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Marie weiß nicht, wer sie ist oder wer sie sein soll. Sie weiß nur, dass jeder um sie herum eine Meinung über sie hat - und meistens keine gute. Geschehnisse in der Vergangenheit sitzen ihr im Nacken und sie wird immer wieder daran erinnert, wenn sie wie zufällig das Getuschel und die Gerüchte aufschnappt, die in der Schule - und vielleicht in der ganzen Stadt - über sie kursieren. Sie versucht, sich davon zu lösen, etwas Neues zu beginnen, ihr Leben auf Kurs zu bringen. Aber es scheint ihr nur zu gelingen, wenn sie sich für eine Feier maskiert und so weit geht, sich die Schuhe einer ihr komplett Fremden anzuziehen, als gehörten sie ihr. Als würde dadurch aus Marie dieses neue, fremde Mädchen werden, das niemand kennt. Bis ihre Vergangenheit sie doch wieder einholt und ein Abend, der mit Feiern und Ausgelassenheit beginnt, in einer schweren Verletzung endet.
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Teil I: Videos
Anschalten
Play. Frühling.
Stopp. Zu weit. Zurückspulen bis zum Anfang. Herbst.
Stopp. Ein Stück Vorspulen. Play.
Stopp. Kassette wechseln. Play.
Bandsalat
Teil II: Fasching
Einladung
Verkleidung
Feiern
Absturz
Teil III: Narben
Wundversorgung
Pflaster drauf
Ärmel über die Narben ziehen
Wie es weitergeht:
Wias bisher geschah:
»Okay und was ist das jetzt?«
»Ein Videorekorder, Bastian.«
»Video ... Das Ding ist doppelt so breit wie meine Konsole daheim und dreimal so schwer! Was willst du da mit Videos?«
»Aufnehmen, was im Fernsehen kommt und auf dem Teil dann wieder abspielen. Die Kassetten dafür liegen da drüben.«
»Schwarze Plastikboxen mit ... Zahnrädern drinnen? Lara, ich habe Schulbücher, die sind dünner als die Teile!«
»Das sind Videokassetten. Du steckst sie hier vorne rein, drückst den Knopf und lässt sie laufen. Da drinnen läuft ein Magnetband mit dem Film drauf.«
»Und der läuft dann auf dem Fernseher?«
»Fast komplett mechanisch und komplett analog!«
»O- ... -kay. Und wie viele Filme sind auf so einer Kassette drauf?«
»Na, einer!«
»Ein ganzer Film auf so einem Plastikklotz, der dick ist wie ein Wörterbuch?«
»So war die Technik früher!«
»Meine Fresse. Wenn ich mir vorstelle: Die DVD-Sammlung von Mama ist ja jetzt schon eine totale Platzverschwendung, wenn man bedenkt, dass die ganzen Filme bei mir auf die Festplatte passen würden. Wenn wir anstatt jeder einzelnen DVD auch noch so ein Riesending ins Regal stellen müssten - da müssten wir mein ganzes Zimmer mit vollstellen und ich müsste im Fahrradkeller schlafen.«
»Ich weiß nicht, wie die das damals gemacht haben. Damals konnte man auch ganz einfach das Fernsehen aufnehmen und angucken, hat mir mein Vater mal erzählt. Klar, Platzverschwendung. Aber die Technik, Bastian, die Technik ist doch einfach krass!«
»Aber das Teil funktioniert nicht?«
»Ich weiß es nicht. Probieren wir es aus!«
»Ohne Fernseher?«
»Ein Problem nach dem anderen. Ich habe keine Ahnung, wie man das Teil anschließt. Wir schauen jetzt erstmal, ob sich da drinnen überhaupt alles bewegt, was sich bewegen soll und alle restlichen Bauteile dabei brav an ihrem Fleck bleiben. Gib mir die Kassette da, ich stecke sie in rein ... und ...«
»Und?«
»Und jetzt hier auf den Play-Knopf drücken, schätze ich.«
Das rote Band des Sonnenuntergangs hat sich bereits hinter die dunkelgrünen Kuppen der Hügel gesenkt. Die Sonne ist untergegangen und das letzte Bisschen Licht, das es noch schwach über den Horizont schafft, färbt den Nachthimmel nur noch hier und da dunkelviolett. Wo nicht die wenigen Laternen leuchten, ist es stockdunkel geworden.
