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Bastian ist vierzehn Jahre alt, Lara ist fünfzehn. Sie sind seit über einem Jahr in der gleichen Klasse, aber eigentlich kennen sie sich gar nicht. Bis zu einem Nachmittag im Frühsommer, wenn ein Zufall sie zusammenführt - und einander näherbringt. Rasant fallen beide kopfüber in eine Freundschaft, ohne zu wissen, wo sie Grenzen ziehen müssen, wie weit sie gehen wollen - oder sollten. Denn Lara trägt einiges von ihrem alten Leben mit sich, wovon nur wenige wissen, auch Bastian nicht. Und Bastian genießt das Neue, das Verführerische und Aufregende - und riskiert sich und andere im Rausch zu verlieren.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Von der Liebe
Für die Liebe
Teil I
Bastian. Isabella. Lara.
Eine Verabredung weniger; eine Verabredung mehr
Ein Tag, der zu lang ist. Ein Tag, der zu früh endet
Postkarten
Teil II
Laras lange Schatten
Hirschkäfer und Glühwürmchen
Minus Lara
Scherben
Bastian ... Isabella
Bastian ... Marie
Wie Igel kuscheln
Bastian, Lara
Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu …
Die Sonne hing steil am Himmel wie eine runde, weiße Scheibe und verbrannte die Stadt. Es gab keine Wolken. Über dem Asphalt flimmerte die Luft, die komisch roch. Ungesund, als sei sie zu warm, um richtig geatmet werden zu können. Es war brütend heiß und fast windstill. Wenn die Luft sich doch einmal bewegte, dann brannte sie nur auf der Haut.
Bastian hatte es so nicht vorgehabt, musste sich jetzt aber durch diese Hitze quälen. Ein Schritt, dann rasselte etwas an seinem Fahrrad, ein Mechanismus drehte hörbar durch, dann der nächste Schritt und die gleichen Geräusche. Unlustig schob Bastian sein Fahrrad neben sich her, lauschte auf den Rhythmus, den die herausgesprungene Kette und die gerissene Gangschaltung spielten und ärgerte sich. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt schon aus der Stadt draußen sein wollen, Isabella und er. Oder zumindest schon auf der anderen Seite des Baches. Im Grünen, im Schatten. Stattdessen waren sie immer noch mitten in der Stadt.
Isabella nahm es ihm nicht allzu übel. Ihr Rad war ganz und so kurvte sie in weiten Kreisen über den Fußweg um Bastian herum, die Bordsteinkante vor ihm runter, um ihn herum, hinter ihm wieder hoch, rechts an ihm vorbei und tippte ihm jedes einzelne Mal beim Vorbeifahren an die Schulter. Das ging schon seit fünf Minuten so und bei jedem einzelnen Tippen gluckste Isabella immer noch milde amüsiert. Seit Bastian vorhin mit dem Hinterrad in einem Gullygitter stecken geblieben und er der Länge nach gestürzt war. Bastian hatte sich nicht ernsthaft verletzt, aber irgendwas an seinem Fahrrad hatte den Beinahe-Unfall nicht überlebt. Die Gangschaltung blockierte und die Kette war draußen.
»Komm schon, Bastian!«, rief Isabella lachend. »So was passiert allen Jungs mal, wenn sie mehr wollen, als sie können und es zu schnell passiert. Haben die mal in einem Video gesagt.«
Bei diesem Witz musste Bastian dann doch ein bisschen lächeln. Bei sich zu Hause würde Isabella nie solche Witze machen, wenn ihre Eltern da waren. Und die waren meistens da, wenn Bastian da war. Auch, wenn Isabellas Eltern mittlerweile ein bisschen entspannter geworden waren mit ihm. Solche leicht schmutzigen Witze konnte Isabella nur reißen, wenn sie zusammen unterwegs waren und dann war so was auch witzig. Selbst dann, wenn es auf seine Kosten ging.
Trotzdem nervte die ganze Sache mit dem kaputten Fahrrad schon ziemlich. So würden sie es auf keinen Fall zur Waldkapelle schaffen.
Quietschend bremste Isabella neben Bastian ab und versuchte angestrengt, die Balance zu halten, ohne die Füße auf dem Boden abzusetzen.
»Ich hab vielleicht eine Ahnung, wer uns mit deiner kleinen Schwierigkeit helfen könnte«, sagte Isabella, während sie den Blick nicht von ihrem Vorderrad abschweifen ließ, das hin- und her kippelte, um nicht umzufallen.
»Ich hab nicht genug Geld dabei, um es im Fahrradladen reparieren zu lassen«, brummte Bastian missmutig. Er hatte dasselbe auch schon vor ein paar Minuten gesagt und keine Lust, sich zu wiederholen.
»Weiß ich doch«, grinste Isabella und trat wieder in die Pedale. »Komme einfach mit«, rief sie über die linke Schulter, während sie losfuhr und an der nächsten Kreuzung abbog.
Was folgte, war ein Katz- und Mausspiel, auf das Bastian wirklich keine Lust hatte. Aber Isabella hatte ihren Spaß, fuhr bis zur nächsten Kreuzung, winkte Bastian und rief, er solle schneller machen. Gerade dann, wenn Bastian sie mit seinem Fahrrad im Anschlag erreicht hatte, fuhr sie jedes Mal weiter.
Manche Leute auf dem Fußweg blickten Isabella vorwurfsvoll hinterher, weil sie ihnen zu knapp und mit zu hohem Tempo auswich. Viele, hatte Bastian den Eindruck, guckten aber auch ihn an, weil er nur im Schritttempo hinterherkam aber offensichtlich zu der wilden, vierzehnjährigen Radlerin dazugehörte, die ihm immer wieder winkte und gehässig zurief, dass er zu langsam war.
