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Beschreibung

Weihnachten ohne Mundschutz auf Mallorca. Ohne Heizung in Böhmen. Oder zu Hause ohne Wein und Braten. Was auch immer gerade fehlen mag – die Verwandten sind zuverlässig dabei. Ob eingeladen oder überraschend angereist. Der Schwager mit neuem Tinderdate, die Tochter mit neuen Tattoos, die Tante vegan, der Onkel verstimmt. Wenn dann das Netz ausfällt und Opa von seinen Heldentaten erzählt, wenn die Enkel am Baum kokeln und Oma noch einmal das Glas hebt, bevor sie endgültig unter den Tisch sackt … heißa, dann ist Weihnachtstag!

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Dietmar Bittrich (Hg.)

Hol Oma von der Bowle weg!

Neue Weihnachtsgeschichten mit der buckligen Verwandtschaft

Über dieses Buch

Weihnachten ohne Mundschutz auf Mallorca. Ohne Heizung in Böhmen. Oder zu Hause ohne Wein und Braten. Was auch immer gerade fehlen mag – die Verwandten sind zuverlässig dabei. Ob eingeladen oder überraschend angereist. Der Schwager mit neuem Tinderdate, die Tochter mit neuen Tattoos, die Tante vegan, der Onkel verstimmt. Wenn dann das Netz ausfällt und Opa von seinen Heldentaten erzählt, wenn die Enkel am Baum kokeln und Oma noch einmal das Glas hebt, bevor sie endgültig unter den Tisch sackt … heißa, dann ist Weihnachtstag!

Vita

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirikerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u. a. der Bestseller «Alle Orte, die man knicken kann». Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.

Inhaltsübersicht

Oliver Uschmann & Sylvia Witt Der StörsenderAnna Herzog Gans im GlückHarald Braun Malle ohne LamettaJudith Luig Dry AgedChristian Ritter Im aktuellen SportstudioJulia Hackober Tut mir leid, ich muss losSören Sieg Magic CleaningKatrin Seddig Der letzte aller ArbeitseinsätzeTill Raether Ein prachtvoller BaumJohanna Wack Bratpfanne und BlümchenschürzeTilman Birr Sind doch nur vier TageLarissa Hoppe SchnöselfestNorbert Schnöde Messer und LikörLiefka Würdemann Jetzt mal ehrlichTobias Haberl Sankt HedwigLea Streisand Das Ende der echten KerzenOcke Bandixen Zum NordpolChris Sommer Ich will ins Hard Rock CafeKathrin Weßling SelfieMarkus Lesweng Frohe AbreiseDietmar Bittrich Gone With the WindDie Autor*innen

Oliver Uschmann & Sylvia WittDer Störsender

Zwiebeln zischen auf der Bratfläche der größten Imbissbude, die der Weihnachtsmarkt unserer alten Heimatstadt zu bieten hat. Sie sieht immer noch so aus wie zu meiner Kindheit. Goldbraunes Licht, altdeutsche Schrift und eine Außenverkleidung, die wie Fachwerk wirken soll. Die Damen vom Grill stehen hoch über uns und reichen die Schälchen hinab wie im Mittelalter der Medizinmann die dringend nötigen Tinkturen ins flehende Volk. Vor uns, auf Brusthöhe, kann man seine Beute auf einer breiten Theke aus dunklem Holz abstellen. Mampft man dort selig vor sich hin, klebt der Blick auf einem Mosaik aus kleinen quadratischen Kacheln. Ich habe mir aus der Höhe einen Schaschlikspieß reichen lassen. Hartmut trinkt Glühwein und schaut auf die Betonfront des alten Kaufhofs gegenüber.

«Hoffentlich kommen sie wieder raus», sagt er. Susanne und Caterina sind im Bauch des brutalen Riesen verschwunden. Sie machen sich einen Gag daraus, gerade in jenen veralteten Geschäften nach Weihnachtsgeschenken zu suchen, in denen sich garantiert nichts Persönliches oder Außergewöhnliches finden lässt. Ein Kaufhof in diesen Zeiten, das ist wie immer noch Top-40-Radio zu hören, während die Cloud alle Lieder der Welt bereithält. Obwohl, das Fressparadies hinter uns wählt wenige Tage vor Heiligabend natürlich auch wieder die üblichen Verdächtigen aus. Gerade eben brummt Chris Rea zärtlich über der Grillwurst und berichtet davon, wie sehr er sich freut, an Weihnachten nach Hause zurückzukehren. Also dorthin, wo immer noch die eigenen Erzeuger leben und schon wieder die paar Schulkameraden, die nach dem Studium zurückgekehrt sind, um ausgerechnet in der Heimat als Lehrerin, Bankkaufmann oder Bestatter zu arbeiten.

«Es gibt Flure da drin, von denen weiß bis heute niemand, wo sie hinführen», sagt Hartmut.

«Und unsere Frauen kommen nie wieder.»

Hartmut schnauft. Ein Nasenhaar entweicht durch den Luftstoß und schwimmt fortan auf seinem Glühwein.

Neben uns tritt eine kleine Frau an die Theke und grüßt die Imbissdame dahinter.

«Jutta, habt ihr’s bald hinter euch?»

«Letzter Tag Weihnachtsmarkt, ich sag’s dir, Karin!»

Man weiß nicht so genau, ob es sie freut oder ob sie die möglichen Profite bis einen Tag vor Heiligabend auch noch gerne mitgenommen hätte.

«Für mich fängt der Stress erst an», seufzt die Kundin namens Karin. «Die Feiertage sind für mich wie durch Konfetti laufen, wenn man sich vorher mit Honig eingeschmiert hat.»

Jutta stutzt hinter dem fettigen Schutzglas, aber Hartmut versteht es. «Es bleibt alles an Ihnen hängen!», sagt er und schnippt mit den Fingern.

Karin lächelt. Müde, weil sie als Mutter, Ehefrau und Tochter die Feiertage überstehen muss. Wach, weil sie sich freut, dass der seltsame Mann mit den altmodischen Koteletten sie versteht.

«Hartmut», sagt Hartmut.

«Karin», sagt Karin.

