Holy Blues - Richard Koechli - E-Book

Holy Blues E-Book

Richard Koechli

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Beschreibung

Was haben Blues, Jazz, Soul, R&B, Rock'n'Roll, Folk, Country, Rock, Pop und Hip Hop gemeinsam? Ihre Herkunft, ihr Feuer! Holy Blues war der Feuerherd. Holy Blues, auch Gospel genannt, ist die Quelle all jener Rootsmusik, die wir lieben. Die Geschichte der Gospelmusik ist 400-jährig; ihr Geist noch sehr viel älter, und ohne ihn würden wir uns heute schlicht und einfach nicht von beseelter Musik verzaubern lassen können. Grund genug, diesem guten Geist nachzuspüren. Der Schweizer Musiker und Fachbuchautor Richard Koechli macht sich auf die abenteuerliche Reise durch die amerikanische Kulturgeschichte und zeigt mit unzähligen konkreten Beispielen auf, wie hoch während all den Jahrhunderten der Einfluss des Glaubens auf die Musik und ihre Erzeuger:innen war, wie entscheidend und geheimnisvoll die göttliche Dimension in jedem Moment die Musik prägt. Koechli tut dies im Doppelpack: Als Buchautor mit einem inspirierenden Geschichts-Trip, und als Blues-Künstler gratis dazu mit einem mp3-Album zum freien Download.

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Seitenzahl: 195

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Richard Koechli

Holy Blues

Die 400-jährige Reise einer Musikseele

Impressum:

© 2021 Richard Koechli (1. Auflage) www.richardkoechli.ch

Buchcover-Foto: Heinz Schürmann

Layout, Schriftsatz: Richard Koechli, Evelyne Rosier

Lektorat, Korrektorat: Donald Meyer

Der Autor stammt aus der Schweiz, es gelten deshalb die entsprechenden orthografischen Sonderregelungen des CH-Dudens

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, D-22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-42791-4 (Paperback)

ISBN 978-3-347-42792-1 (Hardcover)

ISBN 978-3-347-42793-8 (e-Book)

Das Schriftwerk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Herzlichen Dank: An all diese grossartigen Holy BluesKünstler: innen, die unsere Musikgeschichte durch ihr Leben, ihren Glauben und ihre Arbeit bereicherten. An alle, die halfen, ihre Musik ans Publikum, in die Medien und in die Geschichtsbücher zu bringen. Und an alle, die auf grosszügige Weise mithalfen, dieses Projekt hier zu verwirklichen: Evelyne Rosier, Marlise und Walter Köchli, Hape Schuwey, Heinz Schürmann, Andy und Priska Krauer, Sylvia Frey, Bruno Amstad, Urs und Françoise Friderich, Thomas Bühlmann, Reinhold Weber, Gerd und Ursi Bingemann, Marianne Frischknecht, Prof. Dr. Jacob Thiessen, Seyde Barsimon, das Tredition-, CMS-, Fontastix- und cede-Team. An meine langjährige Live-Band (Fausto Medici, David Zopfi, Michael Dolmetsch, Heini Heitz, Dani Lauk) und mein treues, feines Publikum. Und natürlich an Gott, seinen Sohn Jesus Christus, die Gottesmutter Maria und alle guten Geister – für Beistand, Kraft, Inspiration und Trost in allen Zeiten.

Inhalt

Holy Blues – Richard Koechli, das Audio-Album

Holy Blues (Prolog)

Die 400-jährige Geschichte des Holy Blues

Slave Songs, Work Songs

Call and Response und Polyphonie

William Wells Brown (1814 – 1884)

Spirituals

Isaac Watts (1674 – 1748), die musikalische Revolution nur mit Worten

Afroamerika beginnt sich zu emanzipieren

Spirituals als politisches Instrument

Harriet Tubman (ca. 1820 – 1913)

Go Down Moses

Down by the Riverside

Deep River

Wade in the Water

Swing Low, Sweet Chariot

Follow the Drinking Gourd

Steal Away

Der Bürgerkrieg

Spirituals auf der Bühne

Fisk Jubilee Singers

Lieder des Überlebens

Gospel

Die ersten Aufnahmen von schwarzer Musik

George W. Johnsons (1846 – 1914)