Das ging über fünf Kreuzungen so, bis Isabella vor einem roten Altbau abrupt zum Stehen kam, von ihrem Rad stieg und auf Bastian wartete.
»Was machen wir hier?«, fragte Bastian, der sich in dieser Ecke der Stadt nicht auskannte. Es gab hier nur alte Wohnhäuser mit kleinen Fenstern und niedrigen Decken. Niemand wohnte her, den Bastian kannte. Glaubte er jedenfalls.
»Wir fragen jemanden, ob sie uns helfen kann!«, antwortete Isabella, während sie die breite Treppe mit flachen Stufen zur Glastüre und den Klingeln hinaufging.
»Und wen?«
Am Kopf der Treppe drehte sich Isabella um und guckte Bastian streng mit ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, an. Es war wohl größtenteils gespielt, aber vielleicht auch ein bisschen nicht.
»Kenne ich mich jetzt besser aus, wo die Leute aus deiner Klasse wohnen, als du?«
Dann drehte sie sich um und suchte die Klingelschilder ab.
»Natascha Volkova. Lara Volkova-Wagner«, murmelte sie und drückte auf die entsprechende Taste.
Lara?, dachte Bastian, während von irgendwo über ihnen durch ein offenes Fenster ein surrendes Klingelgeräusch zu ihnen hinabdrang.
Anstatt, dass sich die Türe entsperrte oder die Gegensprechanlage ansprang, öffnete sich irgendwo über ihnen eine Balkontüre.
»Hallo?« Die Mädchenstimme erklang direkt über ihnen, Bastian guckte hoch. Vom Balkon rechts neben der Türe im zweiten Stock blickte jemand hinunter. Braune Strähnen hingen ihr im Gesicht, aus dem zwei misstrauisch zusammengezogene Augen blitzten. Aber es war tatsächlich Lara, die Neue in Bastians Klasse, die eigentlich schon nicht mehr neu war. Sie war im Herbst zu ihnen gekommen – aber eigentlich war sie doch immer noch die Neue, mit allem, was dazu gehörte. Lara blickte sofort viel freundlicher, als sie ihre beiden Besucher erkannte, wenn auch ein bisschen verwirrt.
»Bastian? Isabella? Ihr seid das?«
Isabella winkte und rief hinauf: »Lara! Wir könnten kurz deine technische Hilfe gebrauchen, wenn du Zeit hast!«
»Klar! Ich mach euch auf!«, kam die Antwort von oben, bevor Lara hinter dem Geländer des Balkons verschwand. Keine zehn Sekunden später ertönte der Summer und sie konnten rein.
Hinter einem langen,schmalen und fensterlosen Flur lag das Treppenhaus im staubigen Licht winziger Milchglassteine, die das einzige bisschen natürlichen Lichts hereinließen.
»Woher kennst du Lara? Die ist doch nicht mal in deiner Klasse!«, flüsterte Bastian
»Ich kenne dich doch auch, obwohl ich in einer anderen Klasse bin, du Nase!«
Das war irgendwie auch wahr.
»Unsere Mütter kennen sich und haben früher zusammen gearbeitet. Ich war aber noch nie bei ihr oder so. Ihre Mutter wohnte immer hier in der Stadt, aber sie ist erst seit September oder so wieder da«, flüsterte Lara, während sie die Treppe hochstiegen.
»Und was wollen wir jetzt hier?«
Aber als Antwort bekam Bastian nur ein langgezogenes »Pssssssst!«, als sie im zweiten Stock ankamen und dort bereits eine Tür offen und ein Mensch darin stand. Lara musterte ihre beiden unangekündigten Gäste verwirrt, vielleicht doch noch ein bisschen misstrauisch, aber auch interessiert.
»Ist alles okay bei euch?«, fragte sie und guckte dabei vom einen zu der anderen, von Bastians hochrotem Kopf zu Isabellas dunkler Stirn, auf denen immer wieder neue Schweißperlen auftauchten. »Ihr seht ganz schön fertig aus.«
»Mir ist einfach nur echt heiß, wir sind die ganze Zeit mitten durch die Sonne gelatscht, weil es bei Bastian mit dem Rad ein bisschen länger gedauert hat. Aber er weigert sich ja auch jeden Sommer wieder, sich einzucremen!«
»Mimimi«, machte Bastian »Als ob das bei dir so wichtig wäre!«
»Black is beautiful! Und gerade deswegen creme ich mich immer ein, damit das auch so bleibt. Du lässt einfach deine Haut so lange anbrennen, bis sie abblättert und du drunter wieder so blass bist, wie vorher!«
Kurze Stille trat ein, in der keiner so recht wusste, was er sagen oder tun sollte, bis Lara leise zu kichern begann: »Ihr beiden seid drauf wie ein altes Ehepaar. Was ist denn jetzt aber eigentlich los?! Ihr habt gesagt, ihr braucht Hilfe.« Sie guckte Bastian an, aber der schmollte.
