war kein Augusterlebnis mehr. Er verschwieg den Deutschen, was er eigentlich im Sinne hatte: die Eroberung von Osteuropa und die Ausrottung der Juden. Er belog sie, nicht nur darin. Niemals hat er sich getraut, die beiden bösen Ziele seines Lebens öffentlich zu proklamieren. Er erging sich allenfalls in düsteren Andeutungen. So täuschte er die Deutschen, und sie ließen sich nur allzugerne von ihm täuschen.

Denn sie wollten ihm so gerne glauben – und selbst wenn die Schattenseiten des Regimes, die kleinen Widrigkeiten und die großen Schrecken, einmal überwogen, wähnten viele, Hitler wisse nichts davon. Er könne sich ja schließlich nicht um alles kümmern. Es gab Deutsche, die die Diktatur zwar fürchteten, doch den Diktator liebten. Nichts beschreibt das Mißverständnis zwischen Hitler und den Deutschen besser als der populärste Spruch der Nazizeit: »Wenn das der Führer wüßte!«

Ob nach all dem Rausch der Blumenkriege freilich wirklich eine überwältigende Mehrheit aller Deutschen hinter ihm stand, muß trotz aller Propagandabilder offen bleiben. Im Spektrum der politischen Parteien Deutschlands kurz vor Hitlers Machterschleichung kam die NSDAP auf etwa 35 Prozent der Wählerstimmen. Die Kommunisten lagen bei rund 15 Prozent, die Sozialdemokraten bei etwa 20 Prozent, das Zentrum bei rund zwölf Prozent – von den kleineren Parteien nicht zu reden. Daß alle ihre Anhänger auch innerlich zu Hitler konvertiert sein sollten, ist ganz unwahrscheinlich. Wahrscheinlich lebten 1938, mitten in der Diktatur, Millionen Menschen, die im Innern immer noch Sozialdemokraten, Kommunisten oder fromme Katholiken waren. Nur konnten sie sich an den Urnen nicht mehr äußern.

Als der Krieg kam, machte Hitler sich rar. Sechs Jahre lang hatte er sich seinem Volk verabreicht wie ein Aufputschmittel. Jetzt setzte er die Deutschen auf Entzug und tauchte in die karge Welt der Führerhauptquartiere ab. Er brauchte keinen Jubel mehr. Er war am Ziel. Er führte Krieg.

Am Anfang noch, bei allem Blitzkriegsrausch, konventionell – was ihm mißfiel. Erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion war dieser Krieg sein Krieg. Jetzt konnte er ihn führen, wie er wollte, frei von jeder Rücksichtnahme auf die Bindungen der Zivilisation. Ein Vernichtungskrieg im Osten für die alten Ziele: Ausrottung des Kommunismus, Auslöschung des Judentums, Eroberung von Lebensraum.

Wie paßt dieser Mörder-Hitler, der sich in Europa austobt wie kein anderer vor ihm, zusammen mit dem »Mann des Jahres 1938« (so das US-Magazin »Time«)? Und wie paßt er zusammen mit dem unbekannten »Trommler« von 1920?

Am Anfang steht ein übler Demagoge mit persönlich eher abstoßenden Zügen, ohne Bildung, aber prallgefüllt mit Haß – ein Kretin, der Massen lockt. Am Ende steht ein Massenmörder, der die Juden umbringt, über Rußland herfällt, die Eliten Osteuropas »auszurotten« sucht und sich schließlich gegen Deutschland wendet – weil das Volk sich für den Endkampf nicht mehr willig zeigt, weil es versagt hat.

Dazwischen aber war er für Millionen Deutsche jener Hitler, den sie, wie Joachim Fest geschrieben hat, im Jahre 1938 wohl als »größten Staatsmann« und Vollender ihrer Nationalgeschichte angesehen hätten, wäre er, nach »München« etwa, einem Attentat erlegen.

Aber Hitler war stets Hitler. Auch vor 1938 war er nie ein imperialer Machtpolitiker vom alten Schlag gewesen. Stets war er, im bösen Sinne, einer, der sich treu blieb, stets ein Revolutionär, der sich die Welt nach seinem Bilde schaffen wollte.

