Hochbegabung - Franzis Preckel - E-Book

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Franzis Preckel

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Beschreibung

Um intellektuell hochbegabte Kinder und Jugendliche angemessen fördern zu können, sind eine rechtzeitige Diagnostik und fundierte Beratung unumgänglich. Das vorliegende Buch bietet einen umfassenden und aktuellen Überblick über die theoretischen Grundlagen von Hochbegabung sowie über Möglichkeiten der Diagnostik und Förderung. Durch eine klare Strukturierung und didaktische Aufbereitung der Inhalte eignet es sich ideal für das (Selbst-)Studium und für die berufliche Weiterbildung. Für die 2. Auflage wurden aktuelle Studienergebnisse berücksichtigt, und es wurden neue Themen, wie Geschlechterunterschiede oder Förderung Hochbegabter im regulären Unterricht, aufgenommen. Inhalte des Bandes sind zunächst verschiedene Modellvorstellungen von Hochbegabung sowie wegweisende Studien auf diesem Gebiet. Weiterhin werden die Entwicklung von Hochbegabung sowie Eigenschaften von Hochbegabten, wie z.B. leistungsbezogene Merkmale und bestimmte Temperamentseigenschaften, diskutiert. Ausführlich erörtern die Autorinnen Möglichkeiten der Diagnostik von hochbegabten Kindern und Jugendlichen und stellen konkreten Fördermöglichkeiten in Kindergarten und Schule vor.

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Franzis Preckel

Miriam Vock

Hochbegabung

Ein Lehrbuch zu Grundlagen, Diagnostik und Fördermöglichkeiten

2., überarbeitete Auflage

Prof. Dr. Franzis Preckel, geb. 1971. Studium der Psychologie in Münster und Green Bay, Wisconsin. 2002 Promotion. 2002–2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut der Universität Münster. 2004–2006 Akademische Rätin und Leiterin der Begabungspsychologischen Beratungsstelle am Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2006 Professorin für Hochbegabtenforschung und -förderung an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Intelligenzforschung und -diagnostik, intellektuelle Hochbegabung sowie Evaluation von Maßnahmen der Begabtenförderung.

Prof. Dr. Miriam Vock, geb. 1974. Studium der Psychologie in Münster. 2000–2005 Wissenschaftliche Mitarbeit am Psychologischen Institut der Universität Münster. 2004 Promotion. 2005–2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2011 Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Intelligenz- und Begabungsforschung, Wirksamkeit schulischer Begabtenförderung, empirische Bildungsforschung.

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Umschlagabbildung: © iStock.com by Getty Images/D-Keine

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

2., überarbeitete Auflage

© 2013 und 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2850-5; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2850-6)

ISBN 978-3-8017-2850-2

https://doi.org/10.1026/02850-000

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Anmerkung:

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|5|Vorwort zur 2. Auflage

Seit Publikation der ersten Auflage dieses Lehrbuches im Jahre 2013 sind zahlreiche neue Forschungsergebnisse zum Themenfeld Hochbegabung erschienen, teilweise auch als systematische Überblicksarbeiten in Form von Literaturübersichten oder Metaanalysen. Die zunehmende Anzahl von Publikationen, Fachzeitschriften oder Ausbildungsgängen in diesem Bereich unterstreicht die rasante Entwicklung in diesem Feld. Die neuen Erkenntnisse, Ergebnisse und Modellansätze sind nun in dieser überarbeiteten Neuauflage des Lehrbuchs Hochbegabung enthalten. Im Vergleich zur ersten Auflage finden sich zahlreiche Änderungen in allen Textteilen und Kapiteln. Zum Teil sind neue Informationen hinzugekommen (z. B. zu Geschlechterunterschieden bei Hochbegabten oder zu Modellen der Begabungsentwicklung), zum Teil wurden vorhandene Informationen ergänzt und aktualisiert (z. B. Forschungsbefunde zu Persönlichkeitseigenschaften, Diagnostik und Förderung Hochbegabter; aktualisierte Testinformationen).

Seit der ersten Auflage unverändert ist jedoch, dass das Thema Hochbegabung in der grundständigen Ausbildung in (Sonder-)Pädagogik, Psychologie und den Bildungswissenschaften eher selten und im Vergleich zum Bedarf in der Förder- und Beratungspraxis bei Weitem nicht ausreichend repräsentiert ist. Wir wünschen uns, dass dieses Lehrbuch einen Beitrag dazu leisten kann, diesem Mangel in der Ausbildung entgegenzuwirken, indem es z. B. als Grundlage für ein Seminarkonzept herangezogen wird.

Wir verfolgen mit diesem Buch nicht den Anspruch, das Themenfeld komplett abzudecken, sondern haben uns auf die aus unserer Sicht zentralen Grundlagen zum Einstieg in das Themengebiet konzentriert. Wir geben zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literatur, insbesondere zu Themen, die in diesem Buch weniger Beachtung finden, aber dennoch von großer Relevanz sind (z. B. begabungspsychologische Beratung bei Hochbegabung).

Beim Schreiben der einzelnen Kapitel dieses Buches haben wir bestimmte Lernziele für Sie als Leserin oder Leser verfolgt. Diese möchten wir Ihnen vorab vorstellen, zusammen mit einer kurzen Zusammenfassung der Kapitelinhalte.

|6|Wir beginnen mit der grundlegenden Fragestellung, was Hochbegabung eigentlich ist und wie sie mit außergewöhnlicher Leistung zusammenhängt. Sie lernen dabei den Unterschied zwischen Kompetenz- und Performanzdefinitionen sowie zwischen ein- und mehrdimensionalen Hochbegabungsdefinitionen kennen. Zudem erfahren Sie, welche Rolle Intelligenz und Kreativität bei der Definition von Hochbegabung spielen, und Sie erwerben Grundlagenwissen zu beiden Konstrukten. Weiterhin sind Sie im Hinblick auf den Zusammenhang von Begabung und außergewöhnlicher Leistung dazu in der Lage, die jeweiligen Beiträge des differenziellen Ansatzes der Hochbegabungsforschung und der Expertiseforschung zu benennen und kritisch einzuordnen.

Im zweiten Kapitel werden Sie drei wegweisende Längsschnittstudien mit Hochbegabten kennenlernen: die Terman-Studie und die Study of Mathematically Precocious Youth aus den USA und das Marburger Hochbegabtenprojekt aus Deutschland. Sie lernen, welche Ziele diese drei zentralen Längsschnittstudien aus der Hochbegabungsforschung verfolgen, wie sie methodisch konzipiert sind und welches die Hauptergebnisse sind. Außerdem kennen Sie nach der Lektüre des zweiten Kapitels die jeweiligen methodischen Stärken und Schwächen der Studien und wissen, mit welchen besonderen forschungsmethodischen Herausforderungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Hochbegabungsforschung konfrontiert sind.

Im dritten Kapitel geht es darum, wie Hochbegabte eigentlich sind und ob es Besonderheiten in ihrer Persönlichkeit und Entwicklung gibt. In diesem Kapitel lernen Sie die Zusammenhänge zwischen Intelligenz und schulischen Leistungen kennen. Sie können zwischen impliziten und expliziten Hochbegabungstheorien unterscheiden und wissen, was die Harmonie- und die Disharmoniehypothese aussagen, und Sie kennen den Forschungsstand hierzu; insbesondere wissen Sie, in welchen Merkmalen sich Hochbegabte als Gruppe von nicht Hochbegabten unterscheiden und in welchen Merkmalen sie sich nicht unterscheiden. Im Hinblick auf das Thema Geschlechterunterschiede können Sie beschreiben, was die Gender-similarity-Hypothese und die Greater-male-variability-Hypothese aussagen. Zudem können Sie Besonderheiten hochbegabter Underachiever – also von Personen, deren Leistungsstand hinter ihren Fähigkeiten deutlich zurückbleibt – im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale benennen. Sie wissen, welche Faktoren zur Entstehung von Underachievement bei Hochbegabten beitragen können. Und Sie wissen, welche Entwicklungsbesonderheiten bei Hochbegabten auftreten können und kennen die möglichen Auswirkungen dauerhafter Unterforderung.

Im vierten Kapitel geht es darum, wie Hochbegabte erkannt werden können. Nach wie vor spielen hierbei Intelligenztests eine zentrale Rolle, und |7|Sie lernen, was bei der Auswahl von Intelligenztests für die Hochbegabungsdiagnostik zu beachten ist, und wissen um die Problematik von Deckeneffekten bei vielen der verfügbaren Testverfahren. Sie wissen, in welchen Situationen eine ergänzende Schulleistungsdiagnostik sinnvoll oder notwendig ist und mit welchen Methoden Sie die Schulleistungen erfassen können. Sie lernen zudem, verschiedene Strategien der Identifikation von Underachievern voneinander abzugrenzen und zu bewerten. Zudem kennen Sie nach dem Studium von Kapitel 4 verschiedene Verfahren der Kreativitätsdiagnostik, die im Rahmen der Hochbegabungsdiagnostik relevant werden können. Die Probleme bei der Anwendung von Checklisten und Nominierungsverfahren sind Ihnen vertraut. Außerdem lernen Sie an einem konkreten Beispiel, wie in der Schulpraxis mit dem Problem der Integration verschiedener Befunde und Ergebnisse zu einem Schüler oder einer Schülerin umgegangen wird.