»Bastian hat am Hinterrad was kaputt. Die Gangschaltung vielleicht und die Kette ist rausgesprungen. Ich dachte, vielleicht könntest du es dir mal anschauen«, erklärte Isabella, »du bist doch gut in so was.«
»Ich kann nichts versprechen, aber wenn es nichts Großes ist. Lol. Bringt es einfach hoch.«
Etwas zuckte in Bastian. Bis jetzt war er sich wirklich wie im falschen Film vorgekommen mit diesem Mädchen, die in seiner Klasse und ihm trotzdem relativ unbekannt war und die sich mit seiner besten Freundin zusammen über ihn lustig machte. Die Neue, die eigentlich schon nicht mehr neu war und trotzdem null Anschluss gefunden hatte, meistens schwieg und wenn überhaupt nur dadurch auffiel, dass sie komisch war. Hatte sie gerade wirklich LOL als Wort ausgesprochen? Wer machte so was? Wie sie so dastand mit ihren schlabberigen Shorts, die wie Jungenhosen aussahen und ihrem komisch kurzen Top, das ein bisschen Bauch zeigte. Und ein bisschen Bauchnabel? Hatte sie eine Narbe da links? Bastian guckte nochmal und eigentlich war das vielleicht schon ganz in Ordnung, was sie anhatte. In der Schule zog sie sich nie so an.
Lara saß alleine in der Klasse, redete manchmal mit den einen oder anderen - Mädchen untereinander halt. Keine Ahnung, was sie nach der Schule so machte. Bastian wusste eigentlich gar nichts über Lara - und der Rest der Klasse wahrscheinlich auch nicht. Lara war nicht einmal im Klassenchat. Freunde oder Freundinnen hatte sie in der Klasse auch nicht. Sie war nicht die einzige Außenseiterin in der Klasse - aber sogar unter den unauffälligsten Mädchen in der Klasse war sie wahrscheinlich die ruhigste...
»Bastian!«
»Was?«
Isabella wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Du sollst dein Rad hochholen, hörst du eigentlich zu?«
»Wir stellen es einfach auf den Balkon und ich gucke es mir da mal an. Wir haben sowieso das ganze Werkzeug hier oben«, ergänzte Lara.
»Hochtragen?«, fragte Bastian. Aber die Mädchen schauten ihn beide erwartungsvoll und auch ein bisschen neckend an, also keine Chance, zu widersprechen.
»Hier!«, sagte Lara und hielt Bastian einen Schlüssel hin. »Damit kommst du wieder rein, wenn die Türe ins Schloss fällt. Aber verschwinde nicht damit. Da ist der Schlüssel zu meinem Zimmer dran.«
Isabella kicherte ihm hinterher,als Bastian sich auf den Weg nach unten machte.
Haha, ein Mädchenzimmer, super!, dachte Bastian unlustig. Als ob ihn das Zimmer von ausgerechnet Lara Volkova-Wagner interessierte.
»Stören wir auch wirklich nicht?«, fragte Isabella, während sie sich im Wohnungsflur die Schuhe abstreifte.
»Mama macht heute eine Doppelschicht. Das wird samstags besonders gut bezahlt. Ich habe eigentlich auch nichts zu tun. Am Samstagnachmittag. Ich habe auch ewig nicht mehr an einem Fahrrad herumgeschlossert. Fast so lange nicht mehr, wie wir uns nicht mehr gesehen haben.« Lara zuckte mit den Schultern. »Oder nicht ganz so lange, wahrscheinlich. Ich hoffe, ich bin noch in Übung. Komm«, fügte sie hinzu und führte ihre sehr alte Kindheitsfreundin den Flur entlang und rechts in die Küche, wo sie drei Gläser mit Wasser füllte.
»Macht ihr öfters was am Wochenende zusammen, Bastian und du?«
»Jedes, eigentlich. Wir wollten heute zur Waldkapelle fahren, wenn daraus heute noch was wird.«
»Dann muss ich euch wohl zur Rettung kommen!«
Beide Mädchen grinsten.
»Aber wenn ihr da unterwegs seid … Als Freunde, oder –?« Lara ließ die Frage unausgesprochen im Raum hängen. Mit solchen Fragen brauchte man niemandem zu kommen, den man zwar seit Jahren kannte, aber mit der man fast genauso lange nicht mehr geredet hatte, obwohl man mittlerweile wieder an derselben Schule war. Egal, wie sehr man sich über das Wiedersehen freute und versuchen musste, es zu zeigen, auch wenn es komisch war.
»Du wirst gleich wieder neugierig!«, protestierte Isabella lachend. »Aber wenn da was wäre, hätte Bastian ja sicher nicht DICH so angestarrt, vorhin!«
Lara musste jetzt auch lachen und nickte dazu bestätigend.
»Kein Plan, was da los war. Gut, ich bekomme nicht viel mit in unserer Klasse, weil ich halt nicht so viel mit denen dort zu tun habe. Aber Bastian war nie jemand, von dem ich dachte, dass er so glotzen könnte! Ich dachte, der wäre eher so schüchtern.«
»Stielaugen!«, gab ihr Isabella kichernd Recht und deutete vor ihrem Gesicht die Länge an: mindestens dreißig Zentimeter Stielaugen.
Die Treppe zu Laras Wohnung war so steil, dass Bastian das Fahrrad nicht vernünftig hochschieben konnte. Stattdessen hatte er es am Rahmen und unterhalb des Sattels greifen und über die Stufen hieven müssen. Schwer atmend und mit neuen Schweißperlen auf der Stirn kam er schließlich im zweiten Stockwerk an, wo er unschlüssig vor Laras Türe stehen blieb. Sie hatte ihm ihren Schlüssel gegeben, klar. Aber deswegen konnte er doch nicht einfach die Türe aufsperren und reingehen. Wenn sie es nicht so gemeint hatte, musste er wie der totale Trottel aussehen, oder noch schlimmer: ein bisschen Creepy, weil er einfach so ungefragt Türen aufschloss. Aber wie blöd würde es aussehen, wenn er jetzt klingelte und Lara hatte es doch so gemeint. Wie ein totaler Idiot.