Die Wirklichkeit war störend. Er würde sie so lange ändern, bis sie seiner Vorstellung entsprach. Die Staaten Europas stemmten sich gegen seine Lebensraum-Idee? Er würde sie unterwerfen. Die Völker siedelten entgegen seinen Wünschen? Er würde sie umsiedeln. Die Rassen waren anders, als er sie sich vorstellte? Er würde sie vernichten, selektieren, züchten, bis am Ende alles so war, wie er es sich vorgenommen hatte: das judenfreie, rassenreine Reich vom Atlantik zum Ural, von Autobahnen durchzogen, von Totentempeln gekrönt, regiert von einem, seinem Willen – dem des Führers. So dachte er von Anfang an. War Hitler ein »moderner« Herrscher? Es ist heute nahezu modern zu sagen, er sei mittelalterlich gewesen. Die das sagen, denken dabei an den ganzen völkischen Klimbim, der auf Himmlers Mist gewachsen ist. Hitler selbst begegnete dem mit Distanz, gelegentlich auch Ironie. Sein Denken war nicht mittelalterlich – das wäre eine ungeheure Beleidigung des Mittelalters. Hitler dachte eher atavistisch. Sein Ideal war eine Utopie, die er mit hochmodernen Mitteln durchzusetzen sucht: das großgermanische Imperium bis zum Kaukasus, militärisch unangreifbar, wirtschaftlich autark, die Illusion von immerwährender Stabilität. Es wäre ein Alptraum geworden.

Oft ist darüber diskutiert worden, ob er ein »schwacher« oder »starker« Herrscher war. Firmierte Hitler als das absolute Zentrum der NS-Herrschaft, war er stets Initiator der entscheidenden dynamischen Prozesse? Oder war er ein Medium der bestehenden Ideen und Gefühle, nur symbolischer Bezugspunkt eines Führer-Mythos, der zum Machterhalt notwendig war? War sein und nur sein Wille für den Gang der Politik entscheidend? Oder war die Radikalisierung des Regimes Ergebnis eines fast schon automatischen Prozesses – ausgelöst von Improvisationen, Machtansprüchen und Rivalenkämpfen seiner Paladine?

Die Antwort ist eindeutig: Hitler war das absolute Zentrum. Ohne ihn lief letztlich nichts. Sein Wille war entscheidend, bis zum bitteren Ende. Dennoch gab es, typisch für die Diktatur, stets Menschen, die nur vage formulierte Intentionen oder punktuelle Einfälle des Staatschefs aufgriffen, um daraus grundsätzliche Haupt- und Staatsaktionen zu erwirken. Das gilt etwa für den Leiter der »Kanzlei des Führers«, Philipp Bouhler, der aus einer Eingabe heraus, karrieregeil, die mörderische »Euthanasie«-Aktion ins Rollen brachte.

Oder für den Himmler Himmlers, Reinhard Heydrich, der die Organisation der »Endlösung« auch deshalb so beflissen anpackte, weil er um die Gunst des »Führers« buhlte, um dereinst selbst »Reichsführer« zu werden.

Oder für den umtriebigen Martin Bormann, dem wir unter anderem die Aufzeichnung von Hitlers Tischgesprächen zu verdanken haben. Bormann wollte immer eine Sicherheit in Händen halten. Und im »Dritten Reich« bot nicht das Recht die Sicherheit und das Gesetz schon gar nicht, sondern einzig Hitlers Wort – auch wenn es zwischen Graupensuppe und Kamillentee plaziert war.

Zu versuchen, aus den heimlich aufgeschriebenen Worten des Diktators künftige Entwicklungen und Absichten vorauszuahnen, um sie zu befolgen, noch bevor er sie befiehlt – kann es eine höhere Form der Unterordnung unter einen absolut regierenden Tyrannen geben?

Hitlers Reich war keine schwache Diktatur, mit einem arbeitsscheuen Vagabunden an der Spitze, der die Dinge laufen und sich treiben ließ, der nur gelegentlich in das Geflecht der Naziherrschaft eingriff und zu seinen Untaten gezwungen werden mußte. Hitler wußte ganz genau, daß keiner seiner Helfer es je wagen würde, etwas anzupacken, was mit seinen Zielen nicht vereinbar war. Natürlich liebte er das Leben eines Müßiggängers, aber wenn ihm etwas wirklich wichtig war, dann mischte er sich ein, entschied, und es gab keinen Widerspruch.

