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Was, wenn die Menschen, die du liebst, ein dunkles Geheimnis hüten? Als Beth und ihre Geschwister nach dem Tod ihrer Mutter nach Hause zurückkehren, geht der Albtraum für sie erst richtig los, als sie auf ein altes Video stoßen, das ihren seit Jahren vermissten Vater mit einem lange ungelösten Verbrechen verbindet. Die Wahrheit über das Verschwinden von Emma Harper liegt tief vergraben – genauso wie die Geheimnisse ihrer Familie. In einer Stadt, in der jeder jeden kennt, ist Vertrauen gefährlich, und die Vergangenheit lässt sich nicht einfach verdrängen. Bestsellerautorin Jeneva Rose liefert den nächsten spannenden Thriller rund um eine Familie voller Geheimnisse.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Originalausgabe1. Auflage 2025© 2025 by Lago Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHTürkenstraße 8980799 MünchenTel.: 089 651285-0
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Übersetzung: Tanja SchröderRedaktion: Annett StützeUmschlaggestaltung: Sonja StiefelUmschlagabbildung: Sarah RiedlingerSatz: Kerstin SteineBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95761-254-0ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-394-2
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Für meine Familie.Ihr musstet zwar noch nie eine Leiche verstecken, aber ich weiß, dass ihr es tun würdet, falls nötig. Und Dad hat uns ziemlich viel Beton gießen lassen, also wer weiß, was da drunter ist?
Nichts bringt Menschen besser zusammen als der Tod. Er ist wie der hohe Ton einer Hundepfeife für einen Streuner, der seinem Besitzer davongelaufen ist. Wenn er ertönt, kommt er immer. Der Tod erinnert uns daran, dass das Leben nicht unendlich ist und dass eines Tages auch unsere Zeit kommen wird. Wir halten inne, um dieser Mahnung zu lauschen, sie anzuerkennen und ihr den Respekt zu zollen, den sie fordert. Und dann verstreuen wir uns in die Welt, wie die Samen einer sterbenden Pusteblume, wartend auf den nächsten Ruf – in der Hoffnung, dass er uns diesmal zusammenführt, anstatt uns um jemanden zu versammeln.
Klopf, klopf.
Keine Sorge. Es ist nicht für dich … dieses Mal.
Der Regen fällt heute anders, nicht sanft, nicht heftig, nicht seitlich, einfach anders. Als würde er das letzte Ruhebett meiner Mutter vorbereiten, den Boden durchtränken, in dem sie bald liegen wird. Die Hospizschwester sagte, sie wird bis zum Ende des Tages gehen. Seltsam. Manche Menschen sehen es gar nicht kommen, andere haben einen Countdown, und ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Ich starre aus dem Küchenfenster, das einen Blick auf fünf Hektar Land bietet, eine Mischung aus Bäumen, Hügeln, flachen Wiesen und einem Bach, der sich hindurchschlängelt. Meine Eltern kauften das Grundstück in den späten Siebzigern von einem Farmer und ließen kurz darauf ein Haus darauf bauen. Es war ihr kleines Stück Paradies – bis es das nicht mehr war.
Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von meinem Bruder. Sein Flugzeug ist gelandet, er wird in weniger als einer Stunde zu Hause sein. Zu Hause? Er hat uns vor sieben Jahren den Rücken gekehrt, als unser Vater verschwand. Ich würde unser kleines Städtchen in Wisconsin also nicht als sein Zuhause bezeichnen. Nur 174 Menschen können das, und er gehört nicht dazu. Die meisten, die den Grove verlassen, kehren nicht zurück. Und die, die es doch tun, kommen nie, weil sie es wollen. In gewisser Weise ist es wie ein Friedhof.
Ich öffne die Nachricht, die ich meiner Schwester vor Stunden geschickt habe. Ungelesen. Wahrscheinlich liegt sie in irgendeinem Motel, zugedröhnt, mit einer Nadel zwischen den Zehen, weil ihre Venen längst kollabiert sind und sie immer noch diesem einen Rausch hinterherjagt, den sie ihr Leben lang sucht. Ich seufze schwer bei dem Gedanken an sie. Sucht ist erschöpfend – für die, die konsumieren, und für die, die konsumiert werden.
Ich nehme einen Laib Weißbrot aus dem Schrank, schneide zwei Scheiben ab und streiche eine dicke Schicht Mayo darauf. Neben der Spüle steht eine Schüssel voller runder, praller Fleischtomaten aus dem Garten. Ich lege die reifste auf das abgenutzte Schneidebrett. Tomatenwasser sickert heraus, als mein Messer durch das Fruchtfleisch gleitet. Ich weiß nicht einmal, warum ich Mom ein Tomaten-Mayo-Sandwich mache. Sie hat seit Tagen nichts gegessen. Aber es ist ihr Lieblingsessen, sagt sie. Sie wuchs in bitterer Armut auf, also sind das ihre Lieblingsgerichte, weil sie nie etwas Besseres kennengelernt hat. Ich wollte ihr immer mehr zeigen, ihr eine Welt außerhalb des Grove eröffnen – aber ich bin selbst nie hier rausgekommen.
»Eliza…beth«, ruft meine Mutter leise aus dem Wohnzimmer. Sie sagt meinen Namen so, wie sie ihre Werthers-Bonbons lutscht – langsam, bedächtig. Als würde sie ihn genießen. Meine Schultern sinken, schwer mit der Vertrautheit der Niederlage. Ich weiß, dass ich ihn nie wieder hören werde – meinen Namen, den sie mir gegeben hat. Ich wünschte, ich könnte ihn greifen, ihn an mich reißen und sicher verwahren, wie ein Familienerbstück. Aber er gehört zu diesem Moment. So wie sie. Nichts, das ich für immer behalten kann. Ich atme tief durch und lasse das Messer aus meiner Hand gleiten. Es schlägt dumpf auf dem Schneidebrett auf. Es ist Zeit, Lebewohl zu sagen.
Die Uhr an der Wand zeigt kurz nach acht. Meine Geschwister werden es vermutlich nicht mehr rechtzeitig schaffen. Aber sie hatten ihr ganzes Leben lang Zeit, hier zu sein – und haben sich dagegen entschieden. Vielleicht verdienen sie es auch gar nicht. Der Tod wartet auf niemanden.
»Ich komme, Mom.« Ich zwinge meine Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben, bevor ich die Küche verlasse. Alles, was sie je wollte, war, ihre Kinder glücklich zu sehen. Ich kann das für sie tun – auch wenn es nicht echt ist.
Das Wohnzimmer wurde vor drei Monaten zu ihrem Schlafzimmer umfunktioniert. Sie wollte es so. Wollte durch das große Erkerfenster blicken und beobachten, wie die Sonne untergeht. Mom arbeitete ihr Leben lang in der Spätschicht. Sie sagte, das sei das Einzige, was sie wirklich verpasst habe.
