UTB 3027
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Prof. Dr. Franzis Preckel lehrt an der Universität Trier und leitet die Abteilung für Hochbegabtenforschung
und -förderung.
Dipl.-Psych. Matthias Brüll ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in dieser Abteilung.
Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages: Ulrike Auras, München
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
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UTB-ISBN 978-3-8252-3027-2 (Print), 978-3-8385-3027-7 (E-Book) ISBN 978-3-497-2027-0
ISBN 978-3-838-53027-7 (E-Book)
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Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Druck: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-8252-3027-2 (UTB-Bestellnummer)
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Inhaltsverzeichnis
TitelImpressumEinleitung1 - Intelligenz – Theorien sowie differential- und entwicklungspsychologische Aspekte2 - Psychometrische Tests – Messmethodische Grundlagen, Gütekriterien und Auswertungsaspekte3 - Intelligenztests – Geschichte, Anwendungsmöglichkeiten und Korrelate4 - Aktuelle Testverfahren5 - Ein AnwendungsbeispielAnhangSachregister
Einleitung
Für viele Lebensbereiche, insbesondere für Ausbildung und Beruf, gilt Intelligenz
als Schlüsselmerkmal für Erfolg. Entsprechend lebendig ist die Forschung zu diesem
Thema (Intelligenz ist das in der Psychologie am besten untersuchte Persönlichkeitsmerkmal!).
Und auch das öffentliche Interesse ist groß. Man denke hier beispielsweise an die
Einschaltquoten zu Fernsehsendungen, in denen sogenannte IQ-Tests durchgeführt werden.
Docherhält manhierbei wirklich einen ernstzunehmenden Messwert der Intelligenz – einen
sogenannten Intelligenzquotienten (IQ)? Nach der Lektüre dieses Buches wird klar sein,
dass solche Fernsehtests nicht als seriöse IQ-Tests anzusehen sind.
In diesem Buch geht es explizit um die Messung der Intelligenz mittels Tests; diese
Herangehensweise wird auch als psychometrischer Ansatz bezeichnet. Der psychometrische
Ansatz ist in der Differentiellen Psychologie verortet, welche sich mit Unterschieden
zwischen Personen beschäftigt. Die Erforschung von Unterschieden zwischen Menschen,
insbesondere wenn es um ein in der Regel wertgeschätztes Merkmal wie das der Intelligenz
geht, ist ein brisantes, aber nicht neues Thema: Erste Ansätze der Intelligenzmessung
wurden bereits im antiken China in der Han-Dynastie dokumentiert. Eine differentielle
Sicht auf die Intelligenz spiegelt sich zudem in unserem Alltagsverständnis wider.
Wenn wir zum Beispiel sagen „Theo ist ein schlauer Kerl“, dann impliziert dies bereits
einen interindividuellen Vergleich. Wir glauben, dass Menschen sich in ihrer Intelligenz
unterscheiden, auch wenn es uns schwer fällt, genau zu spezifizieren, was diese Unterschiede
ausmacht und wie diese zu erfassen sein sollen. Und genau dieser Punkt, die Natur
oder die Art der Unterschiede zu beschreiben, zu erklären und messbar zu machen, ist
Aufgabe der Wissenschaft.
Im ersten Kapitel dieses Buches werden wir uns daher an den Intelligenzbegriff aus
einer wissenschaftlichen Perspektive annähern. Es schafft zudem mit Ausführungen zur
Anlage / Umwelt-Debatte, zu Fragen der Intelligenzentwicklung und zu Geschlechterunterschieden
in der Intelligenz die Voraussetzungen dafür, dass die Leserin und der Leser einordnen
können, was IQ-Tests überhaupt leisten können und was eben auch nicht. Das zweite
Kapitel vermittelt dann wichtige Grundlagen zum Thema Tests, bevor es im dritten Kapitel
spezifisch um den IQ und Intelligenztests geht. Eine Auswahl aktueller Verfahren wird
im vierten Kapitel vorgestellt. Das letzte Kapitel schließlich dokumentiert ein Anwendungsbeispiel.
Hier wird anhand eines konkreten Falls aus der Praxis aufgezeigt, welche Fragen beim
Einsatz von Intelligenztests auftreten können und wie mit ihnen zu verfahren ist.