Der Judenmord war nicht die Folge von chaotischen Strukturabläufen in der Diktatur, sondern ein bewußt von Hitler inszeniertes Staats-Verbrechen.

Der alte Streit, warum es keinen schriftlichen Befehl gab, ist inzwischen müßig, denn es gibt genügend andere Belege für den Schreibtischtäter Hitler, die in diesem Buch enthalten sind. Er hat das Morden nicht nur eingeleitet, sondern auch geleitet – über seinen Delegierten Himmler. Ohne Hitler hätte es den Überfall auf Sowjetrußland nicht gegeben, ohne Hitler keinen Holocaust.

Das ist kein Freispruch für die Helfer und die Helfershelfer. Denn vollzogen haben Hitlers Holocaust die vielen kleinen Hitler, die sich später auf Befehlsnotstand beriefen – keine Psychopathen, sondern Durchschnittsmenschen aus dem Volk der Mitläufer.

Rußlandkrieg und Judenmord gehören untrennbar zusammen. Seit der Niederlage vor den Toren Moskaus, seit Dezember 1941, ahnte Hitler, daß sein Krieg vielleicht verlorengehen würde. Gegenüber wenigen Vertrauten, etwa Jodl, sprach er es aus. Aber wenn schon seine erste Wahnidee nicht mehr erreichbar war, so wollte er doch wenigstens das zweite Hauptziel noch vollenden: die Auslöschung der Juden.

Und so ließ Hitler seine Truppen 1944 noch in Ungarn einmarschieren. Für den weiteren Kriegsverlauf war das ganz unerheblich, ja im Grunde eine weitere Zersplitterung der Kräfte. Aber Hitler hatte seinen Grund: Er wollte an die 750 000 ungarischen Juden herankommen, gegen deren Abtransport in die Vernichtungslager sich Ungarns Staatschef Horthy bislang mit Erfolg gewehrt hatte.

1945

Und so erreicht der Holocaust im Sommer 1944 seinen Gipfelpunkt. Die Schornsteine von Auschwitz rauchten Tag und Nacht. Sie kamen gar nicht nach, um jene Hunderttausende von ungarischen Juden zu verbrennen, die die Schergen der SS ins Gas getrieben hatten – kurz vor Toresschluß. Die letzten Opfer Eichmanns hörten schon das Grollen der nahenden Front.

Zwar war der Judenmord »geheime Reichssache«. Das Volk sollte glauben, die deportierten Juden seien noch am Leben – irgendwo im Osten. Aber ahnten, sahen, wußten Hunderttausende von Deutschen an der Front und in der Heimat nicht genug, um ganz genau zu wissen, daß sie nicht mehr wissen wollten? Vieles sickerte doch durch, zumindest von den Mordtaten der Einsatzgruppen. Drei Millionen Landser standen ständig an der Ostfront. Manche wurden da und dort zu Augenzeugen von Erschießungen. Darüber zu schweigen gebot ihnen niemand.

Als die Kardinäle Galen und Faulhaber die offiziell als »Gnadentod« verbrämte Mordaktion T4 von ihren Kanzeln öffentlich als Mord anprangerten, ließ Hitler sie einstellen. Als Anfang 1943 in Berlin nichtjüdische Gatten von Juden, die zum Abtransport in die Vernichtungslager vorgesehen waren, vor der Sammelstelle öffentlich dagegen protestierten (der sogenannte »Rosenstraßen-Vorfall«), wurden einige der Registrierten wieder freigelassen.

Zumindest in Deutschland wollte das Regime jedes öffentliche Aufsehen vermeiden. Alles sollte ordentlich und ruhig verlaufen – bis zur Gaskammer. Hätten ähnliche Proteste, in geballter Form, im Inland und im Ausland, auch den Holocaust verhindern oder vorzeitig beenden können? Der Versuch ist nie gewagt worden.