«Das ist …», will Hartmut mich vorstellen, doch Jutta poltert uns dazwischen: «Zwiebelpfanne pur?»

Karin nickt.

Jutta ruft, da es hinter ihr zischt und brodelt: «Die mache ich nur noch für sie!» Sie zeigt auf Karin, mit einer Wurstklemme, von der das Fett tropft.

Hartmut sagt, als müsse er es mir gemeinsam mit Karin erklären: «Heute gelten die nur als Beilage, aber früher gab’s am Stand ein Schälchen Zwiebeln als Hauptgericht. Glasig, würzig, angeröstet, dazu eine einfache Scheibe Weißbrot.»

«Ich war da auch schon geboren», antworte ich.

Hartmut seufzt: «Alles ändert sich.»

Karin legt ihre Hand auf seine Schulter: «Da sagst du was!»

Ich rolle mit den Augen.

«Früher gab’s drüben im Kaufhof noch in jeder Abteilung einen Experten. Einen, der sein Fachgebiet wirklich liebte.»

«Oder eine!», sagt Karin. «Die Frau Närdemann zum Beispiel, in den Kurzwaren.»

«Den Herrn Hochstrath bei den HiFi-Anlagen!», sagt Hartmut.

«Den konntest du alles fragen!», sagt Karin.

Ich erinnere mich an diese Zeiten. Ich mochte sie auch. Aber Hartmut und seine neue Freundin übertreiben.

«Der Herr Beinhobel in der Sportabteilung war nicht korrekt», wende ich ein. «Der hat einem ständig die Tischtennisschläger von Active empfohlen, obwohl sie auch Joola da hatten. Bloß weil Active die Eigenmarke vom Kaufhof war.»

Hartmut und Karin sehen mich an, als fragten sie sich gegenseitig: Wer ist das? Hast du den mitgebracht?

Jutta reicht Karin die Schale herunter. Ein Berg Zwiebeln, goldbraun angeröstet und dennoch glitzernd. Dazu vier Servietten, ein schlichtes Brötchen aus der Industriebäckerei und eine Gabel aus weißem Plastik. Es ist ganz eindeutig: Wenn die Betreiberinnen dieser Bude den Namen Greta hören, denken sie immer noch als Erstes an die Garbo.

«Wisst ihr, ich liebe Weihnachten», sagt Karin und schlürft die langen Zwiebeln wie Nudeln von der Schale. «Obwohl alles an mir hängenbleibt. Aber früher, da war das egal. Es gab einen Rhythmus, einen Tanz. Ich habe geführt. Bescherung am späten Nachmittag, noch bei uns daheim. Mein Mann entzündet die Kerzen, der Sohn trägt etwas vor. Selbstgeschrieben, auf Papier. Durch den Schnee spazieren wir zur Oma, wo sich alle versammeln. Noch mehr Bescherung. Kartoffelsalat mit Würstchen. Und dann, so gegen halb neun, kommen zwei Anrufe. Alle wissen das und gucken rüber zu dem Telefon mit der Drehscheibe. Man muss ja rangehen, es gibt nicht mal einen AB. Der eine Anruf kommt aus Düsseldorf, von den Querbachs, und der andere aus der Zone. So hat meine Mutter es immer gesagt: Schnell, geh ran, das ist Onkel Norbert aus der Zone. Es war ein Ritual.»

Karin seufzt. Eine Zwiebel klebt ihr rechts unter der Lippe. Das schnelle Ansaugen hat sie dorthin geschleudert und festpappen lassen. Hartmut versucht vergeblich, es zur Sprache zu bringen.

«Aber wie ist es jetzt? Wie sieht er heute aus, der Tanz? Wie soll man diesen Tanz überhaupt nennen? Den Schuhspitzenschieber?»

Sie hebt den Blick und zeigt in die Menge der Menschen, die den Weihnachtsmarkt bevölkern. Es ist nicht der schönste des Landes, aber es gibt doch einiges in den Auslagen der Buden zu sehen. Liebevolles Schnitzwerk, handgerollte Honigwabenkerzen, quietschbunte Süßigkeiten. Doch niemand schaut von seinem Handy auf. Alle tippen, alle wischen, manche diktieren Sprachnachrichten. Jeder Nacken ist gebeugt. Karin hat recht, sie tanzen den Schuhspitzenschieber.

Hartmut hebt den Finger: «Du hast da …»

«Nein, sag noch nichts!», unterbricht Karin. Auf Hartmuts Glühweinoberfläche schwimmt weiterhin sein Nasenhaar. Karin sagt: «Früher hat mein Sohn sich über seine Geschenke gefreut. Also, für sich. Er ging darin auf und begann sofort zu spielen. Oder es gab einen kleinen Streit, dass morgen noch genug Zeit sei, denn jetzt geht’s ja erst mal zur Oma und um Mitternacht zur Messe. Und dann sah man ihm die Vorfreude auf den nächsten Morgen an. Bei Oma oder nachts, auf dem Heimweg von der Kirche. Früh aufstehen, freiwillig, und dann noch im Schlafanzug an die neuen Sachen. Wisst ihr, was er heute als Erstes macht, wenn er sich freut?»

Hartmut sagt: «Du hast da …»

Karin wirft die Arme in die Luft: «Er postet die Geschenke! Drapiert sie hin und bestückt damit seine Profile. Oder manchmal, da packt er sie wieder ein, damit er das Auspacken danach erneut für sein Publikum bei YouTube filmen kann!»

Hartmut hebt die Hand. Er hat beschlossen, die Zwiebel nun wortlos von Karins Kinn zu fischen. Wir kennen die Frau seit zehn Minuten. Doch bevor die Fingerkuppen meines besten Freundes das spitze Kinn der Zwiebelfrau erreichen können, wirbelt sie das Stück selber fort. Nicht weil sie es bemerkt hätte, sondern weil sie sich schüttelt, vor Ekel darüber, was das Smartphone aus der Menschheit gemacht hat.

