Holiday Ever After - Hannah Grace - E-Book

Holiday Ever After E-Book

Hannah Grace

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Beschreibung

Happy Holidays aus Fraser Falls!

Statt wie geplant die Karriereleiter im Unternehmen ihrer Familie zu erklimmen, hat Clara Davenport einen PR-Skandal am Hals. Die Spielzeugfirma soll das Design einer Puppe von einem Betrieb aus Fraser Falls gestohlen haben. Kurzerhand reist Clara in die verschneite Kleinstadt, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Doch der Erfinder der Holly-Puppe ist ausgerechnet Jack Kelly - der verboten gut aussehende Problemlöser der Stadt, der nicht vorhat, sich ein zweites Mal von einer Davenport übers Ohr hauen zu lassen. Clara will ihm beweisen, dass sie anders ist, und merkt dabei, dass sie ihr Herz nicht nur an die malerische Kleinstadt, sondern auch an Jack verliert ...

»Hannah Grace zaubert funkelnde Kleinstadtmagie in diesem festlichen Feel-Good-Traum von einem Buch.« B.K. Borison

Eine winterliche Small-Town-Romance von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Hannah Grace

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Seitenzahl: 624

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Hannah Grace bei LYX

Impressum

Hannah Grace

Holiday Ever After

Roman

Ins Deutsche übertragen von Christina M. Eschbacher und Klara Hofmann

ZU DIESEM BUCH

Clara Davenport möchte endlich die Karriereleiter im Unternehmen ihrer Familie erklimmen. Sie hat schon länger ein Auge auf die Position des Directory of Innovation geworfen und gibt seit Jahren alles, um ihrem Vater zu beweisen, dass sie für die Beförderung bereit ist. Doch statt aufzusteigen, wird sie dazu verdonnert, Schadensbegrenzung zu betreiben, denn Davenport Innovation Creative hat einen ausgewachsenen PR-Skandal am Hals: Die Spielzeugfirma wird beschuldigt, ein Puppendesign von einem kleinen Betrieb aus Fraser Falls kopiert zu haben. Kurzerhand reist Clara in das verschneite Städtchen, um die Bewohner von Fraser Falls davon zu überzeugen, dass der Name Davenport nicht der Ursprung allen Übels ist. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn der Erfinder der Holly-Puppe ist ausgerechnet Jack Kelly. Jack ist der verboten gut aussehende, charmante Problemlöser von Fraser Falls, mit dem Clara einen romantischen Abend in der lokalen Bar verbringt und der nichts mehr von ihr wissen will, als er erfährt, dass sie eine Davenport ist. Clara will Jack und ganz Fraser Falls beweisen, dass sie anders ist – und merkt schon bald, dass sie ihr Herz nicht nur an die malerische Kleinstadt verliert …

Für Becs, mein Christmas Girl

KAPITEL 1

Clara

Verglichen mit den Generationen vor uns fühlt es sich so an, als würden wir mit einem beachtlichen Vorsprung ins Rennen des Lebens starten. Türen, von deren Existenz meine Vorfahren nicht einmal zu träumen wagten, stehen mir offen, auch wenn das zugegebenermaßen nicht allein mein Verdienst ist. Ohne die finanzielle Unterstützung meiner Eltern wären einige dieser Türen vermutlich verschlossen geblieben, und wahrscheinlich hielte ich heute eher einen Mietvertrag in der Hand als eine Eigentumsurkunde. Gemessen an den bescheidenen Möglichkeiten der damaligen Zeit wäre mein Lebensstandard für meine Ahnen wohl kaum mehr gewesen als ein Märchen.

Zweifellos haben die technologischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte unseren Alltag in vielerlei Hinsicht revolutioniert. Und doch überkommt mich, trotz des idyllischen Tagesbeginns in meiner Wohnung im West Village, ein eigentümlicher Neid auf jene Generationen, deren Kommunikation mit der Welt noch analog stattfand. Sie wurden ganz sicher nicht nach vier verpassten Anrufen meines Vaters von einem Dutzend »Hast du das schon gesehen?!«-Nachrichten aus dem Schlaf gerissen.

Nicht einmal ein Eisbad könnte diesem hochdosierten Stresscocktail etwas entgegensetzen. Schon gar nicht mehr jetzt, wo dem Ganzen auch noch ein ordentlicher Schuss Panik hinzugefügt wird, als ich beim Durchchecken meiner Mails drei verschiedene Social-Media-Links im Posteingang entdecke. Und das alles, bevor ich überhaupt einen Fuß in den Konferenzraum des Davenport Innovation Creative Headquarters gesetzt habe.

Montage gehören ohnehin zu meinen persönlichen Endgegnern der Woche. Doch eine handfeste Montagskrise, und das ausgerechnet in der zweiten Woche nach meiner Rückkehr ins Büro, fühlt sich an wie der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind.

Ich setze mich auf den hintersten Stuhl gegenüber vom Fenster, stelle einen der beiden Kaffeebecher vor mir auf dem Tisch ab und parke den anderen links daneben. Das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelt sich in der Glasfront, die sich von einer Ecke des Raumes zur anderen zieht. Rechts vom Empire State Building blickt mir mein schemenhaftes Ebenbild aus der Fensterscheibe entgegen, während hinter mir die Stadt in ihrer vollen, grauverhangenen Novembertristesse aufragt.

Pünktlich um 7:58 Uhr trottet auch der Rest meines Kollegiums durch die Tür und lässt sich mit mürrischen Blicken und hörbar genervtem Gemurmel auf den Sesseln rund um den Tisch nieder. Ich wäre jedoch die Letzte, die ihnen diesen Missmut verübeln könnte. Schließlich ist auch ihr Montagmorgen diesem kurzfristig anberaumten Meeting zum Opfer gefallen.

Der Boden unter meinen Füßen bebt, als eine prall gefüllte Birkin-Tasche direkt neben meinen Pumps aufschlägt. Ich schenke Sahara ein müdes Lächeln, während sie sich auf den freien Stuhl neben mir sinken lässt und sich auf den Kaffeebecher stürzt, den ich ihr auf dem Weg ins Büro mitgebracht habe. Sie trinkt einen großen Schluck und gibt einen genussvollen Seufzer von sich: »Ich lieeebe dich, Clara Davenport.«

»Du liebst Kaffee«, stelle ich richtig und weiche im selben Moment zur Seite aus, in dem Sahara die Hand nach meinem Schopf ausstreckt, um mir durchs Haar zu wuscheln. In diesem Augenblick betritt nun auch mein Vater den Raum, dicht gefolgt von Roger aus der PR-Abteilung, und nimmt wie gewohnt am Kopf des Tisches Platz. Immerhin befinde ich mich so außerhalb seines Sichtfeldes.

Nach dem vermutlich kürzesten Briefing der Menschheitsgeschichte ergreift Roger das Wort, räuspert sich und wendet sich der Leinwand hinter sich zu. »Guten Morgen allerseits«, donnert seine tiefe Stimme durch den Raum, während die Präsentation im Hintergrund noch kurz nachlädt.

Keine Sekunde später erscheint das eingefrorene Standbild einer älteren Dame auf der Leinwand, oder besser gesagt der Ausschnitt ihres Gesichts, der nicht von einem überdimensionalen Play-Button verdeckt wird. Nicht, dass dieses Video etwas zeigen würde, das ich nicht längst kenne. Ich habe dieses Gesicht heute bereits so oft gesehen, dass es sich unausweichlich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Ihr Haar schimmert eisblond, fast schon silbern. Eine einzelne gelockte Strähne fällt ihr leicht in die Stirn und verschwindet hinter ihrem rechten Ohr, ihre restlichen Haare hat sie zu einem französischen Twist nach hinten gebunden.

Schwer zu sagen, wie alt diese Dame sein mag. Eine genaue Zahl lässt sich kaum festmachen, doch sechzig scheint mir eine realistische Schätzung. Ihre sonnengeküsste Haut verrät, dass sie vor Kurzem noch irgendwo unter südlicher Sonne gelegen hat, fernab vom regnerischen New York. Hinter der braunen Umrahmung ihrer markant großen Cateye-Brille blitzen ihre strahlenden Augen hervor. Feine Fältchen zeichnen sich um ihre Augen ab und stehen in starkem Kontrast zu ihrer fast verdächtig glatten, faltenfreien Stirn.

Nach dem, was ich heute Morgen so aufgeschnappt habe – und was gleichzeitig für den emotionalen Totalschaden dieses Tages verantwortlich ist –, steht eines fest: Diese Frau gleicht vor der Kamera einer Naturgewalt – eindrucksvoll, Respekt einflößend und ehrlich gesagt ein bisschen einschüchternd.

Wenn ich selbst in ferner Zukunft auf die Sechzig zusteuere, dann bitte mit genau dieser Art von Präsenz.

»Ich komme gleich zur Sache. Die meisten von euch dürften das Video, das übers Wochenende viral gegangen ist, bereits angeschaut haben. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es jemandem entgangen sein sollte, und weil wir alle auf dem gleichen Stand sein müssen, um mit dieser kleinen Katastrophe angemessen umzugehen, spiele ich es jetzt noch einmal ab. Unser Social-Media-Team arbeitet bereits unter Hochdruck daran, das Ganze einzudämmen, aber bisher sieht es nicht so aus, als würde sich der Sturm so bald legen.«

Noch vor dem ersten Strahl der Sonne schickte mir Sahara, die Leiterin unserer Social-Media-Abteilung, eine Sprachnachricht, in der sich ihre Stimme vor schierer Panik beinahe überschlug. Normalerweise, sagte sie, würde ein Shitstorm zu diesem Zeitpunkt langsam abebben. Aber dieser hier scheint sich gerade erst warmzulaufen.