Während Bastian noch unschlüssig vor der Türe stand, drang ausgelassenes Gelächter von zwei Mädchen zu ihm hindurch. Sie amüsierten sich ja jetzt schon genug, auch ohne dass Bastian sich zum Deppen machte.
Vielleicht ja beides gleichzeitig? Das war entweder die einzig richtige Lösung oder die dümmste von allen drei Möglichkeiten. Also fischte Bastian den Schlüssel aus seiner Hosentasche, steckte ihn in das Schloss, umfasste den Lenker mit der linken Hand, drückte einmal kräftig auf die Klingel, griff dann sofort zum Schlüssel, drehte ihn und ließ die Türe aufschwingen. Tatsächlich dann auch reinzukommen dauerte doch länger, weil sich das linke Pedal im kleinen Schuhregal verfangen hatte, das draußen neben der Türe stand. Bis Bastian drinnen war, war ihm Lara schon auf halbem Wege entgegengekommen und Isabella reckte ihr Gesichts rechts aus der Küchentüre. Beide grinsten, als sie Bastian sahen, als hätten sie gerade noch über ihn gesprochen.
Lara half Bastian, das Fahrrad durch den Flur und das enge Wohnzimmer auf den geräumigen Balkon zu rollen. Dort ließ sie ihn kurz alleine, um sein Wasser und die Werkzeuge zu holen. Bastian sah sich um. An allen Seiten des Balkons waren Blumenkästen angebracht. Einer war gefüllt mit braunem Staub und Erde. In einem anderen wuchs ein dünnes, grünes Pflänzchen mit winzigen Blättchen aus einem eiförmigen, grünen Ding, das der Stiel in der Mitte gespalten hatte. In einem langen Pflanzenkübel wuchsen alle möglichen Küchenkräuter. Nur einige kamen Bastian bekannt vor und nur von zweien kannte er die Namen: Basilikum, klar. Petersilie auch. Der Rest? Der war weniger normal. Eine Pflanze lenkte Bastians Aufmerksamkeit so sehr auf sich, dass er einmal das abgestellte Fahrrad umrundete, in die Knie ging und sich das Ding genauer ansah.
Die Pflanze wuchs ungefähr einen drei Viertel Meter hoch und bestand aus zwei dunkelgrünen Halmen, die gerade aus der Erde ragten. Sie hatten keine Blätter. An der Spitze jedes Stängels steckte eine Blüte, wie sie Bastian noch nie gesehen hatte. Auf den ersten Blick sahen sie wie zwei große, einzelne Kugeln aus, wie zerfranste, runde Wattebausche. Aber als Bastian sich die Blüten näher ansah, wurde ihm klar: Jeder Wattebausch war eine Kugel aus unzähligen, kleinen Blütchen: kleine Kelche, die an hauchdünnen, grünen Fädchen hingen und zu einer Kugel um die Spitze des Stängels angeordnet waren. Jede einzelne Blüte sah extrem unscheinbar aus, aber zusammen war das schon ganz hübsch.
»Lauch«, sagte eine Stimme so nah neben Bastians rechtem Ohr, dass er erschrocken zur Seite zuckte. Es war Lara, die neben ihm in die Knie gegangen war. Sie war ihm noch näher als vorhin, als sie das Fahrrad gemeinsam hierhergebracht hatten und Bastian zog noch deutlicher ein Duft in die Nase, der von ihr stammte: Ein komischer Geruch, ganz süß und blumig, der so schwer in der Luft hing, dass er Bastian fast ein bisschen die Nasenlöcher abschloss. Wer trug solche Parfums, von denen einem schwindelig werden konnte? Oder war es gar nicht der Duft. Vielleicht wird dir von der Nähe so schwindlig? Quatsch!
»Was?«
»Lauch«, wiederholte sie und grinste. »Also, nicht du! Wobei, du vielleicht auch«, lächelte Lara und knuffte ihm gegen den Oberarm. Das sollte wohl locker und freundschaftlich sein, aber es tat schon weh.
»Das ist eine normale Lauchpflanze«, erklärte Lara.«Ich habe einfach das Ende von einem Supermarktlauch genommen und in die Erde gesteckt. Er hat zu wachsen angefangen und voilà: ein Lauch, der blüht.«
Voilà? Bastian kannte niemanden, der so was wirklich sagen würde. Seine Mutter redete so. Und Lara war nicht mal in Französisch!
»Und was machst du jetzt damit?«, fragte Isabella, die mittlerweile auch auf dem Balkon stand.
»In Öl einlegen oder in Essig oder so essen. Wollt ihr probieren?«
Blumen essen? Isabella guckte sehr skeptisch und Bastian konnte es ihr nachfühlen. Wer kam auf die Idee, Blumen zu essen? Andererseits guckte Lara, als meinte sie es ganz ernst. Vielleicht war ja etwas dran an der Idee?
»Kann man die einfach so abzupfen?«, fragte Bastian
»Abzupfen und in den Mund«, bestätigte Lara, stand auf und wandte sich dem Fahrrad. Bastian blickte ihr durch die Augenwinkel hinterher. Er konnte nicht direkt gucken, sein Gesicht war auf der Höhe von irgendwo unterhalb ihrer Hüfte. Die letzten paar Atemzüge hatte er ihren Duft gar nicht mehr wahrgenommen und jetzt merkte er plötzlich, dass er fehlte. Im Nachhinein war er gar nicht so schlimm gewesen.