Zwei Jungen, irgendwas zwischen fünfzehn und zwanzig, stehen in den Halbschatten jenseits eines Lichtkegels. Sie lachen, aber auf ihren Gesichtern gibt es keine Spur von Freude. Stattdessen: Horror, Schrecken, Überforderung, Unverständnis. Ihr Lachen ist atemlos und schrill, sie sind blass und man sieht ihnen deutlich an, wie übel ihnen ist vor Ekel und Angst.
Keine vier Meter entfernt, inmitten des Kegels aus Licht, den die Laterne orange auf den Asphalt wirft, kniet ein Mädchen auf dem Boden. Zwischen den Jungen und ihr liegt ein mit Blut besudelter Schraubenzieher auf dem feuchten Asphalt.
Das Mädchen presst ihre Arme gegen ihren Oberkörper. Ihre linke Hand greift in ihre hellblaue Jacke, ihre rechte Hand krallt sich in ihren linken Unterarm. Beide Hände hinterlassen dunkelrote, zähe Flecken auf dem Stoff. Ihre Hände kleben vor Blut. Es ist nicht ihr Blut, sie ist unversehrt - zumindest äußerlich - und doch schreit sie und krümmt sich über ihre verkrampften Hände. Es sind keine Worte, die herauskommen, nur wortloses Schreien, Weinen, Wimmern. Es sind Schmerzensschreie, auch ohne Verletzung. Die Augen des Mädchens sind weit aufgerissen, als würde sie es nicht wagen, sie zu schließen.
Neben ihr auf dem Boden sitzt ein Junge und wiegt sich vor und zurück, als gäbe es eine leichte Brise, die nur er fühlen würde. Sein Gesicht ist blutleer und weiß wie der Vollmond, der über ihnen durch zerfetzte Wolken lugt. Sein Kopf schwankt ganz sachte hin und her, als fiele es ihm schwer, das Gleichgewicht zu behalten. Um seine rechte Hand ist ein Pullover gewickelt, durch den langsam Blut sickert.
Ein weiteres Mädchen kniet neben ihm, zittert vor Kälte, weil sie nur ein dünnes T-Shirt trägt, und presst den Pullover auf die Hand des Jungen, während sie hastig und mit zittrigen Lippen auf ihn einredet. In der anderen Hand leuchtet der Bildschirm ihres Smartphones.
Für eine Sekunde ist alles um sie herum auf der ganzen Welt erstarrt und verstummt und alles, was zu hören ist, ist Wimmern, Schreien, Lachen und Flüstern, während die Nacht immer dunkler wird, wie im steigenden Nebel erstickt. Das Universum ist gefroren, erstarrt und bekommt Risse.
Kathrin hätte Marie am liebsten an den Armen festgehalten - oder besser an den Schultern gepackt. Nicht die Arme anfassen, die Wunden, Kathrin wollte Marie nicht wehtun. Aber trotzdem: Sie hätte ihre beste Freundin am liebsten durchgeschüttelt - oder umarmt und umklammert, bis sie endlich wieder miteinander reden konnten, bis sie beide endlich wieder ruhiger waren. Am liebsten würde ich ihr eine klatschen! Das war ein böser Gedanke!
Marie war komplett aufgewühlt, zittrig, über und über mit Energie aufgefüllt. Das Letzte, was Kathrin jetzt brauchte, war, dass Marie ganz den Kopf verlor. Dass sie sich einfach vor Marie gestellt hatte und ihr den Weg versperrte, konnte schon genug Provokation sein. Kathrin hatte über die vielen Jahre ihre Erfahrungen mit Marie gemacht, aber trotzdem: Kathrin blieb stehen.