Unique Quartette

Dinwiddie Colored Quartet

Minstrel Shows

Die Schwarzen flüchten in den Norden

Die Barbershop Quartette

Die Pfingstbewegung

Azusa Street Revival

Holy Blues wird vermarktet

Homer Rodeheaver (1880 – 1955)

Jack L. Cooper (1888 – 1970)

Race Records

Strassenprediger und Evangelisten, die Musikrevolution des 20. Jahrhunderts

Arizona Dranes (1889 – 1963)

Sister Rosetta Tharpe (1915 – 1973)

Robert Johnson (1911 – 1938)

Blind Joel Taggart (1892 – 1961)

Reverend J.M. Gates (1884 – 1945)

Blind Willie Johnson (1897 – 1945)

Mahalia Jackson (1911 – 1972)

Thomas A. Dorsey (1899 – 1993)

Sallie Martin (1895 – 1988)

Holy Keyboard, die Hammond B3 Orgel

Der Durchbruch, die Gospel Quartette

Black Gospel Quartette

Golden Gate Quartet

Dixie Hummingbirds

The Soul Stirrers

Samuel ’Sam’ Cooke (1931 – 1964)

The Fairfield Four

McCrary Sisters

Blind Boys of Alabama

Mountain Gospel

Bill Monroe und seine Bluegrass Boys

Southern Gospel

Charles Davis Tillman (1861 – 1943)

(Poor) Wayfaring Stranger

James D. Vaughan (1864 – 1941)

Stamps Quartet (Give The World A Smile)

Blackwood Brothers

Statesmen Quartet

Allan ’Charlie’ Rich (1932 – 1995)

Schlussworte

Mississippi John Hurt (1892 – 1966)

Blessed Be The Name (of the Lord)

B.B. King(1925 – 2015)

Ry Cooder

Kelly Joe Phelps

Richard Broadnax (1948 – 2020)

Underrated – Unterschätzte Stars

Arizona Dranes (ca. 1889 – 1963)

Vera Hall (1902 – 1964)

Reverend Gary Davis (1896 – 1972)

Doc Watson (1923 – 2012)

Mehr von Richard Koechli

Downloads

Der Link zum Downloaden von Richard Koechlis Album «Holy Blues» (mp3, 320 kb/s, plus 3 Bonustracks) sowie einer englischen Buchübersetzung:

The link to download Richard Koechli's album «Holy Blues» (mp3, 320 kb/s plus 3 bonus tracks) and an English book translation (PDF-eBook):

www.richardkoechli.ch/images/downloads/holy-blues.pdf

Album Credits

01 Feel Like Going Home (Charlie Rich)

Richard Koechli: Vocals Part 1, Backing Vocals, Guitars

Bruno Amstad: Vocals Part 2

Michael Dolmetsch: Hammond B3

Fausto Medici: Drums

David Zopfi: Bass

Big thanks to the fantastic special guest contribution by Bruno Amstad, a musician friend from the old days who is now one of the best jazz, soul and world singers in Switzerland.

02 What Kind Of Man Jesus Is (Traditional)

Richard Koechli: Vocals, Guitars, Percussion

03 Blessed Be The Name Of The Lord (Traditional)

Richard Koechli: Vocals, Guitars

4 Holy Blues (Richard Koechli)

Richard Koechli: Guitars

Fausto Medici: Drums, Percussion

David Zopfi: Bass

05 Down In The Valley To Pray (Traditional)

Richard Koechli: Vocals, Guitar

06 Jesus Make Up My Dying Bed (Traditional)

Richard Koechli: Vocal, Guitar, Percussion

07 Schacher Sepp (Otto Wolf, Ruedi Rymann)

Richard Koechli: Vocal, Guitars

Fausto Medici: Drums

08 Lord I Just Can't Keep From Crying (Traditional/Blind Willie Johnson)

Richard Koechli: Vocals, Guitars, Bass

Fausto Medici: Drums

09 Nishlam (Gerd Bingemann, Richard Koechli)

Gerd Bingemann: Harmonica

Richard Koechli: Guitar, Percussion, Noises

Gerd Bingemann, a blind musician and brother in faith, improvised and recorded this piece live with the harmonica, at the Good Friday service of the evangelical Lifechurch in Wil SG (Switzerland), on April 2, 2021. We then arranged the number together and searched for a suitable name. Gerd, Ursi (his wife) and I had the theme «Es ist vollbracht» (It is finished) in mind, and thanks to the loving help of expert friends we finally found the most suitable title:«Nischlam» or «Nishlam» from Hebrew.