Also? Also los, dachte Bastian, aber die Blüten leisteten ganz schön Widerstand dafür, wie haudünn ihre Stängel waren. Am Ende musste er sie mit seinem Daumennagel durchknipsen. Wie viele sollte er nehmen? Fünf der winzigen Blütchen lagen bereits in seiner linken Handfläche. Zu viele? Zu wenige? Genug? Er wusste es nicht und Lara wollte er nicht stören, die schon damit begonnen hatte, an seinem Rad zu schrauben.
Einfach rein.
Die Blüten waren überraschend bissfest. Sofort, nachdem Bastian die ersten der Blüten durchgebissen hatte, entfalteten sie ihren Geschmack. Sie schmeckten ganz sanft und ganz kurz nur unglaublich süß. Wie Honig, nur noch intensiver. Gerade für den Bruchteil einer Sekunde füllte die unbekannte Süße Bastians Mund aus – dann änderte sich der Geschmack und es fühlte sich an, als schnitten die zerbissenen Blüten durch seine Zunge. Es war der Geschmack von rohen Zwiebeln, aber noch viel intensiver und vor allem: viel schärfer! Sofort sammelten sich Tränen in Bastians Mundwinkel und Speichel in seinem Mund.
»Du guckst ganz komisch!«, stellte Isabella fest, die Bastian beim Probieren zugeschaut hatte, ohne sich dazu durchringen zu können, es selbst zu probieren.
»Scharf!«, murmelte Bastian, fing sich dann aber wieder, schluckte und fügte hinzu: »Aber ganz süß, wirklich wie Honig!«
Lara lächelte ihm über die Schulter hinweg zu. »Honigscharf?«
Bastian nickte.
»Klingt so, als hätte es dir aber doch gefallen«
Bastian nickte wieder, unfähig, etwas zu sagen. Teilweise wegen des vielen Speichels in seinem Mund. Teilweise auch, weil ihn dieses liebe Lächeln ein bisschen davon abgelenkt hatte, sich daran zu erinnern, wie sprechen überhaupt ging. Dieses Lächeln hätte ihn nur dümmlich brabbeln lassen und Bastian verstand nicht, was dieses Lächeln kurz mit ihm angestellt hatte. Lara hatte da eine winzige Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Das war interessant. Das war irgendwie auch süß.
Lara grinste noch einmal breiter, dann drehte sie sich wieder um und begann, sich mit einem Schraubschlüssel an Bastians Rad zu schaffen zu machen.
Ungefähr eine halbe Stunde arbeitete Lara am Fahrrad, während der Bastian nichts sagte, zusah, mit der Zungenspitze die Zähne entlangfuhr, um das letzte bisschen Blütengeschmack zu erhaschen und sonst den Mädchen zuhörte. Isabella und Lara unterhielten sich wie zwei, die einander kannten, aber trotzdem nicht mehr miteinander vertraut waren und aufpassen mussten, wovon sie erzählten.
So viel Bastian verstand, waren Laras und Isabellas Mütter Kolleginnen im Krankenhaus gewesen, bis Isabellas Mutter die Arbeit gewechselt hatte. Lara und Isabella hatten sich als Kinder schon über ihre Eltern gekannt und öfter gesehen, hatten aber sonst nie etwas miteinander zu tun gehabt. Sie waren nie befreundet und nie zerstritten gewesen, hatten nie versucht, etwas gemeinsames zu unternehmen und hatten nie einander gemieden. Aber ihre Eltern hatten immer wieder auch Treffen außerhalb der Schulzeit für die beiden organisiert. Dann waren sie weiter an unterschiedliche Schulen gekommen und auch als Lara am Anfang der Achten an die Wedekind-Realschule und zu Bastian in die Klasse gekommen war, hatten sie einander nicht mehr groß beachtet.
Lara war in der Zwischenzeit wohl sogar aus der Stadt weggezogen – aber ihre Mutter nicht? Die war nur in eine andere Wohnung hier umgezogen? Isabella hatte so was gesagt aber beide hatten nicht darüber reden wollen und Bastian hatte nicht wirklich verstand, was da gewesen war.
Aber irgendwie passte das doch auch nicht zusammen. Bastian und Isabella kannten sich auch seit der Grundschulzeit, aber von Lara hatte er keine Ahnung und hätte sich auch nicht erinnern können, sie jemals gesehen oder auch nur von ihr gehört zu haben.
»Woher hast du eigentlich gewusst, dass wir jetzt hier wohnen?«, fragte Lara.
»Mama hat's mir letztens erzählt, als wir zur Messe hier vorbeigekommen sind. Deine Mutter und sie schreiben wohl noch miteinander hin und wieder. Briefe. Sie schreiben einander Briefe, ob man es glauben will, oder nicht. Von Hand! Mit einem Füller«
»Mama mag das gerne. Eine der wenigen Sachen, die ich nicht gerne eigenhändig mache: Briefe schreiben. Aber wir kriegen ständig Briefe und Postkarten aus aller Welt. Keine Ahnung, mit wem Mama da alles schreibt. Postkarten schreiben würde ich nicht wollen, aber sie lesen finde ich ganz gut.«
»Und ich weiß, wo du deine ganzen coolen Technikprojekte postest, die du die ganze Zeit machst.«
»Du stalkst mich? Hättest mir dann ruhig auch mal was schreiben können, anstatt einfach nur so zu gucken.«
»Du doch auch!«, antwortete Isabella und Bastian zuckte zusammen. Das war der Ton, den Isabella anschlug, wenn sie sauer wurde.