Ein Fernseher steht stummgestellt in der Ecke, auf dem ein Werbespot für ein Autohaus läuft. Die meisten Besitztümer meiner Mutter haben ein Blumenmuster: die Decke, unter der sie liegt, das Sofa, das an die hintere Wand geschoben wurde, und die dekorativen Kissen an beiden Enden. Selbst die Bilderrahmen hinter ihrem Hospizbett zeigen Blumen. Sie sagte mir einmal, Blumen erinnerten sie an das Leben – wunderschön, zerbrechlich und von kurzer Dauer.
Ihr Bett ist leicht aufgerichtet, und sie sieht aus dem Fenster nach draußen.
»Hi, Mom«, sage ich. Meine Stimme droht zu brechen, aber ich schlucke die Traurigkeit hinunter. Ich werde diesen Damm später brechen – aber nicht jetzt. Nicht vor ihr.
Sie hebt ihre Hand zitternd einen Zoll über ihren Schoß und lässt sie wieder sinken. Sie hat nicht mehr die Kraft, es zu sagen, aber ich kann ihre Worte hören: Komm, sieh dir den Sonnenuntergang an, Beth.
»Okay, Mom.«
Ich setze mich auf den Sessel neben ihrem Bett. Er hat sich längst meiner Körperform angepasst – nach all den Stunden, die ich in den letzten Monaten hier verbracht habe. Ihr Zustand hat sich vor sieben Wochen ernsthaft verschlechtert, also nahm ich unbezahlten Urlaub von meinem Job im Lager, um sie rund um die Uhr zu pflegen. Mom hätte mehr Zeit gehabt, aber sie ist eine sture Frau, die den Arzt so selten besucht wie andere die Kfz-Zulassungsstelle. Als sie den Krebs entdeckten, war es bereits zu spät. Er hatte sich auf die Leber und den Blutkreislauf ausgebreitet.
Sie bewegt ihre dünnen Finger, und ich ergreife sanft ihre Hand. Der Regen hat vorübergehend aufgehört. Die Wolken reißen auf, und der Himmel verwandelt sich in ein perfektes Blau, durchzogen von den Rosa- und Orangetönen des Sonnenuntergangs.
»Es ist wunderschön, Mom«, sage ich und blicke zu ihr hinüber.
Ihre graue, von tiefen Falten durchzogene Haut gleicht der Rinde eines Baumes – gezeichnet von einem Leben voller Sorgen und Schmerz. Aber sie hat es akzeptiert und pflegte stolz zu sagen: »Je mehr Falten, desto härter das Leben.« Für sie war es eine Auszeichnung, ein Beweis ihrer Kämpfe.
Ihr Brustkorb hebt und senkt sich kaum noch. Ich beobachte es genau, nur um sicherzugehen, dass sie noch atmet. Sie hält ihren Blick auf die untergehende Sonne gerichtet, und ich kann die Sätze hören, die sie letzte Woche zu mir sagte, bevor es ihr zu mühsam wurde, mehr als ein, zwei Worte zu murmeln.
Es gibt nicht viel im Leben, auf das du dich verlassen kannst, aber das hier … darauf kannst du zählen. Sie wird aufgehen, und sie wird untergehen – egal, was passiert. Egal, ob du krank bist oder traurig. Egal, ob Krieg herrscht oder Frieden. Egal, ob du es siehst oder nicht. Diese Sonne. Auf die kannst du dich verlassen.
Selbst in ihren letzten Tagen versuchte sie noch, mich zu lehren, mich zu führen, mir auf ihre Weise Liebe zu zeigen – durch Lektionen und Worte der Weisheit. Ich drücke sanft ihre Hand, damit sie weiß, dass ich noch hier bin. Der leichte Druck scheint sich durch ihren Körper auszubreiten, als würde er selbst die Luft in ihren Lungen zusammenschnüren. Sie beginnt zu keuchen. Ich tauche einen Schwamm in ein Glas Wasser und lasse die Flüssigkeit in ihren leicht geöffneten Mund tropfen. Mom nimmt ihren Blick keine Sekunde von der Sonne. Ich tupfe ihre spröden Lippen mit dem feuchten Schwamm ab und setze mich wieder, während sie nach dem wenigen Atem ringt, der ihr noch bleibt.
Als die Sonne schließlich hinter dem Horizont verschwindet, dreht sie ihren Kopf zu mir. Ich lächle sie an, aber sie lächelt nicht zurück. Ich weiß, dass der Tod nahe ist, denn selbst ihre Präsenz scheint zu verblassen.
»Hi, Mom«, sage ich.
Ich versuche, »Mom« so oft wie möglich zu sagen, denn ich weiß, dass ich dieses Wort nie wieder für jemanden benutzen werde. Es gehört nur ihr. Es gibt keinen Ersatz. Meine Kehle zieht sich zusammen, und mein Atem stockt, als würde sich einer dieser Schluchzer anbahnen, der von ganz tief unten hochkommt, einer, der schmerzt, einer, den du nicht aufhalten kann und der dich bis ins Mark erschüttert. Ich greife nach ihrer Hand und halte sie erneut. Sie fühlt sich kalt an, und ich weiß, was das bedeutet.
Sie schaut mich an oder vielleicht ein wenig über mich hinweg – ich bin mir nicht sicher. In ihren Augen liegt Verwirrung. Sie wusste, dass der Tod kommen würde, aber sein tatsächliches Eintreffen ist immer rätselhaft. Es ist, als stünden wir alle in einer endlosen Schlange und warteten darauf, dass unsere Nummer aufgerufen wird, in dem Glauben, dass dieser Tag niemals kommt – doch das wird er, und das tut er. Sie versucht, sich zu mir zu drehen, aber sie ist zu schwach. Also lehne ich mich näher zu ihr. Nur noch eine halbe Armlänge trennt uns, und ich bemerke, wie sich ihr Atem verändert – von langsam und flach zu hastig. Es ist fast so weit, und es gibt so vieles, das ich ihr sagen möchte. Aber ich weiß, es würde ein ganzes Leben dauern, all diese Worte auszusprechen, also versuche ich, herauszubringen, was ich kann.
»Ich liebe dich, Mom. Danke, dass du mich bekommen hast, dass du mich großgezogen hast, dass du mich geliebt hast, und dafür, dass du wie die Sonne warst … die eine Konstante, auf die ich mich immer verlassen konnte.« Meine Stimme bebt. Es klingt überhaupt nicht so, wie ich es wollte. Mein Gesicht verzerrt sich, und plötzlich sind meine Wangen nass – der Damm bricht mit einem Mal. In ihren Augen flackert etwas auf. Erkenntnis oder etwas Ähnliches.
»Dein Vater …«, haucht sie.
Ich beuge mich ein wenig näher. »Was ist mit Dad, Mom?«
»Er ist nicht …« Sie ringt nach Luft, als müsste sie die Worte aus sich herauszwingen … Worte, die vielleicht schon lange in ihr vergraben lagen. Waren sie mit dem Krebs verwoben, und deshalb kann sie sie erst jetzt aussprechen?
»Ver…schwunden«, stammelt sie.
Ich blinzle energisch, als könnte ich mich so aus einem Albtraum reißen.
»Mom, was willst du damit sagen? Wenn er nicht verschwunden ist, wo ist er dann?« Meine Stimme zittert. Ich verstehe nichts davon.