Zusammen mit ihrem Team hat Sahara gerade erst wenige Wochen zuvor eine digitale Schlammlawine überlebt, losgetreten von einem KI-generierten Video, in dem eines unserer Davenport-Spielzeuge in die Luft fliegt. Alle sind durch, regelrecht ausgebrannt, und dieser neue Aufruhr kommt ungefähr so gelegen wie ein Stromausfall während einer Live-Schalte. Kein Wunder, dass ihr Nervenkostüm nur noch an einem seidenen Faden hängt.

Das Licht im Konferenzraum wird gedimmt, und Roger startet das Video.

Guten Tag. Mein Name ist Florence Girard, und ich bitte Sie um Unterstützung für unsere Kleinstadt über die Feiertage hinweg, nachdem Davenport Innovation Creative uns etwas gestohlen hat.

Eines muss ich ihr lassen. Diese Frau versteht es, die Aufmerksamkeit der digitalen Massen auf sich zu ziehen und dabei die Algorithmus-Götter gnädig zu stimmen. In ihrem amerikanischen Akzent schwingt etwas Europäisches mit. Eine Kombination, die ich mir lieber auf der Kinoleinwand anhören würde als auf meiner For-You-Page.

Vor exakt drei Wochen verkündete Davenport feierlich, dass sie pünktlich zu den Festtagen ihre neue Evie-Puppe auf den Markt bringen würden. Doch neu ist an dieser Puppe rein gar nichts. Sie stellt eine dreiste Eins-zu-eins-Kopie eines Produkts dar, das hier in Fraser Falls mit Herzblut entworfen und realisiert wurde. Unsere Holly-Puppe. Letztes Jahr war sie auf einen Schlag in aller Munde, nachdem ein prominenter Gast an unserem Support-Your-Locals-Samstag über sie postete. Es folgte ein regelrechter Ansturm aus Bestellungen und neugierigen Besucherinnen und Besuchern. Unter ihnen befanden sich auch Davenport-Mitarbeiter.

HollyistweitmehralsnureinePuppe.SieisteinechtesGemeinschaftsprojektundträgtdazubei,unserevielenkleinen,unabhängigenGeschäftehierinFraserFallsamLebenzuhalten.JedernochsokleineBestandteilwirddirektindenVereinigtenStaatenausrecycelbaren,ungiftigenMaterialiengefertigt.Alle,dieanPlanungundHerstellungbeteiligtsind,erhaltenfaireLöhnefürihreArbeit.Und jede einzelne Puppe kommt mit einem Echtheitszertifikat.

Ich liebe Holly. Und alles, was sie für unsere Stadt getan hat. Ich liebe unsere eingeschweißte Gemeinschaft, die dieses Produkt überhaupt möglich macht. Und ebenso liebe ich unsere Kundinnen und Kunden, die sich aus der Masse an Optionen bewusst für uns entscheiden, obwohl es auf dem Markt Puppen wie Sand am Meer gibt.

Der sanfte Ausdruck auf ihrem Gesicht wird langsam steinern. Härter. Müder. Ernüchtert. Die kleinen Lachfältchen an ihren Mundwinkeln verschwinden, als sie die Lippe zu einer geraden Linie zusammenpresst.

Von Liebe kann bei Davenport keine Rede sein.

Beim Klang ihres schneidenden, resoluten Untertons geht ein leises Raunen durch den Raum.

Und Holly lieben sie auch nicht. Dabei haben sie genau das behauptet, als sie im Januar hier aufgetaucht sind und uns für ihr Unternehmensförderprogramm gewinnen wollten, das angeblich kleinen Betrieben beim Wachsen hilft. Sie versprachen, unser Design zu schützen. Doch nachdem wir ihr Angebot ausgeschlagen hatten, haben sie uns dreist kopiert.

Ihr billiger Abklatsch, die Evie-Puppe, ist im Prinzip die Antithese zu allem, was wir hier in Fraser Falls aufzubauen versuchen. Zu Holly gehören sechs fantasievolle Abenteuergeschichten, die gemeinsam von der Green Light-Buchhandlung und der Fraser Falls-Kunstschule erdacht und mit Leben gefüllt wurden. Evies Geschichten stammen hingegen aus dem Textbaukasten einer künstlichen Intelligenz. Hollys Spielzeuge werden aus Holz gefertigt, jedes einzelne handgemacht in der Werkstatt von Harry’s. So konnten im Sommer sogar Praktikumsplätze für Jugendliche geschaffen werden, die dabei ihr erstes eigenes Geld verdienten. Evies Zubehör dagegen besteht aus Plastik und stammt komplett vom Fließband.

Florence Girard zählt Punkt für Punkt weiter auf, warum Holly besser ist als unsere Evie. Besser als alles, was Davenport ihrer Meinung nach je auf den Markt geworfen hat. Ich lausche still, und doch kocht in mir die Wut hoch, dass das hier tatsächlich passiert. Jetzt ist sie bei dem Teil des Videos angelangt, der am meisten schmerzt.

Seit Davenport ihre neue, halb so teure Puppe angekündigt hat, wurde etwa die Hälfte unserer bestehenden Aufträge storniert. Neue Bestellungen bleiben aus, die Nachfrage ist in den letzten drei Wochen spürbar eingebrochen.

Konzerne wie Davenport handeln in dem Glauben, sich alles erlauben zu können und damit ungeschoren davonzukommen. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Mithilfe, um solchen Unternehmen, die auf Kosten anderer Gewinne erzielen, zu zeigen, dass es auch Grenzen gibt. Fraser Falls hat viel zu bieten, und wir würden uns freuen, Sie in der bevorstehenden Weihnachtszeit bei uns begrüßen zu dürfen. Ganz gleich, ob Sie eine Holly-Puppe kaufen oder nicht. Gerade jetzt, in dieser besonderen Zeit des Jahres, zeigt unsere Stadt ihr hellstes Gesicht. Und wir würden uns wünschen, dass Sie ein Teil davon sind. Eine Übersicht aller geplanten Veranstaltungen mit sämtlichen Details finden Sie am Ende des Videos.

Setzen Sie dieses Jahr ein Zeichen, und unterstützen Sie kleine, ehrliche Betriebe. Auch wenn Sie Fraser Falls nicht Ihr Zuhause nennen können, gibt es überall im Land Gemeinden, die gerade Opfer wirtschaftlichen Mobbings werden – drangsaliert, tyrannisiert und von mächtigen Großkonzernen wie Davenport gnadenlos niedergewalzt. Und genau diese Orte brauchen Menschen wie Sie, die an ihrer Seite stehen.

Das Wort Mobbing hängt im Raum, dicht und schwer wie abgestandener Rauch. Selbst als das Licht zurückkehrt, verzieht es sich nicht.

»Der Hashtag ›Cancel Davenport‹ trendet auf sämtlichen Plattformen«, verrät Roger. »Obwohl Miss Girard das Wort Boykott mit keiner Silbe erwähnt hat, fühlen sich die selbst ernannten Aktivistinnen und Aktivisten längst zum Handeln berufen. Sie tun, was sie am besten können. Sie erzeugen Lärm, Aufmerksamkeit und Reichweite. Und leider sind sie damit ziemlich erfolgreich. Sahara, kannst du das für uns ein wenig einordnen?«

Sahara nickt knapp und stellt ihren Kaffeebecher auf den Tisch. »Im Grunde sind es immer dieselben Accounts, die solche Protestwellen lostreten. Intern nennen wir sie die Shitstorm-Geier. Sie kreisen über allem, was nach Empörung riecht, und stürzen sich mit Vorliebe auf jedes Thema, das sich in Negativschlagzeilen verwandeln lässt. Und durch die Bots gelangt es in Rekordzeit an die jeweilige Zielgruppe. Sobald der Aufruhr abklingt und ihr Ziel nur noch Schutt und Asche ist, zieht der Tross zum nächsten Krisenschauplatz weiter. Nur leider ist diese Sache inzwischen aus den üblichen Filterblasen herausgebrochen und erreicht im Gegensatz zu unserem letzten Vorfall im Netz nun Menschen, die normalerweise mit diesem Content nichts am Hut haben.«

»Woran liegt das deiner Meinung nach?«, fragt Dad und lehnt sich dabei über den Tisch, um einen besseren Blick auf Sahara zu haben.

»Beim letzten Fall ließ sich die Situation wesentlich schneller in den Griff kriegen. Schon nach kurzer Zeit und vor unseren Gegenmaßnahmen haben viele Userinnen und User rasch erkannt, dass das KI-Video nicht echt war«, erklärt Sahara. »Wir haben sofort die Kommunikationsführung übernommen, deutlich gemacht, dass es sich um ein gefälschtes Video handelt, und gleichzeitig aufgezeigt, woran man Deepfakes dieser Art erkennen kann. Unsere Community hat diese Beiträge geteilt und damit nicht nur unsere Arbeit erleichtert, sondern auch dafür gesorgt, dass die Botschaft weitreichend Gehör fand.«

»Warum klappt das dieses Mal nicht?«, hakt mein Vater weiter nach, woraufhin Sahara schweigt. Es ist kaum zu übersehen, wie sie innerlich um Worte ringt, um die Wahrheit auszusprechen, ohne jemandem auf die Füße zu treten.

Ich beuge mich über die Tischkante, bis ich in seinem Blickfeld bin. »Ein Deepfake lässt sich als solches entlarven. Aber man kann nicht behaupten, kein Design kopiert oder keiner Stadt geschadet zu haben, wenn genau das der Fall ist.«

Es hat erstaunlich wenige Vorteile, die Tochter des Chefs zu sein, außer wenn es darum geht, das Kind im Raum beim Namen zu nennen.