«Bei Oma sitzen alle und tippen in ihr Display. Wieso? Weil sie Weihnachtsgrüße raussenden und beantworten müssen. Gute Wünsche von rund hundertfünfzig ihrer Kontakte. Und wenn dann Onkel Norbert immer noch auf dem Festnetz anruft, um durch mich an der echten Strippe alle herzlich zu grüßen, dann ernten wir beide nur ein müdes Brummen.»

Karin ist fertig mit dem Erzählen. Die weggeschleuderte Zwiebel liegt auf dem sechseckigen Pflaster der alten Fußgängerzone. Der Kaufhof gibt unsere Frauen frei. Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich zurückwinke. Caterina trägt eine Pudelmütze, wie ihre Figur in Animal Crossing, einem süßen Spiel, in dem man mit sprechenden Tieren ein kleines Dorf bewohnt. Niemand tanzt dort den Schuhspitzenschieber. Alle besuchen sich gegenseitig und schauen sich beim Plaudern in die Augen. Man umarmt sich, tauscht Gegenstände, angelt um drei Uhr nachts zu tröpfelnder Traummusik am Fluss und lädt sich gegenseitig in die Häuser ein.

«Deine Frau», sage ich, um Hartmut darauf aufmerksam zu machen, dass er unrecht hatte und das alte Kaufhaus unsere Lieben wieder freigegeben hat. Doch der ist ganz beim Niedergang der Weihnacht.

Hartmut sagt: «Es muss etwas unternommen werden!»

Ich schüttele den Kopf.

Karin sagt: «Ja!», greift zu Hartmuts Glühwein und nimmt einen kräftigen Schluck, samt Nasenhaareinlage.

 

Am nächsten Tag suchen Hartmut und ich unseren ehemaligen Nachbarn Hans-Dieter auf. Der gemütliche Bastler lebt schon lange nicht mehr in Bochum. Nach dem Niedergang unseres gemeinsamen Hauses zog es ihn kurz nach Herten. Nun lebt er, umringt von einem verwachsenen Garten, auf einem Anwesen im Niemandsland zwischen Wulfen, Reken und dem Halterner See. Ein rätselhaftes Gebiet wuchernder Wälder und schleichender Schatten, kaum erforscht und von niemandem kontrolliert. Man munkelt, wer hier ein Gemäuer findet und es bezieht, wird nicht länger vom Bauamt oder vom Fiskus belästigt. Identitäten lösen sich auf an den Rändern dieser Wälder, Papiere verfliegen im Wind. Woher Hartmut weiß, dass Hans-Dieter sich hier verkrochen hat, kann ich nur erahnen. Sicher ist: Er lässt niemanden los, den er jemals gemocht hat. Er will immer wissen, wo seine Freunde leben. Und seine Feinde erst recht.

«Jungs!», sagt der Mann mit dem buschigen Schnauzer und der Katze im Arm. Aus dem Haus strömt ein Geruch wie aus alten Trödelhallen.

«Ist das immer noch DJ?», fragt Hartmut und krault die Katze hinter den Ohren.

Hans-Dieter nickt: «Nächsten Monat wird sie zwan zig.»

«Wow», entfährt es mir. Dabei hat unser Kater Yannick auch nicht mehr so lange bis dahin.

Wenige Minuten später schmatzt DJ über ihrem Napf, und wir schlürfen Tee aus veralteten Beuteln zu einer Schallplatte des Alan Parsons Project. Federleicht und ätherisch singt Eric Woolfson:

«I am the eye in the sky

Looking at you

I can read your mind.»

Hans-Dieter rührt mit dem Finger über sich in der Luft herum: «Mich kann das Auge hier nicht mehr beobachten.»

Auf langen Werkbänken stehen alte, geöffnete Rechner. Zwei Flachbildschirme der ersten Generation zeigen aktuelle Arbeiten an Windows XP und einem MS-DOS-Fenster. Auf einem Röhrenbildschirm doppelt sich der finstere Wald von draußen als virtuelle Variante. Erst denke ich, Hans-Dieter hätte eigene Kameras in den Bäumen, und wundere mich über den Nebel, doch dann verstehe ich: Er ist immer noch nicht fertig mit Myst. Das legendäre Abenteuerspiel erschien 1994 für PCs mit Windows 3.1. Und er schleicht immer noch durch dessen malerische Landschaften. Man darf sich im Leben eben auch Zeit lassen. Eines ist sicher: Hans-Dieter wird den Sinn des Anliegens, mit dem Hartmut uns hergeschleppt hat, verstehen.

 

Hans-Dieter hat verstanden, und so stehen Hartmut und ich nun am Heiligen Abend vor dem Haus von Karins Mutter. Wir haben uns losgeeist von der eigenen Familienfeier, die bei Hartmuts Eltern im Schatten des Doms stattfindet. Unsere Frauen lassen solche Schlenker zu, weil sie wissen, dass wir danach umso zutraulicher zurückkommen.

«Guck», sagt Hartmut und zeigt in die hell erleuchteten, bodentiefen Erkerfenster. «Da ist er wieder, der Schuhspitzenschieber.»

Karin hatte recht. Alle hocken sie auf den Sofas und Sesseln und lassen die Daumen sausen. Der Sohn hüpft herum und singt überdreht vor dem Baum. Wahrscheinlich hat er jetzt auch noch einen Account bei TikTok. Sogar die Großmutter kann nicht vom Digitalgerät lassen – wie hypnotisiert klickt sie sich durch eine Auswahl von sicher einer Million Weihnachtslieder und kann sich nicht entscheiden, welches sie auflegen soll. Falls man beim Andocken eines Telefons an die winzige Musikanlage noch «auflegen» sagt.

«Rein rechtlich sind wir jetzt aber Stalker, oder?», frage ich Hartmut.

Er wechselt in der Hocke den Fuß. Es raschelt. Tief stecken wir im Rhododendron vor den Fenstern.

«Höchstens Voyeure», sagt Hartmut. «Aber es zieht sich ja niemand aus da drinnen.»

«To stalk heißt anpirschen oder sich anschleichen», sage ich. «Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber wir gärtnern hier gerade nicht. Wir pirschen.»

Hartmut sagt: «Unser Zielobjekt wird sich darüber freuen, was gleich passiert.»

«Unser Zielobjekt, ja, aber das Rudel?»