An dieser Stelle kann auch schon vorweggenommen werden, dass das Thema Intelligenz
und dessen Messung nicht nur für viele Berufsgruppen (z. B. Psychologinnen und Psychologen,
Lehrkräfte oder Pädagoginnen und Pädagogen) höchst relevant ist, sondern auch schon
für Studentinnen und Studenten. Studierende der Psychologie und wahrscheinlich auch
der Bildungswissenschaften begegnen den Themen, die in diesem Buch angesprochen werden,
in ihrem Studium mit Sicherheit. Aber auch für Studierende anderer Fächer können die
Inhalte dieses Buches höchst relevant und interessant werden. Man bedenke hier zum
Beispiel, dass manche Universitäten in Zeiten von Studiengebühren ernsthaft überlegen,
Studienstipendien auf der Basis von Intelligenztestergebnissen zu vergeben.
Bevor wir nun jedoch ins Thema einsteigen, möchten wir uns an dieser Stelle herzlich
bei Frau Dipl.-Psych. Tanja Gabriele Baudson und bei Frau Dipl.-Psych. Sonja Valerius
für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Abschnitts „Geschlechterunterschiede“
und des vierten Kapitels bedanken. Auch danken wir den Studierenden aus unseren Seminaren
im Wintersemester 2006 / 07 für Anregungen zum Inhalt dieses Buches sowie Frau Nordstrand
und Herrn Saretzki für Anmerkungen zum Manuskript. Unser Dank gilt zudem Frau Heike
Beewen für ihre Hilfe bei der Manuskripterstellung.
Franzis Preckel, Matthias BrüllTrier, im Mai 2008
1
Intelligenz – Theorien sowie differential- und entwicklungspsychologische Aspekte
Auf die einfache Frage „Was ist Intelligenz?“ (lat. intellectus: Erkenntnis, Einsicht)
wird man heute wohl mehr Antworten als je zuvor erhalten (Stern / Guthke 2001). Hier
ein paar Beispiele:
Definition
Intelligenz ist…… das Ensemble von Fähigkeiten, das den innerhalb einer be-stimmten Kultur Erfolgreichen gemeinsam ist (Hofstätter 1957)… die Fähigkeit zur Erfassung und Herstellung von Bedeutungen,Beziehungen und Sinnzusammenhängen (Wenzl 1957)… die personale Fähigkeit, sich unter zweckmäßiger Verfügung überDenkmittel auf neue Forderungen einzustellen (Stern 1950)
Worin liegt diese Definitionsvielfalt begründet? Verantwortlich dafür sind einige
Besonderheiten des Intelligenzbegriffs: Zunächst einmal ist Intelligenz ein Konstrukt,
also ein theoretischer Begriff. Zudem wird Intelligenz auch als Disposition verstanden,
als Persönlichkeitsmerkmal, in dem sich Personen voneinander unterscheiden. Dispositionen
werden als Tendenz eines Individuums umschrieben, unter bestimmten Bedingungen (Situationen)
ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Diese Tendenz ist natürlich nicht direkt beobachtbar – beobachtbar ist nur das Verhalten
einer Person in bestimmten Situationen.
Die Intelligenz einer Person kann und muss daher aus dem Verhalten der Person in bestimmten
Situationen erschlossen werden. In der Regel betrachtet man hier Leistungssituationen,
also solche Situationen, zu denen Kriterien für erfolgreiches Handeln definiert werden
können. Es gibt eine Vielzahl an möglichen Leistungssituationen und es kann nicht
abschließend festgelegt werden, welche davon für intelligentes Verhalten
relevant sind und welche nicht. Daher ist Intelligenz ein offenes Konstrukt, das ständig
weiterentwickelt wird.
Kernaussage
Intelligenz kann somit nicht durch Einzeldefinitionen beschrieben und auch nicht durch
einen „Einheitstest“ erfasst werden.
Wie schaffen es nun Persönlichkeitspsychologen, trotz dieser Offenheit des Intelligenzbegriffs
über Intelligenz zu sprechen? Wie wird die Bedeutung von Intelligenz festgelegt? Dies
geschieht durch sogenannte Zuordnungsregeln (Brocke / Beauducel 2001). Das Besondere
an Zuordnungsregeln ist, dass die Zuordnung eines bestimmten Verhaltens zu einem Persönlichkeitsmerkmal
immer nur für eine bestimmte Situationsklasse vorgenommen wird – für andere Situationsklassen
können dann weitere Zuordnungsregeln eingeführt werden. So werden offene Konstrukte
immer leistungsfähiger und breiter.