Many thanks for helping us with the research:

Marianne Frischknecht (Protestant religion teacher)

Prof. Dr. Jacob Thiessen (Rector and Professor for New Testament at the University of the Theological College Riehen)

Seyde Barsimon (Christian of Aramaic origin living in Switzerland)

10 Jesus On The Waterside (Traditional)

Richard Koechli: Vocals

Bonus Tracks (free download):

Lamentation (Richard Koechli, 2002 & 2021)

Bruno Amstad has produced a wonderful and very mystical video for this song (info: www.richardkoechli.ch/de/news/125-lamentation-new-video)

You Never Lie To Me, Lord (Richard Koechli, 2018)

Deep Water, Vers. 2 (Richard Koechli, 2007 & 2020)

Richard Koechli

Holy Blues

Ob der Blues heilig oder wie oft behauptet des Teufels ist, darüber sinnierte ich mit einer Mischung aus Ironie und Ernsthaftigkeit bereits 2014, in meinem Buch «Dem Blues auf den Fersen ». Fred Loosli, der Protagonist der damaligen Geschichte, suchte vergeblich nach einer Antwort auf die Frage, warum seit jeher zwischen Blues und Gospel unterschieden wird. Fred hat den Unterschied nie so recht begriffen. Verständlich – es gibt ihn nicht, diesen Unterschied.

Die untrennbare Verbindung zwischen Gospel und Blues wird im Musikgeschäft so gut wie möglich ignoriert. Der Blues hat dirty zu sein, bad boys und bad girls verkaufen sich besser. An der kommerziellen Oberfläche benötigt jedes Genre seine Etikette, das kann ich verstehen. Doch in der Tiefe und aus musikhistorischer Sicht halten solche Klischees nicht lange. Nur schon T-Bone Walkers berühmte Aussage «the blues is just gospel turned inside out» macht alles klar – die beiden scheinbar gegensätzlichen Pole sind die Essenz unserer Musik. Ohne Gospel würde es den Blues nicht geben.

In unserer aufgeklärten Welt hört sich das seltsam an: Musik ist untrennbar mit dem Göttlichen verbunden. Es klingt erst mal wie eine Metapher, natürlich. Wenn der deutsche Musikjournalist, Produzent und Jazzmusiker Joachim-Ernst Berendt von Nada Brahma, die Welt ist Klang sprach, meinte er das metaphysisch, philosophisch. Musik verstand Berendt als Ausdruck der menschlichen Existenz an sich, begreifbar im Kontext des gesellschaftlichen und auch religiösen Zusammenhangs.

Doch selbst auf der physischen, naturwissenschaftlichen Ebene ist die Welt genau genommen Klang. «Für uns ist der Weltraum ein Ort der Stille, doch das All hat seinen eigenen Soundtrack», sagt die amerikanische Physikerin Janna Levin vom Barnard College in New York. «Eine Komposition, die aus dramatischen Ereignissen besteht. Der Urknall ist überall. Der Weltraum wabert und schwingt. Das Lied des Urknalls klingt immer noch um uns herum.» Tönt irgendwie nach Science Fiction, ist aber längst trockene, geerdete Erkenntnis. «Diesen spektakulären Urzeitsound kann jeder hören», betont Hannes Sprado in seinem Buch Der Klang des Weltalls, «denn beim analogen Fernsehempfang besteht 1 Prozent des Rauschens aus dem Nachglühen des Urknalls: Zu jeder Tages- und Jahreszeit treffen aus allen Himmelsrichtungen elektromagnetische Strahlen mit einer Wellenlänge im Millimeter- und Zentimeterbereich auf die Erdoberfläche. Aus den dunkelsten Winkeln und den entlegensten Gegenden erreichen uns Radiowellen und bringen Nachrichten aus einer fernen Zeit, aus dem Nichts sozusagen. Sie erzählen von der Vergangenheit, sie beschreiben die Gegenwart, und sie verkünden die Zukunft.»