Hartmut grinst.

Mit dem zufriedenen Blick eines Mannes, der schon weiß, dass die Tinte bald auf die Friedensverträge tropft, knotet er den Störsender in den Busch, den Hans-Dieter für uns gebaut hat.

«Bereit?», fragt er.

«Ich?», sage ich. «Immer!»

Hartmut schaltet das kleine Gerät ein … und das Netz im Haus aus.

Es dauert ein paar Sekunden, dann haben sich die Datenpuffer in den Geräten geleert, und alles, was noch reintröpfelte, als das LA bereits aus war, versiegt. Nun geht es los. Der Sohn flucht und schüttelt sein Gerät. Die Menschen auf den Sofas klopfen auf ihre Displays. Schalten aus und wieder ein. Einer pustet sogar. Karin wird verdonnert, den Router neu zu starten, doch wir hier draußen im Gewächs vor den Fenstern wissen bereits – es bringt nichts. Der Schuhspitzenschieber kommt zum Ende. Köpfe heben sich. Nackenknochen knacken. Daumen lösen sich vom Glas und bleiben gekrümmt in der Luft.

Hartmut flüstert wie ein Tierforscher: «Faszinierend.»

Als die Köpfe drinnen wieder arretiert sind, treffen sich die ersten Blicke. Manch einer wirkt erstaunt, den anderen hier zu sehen. Die Ersten greifen zu Spekulatius und Dominosteinen, als fiele ihnen erst jetzt wieder auf, dass sie auf dem Tisch stehen. Die Zweiten allerdings beginnen damit, sich zu streiten. Vorwürfe fliegen durch den Raum, man erkennt es an den Gesten. Erst hier draußen im Busch, so ganz ohne Ton, begreift man, wieso das im Deutschen so heißt. Vorwurf. Es sieht tatsächlich so aus, als schleuderten sie ihrem Gegenüber etwas vor die Füße.

«Es geht schief», sage ich. «Es gibt keinen Weg zurück.»

Hartmut schüttelt den Kopf. Eine Kotelette verheddert sich in einem Zweig. Er knotet sie frei.

«Kalter Entzug», sagt er. «Und das in einer ganzen Gruppe. Das braucht seine Zeit.»

«Wie lange? Bis die Weihnachtsmänner zu Osterhasen umgeschmolzen sind?»

Im Haus fließen die ersten Tränen. Harte Worte scheinen zu fallen. Jemand hält den Router in der Hand und pustet in die Anschlüsse für die Netzwerkkabel. Es wirkt, als wolle er dem Gerät eine Mund-zu-Mund-Beatmung verleihen. Der Sohn öffnet ein Seitenfenster und hält sein Smartphone am langen Arm hinaus. Er streckt es dem Mond entgegen und heult wie ein Wolf.

«Er versucht, mobile Daten zu fischen», kommentiere ich.

Hartmut klopft auf den Störsender: «Die Blase der Ruhe erstreckt sich mindestens fünf Meter in alle Richtungen ums Haus herum.»

Im Inneren klingelt jetzt das Festnetztelefon. Das hat der Oma bislang niemand ausreden können, auch wenn sie die Musik aus der Wolke spielen soll. Alle zucken zusammen. Hartmut guckt auf die Uhr: «Das müsste Onkel Norbert aus der Ostzone sein.»

«Hartmut, wir sind dreißig Jahre wiedervereinigt.»

Karin reißt drinnen den Hörer vom Telefon. Schnell gerät sie in Erklärungsnot. Auch das sieht man an ihren Gesten. Sie verteidigt sich wie vor Gericht. Der Onkel sieht zwar nichts am anderen Ende der Leitung, aber er spürt ganz genau, dass etwas nicht stimmt.

«Nimmt die Technik ab, steigt die Sinnesschärfe», sagt Hartmut.

Nun schreit Karin in den Hörer.

«Na super», sage ich. «Jetzt ist auch noch der geliebte Anruf vom alten Onkel aus dem Osten kaputt.»

Hartmut presst die Lippen zusammen: «Wir müssen geduldig sein, dann dauert es nicht mehr lang.»

Ich sage: «Wir müssen zu unserer Familie zurück. Vorlesen.»

Hartmut nickt.

 

Wir haben eigene Traditionen entwickelt. Von 22 Uhr bis Mitternacht liest reihum jeder etwas vor, das für ihn so wichtig ist wie für Hartmuts Mutter die Weihnachtsgeschichte. Damit eröffnet sie den Reigen. Meistens folgt dann sein Vater, der alte Studienrat, mit einem Gedicht von Goethe oder einem Tagebucheintrag. Susanne liest gerne uralte Anleitungen vor, zum Beispiel von HiFi-Anlagen, die unsere Eltern noch beim Herrn Hochstrath im Kaufhof erworben haben. Die beginnen immer so höflich, und die Unternehmen bedanken sich darin, dass man sich für ein Produkt aus ihrem Hause entschieden hat. Heute bedanken sie sich nicht mehr, stellen die Anleitungen ins Netz und bauen den Sterbetermin für das Gerät zwei Wochen nach Ablauf der Garantie in die Platine ein. Caterina und ich lesen Pippi Langstrumpf in verteilten Rollen. Hartmut zitiert fast jedes Jahr Kant. Seit Jahren arbeitet er an einer Neufassung der Kritik der reinen Vernunft, die jeder verstehen kann.

 

So gehen wir also zurück zu Hartmuts Eltern und widmen uns dem Abend. Lesen vor, essen Stollen, singen ein paar Lieder. Ich spritze mir Cool Water hinter die Ohren, weil es das ist, was Caterina mir im Kaufhof geholt hat, wo es nur Naheliegendes und Unpersönliches gibt, nur die Top 40, die gerade deswegen so süß ist, weil unsere Frauen sie zum Kult erklärt haben. Susanne hat für Hartmut eine Krawatte mit Schwarz-Weiß-Karomuster gerettet. Er trägt sie über seinem finsteren Rollkragenpullover und sieht nun aus wie eine Mischung aus Philosoph und Ska-Musiker. Nach Mitternacht sieht er mich an und fragt lautlos, ob wir noch mal nachsehen sollen. Ich nicke, eine steinharte Aachener Printe auf der Zunge, die allmählich weich wird und dabei das volle Aroma ihrer Gewürze freigibt.