Wofür kämpften die Soldaten Hitlers 1944 überhaupt noch? Subjektiv gewiß für »Volk und Vaterland«. Tatsächlich aber, und das war die Tragik der mißbrauchten Wehrmacht, dafür, daß im Rücken der von ihr gehaltenen Front der Holocaust vollzogen werden konnte.

Die sich dagegen wehrten, waren wenige. Es waren tragische, verkannte Helden ohne Anhang, die nicht von der Volksstimmung getragen wurden, sondern nur von ihrem eigenen Pflichtgefühl. Es waren einsame Verschwörer, die nicht nur die eigene Ehre retten wollten, sondern auch die Ehre eines Volks von Mitläufern. Die meisten dieser Patrioten wollten einen Frieden, der »das Reich«, ihr Heiligtum, noch halbwegs heil gelassen hätte. Aber dieses Reich war mittlerweile weder heil noch heilig. Denn zu tief war auch die Wehrmacht in den Holocaust verstrickt, zu viele Morde lasteten auf Deutschlands Namen. Es komme nur noch darauf an, erklärte Henning von Tresckow, Kopf der Verschwörung, daß der deutsche Widerstand den entscheidenden Wurf wagt, um vor der Geschichte zu bestehen.

Oft ist gefragt worden, ob es denn überhaupt etwas genutzt hätte, wenn die bewußte Bombe unterm Kartentisch ihr Zielobjekt zerrissen hätte. Stand nicht die bedingungslose Kapitulation längst fest, genauso wie die Aufspaltung des Reiches in Besatzungszonen, die brutale Amputierung Ostdeutschlands und die Vertreibung seiner Menschen? All das stand schon fest, gewiß. Und dennoch wäre, ob durch eine provisorische Regierung Goerdeler oder durch ein Militärregime, der Krieg beendet worden. Dann hätten Millionen von Soldaten an den Fronten in Europa nicht mehr sterben müssen; wären Hunderttausende von Juden nicht mehr in die Gaskammern getrieben worden; wären schöne alte Städte wie Würzburg, Dresden, Breslau oder Königsberg, nicht mehr vernichtet worden. Ein gelungener Mord an Hitler hätte seinen Sinn gehabt.

So aber ging das Morden weiter. Alles oder nichts. . . Für Deutschland hieß das: Weltmacht oder Untergang. Dazwischen gab es nichts, schon gar nicht Frieden. »Frieden« hieß für Hitler »Vorkrieg« oder »Nach-krieg«. Seine kranke Seele brauchte Bewegung, Unruhe, den Kampf. Mit ihm, dem Usurpator, würde niemand Frieden schließen wollen. Wenn die Sieger ihn denn hätten, würden sie ihn totschlagen wie einen tollen Hund. Und weil ja Deutschland »seine Braut« war, sollte es zusammen mit ihm untergehen. Hitler hielt das für angemessen.

Mitgegangen, mitgehangen, suggerierte Goebbels’ Propaganda den verstörten Landsleuten, die sich nicht zuletzt auch deshalb an das Nazireich gefesselt fühlten, weil man sowieso mit dran war. Denn die Alliierten wollten gar kein »anderes Deutschland«, das den Krieg beendet hätte. Sie wollten das inmitten von Europa wuchernde Geschwür vernichten – tilgen, ein für allemal. Seit Casablanca gab es keinen Zweifel, daß der Tag der Kapitulation auch Tag des großen Strafgerichtes über alle Deutschen werden würde.

Dem entzog sich der Verantwortliche »fünf nach zwölf« durch Selbstmord – wie er angekündigt hatte. Und mit einem Schlag versank das ganze Nazireich.

Sein mörderisches Dasein hing allein von ihm ab. Ohne ihn war es ein Totenschiff.

«Hitlers Tod«, sagt eine seiner Sekretärinnen, die bis zum Ende bei ihm ausgeharrt hat, »war für uns wie das Ende eines Zustandes der Massenhypnose. Plötzlich entdeckten wir in uns wieder eine unbezwingbare Lust zu leben, wir selbst zu werden, menschliche Wesen zu sein. Hitler interessierte uns nicht mehr.«

Traudl Junge, der der Todeskandidat zuvor sein Testament diktiert hatte, war mit dieser Sehnsucht nicht allein. Hitler zu vergessen war in der Nachkriegszeit der sehnlichste Wunsch der meisten Deutschen. Überleben, Wiederaufbau, Kalter Krieg – man hatte ja genug zu tun.