»Vertrau …« Sie schließt für einen Moment die Augen, und ich denke, sie ist fort. Aber dann öffnen sie sich noch einmal, genauso schnell, wie sie sich geschlossen hatten. »Nicht«, flüstert sie.
»Mom! Ich verstehe das nicht! Wo ist Dad?«, rufe ich verzweifelt.
Sie atmet aus, als wollte sie ihre letzten Worte zu Ende bringen, doch es kommt nichts mehr, nur ihr letzter Atemzug. Ihre kalte Hand erschlafft in meiner. Es ist wahr, was sie über das erlöschende Licht in den Augen eines Menschen sagen, der stirbt. Ihre Augen sind starr und leer. Ihr Mund steht leicht offen.
Sie ist weg.
Sie ist weg.
Ein schmerzerfülltes Schluchzen bricht aus mir heraus, während sich ihre letzten Worte in meinem Kopf aneinanderreihen.
Dein Vater. Er ist nicht verschwunden. Vertrau … nicht.
Ich wusste immer, dass nur der Tod mich nach Hause zurückbringen würde. Ich wusste nur nicht, wessen Tod es sein würde. Ich war sieben Jahre weg, und heute kam der Anruf. Mom liegt im Sterben. Du solltest nach Hause kommen. Also nahm ich den ersten Flug von San José nach Wisconsin, denn wenn der Tod ruft, dann antwortest du.
Der Motor meines Mietwagens schnurrt leise, während ich über den Highway X fahre – eine von nur zwei Straßen, die Allen’s Grove mit dem Rest der Welt verbinden. Ein farbenfroher Regenbogen spannt sich über den Himmel, aber die dunklen Wolken, die aus dem Westen heranziehen, werden ihn bald verschlucken. Ich verlangsame und setze den linken Blinker. Auf der Straße ist niemand, dem ich ein Signal geben müsste, aber ich tue es trotzdem – aus Gewohnheit. Der Grove sieht noch genauso aus, wie ich es mir gedacht habe. Kleinstädte entwickeln sich nicht. Sie wachsen nicht. Sie verändern sich nicht. Sie bleiben, was sie immer waren.
Ich fahre am Park vorbei, dem Zentrum dieser nicht eingetragenen Gemeinde. Überall verstreut stehen große Walnuss- und Eschen-Ahornbäume – das Einzige, was hier wächst. Dieselbe Rutsche, dasselbe Klettergerüst, dieselben Picknicktische wie damals. Nur verrostet und abgenutzt. Ranchstyle-Häuser mit ordentlichen Gärten säumen den Park, und ich bin mir sicher, dass in jedem der Häuser noch dieselben Familien leben wie früher.
Ich biege rechts in die Hustis Street ein. Eine Sackgasse. Am Ende, auf der linken Seite, steht das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum unsere Straße nirgendwohin führt – fast wie eine Vorahnung für die, die geblieben sind. Ich wollte nicht zurückkommen, aber ich kann meinen Schwestern nicht zutrauen, den Nachlass ordentlich zu regeln. Sie haben ihre eigenen, ungelösten Probleme – Nikki ist süchtig nach Drogen, Beth süchtig nach Mittelmäßigkeit. Wie könnte ich erwarten, dass sie sich darum kümmern?
Ich hege keinen Groll gegen meine Schwestern, aber ich weiß, dass sie mich verachten. Ich bin ihnen entwachsen. Ich bin weggegangen. Ich habe eine Welt außerhalb dieses Terrariums entdeckt, und sie hassen mich dafür. Aber ich kann ihnen ihren Neid nicht übel nehmen. Wenn du heller strahlst als die Sonne, haben andere nur zwei Möglichkeiten: Hinschauen und sich vom Neid blenden lassen – oder wegsehen. Offensichtlich haben sie sich für Letzteres entschieden. Seit sieben Jahren haben wir kaum Kontakt. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich wohl genauso reagieren. Ich bin eine Erinnerung daran, was hätte sein können, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre. Und niemand will so eine Erinnerung.
Ich fahre langsam die lange Betonauffahrt hinauf. Oben macht sie eine Kurve und führt durch einen weitläufigen Hof, der in einem früheren Leben mal eine Kuhweide war. Das Haus steht am Ende der Auffahrt – auf dem höchsten Hügel in Allen’s Grove. Früher dachte ich, dass unsere Lage etwas Besonderes wäre, doch so ist es nicht. Es ist, als würde man sagen, man sei der Erfolgreichste, der jemals in diesem Ort gelebt habe. Ein Riese unter Ameisen. Ich parke vor der dreifachen Garage. Das Ranchstylehaus ist noch immer hellblau, aber längst nicht mehr so sauber und leuchtend wie damals, als mein Vater sich noch darum kümmerte. Jeden Frühling reinigte er die Auffahrt, das Vordach, die Veranda und die Hauswände mit dem Hochdruckreiniger. Dieses Haus war sein ganzer Stolz, doch am Ende hat dieser Stolz ihn zerstört, so wie es den meisten Männern ergeht.
Ich greife nach meiner Reisetasche auf dem Rücksitz und steige aus. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben – nur lange genug. Ein süßlich-schwerer Duft hängt in der Luft, vermutlich vom Regen und dem nahenden Sturm. Der Wind pfeift, während er an Kraft gewinnt. Vögel zwitschern und singen in den Bäumen ringsum. An der Haustür bemerke ich den abgeblätterten, verblassten roten Lack. Noch etwas, das nicht gepflegt wurde, noch eine Erinnerung daran, warum ich hier bin. Ich überlege kurz anzuklopfen, und vielleicht sollte ich es. Dieser Ort ist kein Zuhause für mich. Gleichzeitig erscheint es falsch, meine Ankunft anzukündigen – als wäre ich nur ein Gast. Meine Hand umfasst den kalten Türgriff. Ich atme tief durch. Ich mache mich bereit, eine Welt zu betreten, in die ich nie wieder zurückkehren wollte.
Ich habe mich nicht von meinem Sessel bewegt. Es sind zwanzig Minuten vergangen, seit Mom gestorben ist. Vielleicht auch nur zwei. Wer weiß das schon? Die Zeit bleibt stehen, wenn der Tod einen Besuch abstattet. Ich stehe unter Schock. Nicht nur, weil ich sie verloren habe, sondern auch wegen ihrer letzten Worte.
Was bedeuteten sie? Was wollte sie mir sagen? Und warum hat sie bis zum allerletzten Moment damit gewartet? Warum? Meine Augen wandern zwischen ihr und dem Farbgewirr auf dem Fernsehbildschirm in der Zimmerecke hin und her. Eine Wiederholung von Glücksrad, der Ton ist immer noch stummgeschaltet. Drei Buchstaben sind zu sehen, die Lösung besteht aus zwei Wörtern. Die Kategorie lautet »Gegenstand«. Mom hätte es längst erraten. Sie liebte Rätsel.