»Marie, bitte! Lass uns zumindest kurz miteinander reden. Wir gehen rüber in den Garten, setzen uns kurz und reden, oder ...«
Aber Marie unterbrach sie: »Es gibt nichts zu sagen und hören will ich noch weniger! Kathrin! Ich will nur weg!«
Panisch blickte Marie hinter sich in die Richtung des Gemeindehauses, das ihnen Ministrantinnen jeden Sonntagabend auch als Jugendzentrum diente. Die Gruppenleiterin, die den Schlüssel hatte, hatte gerade erst aufgeschlossen und es war noch kaum jemand da. Fast nur ein paar Kleine. Aber natürlich sah das Marie nicht so. Sie war so gehetzt, dass sie nur wusste: Jemand war da. Und sie ertrug niemanden! Sie hatte ihre linke Hand in ihren rechten Unterarm gekrallt.
»Wir können doch zusammen ...«, versuchte Kathrin Marie kraft- und mutlos davon zu überzeugen, innezuhalten und abzukühlen. Ganz kurz wieder die Oberhand über ihre Panik zu erringen.
»Kathrin, bitte! Lass mich einfach heimgehen! Es gibt kein wir und es gibt kein zusammen. Du hast damit nichts zu tun und ich will nicht, dass du da reingezogen wirst und etwas damit zu tun hast, nur weil du ... mit mir etwas zu tun hast ...! Weil halt ...«
In ihrer Aufregung verlor Marie den Faden und stolperte über ihre letzten Worte, ohne noch einen klaren Satz rauszubekommen. Beschämt und verwirrt ließ sie ihre Worte einfach ins Nichts auslaufen und verstummte.
Kathrin nutzte die Stille als Chance für das Letzte, was ihr noch einfiel, um ihre Freundin doch noch überzeugen zu können.
»Marie, das stimmt nicht. Ich will doch bleiben und dir helfen! Oder einfach dabei sein! Damit ... halt ... zu tun haben, also mit dir, Marie. Wir sind doch Freundinnen. Und außerdem: Es ... Es ist doch jetzt schon ein bisschen her und wir wissen gar nicht, ob es überhaupt noch jemand hat oder ob es noch irgendwer gesehen hat!«
»Niemand weiß das! Du nicht, ich nicht, keiner! Franziska ist da, die kennt die ganze Geschichte und hat das Video vielleicht sogar gesehen auf der Party. Garantiert! Und ich will nicht rausfinden, wer von denen noch was weiß. Du willst meine Freundin sein und hast mich trotzdem überredet, wieder hierher zu kommen. Das war so ein Fehler! Lass mich durch!« Die letzten Worte schrie Marie ihrer besten Freundin, ihrer einzigen Freundin, ins Gesicht, ging auf sie zu und als Kathrin nicht auswich, machte Marie einen Schritt zur Seite und presste sich zwischen Kathrin und dem Zaun neben ihr hindurch.
Kathrin versuchte noch, sie aufzuhalten, und streckte ihre linke Hand aus, um sie zu stoppen, sie sachte an der Schulter zu fassen, irgendwas - Marie schlug ihre Hand in blinder Wut weg, zuckte zurück und starrte auf die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer Hand. Ein kleiner, rosa Striemen zog sich über ihre Handfläche.
Sie ist an meinem Fingernagel hängen geblieben, dachte Kathrin. Ich habe sie gekratzt. Oder nein. Marie hat sich an mir gekratzt.
»Keiner kann mir damit helfen!«, schrie Marie Kathrin ins Gesicht. Das war der Moment, den Kathrin befürchtet hatte. Der plötzliche, kleine Schmerz hatte Marie das letzte Bisschen Selbstkontrolle zerfetzt. »Du auch nicht! Lass mich einfach! Du! Franziska! Timo! Verpisst euch alle!« Sie fuhr herum und marschierte die Straße entlang, ohne sich umzudrehen.
Kathrin blieb zurück und blickte ihr hinterher. Auch sie hatte zu zittern angefangen, auch an ihr ging das alles nicht spurlos vorbei: Auch ihre Knie bebten, ihre Schultern waren verkrampft, ihre Lippe vibrierte, ihre Augen waren feucht geworden.
Es war nicht nur die Angst um Marie, manchmal war es auch ein kleines bisschen Angst vor ... Nicht vor ihr. Eher davor, worüber Marie die Kontrolle verlor, wenn sie keine Kraft mehr hatte, um alles zusammenzuhalten, was in ihr brodelte.