Doch verdrängen heißt nicht auch entkommen. Die zerstörten Städte kann man wieder aufbauen. Über Gräbern kann man Blumen pflanzen. Aber das Gewissen wird davon nicht ruhig.

Um von Hitler frei zu werden, müssen wir ihn annehmen. Je mehr wir uns von ihm entfernen wollen, desto näher rückt er uns. Je mehr wir uns von der traumatischen Erinnerung an Hitler lösen wollen, desto gnadenloser ist sie da.

Um uns aus Hitlers Bann zu lösen, müssen wir uns mit ihm auseinandersetzen. Wenn wir ihn verdrängen, wird er uns bedrängen. Wenn wir uns ihm nähern, wird er sich entfernen.

Keine Angst vor Hitler! Wenn wir uns ihm angenähert haben, läßt er sich entlarven. Wenn wir wissen, was ihn ausgemacht hat, werden wir gefeit sein gegen ähnliche und andere Versuchungen, in Krisenzeiten nach dem »starken Mann« zu rufen.

Wenn wir unbefangen sagen können: Beethoven und Goethe waren Deutsche, aber Hitler war es auch – dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Wir, die nach dem Krieg Geborenen, sind für Hitler nicht verantwortlich zu machen. Doch wir sind verantwortlich für das Erinnern, gegen das Vergessen und Verdrängen – und das Leugnen. Keine Kollektiv-Schuld, aber Kollektiv-Verantwortung – für Auschwitz und für Hitler.

Wir müssen beide Wunden annehmen. Wir müssen uns zu ihrem Schmerz bekennen. Beide sind ein unauslöschlicher Bestandteil unserer Geschichte.

Wer das einsieht, ist ein Patriot.

Der Verführer

Große Lügner sind auch große Zauberer

Auf den Intellekt kommt es bei der Frau

gar nicht an

Die Masse ist wie ein Weib,

und als solches mache ich sie mir gefügig

Die breite Masse ist blind und dumm

Nur die fanatisierte Masse wird lenkbar

Ich habe alles durch Überredung geschafft

Vertragliche Abmachungen gelten nur so lange,

als sie mir nützlich sind

Jede Generation muß einmal einen Krieg

mitgemacht haben

Das Werk, das Christus begonnen hat,

werde ich zu Ende führen

Hitler

Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll.

Adolf Hitler, 1924

Hitler spricht. [. . .] Völlig verändert erscheint dem kleinen Mann auch die Sprache. Es ist seine Sprache und doch nicht mehr die seine, so vornehm und prunkvoll ist sie geworden. Da türmen sich pompöse Vergleiche und Bilder, da ringeln sich verwickelte Satzschlangen, da gleißen geheimnisvolle Fremdworte. Da ist alles immer um einen Grad über seine Verhältnisse ausgedrückt.

Franz Carl Weiskopf, 1936

Die wählende Mehrheit ist immer dumm, roh und ziellos. Sie läßt sich willig von Schaumschlägern und politischen Jongleurs verführen.

Joseph Goebbels, 1924

Wenn wir anderen Menschen auch nur das kompensieren und abbüßen wollten, was an einem einzigen Abend von Hitler, Mussolini und ihren Vasallen zusammengebrüllt, geschrien und trompetet wird, so müßten wir alle zehn Jahre lang unverbrüchlich schweigen.

Hermann Hesse, 1938

Ich glaube nun einmal an das Gottesgnadentum Hitlers, den ich persönlich nie gesehen habe, und glaube daran, daß Gott ihn erleuchten wird, jetzt aus diesem Chaos den richtigen Weg zu finden. Nicht mit einer Verstandeskraft einer hervorragenden politischen Begabung, sondern ganz einfach, indem er seiner inneren Stimme, der Stimme des Herzens, folgt. Jetzt wird es sich zeigen, ob er von Gott erleuchtet ist oder nicht. Ist es so, wird er sich durchsetzen, trozdem heute fast alle gegen ihn zu reden scheinen.