»Das Kleinunternehmenförderprogramm war deine Idee, Clara. Wie schaffen wir dieses Fiasko deiner Meinung nach wieder aus der Welt?«, verlangt mein Vater zu wissen.

Ich warte nur darauf, dass endlich jemand den Mund aufmacht und daran erinnert, dass ich das vergangene Jahr als Vertretung einer langzeitkranken Kollegin in einer völlig anderen Abteilung gearbeitet habe und dass dieser Schlamassel nicht nur nicht auf meine Kappe geht, sondern mir allenfalls vor die Füße geworfen wurde, als der Schaden längst angerichtet war. Doch wie schon zuvor herrscht eisernes Schweigen.

Ich war nicht diejenige, die sich im Zuge eines Akquiseversuchs nach Fraser Falls auf den Weg gemacht hat. Bis vor zwei Wochen wusste ich nicht einmal, dass dieses Kleinstädtchen überhaupt existiert. Gerade einmal so lange ist es her, dass ich aus der Vertretung zurück in meinen regulären PR-Posten zurückgekehrt bin und die Verantwortung für meine sechs Social-Media-Accounts wieder übernommen habe. Irgendjemand erwähnte Fraser Falls am Rande, während ich mich gerade darüber echauffierte, wie erschreckend unansehnlich die neue Evie-Puppe geraten ist. Damit endet mein Beitrag an Wissen zu dieser ganzen Misere auch schon.

Das Kleinunternehmenförderprogramm ging aus einer Arbeitsgruppe zur sozialen Unternehmensverantwortung hervor. In meinem Jahresgespräch hieß es, dass ich, wenn ich Führungsverantwortung übernehmen wolle, etwas auf die Beine stellen müsse, das Davenport Innovation Creative einen messbar positiven Effekt beschert.

Mein Plan war simpel, aber zugleich vielversprechend. Unser Monopol-Image sollte ein menschlicheres Gesicht verpasst bekommen, indem wir gezielt kleine, unabhängige Unternehmen unterstützen, in denen echtes Wachstumspotenzial steckt. Auf diese Weise konnten wir Bewegung in einen stagnierenden Markt bringen und gleichzeitig an Reputation gewinnen. Eine klassische Win-win-Situation für beide Seiten. Angesichts der Tatsache, dass Davenport vor einem halben Jahrhundert selbst als kleines, unabhängiges Unternehmen gegründet wurde, bot es sich geradezu an, sich auf unsere Wurzeln und Werte zurückzubesinnen.

Mein Konzept stieß auf begeisterte Zustimmung. Im Rahmen meines Förderprogramms konnte ich sechs Unternehmen in den Vereinigten Staaten erfolgreich ins Onboarding begleiten, die, wenn ich das anmerken darf, heute prächtig florieren. Dann wechselte ich, wenn auch ungeplant und nicht ganz freiwillig, in eine höhere Position im Vertrieb. Eine Station, die ich als notwendigen Meilenstein auf meinem Karrierepfad betrachtete.

Wie genau es gelingen konnte, dass sie mit Fraser Falls volle Fahrt in eine Katastrophe brettern, bleibt mir ein Rätsel. Mein Vater sieht mich an, als hätte ich gleich eine bahnbrechende Idee parat, mit der sich das alles wieder einrenken ließe. Aber der einzige noch realistische Vorschlag, der uns aus diesem Schlamassel ohne Kratzer und Schrammen retten würde, lautet: Holt Doc Brown, besorgt euch einen DeLorean und reist zurück in die Vergangenheit. Idealerweise zu dem Zeitpunkt, bevor ihr beschlossen habt, einer Kleinstadt ihr Lebenswerk abzuknöpfen.

Ich streiche mir eine Strähne meines lockigen rotbraunen Haares aus dem Gesicht. »Wir müssen uns aufrichtig bei der Stadt entschuldigen. Nicht in Form einer floskelhaften Pressemitteilung, sondern mit einem sichtbaren Zeichen. Eine öffentliche Entschuldigung, begleitet von Investitionen und einer gezielten Öffentlichkeitskampagne, wäre ein guter Anfang zur Schadensbegrenzung. Wir müssen das Bild loswerden, dass wir mit schmutzigen Methoden ehrliche Amerikanerinnen und Amerikaner um ihr sauer verdientes Geld bringen. Stattdessen sollten wir uns neu positionieren, als ein Unternehmen, das Verantwortung übernimmt, Fehler eingesteht und Wiedergutmachung leistet.«

»Sich zu entschuldigen, lässt es aussehen, als hätten wir etwas falsch gemacht.« Die Stimme klingt wie Kreide auf einer Schultafel, nur zehnmal schlimmer. Es kostet mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht augenblicklich das Gesicht zu verziehen. Vor dem versammelten Team reiße ich mich zusammen und widerstehe dem Impuls, Daryl Littler mit meinem Blick niederzubrennen. Zwölf Monate lang hatte ich das Vergnügen, ihm aus dem Weg zu gehen, und selbst nach dieser langen Zeit ist er noch immer das selbstgefällige Ekelpaket von damals. »Ich halte das nicht für den richtigen Schritt.«

In einem anderen Stockwerk zu arbeiten, kommt einem unterschätzten Segen gleich, wenn es darum geht, bestimmten Menschen aus dem Weg zu gehen, deren bloße Existenz einem den Puls hochtreibt. Daryl Littler steht ganz oben auf dieser Liste. Ich erinnere mich daran, dass er in acht Wochen endlich in den Ruhestand geht, und bemühe mich, meinem Gesicht nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich innerlich auf diesen Moment hinfiebere. Den Bruchteil einer Sekunde lang wundere ich mich, warum er überhaupt an dieser Krisensitzung teilnimmt, nachdem nur die Leute aus Marketing und PR einberufen wurden. Doch dann fällt es mir wieder ein. Die Evie-Puppe ist das Ergebnis seiner Arbeit und der seines Teams.

Daryl bekleidet die Position des Director of Innovation. Seine Aufgabe, ebenso wie die seiner gesamten Abteilung, besteht eigentlich darin, unsere Marke mit frischen Ideen und innovativen Konzepten am Puls der Zeit zu halten. Wenn die Hauptzielgruppe schneller umschwenkt als der nächste TikTok-Trend, darf man sich nicht zurücklehnen, sondern muss vorausdenken.

Bisher hat er es lediglich geschafft, echte menschliche Kreativität durch künstliche Intelligenz zu ersetzen und auf Kosten der Qualität zu sparen. Weil seine Abteilung eine schlanke Kostenbilanz vorweisen kann, hält ihn mein Vater für eine Koryphäe der Kostenoptimierung. In Wahrheit verkörpert er das Gegenteil von allem, wofür dieses Unternehmen stehen sollte.

Abgesehen davon, dass seine ethischen Grundwerte irgendwo zwischen Profit und Profilierung verloren gingen, habe ich ihn noch nie dabei erlebt, wie er seinem Team auch nur ein Fünkchen Anerkennung zollt. Die Ideen, die er nicht gerade aus irgendeiner Kleinstadt mopst, stammen von seinen eigenen Leuten, aber glänzen darf am Ende natürlich nur er. Es erscheint mir menschlich fast unmöglich, jemanden mehr zu verachten, als ich ihn verachte.

Da sein Ruhestand kurz bevorsteht, habe ich all meine Energie darauf verwendet, mich als seine Nachfolgerin ins Spiel zu bringen. Jeder weiß, dass ich es auf jenen Director-Posten abgesehen habe, da meine Leidenschaft in der kreativen Weiterentwicklung unseres Unternehmens liegt – und nicht im ständigen Krisenmanagement von einem PR-Debakel zum nächsten. Trotzdem ist es mir bislang nicht gelungen, meinen Vater davon zu überzeugen, mir Daryls Nachfolge zuzutrauen.

Ich habe den leisen Verdacht, dass mein Vater den Posten ohnehin meinem Bruder zuschanzen wird, aber dieses Problem steht heute nicht ganz oben auf der Liste der Ungerechtigkeiten, die es zu bereinigen gilt. Also schenke ich Daryl ein knappes, höflich gequältes Lächeln. »Danke für deinen Beitrag, aber Verdrängung ist keine Krisenstrategie. So zu tun, als hätten wir alles richtig gemacht, bringt uns hier nicht weiter. Es braucht ein direktes Gespräch mit Miss Girard, um gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten, damit wir diesen Supergau aus der Welt schaffen können. In der Zwischenzeit brauchen unsere Teams in den Davenport-Filialen für den Fall, dass sie im Laden darauf angesprochen oder direkt damit konfrontiert werden, eine abgesegnete Antwort.«

Roger bekräftigt jedes meiner Worte mit einem zustimmenden Nicken, was mir das Gefühl gibt, nicht vollkommen auf verlorenem Posten zu stehen. Er ist der Vorgesetzte meiner Chefin, und da sie derzeit Urlaub in Cancún macht, bin ich bis zu ihrer Rückkehr das dienstälteste Gesicht im Team.

»Einverstanden«, sagt Roger und sieht zu mir. »Clara, du setzt dich mit Miss Girard in Verbindung und findest heraus, was sie sich jetzt erhofft, nachdem ihr Video genau die Wellen schlägt, auf die sie abgezielt hat. Wir werden etwas finden, das wir ihr anbieten oder für sie tun können, um die Sache ein für alle Mal zu klären. Sahara, du wirst in der Zwischenzeit …«

Während Roger die Aufgaben an die Leute im Raum verteilt, schalte ich innerlich auf Durchzug. Pressemitteilungen, Reaktionen auf Social Media und vorformulierte Antworten für den Einzelhandel – ein ganzes Tagespensum, nur damit wir den Scherbenhaufen beseitigen, den Daryls Einfallslosigkeit hinterlassen hat.

