Schulschluss - Alex Marongue - E-Book

Schulschluss E-Book

Alex Marongue

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Beschreibung

Die Schulzeit ist vorbei. Morgen werden die Zehntklässler ihre Abschlusszeugnisse erhalten. Viele werden sich das letzte Mal sehen, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Das echte Leben beginnt. Jeder verbringt den Tag davor auf seine Weise. Der eine versucht sich an einer neuen Beziehung, am anderen nagt die Angst vor der Zukunft. Bastian verbringt den Nachmittag, wie er jeden freien Nachmittag verbringt: mit Lara. Seiner besten Freundin. Seiner Exfreundin. Jeder weiß, was er noch für sie fühlt, nur Lara nicht. Und so muss es bleiben. Egal, wie weh es tut. Doch was er nicht ahnt: Jemand denkt an ihn. Marie, die Außenseiterin, die vor den Abschlussprüfungen wochenlang verschwunden war. Sie trägt ein Geheimnis mit sich herum, das Bastian und Lara betrifft. Das alles für die beiden verändern könnte. Und von dem sie nicht weiß, was sie damit machen soll. Heute Abend wird die letzte Chance sein, eine Entscheidung zu treffen.

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

13:30 Zwischen hier und dort

Unten am Bach 13:30 Uhr

Jenseits des Baches, 13:30 Uhr

Zwischen der alten und der neuen

In der Altstadt, 14:30 Uhr

Am Tisch gegenüber, 14:45 Uhr

Etwas später, in Gedanken.

Am Vorabend: Lara

Am Vorabend: Bastian

Am Vorabend: Kathrin und Marie

Am Vorabend: Tuyet

Endlich: die Nacht.

Alleine unter Freunden

Samstag früh auf dem Hof der

Heute am späten Nachmittag, auf

13:30 Zwischen hier und dort

Die alte Stadtmauer von Freiweiler verlief am Stadtbach entlang und trennte die Altstadt mit Fußgängerzone und Bahnhof von den modernen Neubaugebieten mit großen Wohnanlagen, dem Baumarkt und den Wäldern dahinter. Hinter dem Bahnhof wuchs die Stadt einen steilen Hügel hinauf. Dort lag das Schulzentrum der Wedekind-Realschule. Die Turnhalle, in der morgen die Abschlussfeier der Realschüler stattfinden würde.

Die Mauer, die alte Wehranlage, steckte jedem Jugendlichen in dieser Stadt fest im Kopf. Jedes Jahr kamen die Geschichtslehrer aufs Neue auf sie zurück. Von Kelten gebaut, von Römern befestigt, von Franken verstärkt, von Franzosen gesprengt, von Schweden bezahlt und so weiter und so fort. Drei Jahrtausende, die zum Meme unter Freiweiler Schülern geworden war. Heute erkannte man kaum noch, dass hier mal eine echte Mauer stand. Auf der Seite der Innenstadt war sie komplett weggerissen worden, um der Ringstraße Platz zu machen. Auf der Bachseite war einfach Erde aufgeschüttet worden und die Mauer bildete einen ungefähr zehn Meter hohen, mit Stoppelgras bewachsenen Hügel.

Marie hatte allerdings nicht das Gefühl, auf dreitausend Jahren Geschichte zu sitzen. Vielmehr auf einem Ameisenhaufen. Der Boden unter ihr fühlte sich spröde und locker an, aber glücklicherweise trocken. Trotzdem rutschte sie immer wieder ab. Ruiniert war der Rock noch nicht, aber für heute zumindest versaut. Vielleicht würde sie sich umziehen können. Aber ob sie heute noch heimkam?

Marie blickte den Bach hinab in die Richtung,wo das Toilettenhäuschen hinter Bäumen versteckt lag. Sie saß hier schon wie lange, ohne dass etwas geschehen wäre. Sie hatte sich das alles besser vorgestellt, als sie heute Morgen ihre Ausrüstung gepackt hatte. Interessanter. Spannender. Wie lange? Erst eine Stunde, ihre Handyuhr zeigte halb zwei.