Passt irgendwie zur Schöpfungsgeschichte der Bibel, wo Gott sprach:«Es werde …» Ein guter Freund von mir, der blinde Musiker Gerd Bingemann, ist überzeugt:«Auf diese gesprochenen Anordnungen musste sogar das Nichts reagieren und die durch Gottes Wort herbeigerufenen Dinge hervorbringen.»

Herbeigerufenes ist dann nicht bloss metaphysisch oder philosophisch; auch Joachim-Ernst Berendt wird sehr konkret, wenn er in seiner mehrteiligen Serie Vom Hören der Welt – das Ohr ist der Weg ein sehr interessantes Beispiel einstreut: Die Lichtwellen der Sonne, des Mondes und verschiedener Planeten wurden gemessen und anschliessend in den für das menschliche Ohr hörbaren Frequenzbereich herunteroktaviert – die Ergebnisse waren faszinierend: Die Erde schwingt nach dieser Oktavierung relativ träge ratternd in einem Ton nahe beim G; «also weder in einem tonlich nicht klar fassbaren Klangteppich noch als diffuses Geräusch», doppelt Gerd Bingemann nach.

Nun, darüber zu sinnieren, kann sehr inspirierend sein. In diesem Buch hier möchte ich den Fokus allerdings enger richten. Mich interessiert weniger der Urknall, sondern ganz konkret die Musik unserer Kultur: Blues, Jazz, Soul, Country, Folk, Pop, Rock. Einerseits als ausführender Musiker sowie musikhistorisch Interessierter – in der Hoffnung, Songs und Klänge noch intensiver empfinden und erzeugen zu können. Andererseits als Christ, um (ganz nach Berendt) die Musik im Kontext des gesellschaftlichen und religiösen Zusammenhangs zu begreifen.

Religiöser Zusammenhang? Klingt nicht sehr cool für moderne Ohren, wie gesagt. Ausgerechnet jene Musik, die den Soundtrack unserer befreiten Individualität verkörpert, die Musik, die uns in den 1950er- und 1960er-Jahren die Fesseln religiöser Zwänge zu lösen begann, mit Aberglauben und falscher Moral aufräumte – die soll göttlichen Ursprungs sein? Für den aktuellen Zeitgeist reine Provokation, solche Aussagen. Wo er, der Zeitgeist, doch voll auf die Karte Religionsbashing setzt, uns hartnäckig versichert, dass die Welt ohne Religion tausendfach besser und friedlicher wäre, dass unsere Vorfahren abergläubische Deppen gewesen sein sollen, und dass uns das Recht auf korsettfreie Selbstverwirklichung nun endlich zustünde. Ausgerechnet jetzt, wo dieser Zeitgeist allmählich recht zu erhalten scheint, die Kirchen so gut wie leer sind, das alte Hokuspokus-Zeug sukzessive aus unserem Alltag verschwindet – ausgerechnet jetzt kommt der Koechli und behauptet, dass unsere Musik von heute ohne Gott, Glauben und Religion schlicht nicht existieren würde? Noch verwegener: Dass Jesus nicht nur unsere westliche Geschichte im Allgemeinen prägte, sondern dass wir ihm zumindest indirekt auch unsere heiss geliebte, angloamerikanische Rootsmusik verdanken?

Mir kommt sie selber ziemlich verrückt vor, diese Erkenntnis. Klar, ich hatte stets im Hinterkopf, dass es Spirituals und Gospelsongs gibt. Es ist nicht so, dass ich mich dafür nie interessiert hätte; schon auf meiner allerersten CD Trains of Thought von 1992 spielte ich eine instrumentale Version von Go Down Moses und von Amazing Grace, weil mir solche Stücke irgendwie heilig erschienen und Eindruck machten. Aber letztlich empfand ich sie als Detail der Musikgeschichte, mehr nicht. Mit der Zeit tauchte ich tiefer, aus mir wurde bekanntlich so was wie ein Bluesmusiker – doch ich hatte während all den Jahren noch immer den Eindruck, Gospel sei bestenfalls eine fromme und deshalb nicht ganz so coole Schwester des Blues. Ja, und jetzt, im Zuge der Recherchen für dieses Buch hier, wurde mir bewusst, dass Gospel nicht die Schwester ist, sondern die Mutter. Und Jesus Christus somit eigentlich der Vater, der Urvater!