Dein Vater. Er ist nicht verschwunden. Vertrau nicht …
Vertraue wem oder was nicht? Oder meinte sie generell, so ganz allgemein … also niemandem? Ich schaue wieder zu ihr. Sie sieht mich an – oder es scheint zumindest so. Ihr Kiefer ist entspannt, ihr Mund leicht geöffnet, als wollte sie noch etwas sagen. Aber ich weiß, dass sie es nicht tun wird. Weil sie fort ist. Und ich bleibe zurück mit einer Leiche und einem Rätsel, bei dem sie mir nicht mehr helfen kann.
Er ist nicht verschwunden. Aber doch, das ist er – vor sieben Jahren. Er hinterließ nur einen handgeschriebenen Zettel für meine Mutter. Sie waren siebenunddreißig Jahre verheiratet, und als er ging, hinterließ er nichts weiter als fünf Abschiedsworte: Laura, es tut mir leid. In Liebe, Brian.
Sein Truck wurde von einer Überwachungskamera an einer Tankstelle sieben Meilen südlich unseres Hauses erfasst und später noch einmal an einer Mautstation, als er die Grenze zu Illinois überquerte. Danach verschwand er spurlos, wie eine Pfütze Wasser, die an einem heißen Tag verdunstet. Keiner von uns hatte es kommen sehen – außer Mom. Sie sagte, sie hätten Probleme gehabt, und dass Dad jahrelang immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hatte. Es überraschte mich, denn sie stritten nie, und ich hatte keine Ahnung, dass Dad unglücklich war. Mom sagte, sie habe versucht, ihm zu helfen, aber er habe es abgelehnt und behauptet, es gehe ihm gut. Die Polizei ermittelte eine Zeit lang wegen seines Verschwindens. Zunächst nahmen sie Mom ins Visier. Es ist schließlich immer der Ehepartner, oder zumindest fast immer. Doch diese Theorie wurde fallengelassen, als sein Truck zwei Wochen später verlassen in der Stadt McAllen, Texas, aufgefunden wurde – elf Meilen von der mexikanischen Grenze entfernt. Die Behörden hielten die Ermittlungen zwar offiziell offen, aber niemand suchte wirklich nach ihm.
»Wo ist er, Mom? Wo ist Dad?«, weine ich in der Hoffnung, dass sie noch ein einziges Mal aufwacht und mir antwortet.
Die Haustür knarrt und saugt die abgestandene Luft aus dem Haus. Hastig decke ich Mom mit einer Decke zu, wische mir die Augen und stehe auf.
»Hallo?«, ruft Michael.
Ich habe seine Stimme seit Jahren nicht mehr gehört – seit sieben Jahren, um genau zu sein, aber sie klingt noch genauso: tief, umweht von Selbstbewusstsein. Ich drehe mich um und sehe ihn im Türrahmen des Wohnzimmers stehen. Er trägt eine Khakihose und ein graues T-Shirt. Fast sieht er auch genauso aus wie früher. Sein dunkles Haar ist kurz geschnitten und nun von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Seine Schultern sind breiter, als würde er regelmäßig ins Fitnessstudio gehen. Seine Haut ist gebräunt – in Kalifornien scheint die Sonne eben länger und heller. Eine dünne, mehrere Zentimeter lange Narbe zieht sich über seine rechte Wange. Sie ist neu. Ich kenne sie nicht. Wahrscheinlich hat er etwas Dummes gemacht, um sie sich zuzuziehen. Obwohl Michael fast sechsunddreißig ist, ein paar Jahre jünger als ich, und mich um einiges überragt, sehe ich immer noch meinen nervigen kleinen Bruder in ihm.
»Hi, Beth«, sagt er.
»Hi, Michael.«
Einen Moment lang sagt keiner von uns etwas. Wir stehen nur da, Welten voneinander entfernt, und sehen uns an. Er ist meine Familie, aber gleichzeitig ein Fremder. Ein vertrauter Fremder, was für ein seltsames Paradoxon.
»Ist Mom …?« Er schluckt schwer, unfähig, die Frage zu vollenden, doch ich weiß, was er wissen will. Er blickt über meine Schulter, versucht einen Blick auf sie zu erhaschen, aber sie liegt unter der Decke verborgen, außer Sichtweite.
Ich nicke. »Ja.«
Er reibt sich über die Stirn und atmet scharf aus. »Wie lange?«
»Nicht lange.« Meine Antwort bleibt vage – ich habe jedes Zeitgefühl verloren.
Michael schüttelt den Kopf und blickt hinab auf seine Schuhe. »Das verdammte Flugzeug hat eine halbe Stunde auf dem Rollfeld gestanden, nachdem wir gelandet sind. Vielleicht hätte ich es noch rechtzeitig geschafft.«
Ich weiß nicht, ob er Trost sucht, aber ich habe keinen zu geben. Also schweige ich. Genau wie Dad hat auch Michael sich entschieden wegzubleiben.
Er hebt den Kopf, sein Blick trifft meinen. »Hat sie noch etwas gesagt, bevor sie gestorben ist?«
Ich kaue auf meiner Unterlippe und überlege, ob ich ihm Moms letzte Worte erzählen soll. Aber diese Botschaft war für mich bestimmt, nicht für ihn. Und ich weiß ja nicht einmal selbst, was sie bedeutet … zumindest noch nicht.
»Nein, sie konnte kaum noch sprechen«, sage ich schließlich.
Er presst die Lippen aufeinander und nickt, verengt die Augen, als würde er mir nicht glauben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich bin keine gute Lügnerin und er ist kein besonders vertrauensseliger Mensch.
»Wo ist Nicole?«
Ich zucke mit den Schultern. »Deine Vermutung ist so gut wie meine.«
»Ist sie wieder drauf?«
»Sie war nie runter.«
Er schüttelt den Kopf. »Verdammt, so viel verschwendetes Potenzial.«
Wahrscheinlich meint er damit auch mich. Wir hatten alle mal etwas vor uns, waren wie Lokomotiven auf Schienen, deren Ende nicht absehbar war. Doch mein Zug ist stehen geblieben, Nicoles Zug ist entgleist, und Michaels … nun, seiner fuhr mit Volldampf weiter. Und genau darum kann ich nicht anders, als ihm Vorwürfe zu machen. Lange Zeit war mir Michael gleichgültig. Es war leicht, ihn zu ignorieren, als er weg war, aber jetzt, da er hier ist, fühlt es sich anders an. Da ist ein Groll in mir – brodelnd, wartend darauf, überzukochen.
»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, frage ich.
Er reibt sich das Kinn, als würde er über seine Antwort nachdenken. »Ich habe ihr eine Nachricht an ihrem Geburtstag geschickt.«
»Eine ganze Nachricht?«
Michael runzelt die Stirn. Er ist es nicht gewohnt, zur Rede gestellt zu werden. Und vielleicht ist das hier nicht der richtige Moment dafür – aber das ist mir egal. Das ganze Haus könnte in sich zusammenstürzen und von der Erde verschluckt werden, und ich glaube nicht, dass ich auch nur aufschreien würde.
»Das habe ich verdient«, sagt er mit einem Nicken.