W. von Corswant-Cuntzow, 1925

Die hinreißende und suggestive Beredsamkeit des Hitler hat auch auf mich anfangs großen Eindruck gemacht. Es ist ohne weiteres klar, daß Hitler in vielem recht hatte. Je öfter ich aber Hitler hörte, desto mehr schwächte sich der erste Eindruck ab. Ich merkte, daß die langen Reden doch fast immer das gleiche enthielten, daß ein Teil der Ausführungen für jeden national eingestellten Deutschen selbstverständlich ist und daß ein anderer Teil davon Zeugnis ablegte, daß Hitler der Wirklichkeitssinn und der Maßstab für das, was möglich und erreichbar ist, abgeht.

Otto Hermann von Lossow, 1924

Ich komme an. Hitler ist da. Meine Freude ist groß. Er begrüßt mich wie einen alten Freund. Er umhegt mich. Wie lieb ich ihn! So ein Kerl! Und er erzählt den ganzen Abend. Ich kann nicht genug hören. Eine kleine Versammlung. Ich muß auf seinen Wunsch zuerst sprechen. Und dann redet er. Wie klein bin ich!

Joseph Goebbels, 1925

Er beginnt mit einer ungepflegten Stimme und hinterwäldlerischer Aussprache, schleppend aber drohend. Bald steigert sich sein Ton und wird der des schlechten Volksstücks, des pöbelhaften Klamauks, schreiend, vor Wut sich brechend. Endlich gibt er das Letzte her: dann erscheint das nackte Urwesen, die Venus entsteigt ihrer Schlammflut und stellt sich schamlos aus mitsamt ihren Schäden, die offenbar den Trieb der Menge noch mehr aufpeitschen. Man sieht eine bösartige Frau und sieht, warum sie geliebt wird. Sie wendet sich schroff an die Leidenschaften, die niemand eingestehen würde, sie aber reißt ihnen die Maske ab.

Heinrich Mann, 1933

Stille Nacht, heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht Adolf Hitler für Deutschlands Geschick. Führt uns zur Größe, zum Ruhm und zum Glück, Gibt uns Deutschen die Macht.

Weihnachtslied von Fritz Rabenau, 1934

Das größte Wunder aber scheint mir, daß er offenbar bereits selbst an die Legende seines Lebens glaubt. Würde ihm jemand sein Leben erzählen, so wie es war, er würde ihn aus heiligster Überzeugung einen Lügner nennen.

Erich Ebermayer, 1933

Während Sie das Sudetenland befreiten, habe ich diese Strümpfe für Sie gestrickt. Nun haben wir beide unser Ziel erreicht, Sie ein großes, ich ein kleines. Ich bitte Sie, mein Führer, diese Strümpfe von mir anzunehmen, ich hoffe, daß mein Gefühl mich richtig geleitet hat und daß die Strümpfe Ihnen auch passen werden.

Margarete Witte, 1938

Das Regime

Liebt das Theater sehr. Seine Leistungen

liegen hauptsächlich auf theatralischem Gebiet. [. . .]

Alljährlich am Ersten Mai

Wenn der Erste Schauspieler des Reiches

Einen einstmaligen Arbeiter spielt

Werden die Zuschauer für das Zuschauen sogar bezahlt.

Bertolt Brecht, 1937

Stunde um Stunde geht ins Land, und nichts geschieht. Doch niemand scheint sich daran zu stören. Eine Atmosphäre gespannter Erwartung macht sich breit unter den Zehntausenden, die nun schon beinahe einen halben Tag in der warmen Aprilsonne ausharren. Die Lautsprecheranlagen werden noch einmal auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft, die Wochenschaukameras in Position gebracht. Wichtigkeit ausstrahlende Parteiamtswalter rücken ihre Hakenkreuzbanner zurecht. Sie geben sich wie Würdenträger eines weihevollen Spektakels, zu dem die meisten der Anwesenden aus purer Neugier gepilgert sind.