Abschließend geht es dann im fünften Kapitel um die Förderung Hochbegabter in Schule und Kindergarten. Sie erhalten einen Überblick über die verschiedenen Säulen der Begabtenförderung, und Sie lernen einige grundlegende didaktische Prinzipien für einen Unterricht kennen, der auch hochbegabte Schülerinnen und Schüler fördert. Zudem sind Ihnen typische Maßnahmen der Akzeleration und des Enrichment in Schule und Kindergarten bekannt. Sie kennen die Forschungsergebnisse dazu, wie sich unterschiedliche Förderansätze auf die Leistungsentwicklung sowie die soziale und emotionale Entwicklung Hochbegabter auswirken und können diese Forschungsergebnisse kritisch bewerten. Und Sie wissen um Vor- und Nachteile und Gelingensbedingungen der verschiedenen Fördermaßnahmen.

Wir hoffen, dass dieses Buch die von uns angestrebten Ziele erfüllen kann und die Lehre sowie das Selbststudium zum Thema Hochbegabung erleichtert und anregt. Über Rückmeldung hierzu und weitere Anregungen freuen wir uns!

Trier und Potsdam, im Herbst 2020

Franzis Preckel & Miriam Vock

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

1 Was ist Hochbegabung?

1.1 Einleitung

1.2 Theorien und Modelle von Hochbegabung und außergewöhnlicher Leistung

1.2.1 Expertise

1.2.2 Hochbegabungsmodelle

1.2.3 Performanzdefinitionen versus Kompetenzdefinitionen

1.2.4 Eindimensionale Definitionen

1.2.5 Mehrdimensionale Definitionen und Modelle

1.2.6 Systemtheoretische Modelle

1.2.7 Megamodel

1.2.8 TAD-Framework

1.2.9 Fazit zu Theorien und Modellen von Hochbegabung und außergewöhnlicher Leistung

1.3 Die Rolle der Intelligenz in Hochbegabungsmodellen

1.3.1 Was ist Intelligenz?

1.3.2 Der Intelligenzquotient

1.4 Die Rolle der Kreativität in Hochbegabungsmodellen

1.4.1 Kreativität: Definition und Modelle

1.4.2 Kreativität als systemisches und als relationales Phänomen

1.4.3 Kreativität und Intelligenz

1.5 Fazit

2 Wegweisende Studien und methodische Herausforderungen in der Hochbegabungsforschung

2.1 Ausgewählte Längsschnittstudien mit Hochbegabten

2.1.1 Terman-Studie

2.1.2 Study of Mathematically Precocious Youth (SMPY)

2.1.3 Das Marburger Hochbegabtenprojekt

2.2 Methodische Herausforderungen bei der Erforschung von Hochbegabung

2.2.1 Stichprobenauswahl und unausgelesene Grundgesamtheit

2.2.2 Heranziehen einer adäquaten Kontroll- oder Vergleichsgruppe

2.2.3 Wissen der Teilnehmenden um die eigene Begabung

2.2.4 Interventionen versus reine Beobachtung

2.2.5 Unterschiedliche Definitionen und Operationalisierungen von Hochbegabung

2.3 Fazit

3 Eigenschaften und Entwicklung Hochbegabter

3.1 Leistungsbezogene Merkmale

3.1.1 Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistung

3.1.2 Studien zur akademischen Entwicklung von Hochbegabten

3.1.3 Schwellenhypothese zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistung

3.2 Persönlichkeitsbezogene Merkmale

3.2.1 Implizite Theorien: Alltagsvorstellungen über Hochbegabte

3.2.2 Sozio-emotionale Anpassung Hochbegabter

3.2.3 Persönlichkeitsmerkmale

3.2.4 Geschlechterunterschiede

3.3 Underachievement

3.3.1 Konzept

3.3.2 Mögliche Ursachen

3.3.3 Verlauf

3.4 Besonderheiten in der Entwicklung Hochbegabter

3.4.1 Asynchrone Entwicklung

3.4.2 Besonderheiten bei Höchstbegabung

3.4.3 Dauerhafte schulische Unterforderung

3.4.4 Perfektionismus

3.4.5 Erhöhte Sensibilität (Overexcitability)

3.4.6 Furcht vor Vorurteilen und Stigmatisierung

3.5 Familiärer Hintergrund Hochbegabter

3.5.1 Hochbegabung als Stressor für die Familie?

3.5.2 Hochbegabte aus sozial schwachen und wenig gebildeten Elternhäusern

3.6 Fazit

4 Diagnostik: Erkennen von Hochbegabung

4.1 Einleitung und Überblick

4.2 Intelligenztests in der Hochbegabungsdiagnostik

4.2.1 Möglichkeiten und Grenzen von Intelligenztests in der Hochbegabungsdiagnostik

4.2.2 Beschreibungen gängiger Verfahren im Hinblick auf ihre Eignung für die Intelligenzdiagnostik mit Hochbegabten

4.3 Schulleistungsdiagnostik

4.3.1 Schulnoten

4.3.2 Standardisierte Schulleistungstests

4.3.3 Vergleichsarbeiten

4.4 Diagnostik von Underachievement

4.4.1 Statistische Methoden zur Identifikation von Underachievement

4.4.2 Nominationsmethoden zur Identifikation von Underachievement

4.5 Diagnostik von Kreativität und divergentem Denken

4.6 Nominierungen und Checklisten

4.6.1 Nominierung durch Lehrkräfte

4.6.2 Nominierung durch Eltern

4.6.3 Nominierung durch Peers und Selbstnominierungen

4.7 Auswahlverfahren für spezielle Förderklassen als Beispiel für eine multimethodale und multimodale Hochbegabungsdiagnostik

5 Förderung in Schule und Kindergarten

5.1 Einleitung

5.2 Förderung in der Schule

5.2.1 Die vier Säulen der schulischen Begabtenförderung

5.2.2 Innere Differenzierung im Unterricht

5.2.3 Akzeleration

5.2.4 Enrichment

5.2.5 Kombination aus Akzeleration und Enrichment: Frühstudium

5.2.6 Fähigkeitsgruppierung in speziellen Klassen oder Schulen für Hochbegabte

5.3 Förderung im Kindergarten

5.3.1 Hochbegabte Kinder im Kindergarten

5.3.2 Fördermöglichkeiten

5.4 Fazit

Nachwort

Anhang

Literatur

Glossar

Stichwortregister

|13|1 Was ist Hochbegabung?

In diesem Kapitel geht es vor allem um zwei Fragestellungen: „Was ist Hochbegabung, und wie kann sie definiert werden?“ und „Wie hängen eine hohe Begabung und außergewöhnliche Leistung zusammen?“.

Wir verfolgen in diesem Kapitel die folgenden Lernziele:

Nach dem Durcharbeiten dieses Kapitels können Sie zwischen Kompetenz- und Performanzdefinitionen sowie zwischen ein- und mehrdimensionalen Hochbegabungsdefinitionen unterscheiden.

Im Hinblick auf den Zusammenhang von Begabung und außergewöhnlicher Leistung sind Sie dazu in der Lage, die jeweiligen Beiträge der Hochbegabungsforschung und der Expertiseforschung zu benennen und kritisch zu würdigen.

Sie wissen, welche Rolle Intelligenz in Hochbegabungsmodellen spielt, und haben Grundlagenwissen zur Intelligenzstruktur und zum Intelligenzquotienten erworben.

Sie kennen Definitionen von Kreativität und können beschreiben, welche Rolle Kreativität in verschiedenen Hochbegabungsmodellen einnimmt.