Hierfür ein Beispiel aus der Geschichte der Intelligenztestung: Am Anfang der wissenschaftlichen
Erforschung der Intelligenz hat man vorwiegend Reaktionszeiten und die Wahrnehmungsfähigkeit
als Situationsklasse verwendet, um eine Abschätzung der Intelligenz vorzunehmen (siehe
auch in Kapitel 3 den Abschnitt „Geschichte der Intelligenzmessung“). Dies wurde dann
später kritisiert und einige Forscher forderten, als Indikator für Intelligenz komplexere
Aufgabenstellungen zu verwenden, beispielsweise zum logischen Denken oder Sprachverständnis.
Heute weiß man, dass sowohl einfache Aufgaben zu Reaktionszeiten oder zur Wahrnehmungsfähigkeit
als auch komplexeres Aufgabenmaterial Intelligenzschätzungen erlauben, aber eben unterschiedliche
Aspekte des Intelligenzkonstruktes erfassen.
Liegen nun solche unterschiedlichen Situationsklassen vor, kann man sie durch theoretische
Aussagen miteinander verbinden. So entstehen Intelligenztheorien:
„…die einzelnen Ansätze [stellen damit] verschiedene Perspektiven der Betrachtung
dar, mit jeweils eigenständiger Wertigkeit von Theorien, Methoden und Befunden; die
Verschiedenheit ist solange für sich selbst von Wert, wie sie gewährleistet, daß alle
Facetten des Phänomenbereiches erfaßt und spezifische Einsichten gefördert werden.
Am (fernen) Ende dieses Forschungsprozesses – und nicht schon am Anfang – wird, so
steht zu hoffen, eine integrierte Theorie der Intelligenz stehen und vermutlich Aufschluß
über die Arbeitsweise derjenigen Formation liefern, die ihr zugrunde liegt: dem Gehirn
(Haier, 1990)“ (Amelang 1995, 252).
Im folgenden Abschnitt stellen wir eine Auswahl der wichtigsten Intelligenztheorien
und -modelle vor. Anschließend wird es um die Fragen gehen, ob Intelligenz eher vererbt
oder erworben ist und wie sich die Intelligenz über die Jahre hinweg entwickelt. Am
Ende dieses Kapitels wollen wir der Frage nachgehen, ob es ein klügeres Geschlecht
gibt und wenn ja, welches das ist. Insgesamt vermittelt dieses Kapitel damit grundlegendes
Wissen zum Konstrukt der Intelligenz.
Intelligenztheorien und -modelle
Viele Leserinnen und Leser werden sich vielleicht fragen, ob man für die praktische
Anwendung von IQ-Tests überhaupt Kenntnisse über die verschiedenen Intelligenztheorien
und -modelle benötigt. Denn ist es in der Praxis nicht eher so, dass das Wissen um
dahinter stehende Theorien zwar nicht schadet, es aber für den alltäglichen Gebrauch
nicht zwingend notwendig ist? Die Antwort darauf fällt eindeutig aus:
Kernaussage
Das Wissen um die Theorien und Modelle der Intelligenz ist unabdingbar für eine fachgerechte
praktische Anwendung von Intelligenztests!
Warum ist das so? Auch wenn bei vielen Intelligenztests am Ende ein Intelligenzquotient,
also der bekannte IQ, steht, bedeutet dieser IQ-Wert je nach Testverfahren und zugrunde
liegender Intelligenztheorie jeweils etwas anderes. Um diesen IQ-Wert richtig interpretieren
zu können, muss man die theoretischen Konzepte kennen und wissen, nach welchem Modell
die Testaufgaben ausgewählt wurden. Dieses Hintergrundwissen erklärt dann auch diskrepante
Ergebnisse verschiedener Tests bei ein und derselben Testperson. In der Praxis steht
man nämlich nicht selten vor dem „Problem“, dass bei einer Testperson zwei unterschiedliche
Intelligenztests zum Einsatz kamen, die unterschiedliche IQ-Werte lieferten (Kapitel
5). Unter anderem deswegen sollte in jedem guten Testhandbuch beschrieben sein, welche
Theorie dem Test zugrunde liegt und wie sich daraus die Testaufgaben ableiten.
Man sollte zudem wissen, dass kein Test alle Facetten der Intelligenz erfasst. Vielmehr
messen die einzelnen Verfahren lediglich ausgewählte Fähigkeiten. Dies ist im Übrigen
ein Grund dafür, dass verschiedene Intelligenztests im Allgemeinen nur moderat miteinander
korrelieren.