Dann geht es wie ein Ruck durch die Reihen. Aus Menschen werden Marionetten, die mechanisch ihren Arm zum Gruß recken, angefeuert von Fanfarenstößen des »Badenweiler Marschs«. Der Begrüßungsredner auf der Tribüne erntet wenig Aufmerksamkeit für seine Tiraden gegen das »System«. Denn die geballte Erwartung richtet sich auf den Mann, der kurz zuvor mit dem Flugzeug auf einem benachbarten Feld gelandet ist. »Hitler kommt«, raunt es durch die Reihen. Viele sagen auch schon ehrfürchtig: »Der Führer spricht!«

Hitler schweigt erst einmal. Wie abwesend nimmt er die Huldigung der Menge entgegen, wartet schier unerträglich lange, bis eine atemlose Stille über der Kundgebung lastet. Dann fallen die ersten tastenden Worte. Umständliche Einleitungssätze münden in einen reißenden Redefluß, der sich zum tobenden Furor steigert. Selbst skeptische Zuschauer können sich kaum dem Bann entziehen, der das Publikum ergreift. In jubelnden Heil-Rufen entlädt sich die Ekstase einer politischen Erweckungsfeier. So ist Wahlkampf noch nie zuvor geführt worden in Deutschland. Die Dauerwahlschlacht im Endstadium der Weimarer Republik, die das Siechtum der Demokratie den Bürgern beschert, ist die große Stunde für den Demagogen Hitler. Keiner der konkurrierenden Kandidaten vermag auch nur annähernd so viele Zuhörer um sich zu scharen. Niemand sonst hat das Spiel mit der Masse so gekonnt im Griff. Während seine Kontrahenten unprätentiös die Bahn benutzen, schwebt Hitler mit dem Flugzeug wie ein Messias vom Himmel zum Volk herab. »Hitler über Deutschland«: Das doppelsinnige Wahlkampfmotto suggeriert die heilversprechende wie bedrohliche Allgegenwart des reisenden Redners. Dank moderner Logistik erreicht er auf seiner Wahltournee innerhalb einer einzigen Woche Hunderttausende von Menschen. Nicht wenige unter ihnen wandelt seine Erscheinung von Zweiflern zu Gläubigen.

Dabei sind es weder geschliffene Rhetorik noch schlüssige Gedankenführung, die als Erklärung für seine nachhaltige Wirkung taugen. »Hitler hielt eine flammende Rede«, erinnert sich Wilhelm Langhagel, damals junger Gerichtsreferendar, an eine Kundgebung in Leipzig. »Die Halle war bis zum letzten Platz gefüllt, und alle waren ausgesprochen begeistert. Auch ich war überwältigt. Am nächsten Tag las ich die Rede noch einmal in der Zeitung, aber da stand eigentlich nichts drin, was mich irgendwie beeindruckt hätte.«

War hier kollektive Hypnose am Werk oder Volksverdummung, Massenpsychologie oder Überredungskunst? Die Faktoren der Verführung sind so vielschichtig wie die Erklärungsversuche darüber. Fest steht, daß das öffentliche Podium für Hitler der Ort war, an dem er sein Talent am wirkungsvollsten entfalten konnte, daß in der Rolle des Agitators seine markantesten Wesenszüge zur Geltung kamen. Es war nicht seine einzige Begabung, aber doch jene, in der ihm kein deutscher Politiker seiner Zeit gleichkam. Seine diabolische Meisterschaft der Massensuggestion bahnte ihm den Weg zur Macht. Und auch nach 1933 gründete seine Herrschaft ganz wesentlich auf der Wirkung von schönem Schein und bösem Fluch. Hitler hatte – scharfsichtiger als andere – die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Möglichkeiten – exzessiver als andere – für seine Zwecke genutzt. Doch bedingte seine Verführungskraft auch die unbedingte Bereitschaft des Publikums zur Hingabe. Sein Werdegang war gesäumt von Wunschvorstellungen und Erwartungen unzähliger Wegbereiter. In diesem Sinn war sein Aufstieg das Ergebnis erfahrungsreicher Lehrjahre.