Kathrin hatte die Tränen in Maries Augenwinkeln gesehen, Tränen der Verzweiflung - aber wie immer genauso auch Tränen der Wut. Des Hasses. Ihr jetzt hinterherzugehen hatte gar keinen Sinn und würde sie nur wütender machen.
Kathrin seufzte und schaute wieder den Kiesweg hinauf Richtung Gemeindehaus. Egal ob die anderen Jugendlichen wussten, worum es gegangen war, den Radau hatten sie auf jeden Fall mitbekommen.
Es war manchmal schwierig, mit Marie Gartner befreundet zu sein. Und manchmal, wie jetzt, konnte es auch irgendwie ... peinlich sein. Ein komischer Gedanke, kein schöner Gedanke, aber wahr.
Im Jugendzentrum würden sie nichts sagen oder fragen. Auch nicht jemand eher giftiges wie Franziska. Aber die Augen würden Kathrin folgen. Die Augen, die nichts anderes sagten als: »Wieso kümmerst du dich um jemanden, die so große Probleme macht. Nur Probleme ...« Sie verstanden Freundschaft nicht. Freundschaft, die manchmal auch schwer sein konnte.
»Gut, dass du mich nie gefragt hast, ob ich das Video gesehen habe ...«, flüsterte Kathrin Marie hinterher.
Verdammt! Hoffentlich würde sie es auch nie tun. Marie würde sofort verstehen, wenn Kathrin log.
Marie versucht zum wiederholten Mal, sich die widerspenstigen blonden Strähnen aus dem Gesicht zu pusten. Es klappte nicht. Ein paar Haare flatterten ein bisschen herum und legten sich anschließend wieder an ihren Nasenrücken, blieben an ihren blonden Brauen hängen, kitzelten ihre Wangen und ragten ihr ins Blickfeld.
Die verdammten Haare kotzten sie an. Schon lange hatte sie sie sich schneiden lassen wollen, aber Oma hatte jedes Mal blockiert. Ein Mädchen sollte zumindest einmal versuchen, wie ihm lange Haare stehen. Immer nur so kurze Haare ist doch schade. Das muss man doch mal einsehen! Blahblahblahblahblahblah. Und Marie hatte sich gefügt, den Mund gehalten und stumm genickt, weil Oma ohnehin schon so oft so traurig guckte, wenn sie ihre Enkelin länger als eine Sekunde anschaute. Seit dem Spätsommer war es sogar noch schlimmer geworden. Seit dem Herbst.
Jetzt rächte sich Maries Nachgiebigkeit. Mit einer Hand hielt sie ihr Werkstück aus Aluminium fest, mit der anderen hielt sie den Schraubenzieher fest umklammert und versuchte mit so viel Kraft, wie sie irgendwie aufbringen konnte, eine Schraube in das Material zu zwingen. Es fehlten nur noch zwei Umdrehungen der Schraube, vielleicht auch nur noch eine, aber das Dreckding bewegte sich einfach nicht mehr.
Je mehr sich Marie anstrengte, umso schwitziger wurde ihre Hand, das Handgelenk pikste immer mehr, ihr Nacken verkrampfte sich und jetzt fielen ihr auch noch die. Verdammten. Haare. Ins. Gesicht! Die ich schon lange schneiden lassen wollte, aber nur wegen Oma noch habe, damit sie nicht immer nur so scheißtraurig ist, weil sie wegen jedem Dreck von der Schule angerufen wird, weil ihre dumme, missentwickelte Enkelin schon wieder irgendeinen Mist gebaut hat! Und jetzt klebten ihr die verdammten Haare im verschwitzten Gesicht, stachen ihr in die Augen und sie konnte sie sich nicht wegwischen, solange die ... verdammte ... Schraube ... nicht .... drinnen!
»Scheiße«, entfuhr Marie ein Schrei der Anstrengung und des Frustes, als der Schraubenzieher in ihrer Hand abrutschte und mit ihrer ganzen lodernden Wut in der Tischplatte einschlug, wo er stecken blieb. Marie hatte die Spitze tatsächlich ein paar Millimeter in das Holz gerammt.