Natürlich, Jesus ist nicht der einzige Crack; schuld an unserer Musik sind noch andere Cracks aus der geistigen Welt. Auch der islamische Prophet Mohammed zum Beispiel hatte beim Blues die Finger im Spiel, von allem Anfang an. Ebenso einige der afrikanischen Götter wie Papa Legba aus der Voodoo-Religion. Selbstverständlich auch Prophet Moses, der Religionsstifter des Judentums; er war im Geiste dabei, als jüdische Künstlerinnen und Geschäftsleute im 20. Jahrhundert der afroamerikanischen Musikseele den kommerziellen Durchbruch und das erfolgreiche Abbiegen auf den Highway der Popmusik ermöglichten. Und vergessen wir nicht die östlichen Religionen, den Hinduismus, den Buddhismus; sie halfen im Zuge des Blues Revivals, der Rockmusikgeburt und der Hippiebewegung entscheidend mit, den enormen Hunger nach spirituellen Kicks zu stillen.

Friede, Freude, Eierkuchen in der grossen geistigen Familie der Musikwelt also? Nicht ganz, nein. Machen wir uns nichts vor – natürlich versuchten die ganze Zeit auch ein paar dunkle Gestalten dreinzufunken, so wie sie das immer tun. Die Störsender-Anekdoten sind allgemein bekannt: Die berühmten

Crossroads-Rendezvous der alten Blueser mit dem Teufel zum Beispiel, oder die okkulten Spielereien gewisser Rock Stars, welche drogengeschwängert zeitweise schutzlos auf beelzebubenhafte Tricks von Aleister Crowley, Anton LaVey und Konsorten hereinfielen. Aber letztlich konnten die Störsender, so raffiniert sie es versuchten, keinen nachhaltigen Schaden anrichten – die blue notes blieben in der Obhut guter Mächte und verweilen bis heute im positiven Wirkungskreis der Weltreligionen. «Holy Blues» eben.

Unzählige Leben hat er gerettet, dieser heilige Blues. Und jetzt beschert er mir als Geschenk sogar noch einen Kick, wie ihn kein LSD-Trip dieser Welt hinkriegen würde – den Kick nämlich, dieses Buch hier zu schreiben. Halleluja!

Sie merken, liebe Leserinnen und Leser, ich packe gelegentlich eine Spur Ironie in mein Narrativ hinein. Darf ja auch Spass machen! Und bei dieser Gelegenheit, dass wir das auch gleich abhaken können:

Ich verstehe seit 50 Jahren, seit ich schreiben und sprechen kann, die Mehrzahl als geschlechtsneutral – mit «die Leser» meine ich selbstverständlich weibliche Leserinnen, männliche Leser sowie sämtliche Lesenden aus dem nichtbinären, mittlerweile rund 60 verschiedene Identitäten umfassenden Geschlechtsbereich. Aus der Sicht der Textkunst, des Leseflusses, des Schriftsatzes und der Grafik wäre «die Leser» für mein Gefühl perfekt. Da ich aber nun mal nicht für mich schreibe, sondern für eine Leserschaft, suche ich nach einem vernünftigen Gender-Kompromiss: Keine ständigen Doppelnennungen («Künstlerinnen und Künstler»), keine aus grafischer Sicht seltsam wirkenden Schrägstriche («Amerikaner/innen») oder gar Gender-Sterne («Musiker*innen»), sondern den optisch relativ unauffälligen Gender-Doppelpunkt:«Afrikaner: innen»

Nun, ich möchte einen ernsthaften und inspirierenden Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Blues und seines geistigen Backgrounds leisten. Schön, dass Sie mich auf dieser historischen Reise begleiten. Ich bin nicht der Typ Reiseleiter, der den Weg schon unzählige Male abgelaufen ist, jeden Stein und Grashalm kennt, den Reisebericht herunterleiert. Ich bin selber genauso auf Entdeckungsreise, taste mich voran, werde immer wieder überrascht von neuen Erkenntnissen.