1.1 Einleitung

Fallbeispiele (nach Arnold & Preckel, 2011)

Anne

Anne besucht die zweite Klasse der Grundschule und war bislang eine sehr gute Schülerin. Seit ein paar Wochen fällt ihrer Lehrerin auf, dass die Schülerin im Unterricht häufig träumt und auch bei einfachen Aufgaben zunehmend Fehler macht – selbst in Bereichen, die sie zuvor schon sicher beherrscht hatte. Zu Hause zeigt Anne einen wachsenden Widerwillen, in die Schule zu gehen. Auch wird sie selbst immer unsicherer darüber, was sie eigentlich kann. Annes Eltern führen daraufhin mehrere Gespräche mit der Lehrerin und einer Schulpsychologin, die mit Anne einen Intelligenztest durchführt. Mit Annes Einverständnis wird beschlossen, dass sie für zunächst |14|zwei Wochen probeweise am Unterricht der dritten Klasse teilnimmt. Anne gefällt es dort gut, und die „Schnupperzeit“ wird daraufhin um weitere zwei Wochen verlängert. Danach entscheiden alle Beteiligten gemeinsam, dass Anne ganz in die dritte Klasse wechselt. Seither geht es Anne zu Hause und in der Schule besser. An den meisten Tagen geht sie wieder gerne zur Schule. Ihre Wissenslücken konnte Anne in ein paar Wochen schließen. Neu ist für sie, dass sie manchmal Aufgaben ein zweites Mal durchlesen muss, um sie lösen zu können. Doch hat Anne nun wieder deutlich mehr Zutrauen in ihre Leistungsfähigkeit als vor dem Überspringen.

Theo

Theo, ein vielseitig interessierter und aufgeschlossener Junge, geht in die sechste Klasse eines Gymnasiums. Durch seine charmante und wortgewandte Art gewinnt er Menschen leicht für sich. Aktuell ist Theo jedoch versetzungsgefährdet. In der Grundschule flog ihm alles zu; ganze Schulstunden verbrachte er damit, aus dem Fenster zu schauen oder selbst erfundene Geschichten aufzuschreiben. Seine Lehrerinnen ließen ihn weitestgehend in Ruhe, denn meistens konnte er auf Nachfragen korrekt antworten. So hatte Theo während der Grundschulzeit durchgehend gute bis sehr gute Noten, ohne dafür mehr als ein Minimum tun zu müssen. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium änderte sich die Situation: Theo sollte plötzlich regelmäßig Vokabeln und andere Inhalte lernen, und er hatte keine Idee, wie er das bewerkstelligen sollte. Seine Noten wurden deutlich schlechter. Auf manche Lehrer wirkt sein Verhalten nun arrogant („Er hat den Text nur oberflächlich gelesen, will mit mir aber über falsche Grundannahmen des Autors diskutieren.“). Theo zeigt kaum jemandem, wie verzweifelt er ist, wenn er sich vorstellt, dass er das Schuljahr tatsächlich wiederholen muss.

Tola

Tola ist fünf Jahre alt und seit vier Monaten in der Schule. Seit dem vierten Lebensjahr kann sie lesen, und mittlerweile liest sie beim abendlichen Zubettgehen ihren Eltern kurze Geschichten vor. Seit einem Dreivierteljahr spielt Tola im örtlichen Verein Schach, zudem interessiert sie sich für chemische Experimente. Tola stellt viele Fragen, z. B. danach, was Menschen nach dem Tod erwartet oder was eigentlich gerecht ist. Manchmal ist sie dann sehr nachdenklich oder auch bedrückt, z. B., wenn sie zu dem Schluss kommt, dass vieles auf der Welt sehr ungerecht ist. Kann sie dann mit ihren Eltern darüber sprechen, hellt sich ihre Stimmung jedoch schnell wieder auf. Nach Aussagen der Klassenlehrerin ist Tola eine aufgeschlossene und freundliche Schülerin, die schnell und mühelos lernt und in der Klasse sehr beliebt ist. Die Lehrerin erlaubt ihr, in mitgebrachten Büchern zu lesen, wenn sie schneller als die anderen Kinder mit den Aufgaben fertig ist.

Wie diese drei Fallbeschreibungen zeigen, können hochbegabte Kinder sehr unterschiedlich sein. Anne leidet unter schulischer Unterforderung, für Tola scheint diese kein Problem zu sein. Tola hat sehr gute Noten, wäh|15|rend Theo akut versetzungsgefährdet ist. Alle sind sie jedoch keine Wunderkinder wie beispielsweise Michael Kearney aus den USA (Preckel, Stumpf & Schneider, 2018). Er konnte bereits im Alter von vier Monaten in ganzen Sätzen sprechen, mit 15 Monaten lesen und mit drei Jahren mathematische Gleichungen lösen. Mit sechs Jahren war er jüngster College-Student der menschlichen Geschichte, mit zehn Jahren jüngster Universitätsstudent. Eine solche Entwicklung ist natürlich erstaunlich. Sie ist jedoch nicht kennzeichnend für den Großteil „ganz normaler“ Hochbegabter, um die es hier vor allem gehen wird.

Was ist nun Begabung und was Hochbegabung? Begabung bezeichnet allgemein das leistungsbezogene Entwicklungspotenzial eines Menschen. Entsprechend stellt Hochbegabung ein extrem hoch ausgeprägtes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial dar. Begabung oder Hochbegabung beziehen sich dabei immer auf einen bestimmten Leistungsbereich (begabt wofür?). Damit kann sich der Begriff „Hochbegabung“ auf durchaus unterschiedliche Leistungsfelder wie den akademischen Bereich, Sport oder Musik beziehen. Im sogenannten „Marland-Report“ (Marland, 1972; Bericht zur Förderung Hochbegabter im amerikanischen Schulsystem, erstellt im Auftrag des United States Department of Education) wurden z. B. sechs verschiedene Bereiche der Hochbegabung unterschieden: allgemeiner Intellekt, spezifische akademische Fähigkeiten, Kreativität, Führungsfähigkeit, bildnerische und darstellende Künste und Psychomotorik.

Wir konzentrieren uns in diesem Kapitel auf intellektuelle Hochbegabung. Andere Begabungsbereiche, wie die sportliche oder musikalische Begabung, vernachlässigen wir weitestgehend.

Begriffsklärung: Intellektuelle Hochbegabung

Intellektuelle Hochbegabung kennzeichnet ein extrem hoch ausgeprägtes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial für Leistungsbereiche, in denen Informationsverarbeitung, Lernen und Wissensaneignung, abstraktes Denken sowie Problemlösen und die Entwicklung neuer Ideen relevant sind. Damit ist intellektuelle Hochbegabung ein sehr breites Konstrukt, denn es gibt kaum einen Bereich, in dem Lernen, abstraktes Denken oder Problemlösen keine Rolle spielen.

Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass „Begabung“ und „Hochbegabung“ Konstrukte sind, also erfundene theoretische Begriffe zur Erklärung bestimmter Phänomene. „Begabung“ bzw. „Hochbegabung“ wurden in der Wissenschaft nun ursprünglich dazu herangezogen, um außergewöhnliche Leistungen erklären zu können („Warum kann jemand etwas Außergewöhnliches leisten?“). Doch wann ist eine Leistung oder das leistungs|16|bezogene Entwicklungspotenzial überhaupt außergewöhnlich? Für diese Entscheidung können unterschiedliche Kriterien herangezogen werden (vgl. folgenden Kasten).

Kriterien für außergewöhnliches Leistungspotenzial und außergewöhnliche Leistung (nach Sternberg & Zhang, 2004)

Exzellenzkriterium: Eine Person zeigt im Vergleich zu ihren Peers eine deutliche Überlegenheit in einem oder mehreren Bereichen.

Seltenheitskriterium: Eine Person weist eine hohe Ausprägung eines Attributs auf, welche im Vergleich zu ihren Peers selten ist.

Produktivitätskriterium: Die Begabung muss oder wird wahrscheinlich zu Produktivität führen, die Person also zur Herstellung besonderer Produkte, Ideen oder zu besonderen Handlungen befähigen (dieses Kriterium erklärt z. B., warum Gewinnerinnen oder Gewinner eines Schönheitswettbewerbs in der Regel nicht als hochbegabt bezeichnet werden).

Beweisbarkeitskriterium: Das besondere Leistungspotenzial in einem oder mehreren Bereichen muss durch gültige Prüfverfahren (z. B. Intelligenz- oder Leistungstests) nachweisbar sein.

Wertkriterium: Eine Person zeigt außergewöhnliches Potenzial in einem Bereich, der in ihrer Umgebung oder Kultur wertgeschätzt wird.

In der Psychologie begann die Hochbegabungsforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gesucht wurde nach persönlichen Voraussetzungen für Leistungsexzellenz, also nach Begabungsfaktoren, in denen sich Menschen bezüglich ihres Leistungspotenzials unterscheiden (sogenannter differenzieller Ansatz der Begabungsforschung). Als einer der Ersten machte Sir Francis Galton (1822–1911), ein Vetter Charles Darwins, genetisch bedingte Intelligenzunterschiede als Ursache für außergewöhnliche Leistungen verantwortlich. Bis heute spielt Intelligenz eine zentrale Rolle in der Hochbegabungsforschung. Intelligenzdefinitionen der Hochbegabung sehen eine hohe Intelligenz als notwendiges und hinreichendes Kriterium intellektueller Hochbegabung an, doch die meisten Modelle ergänzen sie um weitere Konstrukte (vgl. Kap. 1.2 zu Hochbegabungsdefinitionen und -modellen).