Gerade, als Marie den Blick wieder von ihrem Handy löste, erweckte doch noch etwas ihre Aufmerksamkeit. Eine Gestalt, die ihr bekannt vorkam. Hastig kramte Marie in ihrer Schultasche und holte Block, Stift und Fernglas hervor. Erstere platzierte sie in ihrem Schoß, Letzteres legt sie mit der Rechten an die Augen.

„Bastian?“, murmelte sie. „Nervös. Aufgeregt? Gut oder schlecht, was ist los?“ Dann überlegte sie, während die Gestalt in der Ferne das Bachufer entlang eilte. „Wieso kommst du aus dieser Richtung?“ Bastian wohnte am anderen Ende der Stadt. Auf dem Hügel in der Nähe des Schulzentrums.

Unten am Bach 13:30 Uhr

Viele Mädchenzimmer hatte Bastian noch nicht gesehen. Laras natürlich. Aber Lara zählte nicht. Und sonst noch? In der Grundschule, zu Kindergeburtstagen und was sonst noch. Aber das zählte natürlich schon lange nicht mehr. In der Realschulzeit, die Zeit, die morgen enden würde? Laras. Sonst keines. Wie das wohl bei den anderen Jungs war – manche hatten bestimmt schon Dutzende Mädchenzimmer gesehen, alles mögliche drinnen veranstaltet. Aber bestimmt nur wenige. Die zwei größten Nervensägen pro Klasse oder so. Die anderen? Zwei, drei, fünf, keines? Kein Junge würde ehrlich darüber sprechen, er natürlich auch nicht. Und wer wusste schon, ob die, die so angaben, nicht auch logen. Oder die, die behaupteten, nur in ganz wenigen oder gar keinem Mädchenzimmer gewesen zu sein.Oder Mädchen in ihrem Zimmer gehabt hatten? War das etwas Anderes?

Heute jedenfalls war es ein zweites Zimmer geworden, ein zweites in seiner Realschulzeit. Zwei in sechs Jahren ergaben 0,3 Periode Mädchenzimmer im Jahr. Und jetzt stand er zwischen beiden Zimmern, gewissermaßen, Kathrins jenseits des Baches, in einem hübschen Einfamilienhaus. Und Laras in der Altstadt, in einem fünfstöckigen Kasten mit hohen Decken. In Laras Zimmer war viel passiert. Viel zu viel. In Kathrins Zimmer – nichts. Natürlich. Jetzt stand er dazwischen, blickte auf den gluckernden Bach hinab und wurde das Gefühl nicht los, etwas verpennt zu haben.

„Irgendwas ist schwer an mir vorbeigegangen!“, so sagte man das in seiner Familie. Oder bildet er sich das nur ein?

Kathrin und er waren gemeinsam von der Schule heimgekommen. Heim zu ihr. Ganz zufällig. Sie hatten den ganzen Vormittag geholfen, alles für die Abschlussfeier vorzubereitn, hatten Reihe um Reihe Stühle aufgestellt für die große Abschlussfeier morgen, hatten die Kühlschränke angeschlossen und mit alkoholfreien Getränken und Süßkram bestückt, um sich anschließend, wenn niemand guckte, daraus zu bedienen. Eigentlich hatten sie den ganzen Tag miteinander verbracht. Sie waren gemeinsam zum Schulgottesdienst gegangen und hatten sich danach den ganzen Vormittag über unterhalten. Was sie in den Ferien tun wollten. Was danach Thema sein würde. Schule weitermachen. Ausbildung. Wo? Wann?

„Wie sieht eigentlich dein Zeugnis aus?“

„Ganz gut, deines auch?“

Sie hatten sich über die Schule unterhalten, die vergangenen Jahre. Über die alten Fenster zum Beispiel, die direkt unterhalb der Zimmerdecke angebracht waren, nicht geöffnet werden konnten und nur für Licht sorgen sollten. Und die wahrscheinlich die einzigen Fenster der Schule waren, die in den letzten fünfzig Jahren nicht ausgetauscht worden waren und auf denen an manchen Wintermorgen sogar Eisblumen wuchsen.

Gerade waren sie bei ihrer jeweils schönsten und schlimmsten Erinnerung aus der Schulzeit angelangt, als Kathrin ihre Schrittgeschwindigkeit verlangsamte und sie beide in Richtung eines Gartentürchens lenkte. Es war der Eingang in den schmalen Garten eines würfelförmigen, weißen Hauses mit großen, rechteckigen Fenstern. Kathrin streckte bereits die Hand nach der Klinke aus, bevor sie sich umdrehte. Bastian stockte, begriff und stolperte über seine Gedanken.