Dass der Blues auch islamische Wurzeln hat, war mir zum Beispiel lange nicht klar. Die entscheidende, stilbildende Inspiration für diese Musik kam zwar bekanntlich aus der christlich geprägten Spiritual- und Gospelmusik, doch die Afrikaner: innen, welche im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels in die neue Welt der Kolonialmächte verschleppt wurden, waren spirituell auf diverse Weise geprägt. Afrikas Religionsgeschichte ist vielfältig. Und gleich vorweg: Religion ist in Afrika keine Nebensache – sie umfasst beinahe alle Bereiche des Lebens, spielt für die meisten Menschen eine zentrale Rolle. Afrikaner: innen mögen keine halben Sachen. Spiritualität ist für sie nicht bloss Wellness oder Gedankenspielerei; sie leben ihren Glauben häufig mit kompromissloser Intensität und Hingabe, und sie wissen von ihren Vorfahren, dass die Beziehung zur unsichtbaren Welt kein Humbug ist, sondern die natürlichste Sache der Welt.

Das Christentum und der Islam teilen sich heute die religiöse Mehrheit in Afrika; der Islam tendenziell eher im Norden und Westen, das Christentum eher im Zentrum und im Süden. Die drittgrösste Gruppe ist ein Sammelbecken von traditionellen ethnischen Religionen, und dazu kommen natürlich zahlreiche synkretistische Religionen, das heisst Vermischungen von ethnischen Religionen mit christlichen oder mit islamischen. Auch das Judentum übrigens spielte in Afrika während Jahrtausenden eine Rolle; jüdische Gemeinschaften lebten bereits sehr früh über den afrikanischen Kontinent verstreut, die «Falascha» zum Beispiel, deren Vorfahren Israeliten waren, die im 10. Jahrhundert vor Christus nach Äthiopien ausgewandert sind.

Die afrikanischen Sklav: innen hatten also unterschiedliche Backgrounds, als sie in ihre neue Heimat entführt wurden. Die einen waren christlicher Herkunft (erste historische Belege für eine christliche Präsenz in Afrika stammen aus dem 4. Jahrhundert), andere waren muslimischer Herkunft (kurz nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahre 632 hatte der Islam sich in Afrika auszubreiten begonnen), wiederum andere hatten eine Mischung im religiösen Gepäck. Im Verlaufe der für die Bluesgeschichte entscheidenden Jahrhunderte konvertierten viele Afroamerikaner: innen zum Christentum – und dennoch steckt im Blues neben den ohnehin bereits prägenden afrikanischen Musiktraditionen höchstwahrscheinlich auch eine islamische Komponente: der Gebetsruf.

War der Field Holler (Rufgesang während der Feldarbeit) ein Gebetsruf …? Ein Äthiopier namens Bilal war gemäss Geschichtsschreibung der erste Muezzin (Ausrufer); im Jahr 622 oder 623 soll er erstmals muslimische Gläubige zum Gebet gerufen haben. Noch nicht von einem Minarett aus (Minarette wurden erst nach dem Tod des Propheten errichtet), sondern von einem Hausdach in Medina aus, im westlichen Saudi-Arabien, in der nach Mekka zweitwichtigsten heiligen Stadt des Islams. Pikantes Detail: Bilal war ein schwarzafrikanischer Sklave, ein befreiter Sklave, zuvor gefoltert von seinem arabischen Herrn, befreit schliesslich von Abu Bakr al-Sadiq, einem reichen muslimischen Wohltäter. Aus Dank und Freude konvertierte Bilal zum Islam, stieg aufs Dach einer kleinen Moschee und forderte mit langgezogenen Rufen die Leute zum Gebet auf. Der «Adhan» war geboren – die Kunst des wohlklingenden Gebetsrufs. Heute wird er in der islamischen Welt in unzähligen regionalen Nuancen gesungen, in verschiedenen «Maqamen» (Modi, Tonarten), verwurzelt in der arabischen Tradition, mit den typischen Dreiviertelton-Intervallen arabischer Musik.