Ich zähle bereits die Tage, bis sein Name nur noch in der Betriebschronik auftaucht.

KAPITEL 2

Clara

»Weißt du, was dir niemand über Vetternwirtschaft verrät? Dass du trotzdem den Kürzeren ziehen kannst, wenn du nicht das Lieblingskind bist.«

»Ich …«, höre ich Honor noch ansetzen, bevor ihre Stimme von einer Sekunde auf die nächste verstummt. Ich reiße meinen Blick von den kahlen Baumgerippen entlang des Straßenrandes los und sehe auf das Display meines Handys, um zu prüfen, ob die Verbindung tot ist oder es meiner Freundin mitten im Satz die Sprache verschlagen hat. Verdammt. Nur ein Balken. Instinktiv halte ich das Telefon dichter an die Autoscheibe, als hätte das jemals irgendetwas bewirkt.

»Hon? Der Empfang ist gerade schlecht. Bist du noch da?« Nach ein paar Augenblicken Stille dringt endlich ein Seufzen am anderen Ende der Leitung durch den Hörer, das klingt, als stamme es direkt aus den Tiefen von Honors Seele.

»Ist kritisches Denken in der Familie Davenport eigentlich eine ausgewiesene Allergie, oder bekommst du die Quaddeln nur dann, wenn du deinem Vater bei der Arbeit über den Weg läufst?« Das Lachen bricht so ungebremst aus mir heraus, dass selbst mein Fahrer, der, seit er mich eingesammelt hat, einen Mönch mit Schweigegelübde mimt, im Rückspiegel kurz die Augenbraue lupft. »Du kannst dir deine Antwort sparen, ich kenne sie eh schon.«

Eine beste Freundin, die gnadenlos ehrlich ist und immer sagt, was sie denkt, ist pures Gold wert, bis sie dich unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückholt, obwohl du noch ein paar Runden auf deiner gemütlichen Wolke aus Trübsal drehen wolltest. »Kannst du mich nicht ausnahmsweise mal ein klitzekleines bisschen bemitleiden?«

»Auf gar keinen Fall«, entgegnet sie. »Ich werde dein Elend nicht auch noch befeuern und den Auftakt für Staffel zwei von Die Leiden der jungen Clara einläuten. Das kriegst du auch ganz gut allein hin.«

»Heute bist du aber besonders fies. Nicht, dass ich es nicht verdient hätte, aber gefallen tut mir das trotzdem nicht.«

Ihr Versuch, ein Gähnen zu unterdrücken, scheitert kläglich, und das vertraute Klirren der Thermobecher, begleitet vom Mahlen der Kaffeemaschine, können nur eines bedeuten: Gleich bricht für sie eine weitere Nachtschicht in der Notaufnahme an. »Tja. Letzte Nacht hat sich jemand direkt auf meine Schuhe übergeben, und die Chancen stehen hoch, dass sich das heute wiederholt.« Bingo.

»Mit anderen Worten: Wir hassen beide unsere Jobs und sollten kündigen?« Seit uns die Arbeitswelt mit offenen Armen empfangen hat, ploppt dieser Gedanke mindestens einmal im Monat auf – mehr aus Spaß an der Übertreibung als aus wirklicher Absicht. Meistens jedenfalls. Schließlich träumte Honor schon als Kind davon, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und Krankenschwester zu werden.

»Clara, dein Job ist nicht das Problem. Du bist nur sauer, weil dein Vater den Posten, für den du dir seit Jahren den Arsch aufreißt, mit hoher Wahrscheinlichkeit deinem Bruder zuschiebt. Also kündige und arbeite für jemanden, der dich und deine Arbeit auch zu würdigen weiß.«

Ich rümpfe die Nase. »Autsch.«

Noch vor vier Monaten hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass ausgerechnet Max mir Daryls Job vor der Nase wegschnappen könnte. Mein ein Jahr jüngerer Bruder hatte nach seinem Abschluss an der Business School einen achtzehnmonatigen Vertrag bei einer Firma in Boston angenommen. Die ersten zwölf Monate vergingen wie im Flug, und beim Grillfest zum Independence Day streute Dad dann ganz beiläufig ein, dass Max nach Vertragsende ins Familienunternehmen einsteigen könnte. Zufällig läuft sein befristeter Vertrag genau in dem Monat von Daryls Ruhestand aus.

Seitdem hängt die Frage nach einem Nachfolger wie eine Gewitterwolke über mir, und bisher habe ich noch keinen blassen Schimmer, wie ich dieses heikle Thema vor meinem Vater ansprechen soll. Mein Bruder und ich stehen seit jeher in einem stetigen Konkurrenzkampf um alles. Um die Aufmerksamkeit unserer Eltern, die so gut wie immer Max erntete. Um die kniffligen Aufgaben, die sich Grandpa für uns ausdachte, bei denen meist ich die Nase vorn hatte. Und um die Schulnoten, bei denen Max mich regelmäßig in den Schatten stellte.

Als wir allmählich in die Teenagerjahre kamen, herrschte zumindest an den schulfreien Tagen eine Art Waffenstillstand – hauptsächlich dank räumlicher Trennung. Ich hielt mich die Wochenenden über im Davenport Toy Emporium auf, dem Flaggschiff unter unseren Spielzeugläden, und verbrachte meine Zeit mit Kistenschleppen und dem Abwehren winziger, klebriger Zuckerwattefinger. Max hingegen führte im Kino seinen ganz eigenen Kampf gegen die Schwerkraft im Kinosessel, während er sich mit seinen Freunden eine Star-Wars-Episode nach der anderen reinzog.

In den Collegeferien arbeitete ich in der Firmenzentrale, holte Kaffee und machte Jagd auf jede Gelegenheit, um mehr über die Arbeitsabläufe und Prozesse in den jeweiligen Abteilungen zu lernen. Max wiederum nutzte die Sommer, um in Gokarts über Tokios Straßen zu brettern und in Kalifornien das Surfen zu lernen.

Direkt nach meinem Collegeabschluss stieg ich ganz offiziell ins Familiengeschäft ein, startete so weit unten, wie es für jemanden mit dem Namen Davenport möglich war, und hangelte mich in den darauffolgenden zehn Jahren Sprosse für Sprosse auf der Karriereleiter nach oben. Ein Jahr später schloss auch Max das College ab und nahm kurz darauf einen Job bei ein paar Techbrüdern im Silicon Valley an, ohne je Interesse an der Marke Davenport zu zeigen. Selbst dann nicht, als er sich später entschied, seinen Master nachzuholen.

Es geht nicht darum, Max aus dem Unternehmen rauszuhalten, zumal dies ohnehin nicht in meiner Entscheidungsgewalt liegt. Ich will nur nicht, dass er den Job einsackt, für den ich mich seit Jahren abrackere.

Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Scheibe des Fond und beobachte, wie die vorbeirauschenden Autos und der langsam dunkler werdende Himmel zu einem einzigen, verschwommenen Streifen verschmelzen. Honors Tochter ruft etwas im Hintergrund, zu leise, als dass ich es durch den Hörer verstehen könnte. »Müsste er nicht längst da sein, um sie abzuholen? Er ist doch nicht etwa schon wieder zu spät?«, frage ich.

»Natürlich ist er das. Und er ist eine ganze Liste an Dingen, die ich gerade nicht laut aussprechen kann.« Ihre Stimme klingt angespannt, wie immer, wenn es um den Vater ihrer Tochter geht. »Themenwechsel. Wie lange dauert die Fahrt noch?«

Ich schiele zum Navi auf dem Armaturenbrett. »Zwanzig Minuten.«

»Bist du nervös?«

»Nicht wirklich. Genervt trifft es wohl eher, weil diese Frau sich partout weigert, ans Telefon zu gehen, und ich nun persönlich nach Fraser Falls fahren muss, um mit ihr zu sprechen.« Nach einer fast vierundzwanzigstündigen Dauerbelagerung ihrer Telefonleitung hatte ich es lediglich geschafft, ihre Mailbox mit meiner überfreundlichen Stimme in ein Hörbuch zu verwandeln. »Aber die Stadt macht einen charmanten Eindruck, und ein kleiner Tapetenwechsel tut mir heute Abend bestimmt gut.«

Honor gibt erneut einen tiefen Seufzer von sich. »Und dieser ganze Wirbel nur wegen zwei Puppen.«

Na ja, es steckt weitaus mehr dahinter. Sie sind nur das Gesicht eines viel größeren Problems: Profitgier, Ideenklau und ein ordentlicher Imageschaden. Aber ja, im Grunde herrscht dieser ganze Trubel nur wegen zwei Puppen.

Zwar gibt es solche bereits seit Jahrtausenden, aber in den letzten dreihundert Jahren brachte der Handel eine unendliche Vielfalt an Formen, Farben, Varianten und Materialien auf den Markt. Und ausgerechnet diese eine Puppe aus Fraser Falls eroberte die Herzen von Eltern und Kindern in ganz Amerika im Sturm. Wie so viele andere kann auch ich nicht erklären, warum gerade sie und nicht eines der zahllosen anderen Exemplare auf dem Markt einen solchen Boom auslöste.

Probleme neigen dazu, sich zu vervielfachen, wenn etwas eine besondere Art von Magie besitzt, die niemand ergründen kann. Menschen wollen diesen Zauber für sich einfangen und kopieren, selbst wenn sie nicht wissen, worin er eigentlich liegt.