In den letzten vier Jahrzehnten kam mit der Expertiseforschung ein weiterer Ansatz zur Erklärung außergewöhnlicher Leistungen hinzu. Anders als der differenzielle Ansatz lehnt die Expertiseforschung Intelligenzunterschiede als Ursache für Leistungsexzellenz ab und versteht außergewöhnliche Leistungen als Resultat intensiver und langjähriger Lern- und Übungsprozesse. Mit „Expertise“ sind dabei in der Regel ein besonders reichhaltiges bereichs- und aufgabenspezifisches Wissen sowie eine besondere bereichsspezifische Problemlösefertigkeit gemeint, die eine Person dazu befähigen, in ihrem Expertisebereich dauerhaft Überdurchschnittliches zu leisten. Es geht also |17|um besondere Leistungen in einem ganz bestimmten Gebiet wie beispielsweise Mathematik, Schach oder anorganische Chemie.

Der differenzielle Ansatz und die Expertiseforschung nähern sich dem Phänomen außergewöhnlicher Leistungen aus zwei verschiedenen Richtungen an (vgl. Abb. 1). Der differenzielle Ansatz nimmt quasi „den Blick nach vorne“ ein. Er zielt auf eine möglichst frühe Erfassung von Vorhersagemerkmalen (Prädiktoren) für Leistungsexzellenz ab und erforscht zudem, wie und unter welchen Bedingungen sich ein hohes Potenzial auch tatsächlich zu außergewöhnlicher Leistung entwickelt. Aus differenzieller Sicht interessieren daher neben leistungsexzellenten Personen auch solche Menschen, die zwar keine außergewöhnlichen Leistungen zeigen, aber ein hohes Potenzial zu diesen erkennen lassen. Dabei wird der Intelligenz eine prominente Rolle zugewiesen.

Abbildung 1: Ausgangspunkte der differenziellen Hochbegabungsforschung und der Expertiseforschung

Die Expertiseforschung hingegen macht sozusagen „den Blick zurück“. Sie betrachtet Expertinnen und Experten, also Personen, die sich bereits durch Leistungsexzellenz auszeichnen. Untersucht wird dann zumeist retrospektiv, welche persönlichen Voraussetzungen und Entwicklungsbedingungen zur Leistungsexzellenz geführt haben und ihr zugrunde liegen. Oft geschieht dies durch den Vergleich von Expertinnen und Experten mit Neulingen oder Novizen auf einem bestimmten Gebiet (sog. „Experten-Novizen-Paradigma“). Dabei wird Lern- und Übungsaspekten eine zentrale Bedeutung zugeschrieben.

In den letzten Jahren ist nun eine zunehmende Integration beider Ansätze erkennbar. Sowohl beim differenziellen Ansatz der Hochbegabung als auch bei der Expertiseforschung geht es letztendlich um außergewöhnliche Leistungen und darum, wie sich diese entwickeln. Ein Blick auf die Forschungs|18|ergebnisse beider Ansätze zeigt, dass zum Verständnis der Entwicklung außergewöhnlicher Leistungen sowohl die Erkenntnisse des differenziellen Ansatzes als auch der Expertiseforschung berücksichtigt werden müssen (Preckel et al., 2018; Subotnik, Olszewski-Kubilius & Worrell, 2011). Zum einen hängt die Leistungsentwicklung vom Begabungsniveau ab, und zum anderen setzt sich Begabung nicht automatisch in außergewöhnliche Leistungen um, sondern benötigt für ihre Entwicklung Anregung, Anleitung und Übung.

1.2 Theorien und Modelle von Hochbegabung und außergewöhnlicher Leistung

Die historisch älteren Hochbegabungsmodelle lassen sich klar dem differenziellen Ansatz der Hochbegabungsforschung zuordnen, während jüngere Modelle eher eine Integration der Annahmen und Erkenntnisse des differenziellen Ansatzes und der kognitions- und lernpsychologisch ausgerichteten Expertiseforschung versuchen. Daher beginnen wir diesen Abschnitt mit einer kurzen Darstellung der Expertiseforschung, bevor wir dann verschiedene Hochbegabungsmodelle vorstellen.

1.2.1 Expertise

„Expertise“ bezieht sich auf eine besondere Leistungsfähigkeit in einem bestimmten Gebiet und meint damit ein besonders reichhaltiges bereichs- und aufgabenspezifisches Wissen sowie besondere bereichsspezifische Problemlösefertigkeit. Diese befähigen dann eine Person dazu, in ihrem Expertisebereich dauerhaft Überdurchschnittliches zu leisten.

Die Expertiseforschung erklärt den Fertigkeitserwerb und außergewöhnliche Leistungen in unterschiedlichen Inhaltsbereichen oder Domänen durch ähnliche Entwicklungsprozesse: Die Entwicklung von Expertise kann demnach als fortlaufender Prozess des Erwerbs und der Konsolidierung bereichsspezifischer Wissensstrukturen und Fertigkeiten verstanden werden. Lern- und Übungsprozessen wird dabei eine zentrale Rolle zugewiesen, während Begabungsunterschiede als vernachlässigbar angesehen werden.

Einige Modelle des Expertiseerwerbs postulieren eine Sequenz von Entwicklungsstufen und betonen dabei die Wichtigkeit eines angemessenen pädagogischen Kontexts. Der schwedische Psychologe K. Anders Ericsson und seine Kollegen (Ericsson, 1996; Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993) beschreiben folgende Stufensequenz:

|19|In der ersten (frühkindlichen) Phase erfolgt eine spielerische Einführung in den relevanten Inhaltsbereich.

Die zweite Phase ist durch eine systematische, durch Lehrkräfte angeleitete und geförderte Übungsphase charakterisiert. Hier geht es vor allem um eine mit zunehmendem Lebensalter immer intensivere und extensivere Instruktion durch wirklich gute Lehrkräfte oder Trainerinnen und Trainer.

In der dritten, meist im Jugendalter verorteten Phase, wird diese Instruktion und Anleitung weiter intensiviert. Die Förderung erfolgt durch Spitzentrainerinnen und -trainer bzw. hochqualifizierte Lehrkräfte, was dann schließlich zur außergewöhnlichen Leistung führen kann.

Nach Ericsson und Kollegen ist es im Wesentlichen die anstrengungsorientierte und zielgeleitete Übung, die sogenannte deliberate practice, die den Entwicklungsfortschritt und außergewöhnliche Leistungen determiniert. Deliberate practice ist nicht nur einfaches Üben oder Wiederholen, sondern eine hoch organisierte Lernaktivität, bei der es stets um die Verbesserung der eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten geht. Dabei ist die Qualität der Instruktion und der pädagogischen Unterstützung durch Lehrkräfte entscheidend. Zum einen muss im Prozess des Expertiseerwerbs das Lernen sinnvoll strukturiert werden, zum anderen muss die Motivation des Lernenden aufrechterhalten werden. Deliberate practice ist anstrengend und kann durchaus frustrierend sein, da man ja ständig mit dem zu tun hat, was man noch nicht kann. Aufgrund der langen Zeitspanne, innerhalb derer die Übungspraxis erfolgt, ist eine gute Beziehung und intensive Kooperation zwischen Lernendem und Lehrendem unabdingbar. Die Instruktion und Förderung kann sich also nicht nur auf den eigentlichen Expertisebereich konzentrieren, sondern muss die oder den Lernenden als ganze Person in den Blick nehmen. Zudem müssen Lernumwelt und Lernprozess zueinander passen. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt sich beispielsweise für viele Kinder, die Spitzensport betreiben wollen, ab einem gewissen Alter die Frage, ob es für sie sinnvoll ist, auf ein spezielles Sportinternat zu wechseln.

Der amerikanische Psychologe Benjamin Bloom (1985) untersuchte die Entwicklung von Expertise in unterschiedlichen Bereichen wie Kunst, Musik, Wissenschaft oder Sport. Für alle Bereiche fanden sich extrem lange Lernzeiten bei den Expertinnen und Experten. Nach etwa zehn Jahren intensiven Trainings erreichten sie ihren Leistungshöhepunkt. Die inzwischen vielzitierte „10 000-Stunden-Regel“ besagt entsprechend, dass Menschen, die Expertise erreicht haben, zuvor mindestens 10 000 Stunden im jeweiligen Bereich geübt haben. Geht man einmal davon aus, dass ein Mensch pro Tag zwischen zweieinhalb und drei Stunden in diese Übung investiert, so ergibt sich daraus der Zeitraum von rund zehn Jahren; daher wird diese Regel manchmal auch als 10-Jahres-Regel bezeichnet. Aktuelle |20|Befunde und Überblicksarbeiten zeigen jedoch, dass diese Regel keine geeignete Heuristik zur Erklärung besonderer Leistung ist. Über die reine Menge des Übens können Leistungsunterschiede zwischen Personen nicht oder nur wenig erklärt werden (Hambrick, Macnamara, Campitelli, Ullén & Mosing, 2016; Macnamara, Hambrick & Oswald, 2014; Macnamara, Moreau & Hambrick, 2016). Es gibt Expertinnen und Experten, die deutlich weniger als 10 000 Stunden geübt haben, und Personen, die deutlich mehr als 10 000 Stunden geübt haben und keine Expertise erreicht haben. Das bedeutet, dass neben der Übungsmenge weitere wichtige Faktoren beim Expertiseerwerb eine Rolle spielen:

Zum einen sind das die Qualität der Übung und damit auch die Qualität der erhaltenen Instruktion.