Wenn ich mit der rechten Hand gezuckt hätte, würde er jetzt in der stecken, dachte Marie, während sie sich schwer atmend das Haar endlich aus dem Gesicht wischte und das schwere Werkstück in der Hand wiegte. Sie zitterte, ihre Finger, ihre Knie. Alles wurde dunkler um sie herum, als ob plötzlich jemand das Licht gedimmt und die Vorhänge zugezogen hätte, als hätten sich dunkelgraue Wolken vor die Sonne draußen gezogen. Die Farben um sie herum wurden grau und ihre verkrampften Finger wurden taub. Der Raum wurde enger. Die Schatten wurden dichter und begannen zu kriechen.
Atmen! Nur nicht durchdrehen. Augen offen halten!
»Immer auf den eigenen Kopf vertrauen und in einer solchen Situation niemals etwas automatisch oder von alleine passieren lassen«, erklärte ihr Dr. Lichel fast jede Woche bei ihren Terminen. Meistens, wenn sie mit einer neuen dummen Geschichte aus der Schule in die Therapie kam. Weil es Stress gegeben hatte oder sie im Streit zu Hause wieder irgendwas an die Wand geschmissen hatte, fast als hätten es ihre Hände von alleine getan, hatte Marie das Werkstück schon angehoben und es juckte sie in den Fingern, das dumme Ding einfach durch den Werkraum zu katapultieren. Einfach weg. Einfach zerstören. Am liebsten gegen etwas schmeißen, das beim Aufprall zerstörerisch schepperte, Dutzende scharfkantiger Scherben hinterließ.
Noch mal ein Vorfall und sie würde die Freiarbeitsstunden am Nachmittag nicht mehr im Technikraum verbringen dürfen!
Marie tat es nicht - stattdessen knallte sie es mit ein wenig mehr Kraft als notwendig auf den Tisch und blickte auf.
Über den Rand seiner Brille und den mit Papieren und Werkzeugen überfüllten Lehrerpult hinweg beobachtete Herr Baldung Marie - wie lange schon? Die ganze Zeit über?, fragte sich Marie. Und er denkt sich seinen Teil? Oder hatte er erst aufgesehen, als sie geschriene hatte?
»Gut, dass die Tische in meinem Technikraum älter sind als manche Eltern von euch, Marie, sonst müsste ich der Chefin eine Schadensmeldung vorlegen und erklären, wieso in die Tische zentimetertiefe Löcher geschlagen werden. Und da müsste dann dein Name auftauchen.«
»Ist maximal ein Zentimeter oder sogar weniger. Gibt’s dafür Ärger?«, fragte Marie viel kleinlauter, als sie ertrug und fummelte dabei am Griff des Schraubenziehers auf und ab.
»Wenn ich mich manchmal zu lange ablenken lasse und mich anschließend wieder umdrehe, erwische ich manchmal einen Fünftklässler dabei, wie er versucht, ein Stück aus dem Tisch herauszusägen. Ich glaube, wenn es schon so weit ist, können wir dein ehrliches Versehen ruhig ignorieren. Aber tu dir nicht bitte nicht weh, ja? Ich habe die Schraubendreher erst neu anschaffen lassen und die Dinger sind verdammt spitz! Da leistet ein Handwurzelknochen unter Umständen nur wenig Widerstand. Zeig mal her, was mit deiner Arbeit los ist.«
Aufstehen, sich bewegen, irgendwie zumindest ein bisschen Energie rausbekommen tat gut. Marie umrundete die Werkbank, griff sich im Vorbeigehen ihre Arbeit und trottete zum Tisch von Herrn Baldung. Ihr folgten die Augen der anderen. Sie wurde angesehen - beobachtet - sogar von den verdammten Fünftklässlern, die mit ihr hier in der klassengemischten offenen Projektarbeit Mittwoch Nachmittag waren. Marie hatte sich langsam über die letzten Monate daran gewöhnt. Ein bisschen zumindest. Ganz langsam zumindest. Es war erträglich geworden, solange sie es schaffte, selber wegzugucken, sich abzulenken - und die anderen ihre Drecksgedanken bei sich behielten.
Herr Baldung nahm Maries Werkstück entgegen. Es hätte eigentlich ein Abroller für Klebestreifen und eigentlich auch schon fast fertig sein sollen. Zwei Aluminiumblöcke vorne und hinten, eine Holzrolle dazwischen, zusammengehalten von in Form gesägten Messingplatten. Aber genau an dieser Stelle haperte es.