„Also, ja-“, unterbrach er sich selbst mitten im Satz. Er hatte gerade darüber gesprochen, wie ihm in der sechsten Klasse eine Flasche Kirschsaft in der Schultasche zerbrochen war. Nicht nur war alles voller Scherben gewesen, alle Schulbücher hatten sich blitzschnell mit Kirschsaft vollgesogen und waren unlesbar geworden. „So war das damals“, murmelte er und machte sich innerlich bereit, sich zu verabschieden. Ein kurzer Abschiedsgruß, mitten im Satz, aber so war das eben manchmal auf dem gemeinsamen Heimweg. Auch, wenn er sich auf der falschen Seite der Stadt befand und sich schon bald würde beeilen müssen.

Aber Kathrin war stehen geblieben, blickte Bastian mit schräg gestelltem Gesicht in die Augen und blinzelte, bereit, weiter zuzuhören.

„Komm rein, es ist doch viel zu heiß hier, um zu reden“, sagte sie. Dann legte sich ihre Stirn in Falten. „Oder hast du keine Zeit mehr?“

„Doch … ja, klar. Gerne!“

Nicht mehr viel Zeit. Lara würde warten, aber ein paar Augenblicke würden nicht schaden.

„Dann komm schon mit!“, sagte Kathrin, während sie über den kurzen gekiesten Weg auf die Haustüre zuging. „Meine Eltern sind noch nicht da.“ Dann schloss sie die Türe auf.

Kathrins Zimmer lag im ersten Stock, auf der Seite des Hauses, die der Mittagssonne abgewandt war. Bastian war froh, mit hineingegangen zu sein. Es war drinnen überraschend kühl, während draußen der Asphalt von der Hitze weich zu werden schien.

Kathrin hatte ihn hinauf geführt, ihn in ihr Zimmer gestellt und war wieder hinunter in die Küche gegangen, um etwas zu trinken fertig zu machen. Bastian blickte sich währenddessen in ihrem Zimmer um.

Blassorange Wände, dunkelbrauner Teppichboden. Auf dem Schreibtisch unter dem Fenster lagen ordentlich aufeinandergestapelt Schulhefte, Schreibblöcke und die roten Bücher zur Prüfungsvorbereitung. Daneben ein Laptop mit einer kabellosen Tastatur darauf. Eine Schreibtischlampe, Kathrins Federmäppchen, das sie auch in der Schule benutzt hatte. Aus schwarzem Stoff mit gestickten Blumen.

Die Decken auf dem Bett waren ordentlich zusammengelegt, das Kissen glatt gestrichen. Kaum merklich ragte das rosa Hosenbein eines Schlafanzuges unter der Decke hervor und hing ein kleines Stück über die Bettkante. Neben dem Bett, auf dem Nachtkästchen, lagen ein abgenutztes Tablett mit gesprungenem Bildschirm und ein dünner Roman.

Kathrin hatte kaum Bücher. Oder zumindest weniger, als Bastian gedacht hätte. Das Buch neben dem Bett, ein Jugendroman, Mädchengeschichten oder so etwas. Bastian zumindest hätte sich mehr von ihr erwartet. In den Regalen lag Kleidung, aber nicht viel. Daneben Urkunden, von der Kirche und vom Sport. Ansonsten fast nur: Fotos. Unmengen davon. Manche waren auf die Innenseiten der Regale geklebt, manche lagen einfach nur übereinander gestapelt da, einzelne waren eingerahmt und aufgestellt oder hingen an der Wand. Familienfotos mit vielen alten Leuten darauf, Fotos von einem kleinen Mädchen, das Kathrin einmal gewesen sein könnte, Fotos von Landschaften, von ihrem kleinen Bruder und ihrer älteren Schwester, die schon lange nicht mehr bei der Familie wohnte.Ansonsten: Urlaubsfotos, Fotos von allen möglichen Festen und Ausflügen. Da waren Gesichter, die Bastian erkannte. Khaleb aus der Parallelklasse. Magda, die einmal in ihrer Klasse gewesen war, die aber schon vor Jahren weggezogen war. Auf zwei Fotos fand er sich selber, beide Male mit Lara. Einmal auf dem Klassenfoto von letztem Jahr. Auf dem anderen waren nur sie beide darauf. Keiner von ihnen blickte in die Kamera, sondern sie sprachen mit gesenkten Köpfen miteinander. Der Hintergrund sah nach Marseille aus, wo sie zur Abschlussfahrt gewesen waren. Kathrin musste sie aufgenommen haben, ohne dass sie es gemerkt hatten.