Das ist das Faszinierende und zugleich Bittere an einer Trendwelle im digitalen Zeitalter. Sie rollt heran, wächst über alle Köpfe hinweg und katapultiert ihren Schöpfer manchmal bis in völlig neue Sphären der Bekanntheit. Nur, wie legst du ein Comeback hin, wenn du selbst noch nicht einmal richtig begreifst, wie du den ersten Treffer landen konntest?

Und wie hältst du dich als Profiteur dieses Hypes an der Spitze, wenn die Konkurrenz jede sich bietende Gelegenheit ergreift, um dich vom Podest zu stoßen? Erst recht, wenn Firmen wie Davenport über mehr Geld, mehr Mittel und wahrscheinlich deutlich weniger Skrupel verfügen.

Ein Handbuch zum Erfolg existiert schlichtweg nicht, auch wenn selbst ernannte Online-Gurus mit ihren Pseudoversprechungen und Coachings behaupten, sie wüssten den einen Trick, den dir alle anderen verheimlichen. In Wahrheit ist es ein Zusammenspiel unzähliger Komponenten, beeinflusst von zahllosen Faktoren, die sich weder voraussagen noch minutiös kalkulieren lassen. Jeder in der Branche weiß das.

In unseren Teamsitzungen werfen wir mit Schlagworten wie Alleinstellungsmerkmalen und Individualität um uns, und trotzdem glaubten ein paar Genies, sie könnten ein kleines Unternehmen mit einer dreisten Kopie vom Platz fegen, ohne dafür die Quittung zu bekommen. Mein Großvater würde vor Wut an die Decke gehen, wenn er das miterleben müsste.

»Dad fürchtet, dass sich dieser Shitstorm ohne eine baldige Einigung weiter hochschaukelt und am Ende nicht nur die Umsätze ausbremst, sondern auch die Jubiläumsfeier unserer Clara-Puppe überschattet«, erläutere ich den Ernst der Lage. »Er will in diesem Jahr um jeden Preis den Spendenrekord knacken. Und damit die Geldgeber nach den jüngsten Schlagzeilen nicht samt Scheckheften zu Hause bleiben, soll dieses Ärgernis so schnell wie möglich vom Tisch.«

»Clara ist genauso vom Pech geküsst wie die andere. Also pack Evie am besten direkt in dieselbe Kiste und nagle den Deckel zu. Und wenn dein Vater wirklich so um die Verkaufszahlen bangt, kann er sich ja selbst ins Auto setzen und zur Abwechslung mal den Bauch dieser Dame pinseln statt die seiner Geldgeber.« Honor hatte noch nie viel für meinen Vater übrig, weshalb ich mir bei der Vorstellung ihres verdrossenen Gesichts die Hand vor den Mund halten muss, um nicht lauthals loszulachen.

Die Clara-Puppe, die Davenport vor zwanzig Jahren auf den Markt brachte, misst fünfundvierzig Zentimeter. Das kastanienbraune Haar teilt sich genau in der Mitte ihres Schopfes und fällt ihr in sanften Locken über die Schultern. Links wie rechts von ihrem Kopf werden die vordersten Strähnen je mit einer Samtschleifenspange zurückgesteckt.

Ihre haselnussfarbenen Augen, umrahmt von genau der richtigen Menge dunkler Wimpern, wirken im richtigen Licht sogar fast grün. Ein bedachtes Lächeln umspielt ihre Lippen, und unter der haferfarbenen Strickjacke blitzt ein blütenweißer Peter-Pan-Kragen hervor. Kombiniert wird das ganze Ensemble mit einem karierten Wollfaltenrock und braunen Mary-Jane-Schuhen aus Leder.

Jede Puppe kommt mit einer kleinen Canvas-Umhängetasche, auf deren Vorderseite ein besticktes C prangt. Darin finden sich winzige Papierbücher, ein kleiner Bleistift und ein Münzbeutel. Im Gegensatz zu den schrillen Konkurrentinnen ihrer Zeit war Clara kein Party-Girl im Paillettenkleid. Sie war die beste Freundin, die man sich nur wünschen konnte, ein echtes Vorbild und über viele Jahre hinweg unser unangefochtener Bestseller. Sie machte Davenport groß, und ihrem Erfolg ist es zu verdanken, dass wir so schnell wachsen konnten.

Auch heute fühlt es sich noch seltsam an, den eigenen Namen mit einer Puppe zu teilen. Damals machten sich die gehässigen Biester an meiner Schule nur zu gern darüber lustig, doch Honor stand stets an meiner Seite und beschwor mich, die spöttischen Kommentare an mir abprallen zu lassen. Selbstredend war die Puppe nach mir benannt worden. Aber nicht etwa aus einer rührenden Hommage meines Vaters heraus, sondern weil ich sie im Alter von zehn Jahren bei einer von Grandpas Aufgaben ausgetüftelt hatte.

Mein Vater wollte ihr ursprünglich einen anderen Namen geben, doch bei solchen Fragen behielt Grandpa meist das letzte Wort.

In diesem Jahr feiern wir bei unserer alljährlichen Benefiz-Weihnachtsgala auch Claras zwanzigsten Geburtstag. Dass Daryls Abteilung so schnell eine Freigabe für die Evie-Puppe erhielt, lag einzig und allein an der cleveren Verkaufsstrategie, sie als Claras jüngere Schwester zum Jubiläum zu lancieren.

»Ich muss jetzt leider Schluss machen, Hon. Die Arbeit ruft.«

Dass ich lieber an einem Workshop über die Geschichte des Tackergeräts teilnehmen würde, als dieses unliebsame Gespräch mit Miss Girard zu führen, liegt wohl auf der Hand.

Nachdem ich ein ganzes Jahr in einer völlig anderen Abteilung gearbeitet habe, muss ich erst wieder meinen Arbeitsrhythmus finden und mich mit den Aufgaben vertraut machen. Deshalb hatte ich vor, mir in den kommenden Wochen zunächst einmal einen Überblick zu verschaffen. So jedenfalls der Plan. Stattdessen darf ich nun wie das menschliche Pendant zum Duracell-Hasen von Betrieb zu Betrieb hetzen, um mögliche Bedenken auszuräumen, weil Florence Girard in ihrem Video das Kleinunternehmerförderprogramm erwähnt hat.

Alle Partner aus dem Programm gaben zu, nach der Veröffentlichung des Videos ihre Verträge noch einmal geprüft zu haben, fanden jedoch nichts Bedenkliches. Zwei der Firmen baten wegen des Feiertagstrubels um eine Verschiebung des gemeinsamen Treffens auf Januar. Die übrigen vier nahmen die Einladung dankend an.

Wenigstens stammten beide Absagen von genau jenen Unternehmen, die an der Westküste ansässig sind. Somit bleibt mir der sechsstündige Flug fürs Erste erspart. Die Niederlassungen der anderen Unternehmen liegen in Maine, in Pennsylvania und zwei von ihnen nur wenige Stunden voneinander entfernt in Illinois. Wenn alles glattgeht, bin ich spätestens Freitagnachmittag wieder zurück in New York.

»Das trifft sich gut. Ich muss mich nämlich auch auf den Weg machen, wo wir schon davon sprechen. Er fährt eben die Straße hoch.« Ich verstehe wirklich nicht, wie Honor so gelassen bleiben kann, obwohl sie beinahe jedes Mal wegen ihres Ex nur knapp pünktlich zur Arbeit erscheint, wenn er an der Reihe ist, die Kleine zu sich zu nehmen. »Ich drücke dir auf jeden Fall die Daumen. Erzähl mir danach unbedingt, wie es lief. Wenn es jemand schafft, alles wieder ins Lot zu bringen, dann du.«

»Ich drück dich.«

»Ich dich auch. Paloma, komm und sag Tante Clara … Huch. Sie ist wohl schon in ihr Zimmer geflitzt, um ihr Zeug zu holen. Egal. Sie drückt dich auch. Bye.«

Ich verabschiede mich ebenfalls, verstaue anschließend die Kopfhörer im Ladecase und stecke es zusammen mit dem Handy in meine Tasche. Laut Navi erreichen wir unser Ziel in fünf Minuten. Das Bed and Breakfast, in dem ich heute Nacht unterkomme, liegt nicht rein zufällig nur wenige Hundert Meter von der Bäckerei und dem angrenzenden Café von Miss Girard entfernt.

Meine kleine Recherche ergab, dass die Puppen offiziell in einem Geschäft für handgefertigte Möbelstücke namens Harry’s verkauft werden. Praktischerweise befindet sich dieses genau gegenüber von Girards beiden Läden. Von der Unterkunft bis zum Gesprächseinstieg habe ich bereits alles sorgfältig durchgeplant. Morgen spaziere ich ins Bliss Café und hocke mich in irgendeine Ecke, von wo aus ich alles im Blick behalten kann. Sobald sich der erste Ansturm legt, versuche ich mein Glück bei ihr. Danach geht es direkt zu Harry’s auf der anderen Straßenseite.

Wenn mein Masterplan aufgeht und Davenport einen Haken unter die Fraser-Falls-Sache setzen kann, mache ich mich zeitig auf den Weg in Richtung meines zweiten Zwischenstopps in Maine. Und sollte sich das Ganze doch komplizierter als erwartet gestalten, darf ich mich morgen immerhin auf Hummer zum Abendessen freuen. Heute Abend reicht mir ein kleiner Snack in der gut bewerteten Bar unweit meiner Unterkunft, bevor es für mich früh ins Bett geht.

Keine zwei Minuten nach der Abfahrt vom Highway führt unser Weg über eine schmale Straße, die sich zwischen mehreren Feldern hindurchschlängelt. Ich lasse meinen Blick über die Landschaft schweifen und sehe dabei zu, wie das warme Orange des Sonnenuntergangs in ein tiefes Blau übergeht.