Herr Baldung prüfte die Schrauben, ruckelte und gab Marie den auseinanderfallenden Abroller zurück.
»Wirklich stabil ist dir das ja nicht gelungen, Marie. Die Schrauben an den Seiten musst du fest anziehen können, sonst hält da nichts und hält nicht dagegen, wenn du versuchst, ein Stück Klebeband abzureißen. Durchgebohrt hast du. Wahrscheinlich ist das Gewinde nicht tief genug eingeschnitten. Hol dir die Gewindeschneider und arbeite da noch mal nach.«
»Herr Baldung! Muss das sein?«
»Oder nimm ein Teil mit heim, das zu wackelig ist, als dass man es benutzen könnte und das man genauso wegschmeißen könnte, Marie!«, erwiderte Herr Baldung sachlich und bestimmt. Er hatte ja recht, aber er erlaubte Marie auch, frustriert zu sein.
»Ich habe den einen Gewindeschneider fast abgebrochen, weil er sich eingefressen hat.«
»Dann lernst du eben, zärtlicher zum Werkzeug zu sein. Wenn du das Teil abbrichst, musst du den Alu-Block komplett von Neuem machen.«
»Bitter ...«, seufzte Marie, nahm ihren Abroller wieder an sich und hatte sich schon wieder halb umgedreht, um an ihren Platz zurückzukehren, als es klopfte und die Tür auf den Flur aufging. Zuerst wurde eine große Einkaufstasche vom Supermarkt, aus der ein großer schwarzer Kasten herausragte, durch die Tür geschoben. Dann kam der Arm zum Vorschein, über den die Tasche geschultert war und schließlich der Besitzer des Armes und der Schulter: Bastian aus derselben Klasse wie Marie. Er guckte schüchtern von den Werktischen zum Lehrertisch, blieb kurz an Marie hängen, ohne aber irgendwie richtig zu reagieren, und guckte schließlich einfach zu Boden, ohne irgendwas zu sagen.
Aber wo Bastian war, musste natürlich auch Lara sein - und prompt schob die sich durch den Spalt zwischen der offenen Tür und Bastian und marschierte zielstrebig auf Herrn Baldung zu.
»Lara! Du bringst mir dein neues Privatprojekt?«, begrüßte sie der Lehrer, während Bastian hinter ihr her die Tasche schleppte. Sah schwer aus. Natürlich muss er das Zeug rumschleppen, das eigentlich Laras ist, dachte Marie. Wie immer.
Für ein paar Sekunden war sie in Gedanken stehen geblieben und als Marie schließlich an ihren Platz zurück schlurfte, kam sie an dem Tisch vorbei, auf dem Lara gerade ihre Tasche auspackte. Herr Baldung beugte sich über den schwarzen, rechteckigen Kasten, der ungefähr halb so groß war wie ein Einzeltisch in den normalen Klassenzimmern. Er hatte eine breite Klappe an der Vorderseite. Daneben links und rechts gab es ein paar altmodische Plastikknöpfe und ein kleines, schwarz schillerndes Bildschirmchen. Der hintere Teil war silbern und mehrere Stecker und Anschlüsse in verschiedenen Größen und Formen ragten aus dem Metall heraus. Bastian stand an der Ecke des Tisches, so weit wie möglich von dem seltsamen Gerät entfernt. Lara hat ihn ihren Kram hertragen lassen und jetzt muss er sich aus dem Weg stellen, damit er nicht stört.
»Was ist das für ein Teil?«, fragte Marie Bastian, als sie an seinem Ende des Tisches vorbeikam, ohne ihn zu begrüßen. Niemand erwartete Freundlichkeit von Marie und sie entsprach gerne dieser Nicht-Erwartung.
»Ein Video-Rekorder«, antwortete Bastian. »Anscheinend konnte man damit früher Filme angucken und vom Fernsehen aufnehmen.«
»Das Teil sieht aus, als wäre es älter als meine Mama. Wow. Sah außerdem ziemlich schwer aus!«
»Schwerer als meine Schultasche, kann ich dir sagen. Und ich habe das heute früh schon zur Schule geschleppt.«