Hier werden nun einige der wichtigsten bzw. einflussreichsten Intelligenzmodelle und
-theorien dargestellt, welche im weitesten Sinne auch als Grundlage für die Konstruktion
von IQ-Tests benutzt wurden. Wer sich einen umfassenderen Überblick über vorhandene
Modelle verschaffen möchte, findet am Ende dieses Abschnittes Tipps für weiterführende
Literatur.
Zwei-Faktoren- bzw. Generalfaktor-Theorie von Spearman
Der Brite Charles Edward Spearman (1863 – 1945) publizierte im Jahr 1904 im American Journal of Psychology einen einflussreichen Artikel mit dem Titel „‘General Intelligence’, Objectively
determined and measured“. Mit dieser und späteren Arbeiten führte er die Zwei-Faktoren-Theorie
in die Literatur ein. Damit war eine der einflussreichsten Ideen der Psychologie publiziert
– die der allgemeinen Intelligenz.
Bei seinen Forschungen beobachtete Spearman, dass die Ergebnisse, die die Testpersonen
in sehr unterschiedlichen Intelligenztests erzielten, positiv miteinander korrelierten.
Wer also bei einem Test gut abschnitt, erreichte mit großer Wahrscheinlichkeit auch
bei einem anderen Test zur Messung der Denkfähigkeiten einen guten Wert. Spearman
schloss daraus auf eine gemeinsame Quelle zur Erklärung dieser Zusammenhänge: Die
allgemeine Intelligenz. Im Englischen wird dieser erklärende Faktor, abgeleitet von
general intelligence, auch g-Faktor oder kurz g genannt (daher auch Generalfaktor-Theorie). Inhaltlich ist g schwer zu fassen. Nach Jensen (1998) kann g „[…] am ehesten als Destillat der gemeinsamen Quelle interindividueller Leistungsunterschiede
in Denktests verstanden werden, unabhängig von deren jeweiligen Eigenheiten wie Inhaltsklasse,
benötigte Fertigkeiten oder Strategien etc. In diesem Sinne kann g grob mit dem Prozessor eines Computers verglichen werden“ (74; eigene Übersetzung).
Spearman machte außerdem die Beobachtung, dass die einzelnen Ergebnisse bei unterschiedlichen
Tests zwar alle positiv miteinander korrelierten, dass dieser Zusammenhang jedoch
nicht perfekt war. Das heißt, manche Leistungen hingen sehr eng mit anderen zusammen,
wieder andere zeigten jedoch schwächere Zusammenhänge. Um diesen Umstand zu erklären,
nahm er für die einzelnen Testverfahren spezifische Faktoren (abgekürzt: s) an.
Die Leistung in einem Intelligenztest oder in einer Intelligenztestaufgabe sah Spearman
somit immer durch zwei Faktoren bedingt (daher auch Zwei-Faktoren-Theorie): Zum einen
durch den g-Faktor, der nach Spearman generell jedes Testergebnis beeinflusst und so die positiven ↑
Korrelationen zwischen unterschiedlichen Intelligenztests bzw.
Testaufgaben bedingt. g ist bei jeder Aufgabe, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß, zu ihrer Lösung erforderlich:
Je „g-lastiger“ eine Aufgabe ist, desto stärker erfordert sie sehr generelle Denkprozesse
wie z. B. das Erkennen von Relationen. Zum anderen wird jede Testleistung durch einen
Faktor s beeinflusst, der spezifisch für den jeweiligen Test bzw. für die jeweilige Aufgabe
ist. Beispiele hierfür sind der jeweilige Inhaltsbereich der Aufgabe (z. B. sprachliche,
numerische oder figurale Inhalte) oder besondere Fertigkeiten zur Aufgabenbearbeitung
wie Durchstreichen bestimmter Zeichen oder Legen von Bildern. Demnach gibt es nach
Spearman so viele spezifische Faktoren, wie es Tests oder Aufgabentypen gibt.
Die Annahme, dass die Korrelation zwischen zwei Tests ausschließlich durch ihre jeweiligen
Zusammenhänge mit g bestimmt sei, ist heute allerdings so nicht mehr haltbar. Empirisch zeigt sich nämlich,
dass bestimmte Aufgabentypen stärker miteinander korrelieren als nach ihren jeweiligen
g-Anteilen zu erwarten wäre. Auch finden sich zwischen einzelnen spezifischen Faktoren noch
(Rest-)Korrelationen, die Spearman selbst als „spezielle Generalfaktoren“ bezeichnete.