«Sie wollen sich schon wieder loseisen», sagt Susannes Mutter.

Hartmuts Mama nickt: «Es sind nervöse Wesen.»

 

Es ist fast eins, als wir Karins Haus erreichen.

«Sie schlafen sicher schon», flüstere ich.

«Nicht im Entzug», antwortet Hartmut.

Feiner Schnee rieselt durch die Lichtkegel der Laternen.

«Es schneit», sage ich.

«Siehst du», sagt Hartmut. «Die Dinge kommen wieder ins Lot.»

Wir betreten unseren Busch. Wie Profi-Stalker. Der Störsender hängt am Zweig und macht seine Arbeit. Drinnen brennt tatsächlich noch Licht. Die Kerzen am Baum sind angezündet. Die Großmutter hat ihre alte Stereoanlage aufgebaut und legt Weihnachtsplatten auf, mit schwer zufriedenem Blick. Sie pustet auf das schwarze Vinyl. Die Last der eine Million Lieder ist von ihr genommen. Der Sohn sitzt mit zwei Männern am Tisch und spielt Die Siedler von Catan. Eben zahlt er der Kasse drei Steine und zwei Getreide und setzt triumphal eine Stadt aufs Brett. Auf den Gesichtern liegt Frieden. Wie bei Lehrern, die der Hausarzt für eine Woche krankschreibt. Oder bei den tierischen Nachbarn im kleinen Dorf, mit denen Caterina und ich angeln gehen.

«Den Störsender in Serie, und wir wären Millionäre», sage ich. «Ich sehe schon die Verpackung vor mir, mit glitzernden Sternchen und Tannengrün. Der Silencer. Für eine ruhige Weihnacht. Für gute Gespräche. Für Sie.»

«Immer nur auf den Profit abzuzielen, ist nicht christlich», sagt Hartmut. «Das erkläre ich dir seit der Schulzeit.»

Ich schnaufe.

Hartmut sagt: «Außerdem müssten wir Hans-Dieter beteiligen. Mit mindestens fünfzig Prozent. Produzieren müssten wir das Ding in China oder Kasachstan, damit es sich rechnet. Wasservergiftung, Ausbeutung, Untergang. Am Ende stehen wir in Den Haag vor Gericht.»

Ich will widersprechen, doch er hebt seinen knorrigen Finger: «Außerdem wirkt das Ding nur, wenn die Bescherten nicht wissen, dass sie beschert worden sind. Sobald sie’s wissen, schalten sie’s aus. Sogar die, die es sich gewünscht haben. Weil sie die Streitphase nicht durchhalten. Den kalten Entzug.»

«Ging doch schnell», sage ich. «Nur ein paar Stunden.»

«Wenn sie wissen, was los ist, halten sie keine zehn Minuten aus», sagt Hartmut. Irgendwo mag ich das schon an ihm. Er ist nicht wie die meisten, die heute Philosophie studieren. Die gehen immer davon aus, wie die Menschen im Optimalfall sein könnten, und sind empört, dass niemand so ist. Hartmut betrachtet die Menschen so, wie sie jetzt sind.

«Hartmut?»

Hartmut zuckt zusammen, als unvermittelt Karins Stimme hinter uns ertönt. Ein Zweig bohrt sich in sein Auge.

«Aua!»

Ich nestele mich aus dem Busch und ziehe Hartmut nach. Der reibt sich das Gesicht. Karin wirkt mitleidlos.

«Wieso hockt ihr vor dem Fenster? Seid ihr doch pervers?»

«Wieso doch?», fragt Hartmut. «War das deine erste Vermutung auf dem Weihnachtsmarkt?»

Karin greift in die Innentasche ihrer Jacke. Statt der erwarteten Schachtel Zigaretten kommt ein Fläschchen Weinbrand zum Vorschein. Sie nimmt einen Schluck und schaut zu den Laternen: «Es schneit.»

«Es kommt alles wieder ins Lot», sage ich.

Hartmut öffnet sein rot angelaufenes Auge. Er zeigt ins Haus: «Was ist los da drinnen? Kein Schuhspitzenschieber?»

Karin lächelt. Halb selig, halb verwirrt.

«Das Internet ist kaputt. Erst wurde aus dem Schieber ein Pogo, ein ganz fürchterlicher, bei dem die Leute sich nicht friedlich schubsen, sondern absichtlich schlagen. Aber dann …»

«Walzer», sage ich.

«Schmusetanz», sagt Hartmut.

Karin lächelt, jetzt nur noch selig: «Als sie’s akzeptiert haben, fühlte es sich an wie ein Ruck. Wie, wenn ein Zug wieder in die Spur kommt. Als hätten alle nur darauf gewartet.» Sie greift in die Seitentasche, holt ihr Handy heraus und hält es in die Luft.

«Karin!», sagt Hartmut empört, wie ein Fleischermeister, der seine Tochter beim Lupinenschnitzel erwischt.

Karin sagt: «Ich wollte nur mal kurz posten, wie friedlich alle sind, wenn das Netz nicht mehr geht.»

Hartmut flüstert mir ins Ohr: «Siehst du, was ich meine?»

Karin sagt: «Was?»

«Och, nichts.»

«Also, wieso hockt ihr hier im Busch?»

Hartmut stottert.

Ich sage: «Benioff.»

Karin fragt: «Was?»

«Der Kater meiner Mutter. Frag mich jetzt nicht, wieso der so heißt. Fest steht: Er geht Wege, die kein Mensch nachvollziehen kann. Vor allem, wenn ihn irgendein neuer Reiz lockt. Wir suchen ihn schon den ganzen Abend.»

«Ihr wollt die Katze retten?»

«So sieht’s aus», sage ich.

«Na, dann!», sagt Karin. «Soll ich mithelfen? Es ist eine so schöne heilige Nacht! Und da drin sind alle zufrieden.»