Seine Antwort enttäuscht mich. Ich wollte einen Streit, wollte jemandem die Schuld geben, jemanden haben, auf den ich wütend sein kann. Aber der kleine Bruder ist mir in Sachen Reife inzwischen überlegen. Wahrscheinlich kann man nur begrenzt wachsen, wenn man immer am selben Ort feststeckt – wie eine Zimmerpflanze, die nie umgetopft wurde.
Ich schiebe meine Füße über den zerkratzten, abgenutzten Holzboden und blicke nach unten. Ich sollte mich entschuldigen, aber ich bereue nichts.
Sein Blick gleitet an mir vorbei. »Kann ich Mom sehen?«, fragt er.
Ich trete zur Seite und ziehe die Decke von ihrem Gesicht, damit Michael einen Blick auf sie werfen kann. Es ist nicht Mom. Es ist nur ein Körper. Wäre es Mom, würde sie lächeln. Doch ihr Kiefer ist schlaff. Ihre Augen waren lebendig und voller Ausdruck, jetzt sind sie trüb und starr. Sie sieht nicht friedlich aus im Tod.
Meine Kehle zieht sich zusammen, und ich schlucke schwer. Ich bin die Älteste. Ich sollte die Stärkste sein. »Möchtest du einen Moment allein?«
Sein Blick ruht auf ihr, aber sein Gesichtsausdruck bleibt leer. Ich frage mich, ob er auch versucht, stark zu sein. Andererseits – er war nie jemand, der geweint hat. Keiner von uns war das. Dad hat uns beigebracht, stark und stoisch zu sein. Ich erinnere mich an seine Worte: Wenn du deine Emotionen kontrollieren kannst, kannst du alles kontrollieren. Er ließ es klingen wie eine Art Superkraft. Aber in Wahrheit war es nur eine schreckliche Bewältigungsstrategie – eine, die uns hilflos zurückließ, als er verschwand.
Michael bewegt sich langsam, vorsichtig, als er auf mich zukommt. Ich weiß nicht, was ich tun oder wie ich reagieren soll. Als er seine Hand ausstreckt, zucke ich fast zusammen. Er legt sie auf meine Schulter und sieht mir in die Augen. »Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, Beth.«
Ich starre ihn an, kaue auf mehreren Sätzen herum, bevor ich schließlich einen ausspucke. »Ich bedaure es auch, dass du nicht hier warst.« Dann trete ich von ihm weg. Seine Hand rutscht von meiner Schulter und sinkt zurück an seine Seite. Es heißt, es gibt Beziehungen, in die man einfach wieder hineinschlüpfen kann – egal, wie viel Zeit vergangen ist, als hätte man nie pausiert. Diese hier gehört nicht dazu.
»Ich bin in der Küche. Ich versuche, Marissa zu erreichen und ihr Bescheid zu sagen«, informiere ich ihn.
Michael nickt nur. Er fragt nicht nach meiner Tochter, seiner einzigen Nichte. Stattdessen dreht er sich von mir weg und setzt sich neben Moms Bett. Er beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Matratze. Moms kleine Hand verschwindet in seiner, als er den Kopf senkt und sein Gesicht in das vergräbt, was von ihr übrig ist. Er murmelt leise, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt. Es ist, als wäre er wieder ein Kind, das um Vergebung bittet, nachdem es etwas angestellt hat – doch Mom ist fort, sie kann ihm nicht mehr vergeben. Sie kann keinem von uns mehr vergeben.
Ich trinke einen zweifingerbreiten Schluck Seagram’s-Seven-Whiskey. Die aprikosenartige Süße verflüchtigt sich sofort auf meiner Zunge und wird schnell von einem Geschmack überlagert, den man am besten als schwachen Reinigungsalkohol beschreiben kann. Noch so eine Sache, die meine Mutter mochte – wenn auch nur in seltenen Momenten. Für sie war dieses Gesöff ein Genussmittel. Es ist billig und schmeckt nicht besonders gut. Aber manchmal sind es die schlechten Dinge im Leben, die uns am lebendigsten fühlen lassen. Ich lehne mich gegen die Küchenzeile und warte darauf, dass meine Tochter mich zurückruft. Eine Fliege summt um die aufgeschnittene Tomate, die ich liegen gelassen habe, das Sandwich, das ich nie vollendete. Ich überlege, sie zu erschlagen, aber in diesem Haus hat es für heute genug Tod gegeben. Also lasse ich sie sich im Tomatenwasser vergnügen. Wenigstens hat jemand was davon.
Ich weiß nicht, was ich gerade mit mir anfangen soll – außer schlechten Whiskey zu trinken. Jeder Schluck drückt die Trauer ein Stückchen weiter nach unten. Ich sollte die Beerdigung planen, aber ich habe keine Ahnung, was Mom gewollt hätte. Jedes Mal, wenn ich das Thema angesprochen habe, sagte sie nur: »Lass uns später darüber reden.« Tja, jetzt ist keine Zeit mehr dafür.
Mein Telefon klingelt. Es ist meine Tochter Marissa.
»Hallo«, sage ich. Es rauscht in der Leitung. Schlechte Verbindung. Aber das sind wir ja gewohnt.
»Hi, Mom. Mein Sergeant hat gesagt, du hast angerufen. Was gibts?«, fragt sie. Im Hintergrund ist Lärm – schwere Maschinen, dröhnende Motoren, Stimmengewirr.
»Kommst du, Thomas?«, ruft ein Mann.
Marissas Stimme entfernt sich etwas, als sie ruft: »Ja, bin gleich da.«
Ich merke, wann sie das Telefon wieder ans Ohr hält, denn plötzlich klingt ihre Stimme lauter. »Mom, bist du noch dran?«
»Ja, ich bin hier. Wie gehts dir?« Ich bin noch nicht bereit, ihr von ihrer Großmutter zu erzählen. Ich bin mir nicht mal sicher, wie sehr es sie treffen wird. Sie waren sich mal nah – bis vor sieben Jahren, als mein Vater verschwand. Das hat meine Mutter verändert. Sie wurde distanziert und verschlossen. Mich hat es genauso verändert. Damit zu leben, dass jemand sich entscheidet, dein Leben zu verlassen, ist hart. Und ich bin nicht gut damit umgegangen. Ich habe Marissa weggestoßen, ohne es zu merken. Mom hat es ebenfalls getan und ich glaube, uns ist das erst aufgefallen, als die ganze Welt zwischen uns lag. Marissa ist seit über einem Jahr auf einer Marinebasis in Südkorea stationiert, davor war sie in der Ausbildung, sie hat ihre Großmutter also seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sie hätte in den Great Lakes stationiert werden können, ganz in der Nähe. Aber natürlich hat sie sich für einen Ort entschieden, der so weit weg ist, wie es nur geht. Hätten sie ihr angeboten, sie auf dem Mond zu stationieren, hätte sie sicher Ja gesagt.
»Viel zu tun, echt viel. Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ist das der Grund, warum du angerufen hast?«, fragt sie.
Ich nippe wieder am Seagram’s, halte den Schluck einen Moment im Mund, bevor ich ihn hinunterwürge. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Vielleicht bestrafe ich mich selbst.