Direkt daneben, in einem schönen, silbernen Rahmen mit ganz fein ziseliertem Muster, der an die Wand gelehnt stand, lachten ihm Kathrin und Marie entgegen – was die beiden wohl miteinander zu tun hatten? Klar, in der Schule war Kathrin eine der wenigen, die sich irgendwie mit Marie abgab. Aber das sah nicht nach einem Foto aus der Schule aus. Bastian streckte die Hand aus. Er wollte sich das Bild genauer ansehen.

„Das Bild haben Marie und ich in Taizé aufgenommen. Wir sind dort letzten Sommer mit unserer Jugendgruppe hingefahren“, sagte Kathrin plötzlich hinter ihm. Ertappt drehte sich Bastian um und glaubte fast, spüren zu können, wie er rot wurde, während ihm Kathrin ein Glas Eistee in die Hand drückte.

„Ich wusste nicht, dass ihr beide, also, dass ihr beide was miteinander unternehmt. Oder dass sie überhaupt …“

Kathrin deutete vor seiner Stirn eine Bewegung an, als wolle sie ihm eine klatschen, aber nur leicht und freundschaftlich.

„Weil du keine Ahnung von Marie hast“, sagte sie. „Kein Mensch ist eine Insel. Und auch zwei oder drei zusammen geben noch keine ordentliche Insel ab.“ Jetzt blickte sie ihm in die Augen, starrte fast, mit einer wissenden Falte zwischen den Brauen. Es fühlte sich für Bastian fast so an, als hielte sie ihn mit den Augen fest. Als ihm trotz der Kühle in ihrem Zimmer der Schweiß auf die Stirn trat, ließ sie ihn los, zog ihren Schreibtischstuhl heran und setzte sich. Erst, als sie sich dabei von ihm entfernte, sich wegdrehte, sah Bastian ihr schwaches, aber freundliches Lächeln.

Zwei, drei Leute. Sie meint mich und ... Lara und Martin.

„Wieso hast du so viele Fotos? Ich meine, das ganze Regal voll? Die sind doch vom Handy oder von der Digitalkamera. Kannst du die nicht speichern?“

Zur Antwort deutete Kathrin auf die oberste Fläche des Regals neben ihm. Zwei dicke, altmodische Fotoalben waren darauf verstaut. Daneben lag eine mit einem Vorhängeschloss versehenen Box und eine große Pappschachtel, aus der Kabel und ein Gurt hervorlugten.

„Da oben habe ich meine Kamera. Und in der Box habe ich meine SD-Karten. Fünfmal 16 Gigabytes oder so. Seit ich klein war. Ausgedruckt habe ich nur so die Highlights, das wichtigste vom Wichtigen.“

„Die schönsten?“

„Nö. Nur einfach die, die am meisten Bedeutung haben. Die ich tagsüber immer wieder anschaue. Die ich anschauen will, wenn ich einschlafe.“

Ohne es erst mitzubekommen, schielte Bastian zum Bett, zum hervorschauenden Pyjamabein. Dass sie ihm so etwas erzählte. Er zwang sich fast, sich wieder in Richtung des Regals und der Bilder zu drehen. Fotos aus der Kindheit, von den letzten Ferien. Von Familie, Haustieren, vielen Freunden. Und zwei oder drei unterschiedliche Jungs, die nicht so aussahen, als wären sie mit Kathrin verwandt. Die er nicht aus der Schule wiedererkannte.

„Das ist ein komisches Bild, das du in Marseille von Lara und mir gemacht hast“, sagte Bastian.