Weiterhin sind Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten von Personen bedeutsam. Je höher die Fähigkeiten, desto schneller wird gelernt und umso größer ist damit die Geschwindigkeit, mit der Fortschritte erzielt werden. Damit haben intellektuell hochbegabte Kinder ein besonderes Potenzial zum Erwerb von Expertise. Dies lässt sich gut mit dem sogenannten Matthäus-Effekt verdeutlichen. Der Matthäus-Effekt (abgeleitet aus einem Vers des Matthäusevangeliums: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“) besagt, dass jemand mit einer gut ausgeprägten Intelligenz und damit Lernfähigkeit bei entsprechender Förderung schnellere und größere Fortschritte im Wissenserwerb macht als jemand mit weniger guten kognitiven Lernvoraussetzungen. Diese Vorteile kumulieren über die Zeit: Intelligenz hilft beim Wissenserwerb, und je mehr und besser strukturiertes Vorwissen vorhanden ist, desto leichter erfolgt das weitere Lernen (etc.). Zudem scheinen die kognitiven Fähigkeiten einer Person auch den Rahmen der Entwicklungsmöglichkeiten mit abzustecken, also die maximale Leistungsfähigkeit mit zu bestimmen.

Wichtig ist zudem die Persönlichkeit.Ericsson und Kollegen (1993) gehen davon aus, dass manche Eigenschaften besonders dazu befähigen, in die eigene Entwicklung so zu investieren, dass Expertise erreicht wird. Persönlichkeitsmerkmale begünstigen demnach die Eignung zu deliberate practice, die wiederum zu Expertise führt. Es gibt aber auch Belege dafür, dass Persönlichkeit Leistung direkt beeinflusst (und nicht nur indirekt, über Übung vermittelt). Folgende Persönlichkeitsmerkmale sind für die Leistungsentwicklung besonders relevant: das Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, Durchhaltevermögen und Gewissenhaftigkeit, leistungsbezogene Ziele und Werte (z. B. ein hohes eigenes Anspruchsniveau und die Wertschätzung hoher Leistung), gute Selbstregulation und eine hohe Leistungsmotivation (Ziegler, 2004).

Relevant erscheint auch das Startalter, also das Alter, in dem man mit dem Expertiseerwerb beginnt. Unterschiedliche Leistungsdomänen |21|haben unterschiedliche Zeitfenster: So entwickeln sich z. B. mathematische Fähigkeiten bereits im Vorschulalter, relevante Fähigkeiten für psychologische Expertise erst im Jugend- und jungen Erwachsenenalter und damit deutlich später (Subotnik et al., 2011). Je nach Domäne unterscheidet sich damit das Startalter. Es wäre aber vereinfacht zu sagen, dass immer ein „je früher, desto besser“ gilt (z. B. Macnamara et al., 2016). Die Befundlage ist hier nicht eindeutig. Aber möglicherweise gibt es so etwas wie kritische Zeitfenster, in denen die Aneignung einiger komplexer Fertigkeiten am besten gelingt. Werden diese verpasst, ist eine positive Leistungsentwicklung erschwert.

Interessant ist zudem, über mögliche genetische Einflussfaktoren nachzudenken. Einige verhaltensgenetische Studien fanden z. B., dass der Erfolg von Übung selbst, also die Beziehung zwischen Übungsmenge und Leistungsfortschritt, zum Teil genetisch aufklärbar war (Mosing, Madison, Pedersen, Kuja-Halkola & Ullén, 2014).

Und schließlich ist nicht zu vergessen, dass ein Kind oder eine Person überhaupt erst einmal die Gelegenheit dazu erhalten muss, sich mit einer Domäne zu beschäftigen. Hier spielen die Umwelt mit den dortigen Möglichkeiten und das Elternhaus eine entscheidende Rolle.

Der besondere Beitrag der Expertiseforschung zu der Frage, welche Faktoren außergewöhnliche Leistungen bestimmen, liegt in der Betonung von systematischer Instruktion durch gute Lehrkräfte sowie von Übung und Training. Zudem betont der Expertiseansatz die Bedeutung von Spezialisierung für die Leistungsentwicklung, denn Expertise wird in einer bestimmten Domäne und nicht generell erworben. Niemand würde bezweifeln, dass Spitzenleistungen in Sport oder Musik eine Konzentration auf bestimmte Sportarten oder Instrumente erfordern; dasselbe gilt für intellektuelle Spitzenleistungen.

1.2.2 Hochbegabungsmodelle

Es gibt zahlreiche und zum Teil auch recht unterschiedliche Hochbegabungsmodelle. Dies liegt daran, dass Hochbegabung ein komplexes Phänomen ist, welches eine Vielzahl von Zugängen zulässt und auch erfordert. Hochbegabung ist, wie alle psychologischen Variablen, ein Konstrukt, also ein theoretischer Begriff, und damit nicht direkt beobachtbar. Vielmehr muss eine Hochbegabung aus Beobachtungen wie dem Verhalten einer Person in bestimmten Situationen erschlossen werden. In der Regel betrachtet man hier Leistungssituationen, also solche Situationen, in denen Kriterien für erfolgreiches Handeln definiert werden können. Es gibt eine Vielzahl an möglichen Leistungssituationen, und es kann nicht abschlie|22|ßend festgelegt werden, welche davon für intellektuelle Hochbegabung relevant sind und welche nicht. Daher ist intellektuelle Hochbegabung ein offenes Konstrukt, das ständig weiterentwickelt wird. Doch trotz der Vielfalt vorhandener Definitionen und Modelle lassen sich die meisten in das in Abbildung 2 gezeigte Raster einordnen.

Abbildung 2: Raster zur Klassifikation von Hochbegabungsdefinitionen (nach Preckel, Stumpf & Schneider, 2012)

Ergänzen könnte man bei der Abbildung soziale Definitionen oder Etikettierungsansätze von Hochbegabung: Hiernach gilt eine Person als hochbegabt, wenn sie über Fähigkeiten verfügt, die von der Gesellschaft oder von bestimmten Personen (z. B. Expertinnen oder Experten) als wertvoll bewertet werden. Hochbegabung ist hiernach also das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses.

Weiterhin könnte man bei der Abbildung die Unterscheidung zwischen eher statischen und dynamischen Hochbegabungsdefinitionen ergänzen. Damit ist gemeint, ob Hochbegabung als eher angeboren und stabil verstanden wird oder ob man davon ausgeht, dass sich ein besonderes leistungsbezogenes Potenzial im Laufe der Zeit entwickelt oder verändert.

1.2.3 Performanzdefinitionen versus Kompetenzdefinitionen

Performanzdefinitionen definieren Hochbegabung über bereits erbrachte außergewöhnliche Leistung. Daher werden sie manchmal auch als „Post-hoc“-Definitionen bezeichnet. Personen, bei denen ein hohes Potenzial ver|23|mutet wird, was sich jedoch noch nicht in Leistung manifestiert, werden nach Performanzdefinitionen nicht als hochbegabt bezeichnet. Kompetenzdefinitionen hingegen definieren Hochbegabung als hohes Potenzial zu Leistung, setzen dieses aber nicht mit Leistung gleich. Nach diesen Definitionen werden alle Personen als hochbegabt bezeichnet, die ein hohes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial aufweisen – unabhängig davon, ob sie dieses in entsprechenden Leistungen zeigen oder nicht. Abbildung 3 verdeutlicht den Unterschied zwischen beiden Definitionsklassen.

Abbildung 3: Grundidee von Kompetenz- und Performanzdefinitionen von Hochbegabung (nach Holling & Kanning, 1999, S. 6 f.)

In Abbildung 3 werden für beide Definitionsklassen Anlagefaktoren mit Umweltfaktoren und weiteren Persönlichkeitsmerkmalen kombiniert. Unabhängig davon, ob man Hochbegabung als beobachtbare Leistung oder als Potenzial für Leistung definiert, ist diese Kombination nötig. Denn Anlagefaktoren setzen sich nicht von allein durch, sie entwickeln sich nicht im „luftleeren Raum“, sondern immer in einer komplexen Interaktion mit vielen anderen Faktoren. Darauf werden wir bei den multidimensionalen Modellen nochmals zu sprechen kommen.