»Nein. Ich habe angerufen, weil …« Meine Augen wandern zurück zur Fliege. Sie liegt auf dem Rücken im Tomatenwasser. Tot. Zu viel des Guten. »Deine Großmutter ist heute gestorben.« Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Es ist ein unterdrücktes Schluchzen. Ich kippe den restlichen Whiskey in mich hinein und zwinge ihn hinunter.
»Was? Mom, es tut mir so leid«, sagt sie – weil es mein Verlust ist, nicht ihrer. »Geht es dir gut? Soll ich nach Hause kommen? Ich kann fragen, ob sie mir Urlaub geben.«
»Ich …« Es dauert einen Moment, um die richtigen Wort zu finden. Ich bin okay? Nein. Ich komme klar? Zu gleichgültig. Ich bin in Ordnung? Das funktioniert. Ich bin nicht okay, ich bin nicht in Ordnung, aber ich komme klar. Es ist die Notfalldecke unter den Gemütszuständen. »Ich komme klar. Und wenn du kommen kannst, würde ich mich freuen.«
Stille folgt und ich fürchte, das Telefon ist ausgefallen. Ich ziehe es vom Ohr und schaue auf das Display. Die Gesprächszeit läuft noch.
»Okay, Mom. Ich sehe, was ich tun kann.« Eine kurze Stille. »Weiß Dad es?«, fragt sie. In diesem Moment weiß ich, dass sie nicht kommen wird. Sie will sicherstellen, dass jemand hier ist, um mich zu trösten. Mein Ex-Mann würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, aber ich will es nicht. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, seit Marissa zur Navy gegangen ist. Außerdem hat er uns bereits ein Jahr nach dem Verschwinden meines Vaters aufgegeben.
Er ist nicht verschwunden.
»Nein, er weiß es noch nicht.«
»Und Tante Nicole?«, fragt sie.
Der Name meiner Schwester trifft mich unerwartet. Ich habe sie vor fast einem Jahr aus meinem Leben gestrichen, nachdem der Umgang mit ihr zu unberechenbar und zu gefährlich geworden war. Ich habe Marissa nie erzählt, wie schlimm es wirklich gewesen ist, sie war ohnehin am anderen Ende der Welt. Nicole konnte ihr nichts tun.
»Ich konnte sie noch nicht erreichen«, antworte ich ehrlich.
Stille.
»Hast du in letzter Zeit mit ihr gesprochen?«, frage ich betont unbekümmert.
»Ähm … Tante Nicole schreibt mir Briefe«, sagt sie.
Das überrascht mich nicht. Nicole hat schon immer gerne geschrieben – meistens Gedichte oder kurze Sprüche. Ihr Verstand war einmal wunderschön, bevor die Drogen ihn zerfraßen. Ich hatte lange gehofft, dass sie es schaffen könnte, clean zu werden. Aber irgendwo zwischen den endlosen Entzügen, den Überdosen, den Diebstählen und den Problemen mit dem Gesetz habe ich die Hoffnung aufgegeben, meine Schwester jemals zurückzubekommen.
»Was schreibt sie?«
»Sie erzählt mir von ihrem Leben, fragt mich nach der Navy und Südkorea.« Ich kann ihr Lächeln beinahe hören. Ich tue diese Dinge auch. Ich frage sie nach ihrem Leben. Ich erzähle ihr von meinem. Aber wenn diese Worte von mir kommen, bringen sie sie nicht zum Lächeln. Sie fühlt sich meiner drogenabhängigen Schwester verbundener als mir – ihrer eigenen Mutter. Etwas regt sich in mir. Eifersucht? Ich schiebe das Gefühl sofort beiseite. Nicole ist die letzte Person, auf die ich eifersüchtig sein sollte.
»Hey, Mom. Es tut mir wirklich leid wegen Grandma, aber ich muss los. Ich rufe zurück, sobald ich kann. Ich verspreche es dir.«
»Okay, Schatz …« Bevor ich meinen Satz beenden kann, ist die Leitung tot und sie ist fort.
Ich atme schwer aus und scrolle durch meine Nachrichten. Die an meine Schwester wurde gelesen, aber nicht beantwortet. Ich tippe eine lange Nachricht voller Wut und Trauer. Ich schreibe ihr, wie sauer ich bin, weil sie nicht hier ist. Ich verfluche sie dafür, dass sie Mom nicht noch einmal besucht hat. Ich werfe ihr vor, selbstsüchtig und schwach zu sein. Und dann lösche ich die ganze Nachricht und stecke das Handy zurück in meine Tasche. Manche Dinge bleiben besser ungesagt.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ich blicke auf – Michael steht im Türrahmen. Sein Gesicht ist gerötet, seine Augen glänzen, als hätte er geweint. Ich halte die Seagram’s-Flasche hoch und deute auf ihn.
»Willst du auch?«
Er verzieht angewidert das Gesicht, zuckt aber mit den Schultern. »Ja, warum nicht.«
Ich schenke uns beiden vier Fingerbreit ein. Michael nimmt das Glas, hebt es an die Lippen und starrt in die trübgoldene Flüssigkeit, die wie Urin aussieht. Dann wirft er den Kopf in den Nacken und kippt den halben Inhalt in einem Zug herunter. Sein ganzer Körper schaudert, sein Gesicht verzieht sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er ist Besseres gewohnt. Ich frage mich, wie das wohl ist. Aber ich will es lieber gar nicht wissen. Es ist besser, nicht zu begreifen, was einem fehlt – all die Dinge, die man nie haben wird und wie das eine Prozent lebt – vor allem, wenn man weiß, dass es ohnehin nur vorübergehend wäre.
»Das ist furchtbar«, sagt er hustend.
Ich nehme einen langen Schluck und mustere ihn über den Rand meines Glases hinweg, während er versucht, sich wieder zu fassen.
»Ja, das ist es.«
Michael zieht einen Stuhl heraus und setzt sich. Er lässt sein Glas langsam Kreise auf dem abgenutzten Küchentisch ziehen. Das Holz ist übersät mit Kerben und Kratzern. Ich erinnere mich, wie wir alle hier saßen: Mom und Dad an den Kopfenden, wir drei in der Mitte, mit einem leeren Stuhl. Wir saßen nie auf festen Plätzen, wechselten je nachdem, mit wem wir uns an diesem Tag verstanden oder auf wen wir wütend waren. Würde ich jetzt einen Platz wählen, basierend darauf, was ich gerade fühle, würde ich mich gar nicht hinsetzen. Aber ich bin kein Teenager. Erwachsene müssen an den Tisch kommen, also setze ich mich an eine der kurzen Seiten, direkt gegenüber von Michael, dort, wo früher unsere Eltern saßen.
»Hast du Marissa erreicht?«, fragt er.
Ich nicke und nehme noch einen Schluck.
»Kommt sie nach Hause?«
»Wahrscheinlich nicht.« Ein langer Atemzug entweicht mir. »Sie ist in Südkorea stationiert.«
Michaels Augen weiten sich ein wenig. »Wow, das wusste ich nicht. Army?«
»Navy«, korrigiere ich.