„Es gefällt mir“, erwiderte Kathrin. „Ihr seid so schön in euer Gespräch vertieft. Geheime Gespräche, von denen niemand etwas weiß. So geheim, dass ihr gar nicht gemerkt habt, dass ich euch ablichte. Das finde ich schön.“

Ablichte? Kathrin redete sogar wie eine richtige Fotografin.

Für einen Moment war es so still, dass Bastian durch die isolierten Mauern und das dreifach verglaste Fenster hören konnte, dass draußen ein Rasenmäher ansprang. Und schrie sich da nicht wer an? Die Stille hier drinnen war so drückend wie die unerträgliche Hitze draußen. Bastians Augen suchten. Kathrins Augen ruhten. Auf ihm? Er traute sich nicht, genauer nachzusehen und dabei versehentlich Kontakt aufzunehmen. Wie spät war es eigentlich?

„Willst du dich nicht hinsetzen?“, fragte Kathrin schließlich.

Klar, aber wohin? Kathrin saß auf ihrem Stuhl. Etwas anderes gab es nicht. Das Bett? Blödsinn! Er konnte nicht einfach auf dem Bett von ihr sitzen. Der Fußboden? Wie spät war es? Er würde von hier aus eine halbe Stunde zu Lara brauchen. Zu Fuß, zumindest. Zwanzig Minuten, wenn er einen Bus erwischte.

Bastian fischte sein Handy aus der Hosentasche und sah nach. Viertel nach. Verdammt spät! Er musste los.

„Ich muss jetzt schon los.“ Aber eigentlich wollte er auch nicht.

„Aber es hat ja echt gut geklappt mit dem Aufbau, das wird eine gute Feier!“

Er wollte nicht weg. Wegen Lara nicht – zu ihr – oder wegen Kathrin nicht – von ihr weg.

Kathrin fragte: „Kommst du morgen früh zur Schule?“

„Ja klar. Lara und ihr Freund wollen ja hin.“

„Klar kommt Lara“, lächelte Kathrin, „soll ja Party geben. Na gut, unter den Umständen sehen wir uns ja garantiert morgen da.“

Damit stand Kathrin auf, nahm Bastian das Glas aus der Hand und stellte es in das Regal und führte ihn zu seinen Schuhen neben der Haustüre. Die ganze Zeit über hatten sie beide geschwiegen.

„Tschüss!“

Dann hatte sich Bastian auf den Weg zurück in die Innenstadt gemacht, über den Bach und die alte Wehranlage entlang.

Jetzt stand er auf halbem Weg und wunderte sich, ob er ein Idiot war, oder ob er angefangen hatte, Dinge zu sehen, die nicht da waren.

Jenseits des Baches, 13:30 Uhr

Der Rasenmäher vom Nachbar hatte noch einige Minuten weitergetöst, nachdem Bastian verschwunden war. Überstürzt. Plötzlich war ihm eingefallen, dass er etwas viel Wichtigeres zu tun hatte. Kathrin zweifelte nicht daran, dass es wichtiger war als sie. Nach dem Rasenmäher von links dröhnte eine elektrische Heckenschere von rechts für einige Minuten. Als der Lärm endlich aufgehört hatte, hatte Kathrin bereits ihren Tee ausgetrunken, Bastians weggeschüttet – schade um die frische Minze – und hatte den Flur gekehrt. Der rosa-graue Staub, den sie beide hereingetragen hatten, war nach ein paar Strichen des Handbesens weg und mit ihm Bastian.

Sie hatte es nicht geplant, die Ereignisse und die Idee waren plötzlich glücklich zusammengefallen. Aber wenn schon nicht geplant – man stellte sich so was doch anders vor.

Erst, als der Lärm aus den Nachbargärten verklungen war, konnte Kathrin das Fenster öffnen. Plötzlich war ihr zu kalt geworden, plötzlich wollte sie die warme Luft von draußen auf dem Gesicht spüren. Sie spürte einen scharfen Luftzug auf der trockenen Oberfläche ihrer Augen. Dann hörte sie etwas. Weinen? Weinen. Es war leise, klang unterdrückt. Wie durch auf den Mund gepresste Hände hindurch. Durch absichtlich flaches, verkrampftes Atmen.