»Ach, ich?«, erwiderte Lara erbost, »Ich sag dir was: An dich ist ja unmöglich ranzukommen, wenn ihr beiden immer so aneinanderhängt, als wärt ihr Zwillinge, die ganze Zeit. In jeder Pause, vor der Schule und nach der Schule. Da fühlt man sich ja schon vorher wie das fünfte Rad am Wagen!«
Da war Bastian wohl mitgemeint und es stimmte schon: Isabella und er hingen die meiste Zeit aneinander und das seit der Grundschule. Sie hatten so eine Freundschaft, da passte ziemlich wenig dazwischen. Isabella hatte in ihrer Klasse noch ein paar gute Freunde, Bastian in seiner eigentlich nicht.
Es sah wirklich kurz so aus, als würden Lara und Isabella sich zu streiten anfangen, doch dann lächelten beide plötzlich und Bastian blieb ziemlich verwirrt zurück. Waren sie jetzt sauer aufeinander oder froh darüber, sich doch mal wieder gesehen zu haben. Beides, vermutlich. Isabella konnte das auf jeden Fall sein. Und Lara? Was für Gefühle konnte sie wohl haben?
»Fertig«, seufzte Lara wenig später und lehnte sich zurück gegen das Balkongeländer. »Die Kette reinzupacken war ganz einfach. An der Gangschaltung hakelt aber noch irgendwas, an das ich nicht rankomme. Irgendwas ist locker. Lass am besten den mittleren Gang drinnen und schalte nicht wild rum. Das wird den Hügel hoch ein bisschen schwierig, aber das kriegst du hin! Isabella wird schon etwas langsamer für dich machen!«
Haha, dachte Bastian. Aber selbst, wenn er es versucht hätte, hätte er es nicht geschafft, wegen der kleinen Stichelei auf sie sauer zu sein. Ganz im Gegenteil stellte Bastian erstaunt fest, dass er Lara einen Bonus in diesem Bereich eingeräumt hatte, ohne es selber zu merken. Bei ihr fand er das okay. Wie kam das?
»Ist das wirklich in Ordnung für dich, dass du das Rad repariert hast? Einfach so. Können wir irgendwas tun für dich?«, fragte Bastian. Ein bisschen schäbig kam er sich schon vor, einfach mit so einer Bitte bei ihr aufgetaucht zu sein, obwohl sie eigentlich nichts miteinander zu tun hatten. Auch, wenn es Isabellas Idee gewesen war.
»Schon gut«, erwiderte Lara, zögerte dann aber doch. »Du bist doch gut in Geschichte, oder?«
Bastian zuckte mit den Schultern. »Schätze schon«. Das war eine Untertreibung. Er fuhr ausschließlich Einser ein.
»Die Sticher will doch noch unbedingt vor den Ferien eine Arbeit schreiben und ich habe keine Ahnung, wie ich das ganze Zeug lernen soll. Wenn du so ein Ass in Geschichte bist, wie du im Unterricht tust, kannst du mir das erklären. Dass wir einfach nur kurz miteinander lernen, damit ich nicht wieder auf einer Fünf sitzen bleibe?«, Lara grinste wieder dieses Grinsen, das die winzige Zahnlücke entblößte. Man sah ihr deutlich an, wie unangenehm ihr die Frage war – und wie ehrlich ihre Sorge. Alles das zusammen sah so nett aus, dass Bastian förmlich gezwungen war, eifrig zu nicken.
»Klar, immer!«, sagte er rasch, damit es sich Lara nicht doch nochmal anders überlegen konnte.
Lara half Bastian wieder dabei, das Fahrrad durch die Wohnung bis in den Hausflur zu bugsieren. Dort verabschiedete sie ihre beiden Gäste.
»Dank dir!«, sagte Isabella, als sich die beiden Mädchen zum Abschied kurz umarmten. Mädchen verabschieden sich immer so, dachte Bastian. Ein bisschen überlegte er schon, wie er als Junge reagieren sollte, wenn er so verabschiedet werden würde. Oder was er machen musste, um von Lara so verabschiedet zu werden.
Lara knuffte ihm aber doch nur wieder schmerzhaft gegen die Schulter.
»Oder willst du nicht mit uns-«, hob er an. Mitkommen, hatte er sagen wollen, aber das letzte Wort war ihm schon im Hals stecken geblieben. Lara schien trotzdem genau verstanden zu haben, was er hatte sagen wollen und war richtig von seiner Frage zurückgeschreckt.
»Nein, nein«, sagte sie hastig, »ich kann nicht. Ich mache heute noch Wäsche und koche was, wenn Mama heimkommt.«
Keine Ahnung, ob das eine Ausflucht war oder nicht, aber es war klar, dass Lara auf keinen Fall mitwollte. Das nicht zu verstehen, aber sehen zu können, ließ in Bastians Brust ein Gefühl erwachen, das ihm absolut unbekannt war: Ein stechender, schwarzer, saurer Schmerz, zusammengemischt aus Enttäuschung, Kränkung und dem Gefühl von Peinlichkeit, das man hat, wenn einem eine menge Leute bei etwas absolut Blödem gesehen haben. Das Gefühl setzte sich unter genau die Stelle, wo die untersten Rippen zusammenliefen und stachen nach innen, nach links und aufwärts. Richtung Herz. Was war es, was so wehtun konnte?
»Funktioniert es?«, fragte Isabella, nachdem sie beide wieder auf den Rädern ein paar Meter die Straße hinabgerollt waren.