Interessanterweise sind aktuell für Kinder und Jugendliche Kompetenzdefinitionen weitgehend akzeptiert, während für Erwachsene Performanzdefinitionen dominieren. Beispielsweise gibt es kaum ein Begabtenförderprogramm für Studierende, das Personen ohne sehr gute Leistungen aufnähme, wohingegen bei Schülerinnen und Schülern die Aufnahme in besondere Begabtenklassen zum Teil auch ohne exzellente Schulleistungen erfolgt, z. B., wenn ein Schüler einen hohen Intelligenztestwert erreicht hat. Woher kommt diese altersabhängige Verschiebung von Hoch|24|begabungsdefinitionen? Theoretisch ist sie nicht unbedingt zwingend, wenn man z. B. an das Konzept des lebenslangen Lernens denkt. Auch gibt es durchaus Personen, deren Begabung und Fähigkeiten sich erst relativ spät zeigen. Beispiele für solche sogenannten „late bloomers“ sind der Komponist Anton Bruckner, der Schriftsteller Charles Bukowski oder die Malerin Grandma Moses. Bruckner beispielsweise verfasste seine erste Komposition erst mit Ende dreißig, Bukowski veröffentlichte seine erste Novelle im Alter von fast 50 Jahren, und Grandma Moses begann erst in ihrem siebten Lebensjahrzehnt zu malen. Doch solche Fälle sind insgesamt eher selten.

Kompetenzdefinitionen implizieren, dass sich bei entsprechend günstigen Personen- und Umweltbedingungen das Potenzial auch in Leistung umsetzen wird. Günstige Umweltbedingungen sind z. B. passende Förderangebote. Es stellt sich die Frage, ob solche Förderangebote ab einem bestimmten Entwicklungsstand keine (oder nur eine geringe) Förderwirkung entfalten können. Möglicherweise gibt es bestimmte, aufeinander aufbauende Abschnitte in der Leistungsentwicklung, die mit dem Lebensalter zusammenhängen, oder so etwas wie kritische Zeitfenster für die Entwicklung bestimmter komplexer Fertigkeiten. Ein weiterer Punkt ist, dass die Gesellschaft eine soziale Verantwortung für die Ausbildung und Förderung jüngerer Menschen trägt. Im Erwachsenenalter liegt dann die Verantwortung bei der Person selbst. Diese verschiedenen Punkte erklären teilweise, aber eben auch nicht vollständig, warum bei jüngeren Menschen Kompetenzdefinitionen und bei Erwachsenen Performanzdefinitionen dominieren.

1.2.4 Eindimensionale Definitionen

Eindimensionale Definitionen gehören historisch zu den ältesten Hochbegabungsdefinitionen. Wie bereits in Abschnitt 1.1 dargestellt, setzte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts Sir Francis Galton hohe Begabung mit hoher Intelligenz gleich. Diese sogenannte Intelligenz- oder IQ-Definition findet sich auch heute noch in Forschung und Praxis zur Identifikation und Förderung intellektuell Hochbegabter. Oft wird hier ein bestimmter Grenzwert eingesetzt (z. B. IQ ≥ 130 bzw. Prozentrang ≥ 98), ab dem von intellektueller Hochbegabung gesprochen wird. Daher wird diese Definition auch als psychometrische Definition bezeichnet. Häufig wird Intelligenz dabei mit Spearmans Generalfaktor der Intelligenz, dem sogenannten g-Faktor, gleichgesetzt. Manchmal werden aber auch verschiedene Dimensionen der Intelligenz differenziert (z. B. verbale oder mathematische Intelligenz), sodass unterschiedliche Typen intellektuell Hochbegabter gebildet |25|werden können (z. B. allgemein Hochbegabte, mathematisch Hochbegabte). Werden spezifische Intelligenzbereiche herangezogen, spricht man vereinzelt auch von Talentdefinitionen.

Eindimensionale Definitionen sind dem differenziellen Ansatz der Hochbegabungsforschung zuzuordnen (vgl. Abb. 1). Sie können sowohl als Kompetenzdefinition als auch als Performanzdefinition formuliert werden. Werden beispielsweise Testpersonen mit einem Prozentrang von 98 in einem Test numerischer Intelligenz als mathematisch hochbegabt angesehen, ist dieses eine Kompetenzdefinition. Werden hingegen die Siegerinnen und Sieger der Internationalen Mathematikolympiade als mathematisch hochbegabt angesehen, liegt eine Performanzdefinition vor.

Eindimensionale Definitionen von Hochbegabung werden jedoch durchaus kritisiert. Wie bereits anfangs erwähnt, kann Hochbegabung für unterschiedliche Aktionsfelder konstatiert werden – nicht nur für den intellektuellen Bereich. Aus bildungspolitischer Sicht besteht bei einer Eingrenzung des Hochbegabungsbegriffs durch das Intelligenzkriterium auf den intellektuellen Bereich die Gefahr, vorhandene Potenziale in anderen Bereichen zu übersehen. Die bereits zu Anfang dieses Kapitels erwähnte Definition aus dem „Marland-Report“ (die sogenannte „Marland-Definition“) listet entsprechend sechs Begabungsbereiche auf. Doch auch wenn man sich allein den Bereich intellektueller Hochbegabung ansieht, sind eindimensionale Modelle kritisierbar. Intelligenz ist zwar einer der besten Prädiktoren für Schul- und Berufserfolg (vgl. Kap. 4), dennoch erlauben Intelligenztests nur mäßige Prognosen über Leistungsexzellenz. Denn Leistung oder Leistungsexzellenz basiert nie nur auf einer Ursache, sondern sie ist immer multifaktoriell bedingt. Damit liegt es nahe, Hochbegabung als extrem hohes leistungsbezogenes Entwicklungspotenzial ebenfalls multidimensional zu konzipieren.

1.2.5 Mehrdimensionale Definitionen und Modelle

Mehrdimensionale Definitionen von Hochbegabung führen neben der Intelligenz weitere Begabungsfaktoren wie Kreativität oder Musikalität auf. Damit tragen diese Modelle der Tatsache Rechnung, dass Begabungen in unterschiedlichen Bereichen liegen können und entsprechend außergewöhnliche Leistungen in verschiedenen Feldern erbracht werden können (z. B. Kunst, Technologie, Wirtschaft). Mehrdimensionale Hochbegabungsmodelle postulieren zudem, dass Leistungsexzellenz auf individuell sehr unterschiedlichen Ursachenbündeln beruhen kann. Auch versuchen einige der Modelle, den Prozess der Leistungsentwicklung, der in eindimensionalen Modellen zumeist nicht thematisiert wird, umfassender abzubilden. |26|Sie benennen unterschiedliche Einflussfaktoren, welche die Umsetzung von Begabung in Leistung beeinflussen. Hierunter fallen Persönlichkeits- und Umweltmerkmale (z. B. Leistungsmotivation, Lernumwelt) oder auch Übungsprozesse. Im Folgenden beschreiben wir exemplarisch einige dieser Modelle.

Renzullis Drei-Ringe-Modell

Ein erstes mehrdimensionales Hochbegabungsmodell entwickelte der Amerikaner Joseph Renzulli Ende der 1970er Jahre (Renzulli, 1978; vgl. Abb. 4). In diesem Modell ergibt sich Hochbegabung als Schnittmenge dreier Personenmerkmale: überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten, Aufgabenverpflichtung (i. S. v. Leistungsmotivation, Ausdauer, selbstregulativen Fähigkeiten) und Kreativität als originelles, produktives, flexibles und individuell-selbstständiges Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung.