»Beeindruckend«, sagt er. Aber es ist mir egal, was ihn beeindruckt. Seine Uhr klirrt leise gegen den Tisch. Halb rot, halb blau. Ein leuchtend silbernes Armband mit dem Wort Rolex in der Mitte des Zifferblatts. Ich weiß, dass sie mehr gekostet hat als mein Auto, aber er trägt sie, als hätte er sie aus einem Kaugummiautomaten gezogen.
»Was ist passiert?«, frage ich und deute auf die Narbe auf seiner Wange.
Er fährt mit der Fingerspitze darüber. Sie ist ein paar Zentimeter lang und verläuft vertikal über seine Wange. »Autounfall.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
Er neigt den Kopf. »Hätte es etwas geändert?«
Meine Augen verengen sich, doch ich entspanne sie schnell wieder. Michael hat recht. Es hätte nichts geändert. Vielleicht hätte ich ihm eine Nachricht geschickt, um zu fragen, ob es ihm gut geht. Vielleicht hätte ich ihn sogar angerufen. Aber das wäre alles gewesen. Ich blicke auf meine abgekauten Fingernägel. Ich kaue daran, seit ich ein Kind bin, und egal, wie oft ich versuche aufzuhören, sie finden immer wieder den Weg zu meinem Mund. Schlechte Angewohnheiten sterben nicht.
»Gehts dir jetzt gut?«, frage ich.
Michael nickt und nimmt einen Schluck von seinem Drink. Er gewöhnt sich offensichtlich an den Geschmack, denn diesmal zuckt er nicht einmal zusammen. Ich habe gelernt, dass man sich an alles gewöhnen kann.
Ich bin froh, dass wenigstens einer von uns okay ist. Mom ist vor meinen Augen gestorben, und auch wenn ich weiß, dass ich es irgendwann akzeptieren werden muss, weiß ich nicht, ob ich jemals wieder okay sein werde. Manche Dinge verändern einen für immer.
»Was passiert jetzt?«, fragt Michael und wirft einen kurzen Blick über die Schulter ins Wohnzimmer. Moms Körper liegt wieder unter dem Laken. Nur wir wissen, dass sie noch dort ist. Mit Michael diesen Moment der Trauer zu teilen, fühlt sich hohl an – weil er nicht da war, als sie starb. Ich starre auf die Konturen ihres Gesichts unter dem Stoff. Ein Luftstoß bläht das Laken leicht auf. Ich blinzle mehrmals. Ich habe es mir nur eingebildet. Wunschdenken, nehme ich an. Oder ich werde verrückt. Ich habe diesen Ausdruck nie verstanden – verrückt werden. Ver-rückt wohin? Das ist kein Ort, an den man geschoben wird. Es kommt direkt zu dir.
»Beth«, sagt Michael und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich blinzele erneut. »Sorry. Ich weiß es nicht.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand, es ist halb zehn. »Cathy, Moms Hospizkrankenschwester, müsste inzwischen von ihrer Pause zurück sein. Sie wird uns sagen, was als Nächstes passiert.«
Er nimmt einen großen Schluck Whiskey. »Und die Beerdigung?«
»Was ist damit?«
»Na ja, was wollte Mom?«
»Ich weiß es nicht.« Eine Träne entkommt meinem Augenwinkel. Ich wische sie schnell mit dem Handrücken weg. »Sie hat es mir nie gesagt.«
Michael presst die Lippen zusammen, als wüsste er nicht, was er sagen soll. Er räuspert sich. »Also, was gibts Neues?«, fragt er und wechselt damit das Thema.
Es sind sieben Jahre vergangen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben, und ich wünschte, ich könnte »alles« sagen. Alles sollte sich verändert haben, aber das hat es nicht, denn ich stecke fest. Ich arbeite immer noch in derselben Fabrik, lebe im selben Haus, fahre dasselbe Auto.
»Ich bin geschieden«, sage ich schließlich. Ich bin nicht traurig, als ich es sage. Ich weiß nicht mal, ob ich meinen Ex-Mann jemals geliebt habe.
Wir lernten uns kennen, als ich gerade in der Fabrik anfing. Ich arbeitete am Band, er war Maschinenführer. Ich war neunzehn, mit einer Zukunft, die nicht gerade glänzend aussah. Als er mich fragte, ob ich mit ihm ausgehen will, gab es mir etwas, worauf ich mich freuen konnte, abgesehen vom Gehaltsscheck oder einem freien Tag. Dann wurde ich schwanger, und plötzlich wusste ich, dass Heiraten das Richtige war. Nicht für mich – sondern für ihn und für unsere Tochter.
Michael wirft mir einen ernsten Blick zu und murmelt: »Tut mir leid. Wie lange ist das her?«
»Fünf Jahre.« Ich zucke mit den Schultern. »Aber es war schon lange vorher vorbei.«
»Was ist passiert?«
»Das Leben ist passiert.«
Ich will nicht kryptisch sein, aber es kommt so rüber. Ich atme tief durch und sehe ihm direkt in die Augen. »Nachdem Dad verschwunden ist, bin ich besessen geworden, wie Tom es genannt hat. Es hat meine Ehe belastet, mein Leben, meine Beziehung zu meiner Tochter. Ich war so fixiert darauf, ihn zu finden, dass ich dabei alles andere verlor.«
Michael lehnt sich nach vorne, stützt die Ellbogen auf den Tisch. Wenn Mom hier wäre, würde sie ihn dafür rügen. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war. Ich wusste nicht, dass du das alles durchmachst.«
»Und du nicht?«
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Und ich nicht was?«
»Hast du das nicht auch durchgemacht? Wolltest du Dad nicht finden?« Es gibt so viele Fragen, die ich ihm stellen möchte, aber ich weiß, wenn ich zu sehr dränge, macht er dicht. So war er schon als Kind, und die meisten Menschen ändern sich nicht. Er denkt zu viel nach, analysiert alles bis ins kleinste Detail und behält dann alles für sich, sammelt kluge kleine Geheimnisse. Wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum er es so weit gebracht hat.
»Mom wollte nicht …« Die Haustür knarrt und unterbricht ihn.
Cathy steckt den Kopf hinein. Sie ist groß und schlank, ihr schwarzes, lockiges Haar ist zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden.
»Hi, Beth«, sagt sie und schließt die Tür hinter sich. »Wie geht es Laura?«
Sofort füllen sich meine Augen mit Tränen. Jedes Mal, wenn ich sage, dass sie fort ist, wird es realer. Ich schüttle den Kopf und senke ihn leicht. Cathy nickt mitfühlend. Ich frage mich, wie sie so einen Job machen kann – Menschen in ihren letzten Tagen begleiten, nur um zuzusehen, wie sie sterben. Das muss einen zermürben. Ich glaube, als Menschen können wir nur eine begrenzte Menge an Tod mit uns tragen.
»Ich bin Michael, Beths Bruder«, sagt er, erhebt sich und streckt ihr die Hand entgegen.
»Cathy. Es tut mir sehr leid für Ihren Verlust.« Sie schüttelt seine Hand leicht. So, wie man sich in Zeiten der Trauer begrüßt: zerbrechlich.