»Ich traue mich nicht, zu schalten, aber sonst ist alles klar«
»Dann bedankst du dich hoffentlich auch ordentlich bei Lara und hilfst ihr, eine Eins zu schreiben!«
Ja ja, dachte Bastian
»Aber vergiss nicht, dass wir nächsten Samstag in die Stadt fahren!«
Wie sollte er das denn vergessen? Der Ausflug nach Freiburg war seit drei Wochen geplant: Schuhe gucken für sie, Schreibwarenläden abklappern für ihn, Buchhandlung für sie beide, anschließend Kino und Eisessen. Zwischendurch mit der Straba aus der Stadt raus, Döner holen im kleinen Einkaufszentrum und auf dem Weg zurück in die Stadt am Fluss entlang essen. 10:33 Abfahrt, 20:19 Rückkehr. Alles war seit Langem geplant, jeder notwendige Cent schon ewig zusammengespart. Der ultimative Trip zweier bester Freunde – da konnte einfach nichts dazwischenkommen, wenn nicht gerade ihre Welt unterging.
Auf der anderen Seite der Stadt lag der Bach, dahinter das Gewerbegebiet und wenn man das durchquert hatte, ging es die Hügel steil und steiler hinauf, bis man bei der alten Waldkapelle ankam. Gleich dahinter gab es einen Pavillon mit zwei Grillplätzen und ein paar Bänken drinnen und draußen. Es war nicht viel, aber als Ausflugsziel reichte es, um einen Sonntag voll zu bekommen. Hinter dem Pavillon wurde der Wald mit jedem Meter dichter , aber es gab einen schmalen, unbefestigten Wanderweg, einen Trimm-dich-Pfad, alles mögliche Interessante. Und der Ausblick war grandios hinunter ins Tal, in die Stadt und auf er anderen Seite die dicht bebauten Hügel hinauf.
Allerdings brauchten Lara und Isabella diesmal dreimal so lang, um hinzukommen, nicht nur wegen der langen Unterbrechung bei Lara, sondern auch, weil Bastian es im mittleren Gang nicht den Hügel hoch schaffte und die meiste Zeit schob, statt in die Pedale zu treten. Als sie endlich gut zwei Stunden später als geplant bei der alten Kapelle ankamen, hingen über der Stadt bereits die ersten dunkelgrauen Wolkenfetzen.
»Lange werden wir nicht bleiben können«, murmelte Isabella und tatsächlich frischte der Wind merklich auf und nach nicht mal einer Stunde war der Himmel über ihnen zu einer dunkelgrau-schwarzen Suppe zusammengezogen. Übellaunig machten sich Bastian und Isabella auf den Weg zurück in die Stadt.
Am Stadtbach trennten sie sich und jeder fuhr seines Weges heim. Gerade, als Bastian wieder in die Pedale trat, klatschte ihm der erste kalte Regentropfen auf die Nase. Fünf Minuten später war er durchnässt bis auf die Haut. Vielleicht hätten sie einfach gleich bei Lara bleiben sollen, überlegte Bastian, während er gegen den Regen anradelte. Keine Ahnung, ob Isabella das gutgefunden oder Lara das überhaupt gewollt hätte. Oder ob sie es gedurft hätte. Bei Isabella wäre es nicht gegangen – für ihre Eltern war Bastian wahrscheinlich der einzig akzeptable Junge, der alleine zu Besuch bleiben durfte - und auch er nicht immer und nur, weil sie ihn seit Jahren kannten. Isabellas Eltern waren aber auch besonders streng in diesen Sachen … Und in allen anderen. Aber vielleicht war es ja bei Lara ähnlich?
Bei Lara bleiben … das war noch so einer dieser komischen Gedanken, die Bastian heute anscheinend sammelte. Dass er bei jemandem wie Lara zu Hause sein wollte. Zu komisch, wie das aussehen würde. Aber war das wichtig?
Es regnete über eine Stunde wie aus Gießkannen. Doch selbst nach dem letzten Schauer riss die Wolkendecke nicht auf und es nieselte immer wieder bis in die Nacht hinein. Es war kühl geworden und immer wieder zog eine kalte, scharfe, nasse Brise durch die Straßen der Stadt.
Isabella lag an diesem Abend wach im Bett und dachte darüber nach, dass es eigentlich ganz gut gewesen war, Lara mal wieder gesehen zu haben. Nicht nur im Vorbeigehen im Schulflur sondern richtig. Auch wenn die Aktion, sie einfach so mit Bastians Rad zu überfallen, im Nachhinein doch ziemlich blöd gewesen war. Hoffentlich nimmt sie mir das nicht übel, dachte Isabella noch, aber da war sie schon mehr eingeschlafen als wach.
Lara lag im Bett und sog den Duft der kühlen, feuchten Stadtluft ein. Es roch nach warmen, nassen Asphalt und nach feuchter Erde. Das war der beste Duft, den man sich zum Einschlafen wünschen konnte, der Geruch von Frühsommerregen und verhangenem Mondschein. Aber Lara schlief nicht ein. Sie dachte an Bastian und Isabella, mit denen sie so viel gemein hatte und von denen sie doch Welten trennten. Wie erschrocken sie gewesen war, als Bastian ihr angeboten hatte, mitzukommen. Wer hätte an so ein Angebot gedacht und es auch noch ernst gemeint? Lara musste komplett plemplem ausgesehen haben, so übertrieben wie sie sich rausgeredet hatte. Hoffentlich erzählte er das morgen nicht in der Klasse rum: »Stellt euch vor, wie blöd die geguckt hat, nur weil ich ihr so aus Mitleid angeboten habe, mitzukommen. Und wie die rumgerannt ist, überhaupt!«
Eigentlich war Bastian überhaupt nicht so drauf, aber Lara konnte sich nicht sicher sein. Bei niemandem, das war klar. Sie war immer noch neu – und sie war immer noch ziemlich alleine in dieser Klasse. Lara hatte immer noch nicht ganz verstanden, wie sie sich geben, sprechen - sein sollte, um mehr Menschen um sich zu haben. Um interessanter für andere zu sein. Jemanden ... Das alles war keine schöne Aussicht, um einzuschlafen, aber irgendwie gelang es ihr schließlich trotzdem.