Abbildung 4: Drei-Ringe-Modell der Begabung von Renzulli (1978)

Obwohl die Konstrukte im Modell eher dem differenziellen Ansatz der Hochbegabungsforschung zuzuordnen sind, entwickelte Renzulli dieses Modell mit der Intention, eine stärker entwicklungsorientierte Position abzubilden. Nach Renzulli wird eine Person nicht hochbegabt geboren, sondern sie entwickelt hochbegabtes Verhalten, wenn es zu einer gelungenen Verbindung der drei oben genannten Personenmerkmale kommt. Für das Erkennen Hochbegabter folgt daraus, dass bei einer Diagnostik |27|alle drei Bereiche beachtet werden sollten. Intelligenztests alleine reichen demnach nicht aus. Es stellt sich jedoch die Frage, ob tatsächlich alle drei Bereiche überdurchschnittlich ausgeprägt sein müssen. Für Renzulli beispielsweise ist Kreativität ein wichtiger Faktor. Er unterscheidet zwischen „schoolhouse giftedness“ und „creative-productive giftedness“. „Schoolhouse gifted“ sind demnach Personen mit überdurchschnittlicher Fähigkeit und Motivation, während „creative-productive gifted“-Personen zudem noch kreativ sind. Erstere reproduzieren vor allem Wissen, Letztere schaffen neues Wissen. Damit führt Renzulli indirekt eine Wertung verschiedener Hochbegabungsformen ein, die ethisch fragwürdig und auch empirisch nicht bestätigt ist (zum Zusammenhang von Intelligenz und Kreativität kommen wir später in Abschnitt 1.4.3). Weiterhin ist es so, dass die Anzahl möglicher Hochbegabter kontinuierlich abnimmt, je mehr Merkmale zu notwendigen Bedingungen ernannt werden – die Wahrscheinlichkeit, dass zwei oder drei Merkmale auf eine Person zutreffen, ist geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass nur ein Merkmal zutrifft. Dies war sicherlich nicht in Renzullis Sinn, denn er entwickelte sein Modell vorwiegend mit dem Ziel, möglichst viele Begabte zu erkennen und Begabung im Sinne kreativer Produktivität zu fördern (z. B. Renzulli & Reis, 2018). Mit der Aufnahme motivationaler und kreativer Variablen erweiterte Renzulli das Spektrum möglicher Ansatzpunkte für Interventionen deutlich, und sein Modell wird auch heute noch oft in der Praxis angewandt. Das Modell ist in der Praxis sehr beliebt, vermutlich auch aufgrund seiner (vordergründigen) Einfachheit. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es aber einige wesentliche Kritikpunkte:

Die Rolle der Kreativität bleibt unklar und umstritten, genauso wie eine Unterscheidung in „schoolhouse giftedness“ und „creative-productive giftedness“.

Die empirische Prüfbarkeit des Modells ist dadurch erschwert, dass die spezifischen Wirkmechanismen oder Wechselwirkungen im Modell offenbleiben. Können sich die Bereiche gegenseitig ausgleichen? Ist z. B. eine geringere Kreativität durch eine hohe Aufgabenverpflichtung kompensierbar? Gibt es Mindestausprägungen für die Personenmerkmale? Solche Fragen bleiben bislang unbeantwortet.

Wenn tatsächlich alle drei Bereiche überdurchschnittlich ausgeprägt sein müssen, fallen viele Personen durch das Raster (z. B. hochkreative und fähige, aber nicht einer Aufgabe verpflichtete Personen).

Umweltfaktoren werden vernachlässigt. Daher ergänzten Mönks und Mason (1993) Renzullis Modell um die Umweltfaktoren Familie, Schule und Peers und betonen, dass sich die drei Personenmerkmale nur in einer günstigen Lernumwelt positiv entwickeln können. Ihr Modell bezeichnen sie als Triadisches Interdependenzmodell der Hochbegabung.

|28|Differenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagné

Der Kanadier Francois Gagné (1993) kritisierte an Renzullis Modell, dass in diesem nicht zwischen Potenzial und Performanz bzw. zwischen Begabung und Leistung differenziert würde. In seinem Differenzierten Begabungs- und Talentmodell (vgl. Abb. 5) unterscheidet er daher zwischen natürlichen Fähigkeiten oder Begabungen und entwickelten Fähigkeiten oder Talenten und Kompetenzen (Gagné, 2015).

Unter Begabungen versteht er noch nicht entwickelte Fähigkeiten, die in ganz unterschiedlichen Bereichen liegen können. Begabungen sind nach Gagné genetisch angelegt, aber nicht angeboren. Sie entwickeln sich vor allem in der Kindheit durch Reifungsprozesse und informelles Üben sowie abhängig davon, wie viel Stimulation und Förderung ein Kind erhält; die Grenzen der möglichen Entwicklung sieht Gagné dabei durch die genetische Ausstattung der Person gesteckt (Gagné, 2015). Zu den Hochbegabten zählt Gagné solche Personen, deren natürliche Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich zu den oberen 10 % der eigenen Altersgruppe gehören.

Unter Talent fasst Gagné das, was wir mit Leistung bezeichnen würden, also systematisch entwickelte Fähigkeiten, die Personen zu Expertinnen oder Experten auf einem bestimmten Gebiet machen. Entsprechend der Vielfalt der Begabungen sind die Gebiete divers, in welchen sich das Talent manifestieren kann. So heißt das Modell auch Differenziertes Begabungs- und Talentmodell. Zu den besonders Talentierten gehören wiederum die oberen 10 % in einem bestimmten Leistungsbereich.

Anders als bei Renzulli ist in Gagnés Modell Kreativität ein eigener Begabungsbereich. Auch ist nicht jede Talententwicklung auf Kreativität angewiesen. Neben intellektuell-kognitiver Fähigkeit und Kreativität führt Gagné weitere Begabungsbereiche wie soziale Begabung oder besondere Wahrnehmungsfähigkeit auf (z. B. hohe sensorische Diskriminationsfähigkeit für Gerüche). Sein Modell ist hier aber explizit offen für Erweiterungen.

Gagné skizziert in seinem Modell auch den Prozess der Talent- oder Leistungsentwicklung: Talent oder Leistung entsteht dadurch, dass eine Person ihre Begabung in ein bestimmtes Aktionsfeld investiert, hier also durch systematisches Lernen, Üben und Trainieren Kenntnisse und Fertigkeiten aufbaut. Dieser Entwicklungsprozess kann inhaltlich über die Aktivitäten beschrieben werden (Wann besteht zu welchen Inhalten Zugang? Werden diese selbst erarbeitet oder vorstrukturiert vermittelt? etc.). Weiterhin ist wichtig, wie viel Zeit, Energie und Ressourcen in die Talententwicklung investiert werden (Wie oft und mit welcher Qualität wird

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Abbildung 5: Differenziertes Begabungs- und Talentmodell (DMGT 2.0) nach Gagné (2009; Übersetzung durch die Autorinnen; vgl. auch Vock & Jurczok, 2019)

|30|geübt? etc.). Und schließlich kann der Entwicklungsprozess auch qualitativ beschrieben werden (Auf welcher Stufe befindet sich eine Person? Wie schnell ist sie dorthin gekommen? etc.).

Damit Talententwicklung gelingt, müssen bestimmte unterstützende Faktoren vorhanden sein. Gagné nennt diese Katalysatoren und unterscheidet zwischen intrapersonalen Katalysatoren, die in der Person selbst liegen, und Umwelt-Katalysatoren, die in der Umwelt der Person liegen. In Abbildung 5 sind exemplarisch einige Katalysatoren aufgeführt. Gagné merkt aber selbst an, dass diese Auswahl nicht erschöpfend ist und sich auch innerhalb der Gruppe der Hochbegabten unterscheiden kann. Die grafische Platzierung der intrapersonalen Katalysatoren vor den Umwelt-Katalysatoren soll darauf hinweisen, dass Umweltmerkmale die Talententwicklung oft nicht direkt beeinflussen, sondern indirekt darüber, wie eine Person sie erlebt und bewertet.

Gagnés Modell ist nicht additiv wie Renzullis Modell, sondern interaktiv. D. h., jede Variable im Modell kann alle anderen beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden. Gagnés Modell ist zudem eindeutig den Kompetenzdefinitionen zuzuordnen, was bei Renzulli nicht so klar möglich ist (Holling & Kanning, 1999). Gagnés multidimensionales Modell führt zwar unterschiedliche Leistungsbereiche auf, der Begabungsbegriff bleibt jedoch auf natürliche Fähigkeiten beschränkt. Weitere motivationale und Persönlichkeitsmerkmale sind nach Gagné zwar notwendige Voraussetzung der Leistungsentwicklung (intrapersonale Katalysatoren), jedoch keine konstituierenden Merkmale von Begabung. Dies entspricht dem differenziellen Ansatz der Hochbegabungsforschung. Dennoch integriert Gagné in seinem Modell Annahmen der Expertiseforschung: Die Entwicklung von Begabungen zu Talenten erfordert Investition, systematisches Lernen und Übung und wird als dynamischer Prozess gesehen, bei dem Lernen und Instruktion eine zentrale Rolle spielen. Gagné (2004) geht dabei von folgender Bedeutung der verschiedenen Modellkomponenten für die Talententwicklung aus: An erster Stelle platziert er Begabungen, gefolgt von intrapersonalen Katalysatoren und hier insbesondere der Motivation (Werte, Bedürfnisse, Interessen) und der Volition (Selbstregulation, Einsatz, Durchhaltevermögen) und wiederum gefolgt von spezifischen Komponenten des Talententwicklungsprozesses wie der Investition von Zeit, Energie und Ressourcen. Umweltkatalysatoren schreibt er relativ zu den anderen Modellkomponenten die geringste Bedeutung zu. Damit kann das Differenzierte Begabungs- und Talentmodell von Gagné als integratives Modell eingeordnet werden, in dem sowohl Annahmen und Erkenntnisse des differenziellen Ansatzes als auch der Expertiseforschung berücksichtigt werden.

|31|Münchner Hochbegabungsmodell

Große Ähnlichkeit zu Gagnés Modell hat das Münchner Hochbegabungsmodell von Heller, Perleth und Hany (1994; vgl. Abb. 6). Statt „Talent“ wird hier der Begriff „Leistung“ verwendet, die „intrapersonalen Katalysatoren“ werden als „nicht kognitive Persönlichkeitsmerkmale“, die „Umwelt-Katalysatoren“ als „Umweltmerkmale“ beschrieben.