Bis drei Uhr spazieren wir mit Karin durch den Puderschnee. Wir teilen uns ihren Weinbrand. Sie lobt mein Parfüm. Es ginge doch nichts über die Klassiker. Den Kater finden wir natürlich nicht. Nach einigen Schlucken aus der kleinen Flasche hatte ich selbst fast vergessen, dass wir ihn frei erfunden haben und unser echter Kater Yannick zufrieden in der Wohnung liegt.

Am nächsten Morgen machen wir ein Foto von Yannick als Benioff, mit uns, wie wir ihn scheinbar gefunden haben. Erst wollen wir es Karin schicken, doch dann bringen wir es persönlich vorbei. Sie öffnet im Bademantel die Tür und hat bis zum Mittag geschlafen, so gut wie lange nicht mehr. Den Störsender lassen wir ihr noch im Busch, mindestens bis nach Weihnachten, vielleicht sogar bis Neujahr.

 

«Ich habe mächtig Appetit auf Zwiebeln», sagt Hartmut auf dem Weg zurück in unser Feiertagszuhause bei seinen Eltern. Die Tür eines Mietshauses springt auf, und ein Teenager läuft auf den Gehweg. Das Mädchen dreht sich um, tränenverschmiert, und schimpft mit dem jungen Mann, der genervt und hilflos im Eingang stehen bleibt.

«Es war ein Versehen, Leonie! Ein Versehen!»

Leonie flucht: «Man entfolgt seiner Freundin nicht aus Versehen!»

«Ich entfolge dir doch nicht! Ich stehe doch hier!»

«Aber hier zählt nicht!», kreischt das Mädchen und zeigt in die Luft der realen Welt. Dann tippt sie auf ihr Telefon: «Hier zählt!»

Hartmut schaut sich das Spektakel an.

Ich ahne schon, was kommt.

Hartmut sagt: «Ist noch Sprit im Auto?»

Ich antworte: «Bis zu Hans-Dieter wird’s reichen.»

Anna HerzogGans im Glück

Ich war damals mit Leonid zusammen, Leonid wie Breschnew. Wir waren Studenten, das Jahresendfest rückte näher, und über eines waren wir uns absolut einig: Weihnachten war ein kitschiges Konsumfest und im Nebenberuf Opium für das Volk, außerdem konnten wir unsere spießige Verwandtschaft nicht mehr ertragen, und deshalb würden wir dem Fest dieses Jahr entfliehen. So weit wie möglich, am besten nach Kuba oder Nicaragua, jedenfalls irgendwohin, wo allein schon das Wetter möglichst wenig an Weihnachten erinnern würde. Baum, Geschenke, Kerzen würden der Revolution zum Opfer fallen; bei dem Wort «Besinnlichkeit» bekamen wir sowieso Würgereiz.

Es wurde … Tschechien. Das lag zum einen an unserem sowohl akuten als auch dauerhaften Geldmangel und zum anderen an der Tatsache, dass irgendeiner von Leonids entfernteren Onkeln dort frisch eine kleine Datsche geerbt hatte. «Irgendwo im Nirgendwo», wie sein Onkel sich ausdrückte. «Da seid ihr Weihnachten so allein wie Adam und Eva im Paradies.» Daraufhin lachte er sich scheckig, und es stellte sich heraus, dass das Häuschen sich im böhmischen Paradies befand, womit uns das Christentum durch die Hintertür wieder einholte.

Tschechien konnten wir akzeptieren, schließlich wimmelte es dort noch vor Kommunisten, und der Onkel verlangte keine Miete für die «Baracke» (wie er sie nannte), sondern nur, dass wir sie nicht abfackelten. «Ist alles drin», ließ er uns wissen. «Und wenn nicht, macht eine Liste, was ich anschaffen muss. Kann man im Sommer noch vermieten.»

Tatsächlich befand sich das Häuschen so sehr am Rand der Zivilisation, dass wir ein Auto benötigten, wenn wir nicht eine lange, lange, sehr lange Wanderung von der Bahnstation machen wollten. Weihnachten stand nun schon so vor der Tür, dass man es auf der Schwelle hätte mit den Hufen scharren hören können, und so rückte mein Vater frühzeitig mit seinem Geschenk für seine einzige Tochter –  mich – heraus: sein alter Opel.

Obwohl wir dieses Jahr keinerlei Geschenke besorgt hatten, um das kapitalistische Schweinesystem nicht zu füttern, kann ich mich nicht daran erinnern, dass einer von uns den Opel ablehnte. Einen Tag bevor wir aus Berlin losfuhren, kam Leonids resolute Oma in unsere Hinterhauswohnung mit Kohleofen gestapft und drückte uns eine halbe gefrorene Gans nebst ein paar Gläsern Rotkohl und einem Beutel Kartoffeln in die Hand. Wir wehrten uns nicht, erwähnte ich das Wort «resolut»?

«Irgendwas müssen wir ja essen», gab Leonid zu. Der Vollständigkeit halber muss ich zugeben, dass wir, als wir das Auto von meinem Vater geliefert bekamen, das in Weihnachtspapier eingeschlagene Paket und drei Weinflaschen auf dem Rücksitz ebenfalls hinnahmen. Mein Vater verlor kein Wort darüber, und wir hielten es ähnlich.

«Meinst du, wir brauchen so was wie Winterreifen?»

«Pfff. Wann bitte schön hat es das letzte Mal an Weihnachten geschneit?», fragte Leonid zurück. Zur Sicherheit packten wir ein paar warme Pullover und Schlafsäcke ein, und ich verstaute auch Multivitamintabletten und Streichhölzer in meinem Rucksack. Niemand von uns hatte Erfahrung mit dem Rand der tschechischen Zivilisation.