Bilals Gebetsruf aus Medina wurde nun also etwa tausend Jahre später mit westafrikanischen Sklav: innen nach Amerika exportiert, brachte dort schliesslich den legendären Field Holler hervor – und somit den Blues. Davon überzeugt sind jedenfalls die New Yorker Sozialhistorikerin Sylviane Diouf und der österreichische Musikethnologe Gerhard Kubik. Für Diouf ist «die Nähe des Hollers zum muslimischen Gebetsruf sehr auffällig», und Kubik bezeichnet den Musikstil, der sich im Holler und im Blues des Mississippi-Deltas wiederfindet, als «arabischislamisch».

Höchstwahrscheinlich steckt ein Kern Wahrheit in dieser These. Das Problem ist nur, dass wir die ursprünglichen Holler der Sklav: innen nicht kennen. Die ältesten Holler-Aufzeichnungen stammen aus Mitte der 1930er-Jahre, einige Blues-Aufnahmen aus den 1920er-Jahren (wie etwa Mistreatin’ Mama von Jaybird Coleman) zeigen starke Verbindungen zur Field Holler-Tradition – dann spätestens reisst der akustische Faden jedoch ab. Wir wissen nicht, wie diese Rufe im 17., 18. oder 19. Jahrhundert tönten. Der Field Holler des 20. Jahrhunderts war erwiesenermassen von Blues-Aufnahmen der damaligen Epoche beeinflusst, beides war bereits vermischt zu dieser Zeit. Sylviane Diouf bezieht sich auf den legendären Levee Camp Holler von W.D. ’Bama’ Stewart (1947 von Alan Lomax aufgezeichnet, in einem Arbeitsgefängnis in Mississippi). Dieser Holler versprüht tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zum muslimischen Gebetsruf, und sehr gut möglich, dass Bamas Herkunft islamisch geprägt war. Daraus jedoch eine direkte und eindeutige Linie vom Blues zum Islam zu führen, scheint mir etwas gewagt zu sein.

Und dennoch berechtigt. Ungefähr 30 Prozent der nach Amerika verschleppten Afrikaner: innen waren Muslime; der grössere Teil der Sklav: innen stammte aus West- und Zentralafrika, also aus Gebieten, die teilweise islamisch geprägt waren. Sylviane Diouf ist überzeugt, dass Muslim: innen in der Sklaverei die islamische Glaubenspraxis so weit als möglich aufrechterhielten, weiter den Koran rezitierten und zum Gebet riefen. Historisch ist das nicht gesichert, aber durchaus naheliegend.

Die meisten Afroamerikaner: innen wurden später (während der Entstehung des Gospels und Blues) zu Christen – dennoch steckte in ihnen teilweise auch geistiges Erbgut aus der muslimischen Kultur.

Traditionelles afrikanisches Erbgut ohnehin; die ihrerseits durch verschiedene Kulturen beeinflusste Musik Afrikas hat eine reiche, jahrtausendealte Tradition. Der Gebetsruf wanderte womöglich tatsächlich in den Field Holler, doch der Holler ist längst nicht die einzige Wurzel des Blues. Spirituals und kollektive Arbeitslieder zum Beispiel unterscheiden sich im Gesangsstil deutlich vom Holler. Der afroamerikanische Holler wurde von Zeitzeugen des 19. Jahrhunderts als langer, einsamer und melancholischer Ruf beschrieben, der anhebt, abebbt und ins Falsetto kippt. Holler wurden alleine gesungen, ohne Rhythmus, im Gegensatz zu kollektiven Arbeitsliedern. Emotionales Singen war in Afrika ohnehin Tradition; das Shouting (ein expressiver, gewissermassen schreiender Gesangsstil) während der Arbeit, oder das Moaning (Stöhnen, Klagen) bei Begräbniszeremonien – beides uralte afrikanische Riten, und bei beiden spürt man eine Nähe zum späteren Field Holler. Ich würde deshalb sagen: Der muslimische Gebets ruf ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Blues-Gen, ja, aber längst nicht das einzige.