Abbildung 6: Münchner Hochbegabungsmodell (Heller & Perleth, 2007c)

Im Modell werden sieben Begabungsbereiche unterschieden, die jeweils noch weiter ausdifferenziert werden. So umfassen z. B. intellektuelle Fähigkeiten neben der allgemeinen Intelligenz spezifischere sprachliche, mathematische oder technische Fähigkeiten. Wie in Gagnés Modell wird Begabung als Prädiktor für die Leistungsentwicklung gesehen, wobei die Umsetzung in Leistung wiederum durch personenbezogene und Umweltmerkmale moderiert wird. Zu den personenbezogenen Moderatoren gehören z. B. motivationale Variablen wie die Leistungsmotivation und Interessen oder selbstregulative Fertigkeiten wie Stressbewältigungskompetenz. Unter die umweltbezogenen Moderatoren fallen Familienmerkmale wie Bildungsniveau und Erziehungsstil der Eltern, Schulmerkmale wie die |32|Unterrichtsqualität oder das Klassenklima, aber auch kritische Lebensereignisse wie etwa Krankheit oder Verlust naher Angehöriger. Die im Modell genannten Leistungsbereiche umfassen sehr unterschiedliche Leistungen im akademischen, technischen, musischen, sozialen oder sportlichen Bereich.

Auch das Münchner Modell ist explizit für Erweiterungen offen. Anders als im Modell von Gagné werden im Münchner Modell keine Grenzwerte für Hochbegabung angesetzt, sondern kontinuierliche Übergänge zwischen guter, sehr guter und hoher Begabung angenommen (Heller & Perleth, 2007c). Beide Modelle liefern Ansatzpunkte für Interventionen und verdeutlichen, dass im Hinblick auf die Leistungsentwicklung immer Ursachenbündel und deren Interaktionen berücksichtigt werden müssen. Dabei wird in Gagnés Modell stärker auf genetische Grundlagen eingegangen, der Prozess der Leistungsentwicklung genauer ausgearbeitet, und es werden Gewichtungen der Bedeutung der verschiedenen Modellkomponenten für die Leistungsentwicklung vorgenommen. Aus wissenschaftlicher Sicht problematisch an beiden Modellen sind folgende Punkte:

Die spezifische Wirkung der Modellkomponenten und ihre funktionalen Beziehungen untereinander bleiben oft unklar.

Aufgrund dieser Unklarheit und auch aufgrund ihrer Komplexität sind die Modelle empirisch nicht prüfbar.

Weiterhin wird kritisiert, dass diese Modelle (ebenso wie eindimensionale Modelle) zu stark auf das Individuum zentriert seien und systemische Wirkmechanismen, d. h. Einflüsse und Wirkungen anderer Personen bzw. von Situationen, vernachlässigten.

1.2.6 Systemtheoretische Modelle

Ähnlich wie multidimensionale Hochbegabungsmodelle gehen auch systemtheoretische Modelle davon aus, dass eine Person nur außergewöhnliche Leistungen erbringen kann, wenn viele Variablen in gelungener Weise zusammenspielen. Systemtheoretiker kritisieren jedoch explizit die Fokussierung auf die hochbegabte Person bzw. ihre (vermeintlich statische) Begabung und fordern, systemische und dynamische Zusammenhänge stärker zu berücksichtigen.

Der deutsche Psychologe Albert Ziegler (2005) stellt in seinem system- und handlungstheoretischen Aktiotop-Modell der Hochbegabung die Erweiterung des Handlungsrepertoires einer Person in den Vordergrund (vgl. Abb. 7). Das Modell ist ein systemischer Ansatz zur Beschreibung von Lernprozessen bis hin zur Leistungsexzellenz. Die theoretischen Grundlagen |33|des Modells kommen primär aus der kognitiven Lernpsychologie, der Expertiseforschung und der Systemtheorie. Im Mittelpunkt des Modells stehen exzellente Lernhandlungen und nicht Persönlichkeitsmerkmale oder Begabungen. Ähnlich wie beim Expertiseansatz sind beim Aktiotop-Modell die Quantität und Qualität der Lernprozesse die entscheidenden Variablen der Leistungsentwicklung.

Das Modell baut auf dem Prinzip des kumulativen Lernens auf. Ein neuer Lernschritt ist nur möglich, wenn die vorhergehende Lernstufe erreicht wurde. Sobald ein Weg identifiziert ist, wie eine Person von ihrem Ist-Stand möglicherweise zu Leistungsexzellenz kommen kann, wird sie von Ziegler als talentiert bezeichnet. Wird sie Leistungsexzellenz wahrscheinlich erreichen, wird sie als hochbegabt bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Leistungsexzellenz hängt nun im Aktiotop-Modell nicht allein von der Person, sondern von vielen Faktoren ab. Hier betont Ziegler folgende Elemente, die als System miteinander interagieren:

das Handlungsrepertoire einer Person: hierzu gehören sämtliche Handlungen, die eine Person zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt durchführen kann,

der subjektive Handlungsraum einer Person: dieser umfasst die durch die Person wahrgenommenen potenziellen Handlungsmöglichkeiten zur Zielerreichung in der jeweiligen Umwelt sowie Lernziele im Sinne von Zielen für den nächsten Lernschritt (bei der Entwicklung von Leistungsexzellenz müssen die Lernziele darauf ausgerichtet sein, das eigene Handlungsrepertoire in einem bestimmten Bereich weiterzuentwickeln),

die Umwelt mit ihren Lerngelegenheiten, Materialien, Mentorinnen und Mentoren (etc.).

Leistungsentwicklung gelingt nach dem Aktiotop-Modell bei einer gelungenen gemeinsamen Entwicklung der Komponenten: Ändert sich das Handlungsrepertoire, so muss dieses auch im subjektiven Handlungsraum der Person repräsentiert werden, damit sie daraufhin ihre Ziele anpasst und ggf. die Umwelt entsprechend gestaltet oder wechselt. Erwirbt z. B. eine Schülerin neue Kompetenzen in Mathematik, so wird sie sich daraufhin nur dann höhere Leistungsziele setzen und sich z. B. für eine Mathe-AG anmelden, wenn sie auch an den Kompetenzerwerb glaubt, sich also selbst für fähiger als vorher hält. Leistungsentwicklung bedeutet damit eine stete Weiterentwicklung und Veränderung der Komponenten (sog. Koevolution). Aus systemischer Sicht erfordert eine nachhaltige Förderung der Leistungsentwicklung daher neben der Förderung von Wissen und Fertigkeiten auch eine entsprechende Förderung der Persönlichkeit (Selbstbild eigener Fähigkeiten, Ziele) und eine Anpassung der Umwelt.

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Abbildung 7: Komponenten eines Aktiotops (nach Ziegler, 2007)

Der Vorteil der systemtheoretischen Ansätze ist, dass sie einen dynamischen Blick auf die Leistungsentwicklung anbieten und betonen, dass Förderung nur dann gelingt, wenn alle Systemkomponenten berücksichtigt werden. Der systemische Blick zeigt zudem, dass es viele Punkte gibt, an denen man ansetzen kann, um die Leistungsentwicklung zu unterstützen. Doch treffen aus wissenschaftlicher Sicht auch für systemtheoretische Ansätze wie das Aktiotop-Modell viele der Kritikpunkte zu, die zuvor bei den multidimensionalen Modellen genannt wurden (z. B. Komplexität und damit Schwierigkeit der empirischen Prüfung).

1.2.7 Megamodel

Das Megamodel wurde 2011 von den amerikanischen Psychologinnen und Psychologen Rena Subotnik, Paula Olszewski-Kubilius und Frank Worrell eingeführt (Subotnik et al., 2011). Das Modell ist das Ergebnis eines Literaturreviews der psychologischen Fachliteratur zum Thema Talentförderung, Begabung, Eminenz und Hochleistung im Allgemeinen und in verschiedenen Domänen (vgl. Subotnik, Olszewski-Kubilius & Worrell, 2019). Aus der Analyse der Literatur resultierte ein Modell (vgl. Abb. 8) mit den folgenden Hauptschlussfolgerungen und Empfehlungen für die Praxis.

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Abbildung 8: Das Megamodel der Talententwicklung nach Subotnik et al. (2011)