Hitlers Pfingsterlebnis als politischer Redner geschah im Bierdunst einer Hinterstubenversammlung: Am 16. Oktober 1919 ergriff er während der ersten öffentlichen Zusammenkunft der Deutschen Arbeiterpartei (DAP), einer der vielen völkischen Splittergruppen in München, als zweiter Redner des Abends das Wort. In einem heftig anschwellenden Redestrom entluden sich Anklagen, Affekte und Haßgefühle, die, aufgestaut in langen Phasen der Kontaktarmut und Wortkargheit, nun nach Artikulation zu drängen schienen. Hitlers leidenschaftliches Plädoyer für einen politischen Zusammenschluß gegen das Judentum, den »Feind der Völker«, schien seine Wirkung auf die 111 Anwesenden nicht verfehlt zu haben. Eine anschließende Sammlung für die Parteikasse erbrachte 300 Mark. Fortan war die DAP die erste Partei, die für ihre Versammlungen Eintrittsgeld erhob.

»Schon früher hatte das Affektpotential der öffentlichen Rede großen Eindruck auf den unsteten Junggesellen gemacht.« So berichtet Reinhold Hanisch, Hitlers Gefährte aus dem Wiener Obdachlosenasyl, von den Nachwirkungen des gemeinsam besuchten Kinofilms »Der Tunnel«, in dem ein charismatischer Volksredner Arbeitermassen in Aufruhr versetzte: »Hitler wurde fast verrückt. Der Eindruck war so stark, daß er tagelang von nichts anderem sprach als von der Macht der Rede.« Erst jetzt wurde Hitler gewahr, welche Macht er auf andere Menschen auszuüben vermochte, wenn ihn leidenschaftliche Redewut befiel. »lch sprach dreißig Minuten«, rühmte er sich in »Mein Kampf« später selbst, »und was ich früher, ohne es irgendwie zu wissen, einfach innerlich gefühlt hatte, wurde nun durch die Wirklichkeit bewiesen: Ich konnte reden!«

Im Alter von 30 Jahren meinte Hitler, seine Bestimmung gefunden zu haben: Die Werbetrommel zu rühren für die »nationale Erweckungsbewegung«, die den Widerwillen gegen Versailles und Republik mit antisemitischen Verschwörungstheorien zu einem chauvinistischen Ideensud vergor. Die Stimmungsmache völkischer Splittergruppen, Geheimbünde und Freikorpseinheiten zehrte davon, daß die Zeitgenossen noch schwer unter den Folgen einer Niederlage litten, die für viele unerwartet kam und für die sie nun, nach gängiger Ansicht, »unverdient« zu büßen hatten.

Die weitverbreitete Unzufriedenheit war der Nährboden, auf dem Hitlers Agitationstalent gedieh. Enttäuschung über den Untergang der alten Gewalten und den verlorenen Krieg, Schmach der Kriegsfolgen, Schock der Revolution, Bitterkeit über materielle Not, Angst vor Unruhen und Bürgerkrieg, Haß auf Intellektuelle und Juden: Ressentiments waren Rohstoff für seine Tiraden. Die kleine, aber ehrgeizige Hinterzimmerpartei, auf die er als Spitzel im Dienste der Reichswehr gestoßen war, schien ihm dafür das geeignete Forum. Die Aussicht, als »berufsmäßiger Werberedner« (so ein zeitgenössischer Bericht) in ihre

Kanzler Hitler im Kreis von »Alten Kämpfern« der NSDAP

Ich fuhr zu einer seiner Veranstaltungen und sah ihn aus drei Metern Entfernung. Er sprach von seinem Podium und wirkte ganz grauenhaft auf mich, sehr emotional. Er geiferte wie eine Mischung aus einem Berserker und einem Verrückten. Die Argumente schienen mir vollkommen blödsinnig, und ich sagte mir: »Mit den Leuten will ich nie etwas zu tun haben.« Ich hielt Hitler von Anfang an für ein Verderbnis für Deutschland. Aber daß es eine solche Diktatur werden würde, von der am Ende sechs Millionen Juden ermordet wurden, das habe ich natürlich nicht gedacht. Das konnte auch kein Mensch ahnen.

Marion Gräfin Dönhoff, Jahrgang 1909