Die Fahrt verlief unspektakulär, wenn man mal von der Tatsache absieht, dass keiner von uns ein Pro im Kartenlesen war. Schließlich befanden wir uns auf einer kleinen mottenlöchrigen und notdürftig gestopften Straße, von der ein Feldweg abbog, der steil aufwärts führte, direkt ins Paradies. Wir sahen uns schweigend an, aber das brave Opelchen brummte keuchend die fünfzehnprozentige Steigung hinauf, rumpelte durch einen dichten Tannenwald, schaffte selbst die Haarnadelkurve, nach der Leonid der Schweiß auf der Stirn stand, vornehmlich weil ich am Steuer saß, und als wir dachten, wir hätten uns endgültig verfahren, tauchte eine kleine Siedlung von vier Spitzdachhäuschen in der Höhe auf – sie drängten sich mit wachsam gespitzten Zipfelmützen am Waldrand zusammen wie eine Schar von Zwergen auf der Flucht vor Schneewittchens böser Stiefmutter. Kleine Häuschen aus dunklem Holz mit hellen Fugen zwischen den Balken und bunten Fensterläden. Das letzte Häuschen war das schlichteste; die Farbe pellte von den Außenwänden, die Fensterläden waren wohl schon vor längerer Zeit ebenfalls abgepellt und nicht mehr vorhanden. Auf dem Dach wuchs Moos. Über der Tür stand von unsicherer Hand mit roter Farbe gemalt: «Husa ve Štěstí».

«Aha», sagte Leonid.

Erst viel später erfuhren wir, dass die Hütte «Gans im Glück» hieß.

«Hast du gesehen, dass vor keinem der anderen Häuser ein Auto steht und alle Fensterläden geschlossen sind? Wir sind echt total allein!»

«Bis auf die Wölfe und Bären», Leonid warf einen langen Blick zu dem finsteren Wald hinüber, über dem triefäugig schon die blauschwarze Dämmerung hing. Seine Unbegeisterung nahm noch zu, als wir unsere Sachen in die Datsche schleppten.

Innen bestand unser bescheidenes Häuschen vor allem aus einem großen, dunklen Raum. Very basic. Very, very basic. Auf einem alten Resopaltischchen schliefen zwei Kochplatten, die aussahen, als hätten sie längst das Kochen verlernt. Daneben befand sich ein Spülstein und auf der anderen Seite ein Kühlschrank, wobei «Schrank» der blanke Euphemismus ist, «Schachtel» hätte es eher getroffen. Ein wackeliges hüfthohes Dings enthielt hinter seinen windschiefen Türen eine Auswahl Geschirr. Außerdem eine Art Auflaufform aus Eisen, und mit viel gutem Zureden konnte man ihm auch einen Topf entlocken. Einen.

Wir grinsten uns an. «Ist alles drin», sagte Leonid und ich: «Wie viel Blatt Papier haben wir mitgenommen für die Liste an Dingen, die notwendig sind?»

Nachdem wir «die Küche» inspiziert hatten, stellte sich das Entdecken des Badezimmers als etwas schwieriger heraus. Wir durchsuchten die gesamte Hütte. Fehlanzeige: kein Bad, keine Toilette. «Immerhin haben wir fließendes Wasser», sagte Leonid. Und unterm Dach ein Schlafzimmer mit echtem Bett, zu dem eine mörderisch steile Holztreppe hinaufführte.

Das Wohnzimmer, neben dem Eingangsraum namens «Küche», hingegen war purer Luxus. Zwar brauchten die vorherigen Bewohner offensichtlich kein Sofa, dennoch hatten sie die gesamte Gemütlichkeit für diesen Raum vorgesehen, ihn mit hellem Holz getäfelt, einen großen Tisch mit Eckbank und Polstern darauf spendiert und einen prächtigen bemalten Schrank, in dem sich – Leonid riss sofort die Tür auf – Tischdecken, Servietten, Weingläser und sogar Kerzen nebst Kerzenhaltern befanden.

Und es gab einen Kamin. Eine kleine gemauerte Feuerstelle mit einer schmiedeeisernen Gittertür, um das Holz potenziell am Rausspringen zu hindern. Potenziell, weil: Holz konnten wir nicht entdecken, nur einen kleinen Korb mit alten Zeitungen und Klopapierrollen zum Anzünden.

«Wie sollen wir das Haus ohne Holz abfackeln?», fragte Leonid anklagend.

«Pfff. Wie sollen wir es mit Holz abfackeln?», fragte ich zurück. «Hast du etwa schon mal einen Kamin angeworfen?»

Habe ich schon geschrieben, dass keiner von uns sonderlich praktisch veranlagt war? Leonid studierte Geschichte und Politik, ich Germanistik und Anglistik.

«Bisschen kühl hier», murmelte ich und stopfte meine Hände in den Pullover. «Wo ist eigentlich die Heizung?»

Als wir wieder in die «Küche» zurücktraten, entdeckten wir sie: nicht die Heizung, sondern die Falltür im Boden. Leonid runzelte die Stirn. Die Tür hatte einen Griff und war unfassbar schwer. Tiefe Finsternis schlug uns von unten entgegen, eine Leiter führte hinab. «Wow», murmelte ich. «Unterste Etage Spinnenglück.»

«Ich geh da nicht rein», sagte Leonid sofort. Damit kam er bei mir aber nicht besonders weit. Um es kurz zu machen: Im Keller efanen sich eine Dusche, eine Toilette und ein winziges Waschbecken. Aus allem kam fließendes Wasser heraus, und zwar in belebendem Eiskalt. Wenigstens hing eine nackte Glühbirne unter der Decke. Und in einer besonders dunklen Ecke entdeckten wir mit Schaudern eine Axt.

«Vermutlich zum Zerschlagen des nicht vorhandenen Holzes. Willst du zuerst duschen?», fragte Leonid.

Wieder oben schrieb ich «Heizung» auf die Liste der fehlenden Dinge. Es schien sich um ein reines Sommerhäuschen zu handeln. Kalte Duschen am Abend sind dem Einschlafen nicht besonders förderlich, aber ich wäre ohnehin unruhig gewesen, ich wusste nicht, warum. Vielleicht wegen der großen Stille, die uns umgab. Irgendwann hörte ich ein Käuzchen.

Als ich aufwachte, hatte sich etwas verändert, etwas in dem Dämmerlicht, das durch die Dachluke des Schlafzimmers fiel. Etwas an der Stille. Als ich zur Dachluke blickte, wusste ich was: Es schneite.