Cathy steht einen Moment lang unsicher da. Sie arbeitet seit Jahrzehnten als Hospizkrankenschwester, aber Erfahrung macht das nicht einfacher. »Es tut mir leid, dass ich nicht hier war«, sagt sie schließlich zu mir.
Ich bin froh, dass sie nicht hier war, doch das sage ich nicht. »Schon okay.«
»Hatten Sie beide genug Zeit mit ihr?« Cathy sieht uns nacheinander an.
Wir nicken.
»Soll ich das Bestattungsinstitut anrufen, damit sie die Formalitäten regeln?«
Ich weiß, was das bedeutet. Sie werden kommen und sie mitnehmen … na ja, nicht sie. Den Körper. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, wird sie mit mehreren Litern Formaldehyd vollgepumpt sein, um die Verwesung zu verlangsamen. Sie wird zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit Make-up tragen. Ihr Haar wird so frisiert sein, wie sie es nie getragen hat. Sie wird in ihre feinste Sonntagskleidung gekleidet sein. Und sie würde all das hassen.
Als ich nicht antworte, übernimmt Michael. »Ja, Cathy. Sie können alles in die Wege leiten.«
Sie schaut zu mir, um sich zu vergewissern. Ich nicke, und sie zieht sich aus der Küche zurück. Michael setzt sich mir schräg gegenüber und greift nach meiner Hand, drückt sie leicht. Ich will sie wegziehen. Aber ich brauche sie mehr, als dass ich sie nicht will. Ich kippe den restlichen Seagram’s herunter. Es schmeckt nach nichts mehr.
»Es wird alles gut«, sagt er. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glaube.
Das Klingeln meines Handys erschreckt mich. Auf dem Display steht Unbekannt. Ich weiß, dass es schlechte Nachrichten sind. Mom hat immer gesagt, schlimme Dinge kämen in Dreiergruppen. Das hier ist Nummer zwei, da bin ich mir sicher.
»Hallo«, sage ich.
»Spreche ich mit Elizabeth Thomas?« Die Stimme am anderen Ende ist tief und bestimmt.
»Ja, die bin ich.«
»Hier spricht Officer Ross vom Beloit Police Department. Ihre Schwester Nicole wurde vor etwa einer Stunde angegriffen und wird derzeit im Memorial Hospital behandelt.«
»Ist sie in Ordnung?«
Michael reißt die Augen weit auf und beugt sich näher zu mir.
»Sie will unbedingt gehen, aber aufgrund ihrer Verletzungen brauchen wir jemanden, der für sie da ist. Können Sie sie abholen?«
»Ja, natürlich. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
»Danke, Miss Thomas. Wir sehen uns gleich.« Die Verbindung wird unterbrochen.
»Was ist los?«, fragt Michael.
Ich stehe auf, ein wenig wackelig, und bereue sofort den Alkohol. Normalerweise kommt die Reue erst am Morgen danach, doch manchmal ist da wenig Abstand zwischen Handlung und Bedauern.
»Es ist Nicole. Sie ist im Krankenhaus. Kannst du mich hinfahren?«
Michael zögert keine Sekunde, steht sofort auf. Ich werfe ihm die Schlüssel zu meinem 2010er Toyota Camry zu. Er fängt sie auf und betrachtet sie, als wären sie ein seltsames Artefakt. Er sagt nichts, aber ich weiß, was er denkt. Geld verändert Menschen genauso wie der Tod. Wenn man nicht weiß, wie man mit all seinen Aspekten umgeht, bringt es das Schlechteste in einem zum Vorschein.
Es ist seltsam, wie das Gedächtnis funktioniert. Unser Gehirn entscheidet, was am wichtigsten ist, und behält es – den Rest lässt es einfach los. Songtexte merken wir uns jahrelang, manchmal sogar jahrzehntelang. Sind sie wichtig? Wahrscheinlich nicht. Aber sie sind mit bedeutenden Momenten verknüpft. Ich kenne alle Worte von Californication von den Red Hot Chili Peppers, weil ich 1999 den ersten Jungen, den ich je geliebt habe, dazu küsste. Ich kann Last Resort von Papa Roach fehlerfrei mitsingen, weil das Lied durch die Lautsprecher im Auto meiner Eltern dröhnte, als ich zum ersten Mal allein fuhr, gleich nachdem ich meinen Führerschein bekommen hatte. Es bedeutete die Welt für mich, Freiheit, oder zumindest der erste Vorgeschmack davon. Und ich erinnere mich an jedes Wort von Hurt von Nine Inch Nails, weil es lief, als ich das erste Mal eine Überdosis nahm – und ich dachte, es wäre das Letzte, was ich je hören würde. Ich erinnere mich daran, wie ich die Worte mit den Lippen formte, weil sie das Einzige waren, das ich noch bewegen konnte; sie waren mit Erbrochenem überzogen, zuckten in alle Richtungen. Dann gibt es Erinnerungen, die sich scheinbar grundlos für immer festsetzen, wie Telefonnummern, obwohl Handys sie längst für uns speichern. Ich erinnere mich an Dads Nummer, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr gewählt habe. Und ich erinnere mich an die Nummer meiner Schwester. Zwei Rettungsleinen, aber nur eine, die ich noch nutzen kann. Heute hat sie abgehoben und ich bin überrascht, dass sie es getan hat.
»Wie fühlen Sie sich, Nicole?«, fragt mich die Krankenschwester, als sie mein Krankenzimmer betritt. Sie ist jung und lebendig, mit leuchtenden Augen und strahlender Haut. Genau genommen ist sie wahrscheinlich in meinem Alter – aber ich sehe nicht aus wie sie. Zeit ist eben nicht das Einzige, was uns altern lässt. Sie lächelt, allerdings nicht, weil sie sich freut, mich zu sehen, sondern weil sie froh ist, nicht ich zu sein. Sie zieht ein Klemmbrett vom Fußende meines Bettes und blättert durch mehrere Seiten, wahrscheinlich eine detaillierte Auflistung der Verletzungen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich angegriffen wurde. Wenn du den falschen Dingen nachjagst, landest du zwangsläufig zur falschen Zeit am falschen Ort.
»Mir gehts gut«, sage ich, auch wenn das nicht stimmt.
Mein rechter Arm steckt in einem Gips, doch nicht wegen heute. Diese Verletzung passierte vor vier Wochen und der Gips hätte diese Woche abgenommen werden sollen. Aber jetzt will der Arzt ihn noch etwas länger dranlassen, nur zur Sicherheit. Mein Gesicht pocht, also weiß ich, dass meine Haut eine geschwollene Mischung aus dunklen Farben ist. Einige meiner Rippen sind geprellt. Es tut weh, tief einzuatmen, als ob ich nur gerade genug Luft holen könnte, um zu überleben, aber nicht genug, um wirklich zu leben. Doch so fühle ich mich schon lange. Der Arzt sagte, ich hätte Glück, dass meine Rippen nicht gebrochen sind. Ich glaube, er und ich haben unterschiedliche Definitionen von Glück.