Auf einem der Felder ragt dicht am Straßenrand ein waldgrünes Schild auf, das uns in dicken, weißen Lettern in Fraser Falls willkommen heißt.

»Wir sind fast da«, informiert mich mein Fahrer, während wir weiter auf die ersten Häuser zusteuern.

Die gesamte Straße erstrahlt im goldenen Schein unzähliger Lichterketten, die sich über sämtliche Gebäudefassaden, Baumkronen und Laternen spannen und an denen kleine, funkelnde Schneeflocken baumeln, die aussehen, als würden sie schwerelos in der Luft hängen. Selbst die Baumstämme und Laternenpfosten wurden spiralförmig mit Lichterketten umwickelt und am oberen Ende mit einer dicken, roten Schleife versehen.

Die Szenerie vor mir könnte ohne Weiteres eine malerische Weihnachtspostkarte zieren.

Meine Augen kleben förmlich an den festlich geschmückten Häusern, sodass ich total vergesse, nach dem Café Ausschau zu halten. Einige der Geschäfte haben bereits geschlossen, und jene, in deren Auslagen noch Licht brennt, sind gerade dabei, die Schotten dichtzumachen.

Das Auto kommt eine Ecke weiter vor einem Stoppschild zum Stehen, und ich beuge mich nach vorn über den mittleren Sitz, um besser durch die Windschutzscheibe spähen zu können. Direkt vor uns befindet sich ein weißer Pavillon, der an eine u-förmige Grünfläche grenzt. Vom Dach rieseln filigrane Lichterfäden herab, zarter als jene an den Gebäudefassaden der Hauptverkehrsstraße. Die breite Treppe, zwischen deren Geländerstreben sich dieselben gedämpften Lichter emporschlängeln, führt wahlweise über Stufen oder eine Rampe hinauf zu dem gewölbten Eingangsbogen.

Am liebsten würde ich es mir gleich dort oben gemütlich machen und die Aussicht auf dieses Bilderbuchstädtchen noch ein paar Minuten länger genießen.

Fraser Falls erinnert mich an ein Best-of aller zuckersüßen Weihnachtsfilmkulissen, die ich als Kind so sehr geliebt habe. Jetzt verstehe ich wenigstens, warum Amanda Woods ihr Luxushaus in L. A. gegen ein Cottage in den verschneiten Cotswolds eintauschen wollte. Hier, fernab des geschäftigen Treibens von Manhattan und streng genommen jedem anderen Fleckchen Erde, das ich bisher besucht habe, sind die Gassen blitzeblank, und auf den Straßen herrscht kaum Verkehr.

Nur eines irritiert mich, als ich vor dem B & B aus dem Auto steige. Weit und breit entdecke ich keine Menschenseele, und allmählich beginne ich zu begreifen, warum Miss Girard in ihrem Video die Leute bat, ihr kleines Städtchen zu besuchen.

KAPITEL 3

Jack

»Ich bin froh, dass unsere Band den Durchbruch nie geschafft hat. Ich hätte mit dem Ruhm nicht umgehen können.«

Ich sehe Tommy an und warte geduldig darauf, dass er seinen Gedankengang weiter ausführt, damit ich verstehen kann, wovon zum Teufel er spricht – keine ungewöhnliche oder seltene Reaktion auf meinen besten Freund. Wie üblich lässt seine Erklärung auf sich warten. Er wischt weiterhin in aller Seelenruhe die Zapfhähne mit einem Geschirrtuch ab.

Ich stütze meinen Ellbogen auf dem Tresen ab, lege mein Kinn auf meine Hand und hake nach: »Wovon zur Hölle sprichst du? Wann waren wir jemals in einer Band?«

»In dem Sommer, als Luke ein Schlagzeug zum Geburtstag gekriegt hat. Als wir den Entschluss fassten, alle Welt zu belügen und zu behaupten, du seist unser Bruder, damit wir die nächsten Hanson sein könnten.«

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Hanson?«

Er wirft sich das Tuch über die Schulter und lehnt sich gegen die Bar, wobei er sich mit den Händen durch die perfekt frisierten kastanienbraunen Haare fährt. »Okay, es könnte auch eine Rock-’n’-Roll-Version der Jonas Brothers gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr so genau. Wir wollten jeden Tag in der Scheune üben. Aber dann … Na ja, wie auch immer, was ich damit sagen will …« Er senkt den Blick und spielt mit etwas hinter dem Tresen herum, das ich nicht sehen kann. »Ich bin froh, dass wir es nicht durchgezogen haben. Ich wäre nicht gut darin, berühmt zu sein. Den Nachrichtenteams aus dem Weg zu gehen, bringt mich auf die Palme.«

Ich habe nur sehr vage Erinnerungen daran, wie Luke, Tommys jüngerer Bruder, ein Schlagzeug geschenkt bekam. Ich muss damals um die dreizehn Jahre alt gewesen sein. Es gibt verschwommene Bilder irgendwo in meinem Gedächtnis von vor zwanzig Jahren, in denen ich eine Gitarre halte.

Ich bemerke, dass er es vermeidet, mich anzugucken, weil ihm noch vor mir aufgefallen ist, was für einen Mist er gebaut hat, indem er diesen Sommer erwähnt.

»Ich glaube, ich wäre auch kein guter Promi«, übergehe ich seinen Fauxpas geflissentlich, um keine unangenehme Stimmung zwischen uns entstehen zu lassen. Obwohl wir beide über eins neunzig sind, lässt es ihn klein erscheinen, wenn er ins Fettnäpfchen tritt. Er hebt den Kopf und mustert mich, eine unausgesprochene Entschuldigung liegt in seinen dunkelblauen Augen. »Ich wäre einer dieser Berühmtheiten, die einen Paparazzo verkloppt.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Er nickt zustimmend.

Die Eingangstür öffnet sich, und wir atmen beide erleichtert aus, als Melissa und Winnie hereinschneien und keins der Kamerateams, die in Fraser Falls herumschwirren, um mit jemandem über das Chaos zu reden, das Flo am Wochenende angerichtet hat.

Melissa und Winnie betreiben das Blumengeschäft Wilde&Winslet gegenüber von meinem Laden. Winnie ist in Fraser Falls aufgewachsen. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich und Tommy, aber ihr Vater ist der Dorfpastor, was sie zum zweithäufigsten Gesprächsthema jeden Sonntag macht. Sie hat Mel während ihrer Ausbildungszeit kennengelernt und sie überzeugt, hierherzuziehen, um den Blumenladen mit ihr zu eröffnen.

»Ihr zwei habt echt noch nie so glücklich wie heute gewirkt, uns zu sehen.« Winnie zwinkert uns zu, während die beiden bereits die Ohrensessel am Kamin im hinteren Teil der Bar ansteuern. Ein süßlicher Blumenduft folgt ihr, als sie an mir vorbeigeht, und ich bemerke die rote Rose, die sie sich in ihre schwarzen Boxbraids am Hinterkopf gesteckt hat. »Dein Schild ist unmissverständlich. Ich glaube, du musst dir keine Sorgen machen«, ruft sie mir über die Schulter zu.

Das Schild, was sie meint, ist das Resultat von zehn Sekunden Zeit, einem Stück Papier und einem Permanentmarker: KEINE KAMERAS ERLAUBT. REPORTER WERDEN GEBETEN, DIESEN ORT SOFORT ZU VERLASSEN.

Obwohl man sie angefleht hatte, es nicht zu tun, hat Flo heute Morgen ein Folgevideo gepostet, um den Leuten für ihre Unterstützung zu danken, und sie erneut aufgefordert, uns möglichst zahlreich zu besuchen. Es ist wohl jemandem aufgefallen, der – wie Winnie mir erzählt hat – bei Dancing with the Stars dabei war, was dazu führte, dass das ursprüngliche Video noch einmal durchgestartet ist.

Ich liebe Flo, als wäre sie meine eigene Großmutter, aber sie wusste nicht, was sie tat, als sie sich dazu entschlossen hat, Stadtangelegenheiten im Internet zu veröffentlichen. Sie dachte, die öffentliche Unterstützung würde uns Besucherströme und Bestellungen bescheren, stattdessen haben wir damit in Wirklichkeit bis jetzt nur unwillkommene Gäste angelockt.

Das Problem ist, dass die Holly-Puppe ursprünglich mein Projekt war. Was bedeutet, dass die Website mit dem Datenverkehr jetzt nicht mehr fertig wird, die Kundendienste Mails übergehen und die neuen Bestellungen alle auf mich abgewälzt werden. Flo hat uns nicht über ihr Vorhaben, ein Video – schon gar nicht mehrere Videos – zu posten, informiert, was jetzt zur Folge hat, dass ich eine ganze Menge Bestellungen habe, aber nicht das Inventar dafür, weil meine naive und vergessliche Wenigkeit die Bestellzahlen nicht mehr angepasst hat, als vor ein paar Wochen die Hälfte aller Aufträge storniert wurden.

Milde ausgedrückt hat Flo uns allen verdammte Kopfschmerzen bereitet, hauptsächlich mir.

Doch wir lieben sie, und sie liebt diesen Ort mehr als irgendjemand, den ich kenne, darum werden wir sie so oder so unterstützen und uns unter vier Augen darüber beschweren – wie Erwachsene.

Mel steht an der Bar und bestellt Drinks bei Tommy.

»Wirst du immer noch gejagt?«, frage ich.