Die alleinige Erklärung von Intelligenztestleistungen durch nur zwei Faktoren g und s scheint daher nicht hinreichend (Holling et al. 2004).
Spearmans größter Verdienst im Rahmen der Intelligenzforschung ist die Einführung
des g-Faktors. Daneben verdanken wir Spearman wichtige statistische Weiterentwicklungen im Bereich
der Korrelationsrechnung und der ↑ Faktorenanalyse. Etwas unbefriedigend blieb in
seinem Modell jedoch die Rolle der spezifischen Faktoren: Rein test- oder aufgabenspezifische
Varianzen sind nur schlecht dazu geeignet, unterschiedliche Fähigkeiten bei Menschen
zu erklären.
Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren nach Thurstone
Louis Leon Thurstone (1887–1955) entwickelte die von Spearman begründeten faktorenanalytischen
Techniken und Theorien weiter. Ein Ausgangspunkt seiner Forschung war die Feststellung,
dass Spearmans Theorie mit einer Reihe von empirischen Befunden nicht oder nur mithilfe
von Zusatzannahmen in Einklang zu bringen war. Er schloss daraus, dass ein g-Faktor und spezifische Faktoren alleine als Intelligenzmodell nicht ausreichen. Stattdessen
nahm er an, dass sich intelligente Leistungen immer durch mehrere, klar voneinander
unterscheidbare generelle Faktoren – die sogenannten Primärfaktoren – erklären lassen.
Thurstone ging davon aus, dass der „Geist irgendwie strukturiert“ sei und „der Verstand
kein musterloses Mosaik einer unendlichen großen
Anzahl von Elementen ist ohne funktionalen Zusammenhang“ (Thurstone 1940, 190; eigene
Übersetzung). Thurstone erwartete also korrelative Zusammenhänge zwischen verschiedenen
Testleistungen. Die vermuteten Zusammenhänge sollten sich dabei durch eine relativ
geringe Anzahl von Faktoren erklären lassen. Hier liegt nun auch der Unterschied zu
Spearman: Dieser nahm einen einzigen Faktor zur Erklärung der positiven Korrelationen
zwischen verschiedenen Intelligenzleistungen an, die allgemeine Intelligenz g. Thurstone ging zwar auch von der Existenz einer allgemeinen Intelligenz aus. Diese
setzt sich jedoch aus mindestens sieben Primärfaktoren zusammen (Thurstones Angaben
über die Zahl der Primärfaktoren schwanken zwischen sieben und neun), welche mehr
oder weniger unabhängig voneinander sind. Die Berechnung nur eines Wertes für die
Intelligenz (im Sinne eines g-Faktors) macht daher nach Thurstones Auffassung wenig
Sinn. Vielmehr erscheint nach Thurstone die absolute Ausprägung der Primärfaktoren
und ihr jeweiliges Profil zueinander relevanter. Nachfolgend stellen wir die sieben
Primärfaktoren und typische Aufgaben zu ihrer Erfassung vor (nach Amelang / Bartussek
2001, 208):
• Verbales Verständnis:Kenntnis von Wörtern und ihrer Bedeutung sowie deren angemessener Verwendung im Gespräch
• Wortflüssigkeit:Rasches Produzieren von Wörtern, die bestimmten strukturellen oder symbolischen Erfordernissen
entsprechen
• Rechenfähigkeit:Geschwindigkeit und Präzision bei einfachen arithmetischen Aufgaben
• Räumliches Vorstellungsvermögen:Bewältigung von Aufgaben, die räumliches Vorstellen und Orientieren sowie das Erkennen
von Objekten unter anderem Bezugswinkel erfordern
• Merkfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis:Behalten paarweise gelernter Assoziationen
• Wahrnehmungsgeschwindigkeit: Geschwindigkeit beim Vergleich oder der Identifikation visueller Konfigurationen
• Schlussfolgerndes Denken, Erkennen von Regelhaftigkeit: Auffinden einer allgemeinen Regel in einer vorgegebenen Reihe von Zahlen oder Symbolen
sowie Anwendung der Regel bei der Vorhersage des nächstfolgenden Elements.
Nun stellt sich die nicht unbegründete Frage, warum Spearman und Thurstone zu so unterschiedlichen
Modellannahmen kamen? Immerhin benutzten doch beide die gleiche Methode, nämlich die
↑ Faktorenanalyse. Dafür gibt es mindestes drei Gründe (Amelang / Bartussek