Die gesamte afrikanische Musikgeschichte trug zum Blues bei. In Senegal oder Mali zum Beispiel ist Musik, kombiniert mit Tanz und Erzählung, die wichtigste künstlerische Ausdrucksform seit Menschengedenken. Es gibt dort traditionellerweise eine regelrechte Musiker-Kaste, die sogenannten Griots, vergleichbar etwa mit Troubadours, mit Barden aus der keltischen Kultur oder mit dem gewerkschaftlich organisierten Musikerberuf heutzutage. Auch im Hochland Äthiopien waren solche professionellen Geschichtenerzähler unterwegs, dort hiessen sie Azman. Das Muster war stets ungefähr dasselbe – Storytelling begleitet von Schlag- und Saiteninstrumenten.

Die wichtigsten Instrumente waren die einer Laute ähnlichen Ngoni, Xalam, Riti und Kora (in Mali und Senegal) sowie die einsaitige Kastenspiesslaute Masinko (in Äthiopien). Bei afrikanischen Einsaiteninstrumenten ist die Nähe zur späteren Slidegitarre ohnehin auffallend; stufenlose Tonhöhenverschiebung eben.

Doch nicht nur der Link zum Bottleneckspiel fällt auf. Die traditionelle Kora- und Ngoni-Musik mit ihrem repetitiven Riff-Charakter erinnert grundsätzlich an den archaischen Mississippi-Deltablues. In Lutz Gregors Dokumentarfilm Mali Blues hört man denn auch den bekannten Desert Bluesmusiker Bassekou Kouyaté aus Mali sagen, «alle wissen, dass der Blues ursprünglich von hier kommt». Das klingt so pauschal formuliert zwar auch wiederum überspitzt, ist mit Sicherheit aber ein Teil der Wahrheit. Wenn einer kompetent ist, dann Kouyaté; er wurde in Garana (Mali) in einen der bedeutendsten Griot- Clans Afrikas hineingeboren und trug das musikalische Erbe meisterhaft in unsere Musikkultur, durch gefeierte Auftritte zusammen mit Stars wie Ali Farka Touré oder Taj Mahal.

Die Musik aus Senegal oder Mali ist älter als der Einfluss des Islams und des Christentums. Als der transatlantische Sklavenhandel im 16. Jahrhundert einsetzte, waren diese Gebiete noch über weite Strecken in älteren afrikanischen Religionen verankert. Die Islamisierung des Senegal begann zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert im Norden des Landes, breitete sich zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert unter der Wolof-Aristokratie aus, blieb jedoch weiterhin die Religion einer Minderheit und erreichte den heutigen Einfluss erst im 18. und 19. Jahrhundert, als antikoloniale Bewegung sozusagen. In Mali wiederum begann zwar bereits im 11. Jahrhundert ein starker islamischer Einfluss, der sich jedoch für lange Zeit auf die wohlhabende Elite (Herrscherfamilien, Händler und Weise) der städtischen Zentren beschränkte. Die Mehrheit der Bevölkerung in Mali blieb traditionellen afrikanischen Glaubenssystemen treu; zurBildung islamischer StaBildung islamischer Staaten kam es erst im 19. Jahrhundert.

Machen wir uns keine Illusion – die genauen Herkunftslinien des Blues und Jazz werden wir nie exakt eruieren können. Ein Fall für Expertenstreitereien also. Klar ist immerhin, dass die Roots nach Afrika führen, und dass in Nordamerika erst die Genres wirklich entstanden. Vor allem klar ist aber, dass ohne Religion im Allgemeinen (während der Zeit vor der Sklaverei) und ohne Christentum im Speziellen (während der stilbildenden Phase der Spirituals und Gospels in den USA) schlicht und einfach kein Blues, kein Jazz und somit keine Pop- und Rockmusik entstanden wären.

Diese Tatsache in Vergessenheit geraten lassen zu wollen, wird wohl des Zeitgeistes grosser Kick sein. Ohne Religion wäre alles besser? Bullshit, pardon. Auf jeden Fall kriegt der Zeitgeist gleich noch eine Watsche, wenn man ihn an einen weiteren uralten Ast im Stammbaum des Blues erinnert: an die Indianer. Spätestens seit Catherine Bainbridges hervorragendem Dokumentarfilm Rumble – Das rote Herz des Rock