Sie verdreht die Augen, wischt die kurzen braunen Locken aus ihrem Gesicht. »Ja, hauptsächlich Zeitverschwendungen. Drei verschiedene Influencer haben mir geschrieben, ob ich ihre Hochzeit gratis ausstatte für die Reichweite.« Sie unterstreicht das Wort und macht dabei Gänsefüßchen mit den Fingern. »Ich bin müde.«

Tommy stellt zwei Gläser Wein vor Mel auf die Bar. »Geht auf mich.«

»Danke, Tommy«, säuselt sie und trippelt rüber zu Winnie.

Ich beobachte ihn dabei, wie er ihr mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck nachsieht, was hier überhaupt nicht angebracht zu sein scheint.

Ich trinke mein Bier aus. »Mir hast du noch nie einen ausgegeben. Wie kommt’s?«

»Weil du ein Arsch bist. Nächste Frage.«

Ehe ich ihn damit aufziehen kann, wie lange er noch vorhat, Melissa anzuschmachten, bevor er sie um ein Date bittet, oder was er glaubt, wie seine Chancen stehen, einen Korb zu kassieren, wird er von einem Kunden gerettet, der Essen bestellt. Er dampft in die Küche ab und erstickt somit im Keim, was für mich noch eine vergnügliche Nacht hätte werden können.

Ich rutsche von meinem Hocker und schlurfe auf die andere Seite der Bar, wo mir eine Tüte Chips ins Auge springt, von der Tommy behauptet hat, er hätte keine mehr. Mich selbst zu bedienen, ist nichts, was ich normalerweise mache, aber er verquatscht sich jedes Mal endlos in der Küche, also wer weiß, wann er zurückkommt?

Ich schnappe mir ein Ginger Ale aus dem Kühlschrank und ein sauberes Glas. Mit dem Rücken zur Tür erstarre ich, als ich höre, wie sich die schwere Holztür wieder öffnet. Bitte, kein Reporter. Ich drehe mich langsam um und sehe eine Frau im Eingangsbereich stehen, die gerade ihre Handschuhe abstreift, während sie sich neugierig umschaut.

Als sie mich erblickt, lächelt sie – ein schönes, offenes Lächeln. Kurz bin ich versucht, hinter mich zu gucken. Sie schreitet auf die Bar zu und öffnet ihre blauen Jackenknöpfe. Mit ihrer freien Hand schiebt sie ihre rotbraunen Haare unter dem Kragen hervor und schüttelt eine Kaskade von glänzenden Wellen über ihrem Rücken frei.

Sie ist nur noch drei Schritte von der Bar entfernt, als ich endlich bemerke, dass ich mich mitten im Thekenbereich befinde und sie anstarre, als hätte ich noch nie zuvor einen anderen Menschen gesehen. Das kurze Feuer der Verlegenheit reicht, um meine Füße wieder in Gang zu setzen. Ich stelle mir meinen Drink vor meinen Hocker, als sie die Theke erreicht.

»Hi«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Serviert ihr noch Essen?«

Ich schnappe eine Karte und reiche sie ihr. »Ja.«

Was ist seltsamer – ihr zu verraten, dass ich hier gar nicht arbeite, oder einfach kommentarlos auf meinem Hocker Platz zu nehmen?

»Danke«, erwidert sie, legt die Karte auf den Tresen und klettert auf den Hocker neben meinem.

»Was darf’s zu trinken sein?«, frage ich. Keine Ahnung, warum ich das tue. Tommy wird mich dafür umbringen.

Ihre Augen schauen von der Karte auf, blassgrün und hell. »Kann ich einen –«

»Was zur Hölle machst du da? Du weißt doch, dass du hier hinten nichts verloren hast!«, schreit Tommy, rempelt mich mit der Schulter an und verweist mich damit zurück auf meinen Hocker. Er schüttelt immer noch den Kopf, als ich mich peinlich berührt darauf setze. Ich fühle mich wie ein ungezogenes Kind, das bei etwas ertappt wurde. Ein Gefühl, das ich in den letzten fünfzehn Jahren zu hassen begonnen habe. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Frau neben mir.

»Tut mir leid. Sind Sie eine Reporterin?«

»Äh, nein?«

»Bestimmt auch nicht verdeckt?« Ich starre meinen besten Freund an.

»Bestimmt«, bestätigt sie zögerlich.

Tommy funkelt mich an, als ich mein Ginger Ale öffne und es laut knackt. Dann wendet er sich wieder ihr zu. »Gut, es tut mir leid, man kann nie vorsichtig genug sein. Was darf ich Ihnen bringen?«

Sie bestellt einen Cheeseburger und Zitronen-Limetten-Limonade. Tommy bereitet ihr Getränk zu, bevor er wieder in der Küche verschwindet. Sie nimmt einen Schluck und stellt das Glas sanft auf dem Untersetzer ab, wobei sie es so dreht, dass der Bär darauf, das Maskottchen der lokalen Highschool, exakt vor ihr steht. Dann schaut sie mich an.

»Also, wie ist das? Kann hier jeder Barkeeper spielen, wenn der richtige sich aus dem Staub macht?«, will sie wissen, während sie ihren Mantel auszieht und ihn über die Rückenlehne ihres Barhockers hängt. Sie trägt einen dicken cremefarbenen Rollkragenpullover, dunkle Jeans und Stiefel mit Absatz. Als sie ihr Haar über eine Schulter drapiert, erkenne ich eine teuer wirkende Uhr und Diamantohrringe.

Ich zucke mit den Schultern. »Nur wenn man eine unerschütterliche Leidenschaft für Craftbier hat und einen Erik der Elch nicht stört, der einen bei Schritt und Tritt anstarrt.« Sie folgt meinem Blick zu dem riesigen Plastikelchkopf, der über der Bar hängt, und tut so, als würde sie über die anderen Bedingungen nachdenken.

»Da bin ich raus. Ich bin kein Bierfan. Ich bevorzuge Getränke, die nicht schmecken wie nasses Holz.« Mir entfährt ein kurzer Lacher. Ich betrachte sie genauer, beobachte, wie sie sich mit einer Serviette sorgsam den Mund abtupft, wo das Eis ihre Oberlippe befeuchtet hat. Jede ihrer grazilen Bewegungen zieht meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit auf sich. »Aber ich wurde in Bars schon von seltsameren Geschöpfen beäugt als von einem Plastikelch.«

Mir entfährt noch ein Lacher. Verdammt, was ist heute mit mir los, dass ich mich wegen weichen, rosa Lippen und hohen Wangenknochen einer schönen Frau so aufführe? Mein Handy vibriert auf der Theke. Ich wende mich nur widerwillig von ihr ab und überfliege einen Text von Arthur, der mich daran erinnert, ihm versprochen zu haben, morgen mit ihm seinen Abfluss zu reparieren, nachdem sein Enkel ihn mit einem Hockey-Puck löchrig geschossen hat. Ich sperre den Bildschirm und konzentriere mich wieder auf sie. »Auf der Durchreise?«

Sie legt ihre Serviette auf den Tresen und faltet sie sorgfältig. Sie trägt keinen Ring an der linken Hand. »So was in der Art. Genau genommen bin ich auf dem Weg nach Maine.«

»Und was gibt’s in Maine?«

Sie legt den Kopf schief, ein kleines Lächeln umspielt ihre Lippen. »Hummer. Regen. Menschen, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

Ich hebe meine Hände als Zeichen der Kapitulation. »Schon kapiert. Hier werden Sie allerdings keine Leute finden, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«

Jetzt ist sie es, die lacht. Tommy wird jede Sekunde zurück sein und die Konversation übernehmen, mit irgendetwas Interessantem und Lustigem. Er ist der Barkeeper mit Charme und in der Lage, mit jedem über alles zu sprechen – was mir nicht unbedingt in die Wiege gelegt wurde.

Ich bin halt der Typ fürs Praktische. Der, den man anruft, wenn das Internet nicht funktioniert oder wenn Flo aus heiterem Himmel hundert Lichter einen Monat früher aufhängen möchte, um Reiseblogger zu beeindrucken. Sicher, ich spanne Tommy für diese Zwecke zwar auch ein, aber in der Regel ist er derjenige, der für den Spaß zuständig ist.

In der Bar ist es heute sehr viel ruhiger als sonst, alle verschanzen sich anscheinend lieber zu Hause, um nicht von den Nachrichtenteams belästigt zu werden, die einem überall auflauern.

Neben dem Knistern des Feuers stammen die einzigen Geräusche jetzt von Winnie und Mel, die in der Kaminecke miteinander tuscheln, und gelegentlich aus dem hinteren Bereich, von wo man das leise Auftreffen der Dartpfeile auf der Scheibe vernehmen kann.

»Ich bin übrigens Clara«, stellt die Frau neben mir sich plötzlich vor und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

»Jack.«

Sie dreht ihren Körper in meine Richtung, um mich besser ansehen zu können, und stützt ihren Ellbogen auf den Tresen. Ihre Absätze sind mit der Fußstange des Hockers verhakt, ihre langen, schlanken Beine befinden sich nun fast zwischen meinen.