Bastian lag an diesem Abend noch länger wach und starrte die weiße Zimmerdecke über ihm an. Aus dem Gefühl, dass der Nachmittag bei Lara doch ziemlich witzig hätte werden können, war die nagende und drängende Gewissheit geworden, dass er etwas verpasst hatte. Etwas Wichtiges, etwas Schönes vielleicht sogar.
Lara war genauso komisch drauf gewesen, wie sie es in der Schule auch war. Wie sie redete, wie ungelenk sie anderen gegenüber war, direkt grob, wie sie über alles mögliche reden konnte, wofür sich niemand sonst interessierte. Das mochte alles noch aus ihrer alten Schule kommen, hier fiel das alles ziemlich auf und war für die meisten befremdlich. In der Klasse wahrscheinlich für alle. Andererseits: Ein bisschen interessant war das alles schon, fand Bastian irgendwie etwas Besonderes. Wofür sie sich begeistern konnte oder wie sie ihn einfach so ohne zu zögern angeknufft hatte. Das hatte wehgetan und war doch eigentlich total bescheuert! Aber irgendwie auch cool? ... interessant?
Wie diese Blumen? Wer kam auf die Idee, auf dem Balkon Lauch anzubauen und auch noch blühen zu lassen. Die Blüten sahen so unscheinbar aus, komisch und hübsch, wuchsen im Verborgenen und man musste genau hinsehen und sie probieren, um sie zu verstehen und zu fühlen, wie scharf sie waren. Das passte auch alles irgendwie zu -
STOPP!, ermahnte sich Bastian selbst. Dieser Gedanken ging nun doch ziemlich zu weit. Auch, wenn vielleicht was an ihm dran war.
Was hätte Lara erwarten können? Dass sich alles ändern würde in der Klasse von gestern auf heute, nur weil sie einmal Besuch von einem Klassenkameraden bekommen hatte, das erste mal seit – Monaten? Das sich alles ändern würde, zum Schlimmeren – oder vielleicht zum Besseren?
Kathrin lächelte sie an und sie begrüßten sich wie die anderen Mädchen auch mit Umarmung. Immerhin, aber Kathrin war auch so jemand, die nett zu allen war. Wahrscheinlich war sie auch bereit, alle mit Umarmung zu begrüßen, wenn sie wollten. Sie war freundlich zu allem und jedem.
Die Jungs waren die Jungs, Lara hatte mit ihnen nichts zu tun. Bastian gehörte irgendwie dazu, war aber mit keinem wirklich eng befreundet, so wie es aussah. Isabella war seine beste Freundin und die war in der Paraklasse. Und der Rest der Klasse war wie immer: Manchmal begrüßte man sich eben, manchmal nicht und meistens nur, wenn man etwas voneinander brauchte, Hausaufgaben zum Abschreiben oder so.
Also doch alles wie immer, seit sie im Herbst an die Schule gekommen war: Durch den Flur an allen vorbei, neben die Türe stellen, gucken, was die anderen machten, zuhören, wovon sie erzählten, vielleicht mal was einwerfen, ohne sich wirklich in das Gespräch einzumischen. Sonst komplett die Klappe halten. Unauffällig bleiben.
Es gongte.
Auch nichts Neues in der ersten Stunde. Die Klasse hatte die Lehrerin begrüßt und alle saßen schon wieder, als von draußen die Türe zum Klassenzimmer aufgerissen wurde. Marie stolperte herein, warf die Türe hinter sich zu und hetzte an ihren Platz: Das Gesicht war bleich, ihre Augen hielt sie konzentriert und fest auf den Boden gerichtet. Sie sagte nichts, als die Lehrerin sie erst ermahnte und dann, als immer noch keine Reaktion kam, anmeckerte. Als dann immer noch nichts passierte, gab Frau Sticher natürlich auf. Sie würde keine Antwort aus Marie herausbekommen, an ihr hatten sich schon alle anderen Lehrkräfte die Zähne ausgebissen und natürlich würde sie sich auch nicht für ihre Verspätung entschuldigen. Wie jeden Morgen nicht.
Auf ihre eigene Weise antwortete Marie, aber davon war vom Pult aus glücklicherweise nichts zu erahnen, indem sie der Lehrerin hinter dem Schutz ihrer Schultasche einen steif erhobenen Mittelfinger zeigte. Nur Lara konnte es sehen, weil sie auf der gleichen Höhe wie Marie saß: Ganz hinten, nur auf der anderen Seite des Mittelganges.
Die Klasse kannte dieses Schauspiel schon in- und auswendig und hatte gelernt, es zu ignorieren, aber Lara faszinierte es immer noch dann und wann.
Lara überlegte die ganze erste Stunde und ein bisschen noch in die zweite hinein: Marie kam Lara bekannt vor, auch wenn sie nie miteinander gesprochen hatte. Lara kannte andere wie sie, früher, an ihrer alten Schule, Jugendliche, die genau so guckten, mit den Augen auf die Fußspitzen geheftet und die mit so wenigen Worten wie möglich durch den Tag zu kommen versuchten. Die auch jetzt noch, Ende Mai, langärmelig und lange Hosen trugen, auch wenn die Sonne schon ziemlich herunterbrennen konnte.