Wenig später saßen wir im Wohnzimmer und schauten gebannt aus dem Fenster. Es schneite und schneite und schneite und schneite, in dicken, romantischen Flocken. Von draußen, jenseits der kleinen Lichtung, beobachtete uns dunkel der Tannenwald.

«Hat es jemals um diese Zeit geschneit?», fragte Leonid vorwurfsvoll. «Die Gans ist übrigens schon halb aufgetaut. Meinst du, man kann die in diesem Topf auch kochen?»

«Du meinst, so eine Art Gänse-Rotkohl-Suppe?», ich schüttelte mich. «Wenn man die Gans in den Schnee legt, vielleicht können wir sie wenigstens nach Weihnachten essen?»

«Dazu musst du hier erst einmal wieder wegkommen. Darf ich dich an die Sommerreifen erinnern?»

Ich schluckte. «Glaubst du, die haben hier irgendwo eine Schneeschaufel?», flüsterte ich.

«Glaubst du, notfalls wirft ein Hubschrauber hier was zu essen ab?», flüsterte Leonid zurück und starrte den Schnee an.

«Gibt es in Tschechien überhaupt Hubschrauber?»

Wir kuschelten uns noch enger aneinander.

«Und wenn die Leitung einfriert?»

«Dann können wir nicht mehr duschen!», rief Leonid hoffnungsfroh.

«Ich könnte dich mit Schnee abreiben».

«Wäre unklug. Ich könnte mich wehren. Denk an die Axt!»

Wir schauderten beide zusammen, und Leonid wickelte uns den Schlafsack fester um die Füße. «Okay. Bestandsaufnahme. Wir haben Kartoffeln und zwei Gläser Rotkohl und eine untaugliche Gans.»

«Und ein paar Tütensuppen und Instantkaffee und H-Milch und Butterkekse und Wanderstiefel.»

«Ich glaube nicht, dass die in den Topf reinpassen.»

«Aber mit ihrer Hilfe können wir leichter das Tal erreichen, bevor wir hier verhungern.»

«Oder verdursten, wenn die Leitung einfriert», sagte Leonid düster.

«Wir haben drei Flaschen Wein.»

«Und wenn es uns nicht gelingt, Holz zu finden, frieren die auch noch ein», gab er zurück. «Die Frage ist: Wer erfriert schneller. Wir oder der Wein?»

«Wenn man Alkohol trinkt, erfriert man schneller», fiel mir ein.

Er verdrehte die Augen. «Los jetzt, anziehen, Holz finden!», befahl er und zog mir den Schlafsack weg.

Es war nicht so, dass es kein Holz gab. Das stand dort massenhaft und höchst lebendig herum, trug dunkle Nadeln und sah verdammt nach Weihnachtsbaum aus. Aber selbst Stadtgewächsen wie Leonid und mir war klar, dass frischer Baum nicht brennt. Außerdem hatten wir beide eine Scheu davor, einen umzubringen. Und zu guter Letzt waren wir uns sicher, dass die Axt eher unser Leben kosten würde als das eines Baumes.

Es schneite. Das erwähnte ich bereits. Aber dies war nicht die gewöhnliche Form von «es schneit», sondern zwischen all die Flocken passte nur noch sehr wenig Luft. «Wow», flüsterte ich, als wir beide dick eingepackt vor der Tür standen. «Man könnte meinen, die Wolken lösten sich auf und fielen in Fetzen auf die Erde hinunter.»

«Und damit hätten wir Weihnachtswunder Nummer eins», sagte Leonid und zog eine Augenbraue hoch. «Sieht das da hinten übrigens wie ein Schuppen aus?»

«Wie ein Schuppen, der zu einem Nachbarhaus gehört?»

«Wir befinden uns in einem Notfall, und das läuft unter Mundraub. Enteignet die Holzkapitalisten!» Wir kämpften uns zu dem Schuppen vor und pressten unsere Nasen an die kleine Scheibe. «Whoa! Erfrierungstod abgewendet!», Leonid puffte mich begeistert auf den Oberarm.

«Ja, aber hast du das Schloss gesehen?»

«Wir haben eine Axt», entgegnete mein Freund. Ich hatte ihn noch nie so wild entschlossen erlebt.

Zum Glück für unsere Arme und Beine und zu unserem großen Erstaunen war das Schloss nur lose eingehängt. «Weihnachtswunder Nummer zwei», murmelte ich. Ehrfürchtig öffneten wir die Tür.

Nur etwa eine Stunde später knisterte in unserem Kamin ein Feuerchen, und keiner von uns beiden hatte eine Ahnung, wie es dahin gekommen war, außer dass meine Streichhölzer und ein paar Klorollen beteiligt gewesen waren. Wir saßen mit zwei dampfenden Tassen Instantkaffee mit H-Milch und ein paar Butterkeksen vor dem Kamin und hielten unsere nackten Füße Richtung Flammen. Draußen schneite es unverändert heftig.

«Machen wir gleich einen Spaziergang?»

«Igitt. Das klingt so bürgerlich.»

«Einen Sondierungsrundgang?»

Leonid nickte gnädig und legte einen extradicken Scheit auf die Glut.

Als wir in unseren Wanderstiefeln in das große Weiß hinausstolperten, war der Nachschub in der oberen Etage offensichtlich alle, oder die Wolken machten Mittagspause.

Es war, als ob der Wald uns durch eine geheime Tür in sein vor Kälte erstarrtes Inneres einlud. Ein Weg, nur zu ahnen zwischen den Tannen, wand sich um knorrige Felsen, Schneestaub funkelte in der Luft, und in unseren Lungen schien die frostige Luft tausend Stacheln auszufahren. Nach ein paar hundert Metern griff Leonid nach meiner Hand. Wir schnauften und schwiegen und starrten.

Als wir wieder auf der Wiese hinter unserem Häuschen ankamen, warf er mich plötzlich in den Schnee. Immerhin schaffte ich es, ihn eiskalt abzureiben, nachdem er mir etwa ein Kilo Schnee in den Ausschnitt gestopft hatte. Danach übten wir Die-Schuppentür-mit-Schneebällen-treffen-oder-wenigstens-den-Schuppen, bis mir einfiel, dass man auch Feuer gelegentlich füttern muss.