»Und ist dein Besuch in Fraser Falls bis jetzt angenehm gewesen, Clara?«

»Lass mich kurz nachdenken. Ich habe jemanden getroffen, der einen Bartender gespielt hat, bin vom richtigen Barkeeper verdächtigt worden, ein getarnter Reporter zu sein, und auf meinem Weg hierher hat mir jemand, aus welchen Gründen auch immer, sein Beileid ausgesprochen.«

»Nicht überraschend«, erwidere ich und deute auf ihr Outfit. »Normalerweise ist jeder, der sich hier nicht leger anzieht, für eine Beerdigung in Fraser Falls.«

Ihre Augen weiten sich, als ob das plötzlich Sinn ergeben würde. »Dann bist du von hier?«

»Geboren und aufgewachsen. War immer hier. Obwohl, einmal war ich in einem Übernachtungslager auf Rhode Island im Sommer, als ich zehn war. Wenn das zählt.«

Sie nickt. »Das zählt definitiv. Das ist praktisch ein Auslandssemester.«

Ich beiße mir in die Wange. »Was führt dich nach Fraser Falls? Auf dem Weg nach Maine, wo die Leute sich um ihre eigenen Dinge kümmern?«

»Ich habe gute Dinge über Fraser Falls gehört. Das Gerücht geht um, dass es hier richtig freundliche Menschen geben soll.« Ich nicke wohlwissend. »Bis jetzt kann ich das nicht abstreiten, und es ist genauso hübsch, wie es online aussieht. Hübscher eigentlich. Ich liebe die Lichter. Ihr solltet sie das ganze Jahr über hängen lassen.«

»Du hast Glück. Normalerweise hängen sie erst später, aber bring Flo bloß nicht auf Ideen. Sie sind nett anzusehen, aber der Wind verheddert die Sterne ständig, und ich bin derjenige, den sie dann anrufen, um es wieder zu richten.«

Claras Augenbrauen wandern nach oben. »Flo?«

Wie soll ich sie beschreiben? »Ihr gehören das Café und die Bäckerei drüben auf der Hauptstraße. Genau genommen gehört ihr das Gebäude. Im Geiste die ganze Stadt. Du kannst sie dir als inoffizielle Bürgermeisterin vorstellen, Marktschreierin und Bürgerwehr, alles in einer Person.«

»Oh mein Gott!« Clara klatscht in die Hände. »Florence Girard! Sie hat das Video über diese Puppe gepostet, oder? Mit ernster Hintergrundmusik, inklusive heftiger Anschuldigungen?«

Ich unterdrücke ein Stöhnen. »Unglücklicherweise, ja.«

Sie lacht. »Nichts für ungut, aber auf den sozialen Netzwerken von Fraser Falls erscheint das ganze Städtchen eher … malerisch, trotz all des Dramas. Internetruhm und Journalisten? Hier? Das passt nicht zusammen.«

»Das ist noch milde ausgedrückt.« Ich füge nichts mehr hinzu. Das Letzte, worüber ich gerade sprechen will, ist der Puppenskandal und Flos Berühmtheitsgrad auf Social Media. »Es gibt so viele andere Sachen, worüber die Leute in Bezug auf uns reden könnten. Bessere Sachen.«

Clara spürt mein Unbehagen wohl, denn sie wechselt das Thema. »Ist das Schulmaskottchen wirklich ein Bär, der einen Overall trägt?«

Keine der besseren Sachen, an die ich dachte, aber okay. »Ja. Fraser Falls Bears. Unseren einzigen Sieg erzielten wir 1998 in der Football-Regionalmeisterschaft. Die Stadt feiert es bis heute jedes Jahr. Es war unsere Mondlandung, aber so können wir es offiziell nicht nennen, weil es einen Typen gibt, der glaubt, die ganze Mondlandung sei nur inszeniert gewesen, und es regt ihn zu sehr auf.«

»Oh.« Ihre Augen weiten sich. »Einer von den Leuten, die denken, es wurde alles in einem Studio aufgenommen?«

Auch nicht eine der besseren Sachen, an die ich gedacht hatte. »So in der Art. Er glaubt, der Mond sei ein Hologramm.«

Clara wickelt ihre Haarenden um den Zeigefinger und nickt langsam, nachdenklich. »Ich habe vorhin jemanden gesehen, der versucht hat, eine Drohne mit einem Schmetterlingsnetz zu fangen. So wie ein Schmetterlingssammler – zufällig derselbe Kerl?«

»Ja! Das ist er. Donald. Großer Verschwörungstheoretiker, aber ausgezeichneter Gärtner, solltest du jemals deinen Garten verschönern wollen. Die Drohne hatte Glück, ihm zu entgehen. Er ist verdammt schnell mit diesem Netz. Hat einmal Tommy damit eingefangen.« Ich nicke in Richtung meines besten Freundes, der am Kamin steht. »Hat Flo beschuldigt, eine CIA-Agentin zu sein, und hat es nur knapp überlebt.«

Clara verschluckt sich vor Lachen an ihrer Limonade. »Dieser Ort ist krass. Unheimlich malerisch, aber auch verrückt.«

Ihr Essen wird serviert, als ich den letzten Schluck nehme. »Du hast ja keine Ahnung …«

KAPITEL 4

Jack

Ich gehe nach Hause, um Elf zu holen und ihn mit in die Bar zu nehmen, während Clara isst.

An das Keuchen, das sie ausstößt, als sie ihn sieht, bin ich gewöhnt. »Bully-Mischung?«, fragt sie, während sie die weiße Stelle auf seinem ansonsten silbernen Körper streichelt.

»Oder etwas Ähnliches. Er war ein Streuner, darum waren sie sich nicht ganz sicher.«

Elf stiehlt mir ihre Aufmerksamkeit geschlagene fünf Minuten lang, folgt dann jedoch Tommy hinter die Bar und legt sich in sein kleines Bettchen, das speziell für ihn dort eingerichtet wurde.

Als sie sich wieder auf mich konzentriert, lässt Clara sich von mir einige unterhaltsame Geschichten rund um Fraser Falls erzählen. Ich stelle ihr Tommy vor und lasse ihn das traumatische Erlebnis mit Donald und seinem Netz wiederholen. Nachdem er all ihre Fragen dazu beantwortet hat, macht er sich rar, was mir nur recht ist.

Ich berichte ihr von der Protestaktion, als Wilhelmina ein Aktmodell für ihren Malkurs engagieren wollte. »Die Leute hatten Schilder mit der Aufschrift Kein Akt im Akt!. Ich hätte ja eher so etwas wie Pinsel statt Pimmel! draufgeschrieben«, und Clara verschluckt sich fast schon wieder an ihrem Getränk.

Nach dem Essen erzählt mir Clara alles über die Horoskop-Besessenheit ihrer Mutter und dass ihr Bruder seit ihrer gemeinsamen Kindheit in ihre beste Freundin verliebt ist. Ihren Vater lässt sie geflissentlich aus, und ich tue es ihr nur allzu gerne gleich. Ich freue mich diebisch, als sie bei meiner Geschichte über das berüchtigte Liebesdreieck von 2009, das die Stadt in ihren Grundfesten erschüttert hat, nach Luft schnappt.

Das Gespräch verläuft so einfach und angenehm, dass ich sie fragen will, ob ihr das öfter passiert. Das sofortige Vertrauen, die Funken, die zwischen uns sprühen, und das Verlangen, alles zu erfahren. Denn mir passiert so was nie. Ich frage nicht.

Stattdessen hänge ich an ihren Lippen, während sie lachend eine Anekdote zum Besten gibt, wie sie einmal an Halloween als Chucky die Mörderpuppe verkleidet in einem Fahrstuhl mit Jennifer Aniston stecken blieb. Daraufhin kontere ich damit, wie ich einmal unabsichtlich die Bühne des Sommertheaters in Brand gesteckt habe.

Clara schüttelt sich vor Lachen, lehnt sich nach vorne und spricht jedes Wort so aus, als wäre es ein Geheimnis, das nur für mich bestimmt ist. Es ist unmöglich, sie nicht zu mögen. Sie ist absolut liebenswert zu Tommy, als er unsere Getränke nachfüllt, und tätschelt meinen Unterarm mit einem verständnisvollen Lächeln, während ich mich überschwänglich dafür entschuldige, dass mein Handyläuten sie zum dritten Mal unterbrochen hat.

»Finde ich jetzt heraus, dass du der Drogendealer der Stadt bist?«, fragt sie, nachdem ich das Telefonat beendet habe.

Ich lege mein Handy auf den Tresen und stelle es auf lautlos. »Mein Leben ist weder gefährlich noch aufregend, ich bin der Kerl, der angerufen wird, wenn jemand ein Problem hat.«

»So ein Problem wie Ich brauche jemanden, der mir hilft, jemanden zu erpressen?«, zieht sie mich auf.

Meine Augen huschen zum Display, auf dem gerade eine Textnachricht aufblinkt. »Eher wie: Da ist ein Waschbär, der immer wieder in meinem Garten das Gemüsebeet verunstaltet. Oder: Kannst du das Loch in meinem Zaun reparieren? Oder so etwas Glamouröses wie: Meine Toilette ist verstopft und läuft über. Was soll ich bloß machen?«

»Wow, das ist in der Tat glamourös. Die Antwort ist sicher, den Waschbären abzurichten und eine Karriere in den sozialen Netzwerken zu starten?«

Ich schiebe ihr mein Handy zu. »Du bist gut. Nimm du den nächsten Anruf an.«

»Ich hoffe, es ist etwas Spektakuläres. Möchtest du bis zu meiner Sternstunde eine Runde Pool spielen?« Für mich leuchtet sie bereits jetzt wie ein funkelnder Stern. Ich mag Pool nicht besonders, trotzdem nicke ich.

»Ich sollte dich warnen, ich bin nicht sehr gut.«

»Das sagen alle Pool-Abzocker, bevor rauskommt, dass sie Wunderkinder sind.«

Clara rutscht von ihrem Hocker, und ich folge ihr zum Billardtisch.

»Nur zum Spaß«, betont sie und reibt die Spitze ihres Billardqueues an der blauen Kreide, während ich die Kugeln auf dem grünen Filz platziere. »Keine Wette.«

Ich fische eine Münze aus meiner Hosentasche. »Kopf oder Zahl?«