Kathrin blickte aus dem Fenster, sah aber nichts in den Gärten der Nachbarn. Das Weinen klang, als käme es von direkt unter ihrem Fenster, wo der Zaun der Nachbarn bloß einen halben Meter von ihrer Hauswand entfernt war und gerade genug Platz ließ, dass ein einzelner Mensch zwischen ihnen hindurch kam Kathrin streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte hinunter zwischen Hauswand und Zaun. Dort war, fast zu erwarten: niemand. Es wäre auch zu unangenehm gewesen, einen weinenden Fremden in ihrem Garten zu haben. Doch auch, wenn das Weinen mittlerweile dumpfer war, von Händen und zusammengepressten Augenlidern erstickt, glaubte Kathrin trotzdem, es nun deutlicher hören zu können. Als befände sich ihr Ohr direkt über seiner versteckten Quelle. Noch einmal kniff Kathrin die Augen zusammen, suchte – und fand: Kleidung, die durch die Spalten zwischen den Latten des Zauns hindurch erkennbar war. Ein brauner Haarschopf, der über die Spitzen des Zaunes hinweg ragte.

Vorsichtig und still zog sich Kathrin vom Fenster zurück, ließ es offen und ging in großen, aber geschlichenen Schritten durch ihr Zimmer, die Treppe hinunter, streifte ihre Hausschuhe von den Füßen – und blieb wie festgefroren stehen. Sandalen anziehen oder barfuß raus? Eine blöde Frage, sicher, aber sie konnte sich trotzdem erst gar nicht entscheiden, zögerte – und entschied sich schließlich, nach vollen zehn Sekunden Leere im Hirn, barfuß zu gehen. Sie schlich durch die Türe und rechtsherum um das Haus, bis sie den schmalen Durchgang zwischen Zaun und Hauswand erreichte. Dort blieb sie stehen, stützte sich auf die nächste Zaunlatte und beugte sich vorsichtig darüber.

Ein Junge saß mit dem Rücken an den Zaun gelehnt im Gras, die Knie an die Brust gezogen und das Gesicht dazwischen vergraben. Er zitterte und hatte den rechten Ärmel seines Hemdes im Mund. Tatsächlich: Er kaute darauf und unterdrückte dadurch das Hervorbrechen neuer Geräusche.

„Tom?“

Kathrin hatte ihn natürlich sofort erkannt: Sein Haar, seine hageren Glieder. Die abgekauten Fingernägel. Tom, der jüngste Sohn der Nachbarn aus einer der Paraklassen. Aber aus welcher? B? C? Da war sich Kathrin gar nicht mehr sicher. Immerhin ging es von A bis E.

„Tom?“, rief sie nochmal, aber schon leiser und scheuer. Sie war sich schon nicht mehr sicher, was sie hier überhaupt tat.

Erst kam wieder keine Reaktion, dann aber drehte Tom langsam sein Gesicht in ihre Richtung, den Ärmel noch zwischen den Lippen, die Augen rotgeheult und salzig. Er blickte Kathrin kurz ins Gesicht, dann über ihre Schulter.

„Scheiße! Ich sitze direkt unter deinem Fenster, ja? Ich hab gar nicht mehr daran gedacht. Und ich dachte, du hättest Besuch. Der eine Junge, der doch auch bei euch in der Klasse ist. Der Freund von der anderen da -“ Tom drehte die flache Hand locker im Uhrzeigersinn in der Luft.

„Ja, nein, Bastian ist das. Er war auch nur kurz da, um -“ Kathrin musste ein wenig zu lange schlucken, verschaffte sich zu auffällig Zeit. „Er hat sich was geholt, was wir noch brauchen für die Abschlussfeier morgen. Für die Shows.“

Tom nickte und heuchelte, dass er die Geschichte schluckte.

„Er ist auch nicht ihr Freund, von Lara. Er ist mehr ihr Haustier oder so was und -“, dann unterbrach sie sich endlich selbst, schwieg, bevor noch mehr dummes Zeug aus ihrem Mund herausfallen konnte. Dummes, entlarvendes Zeug. „Du siehst trotzdem nicht glücklich aus“, brummte Tom einigermaßen genervt. Er sah so aus, als wolle er weitersprechen,aber Kathrin fiel ihm doch noch ins Wort.

„Du aber auch nicht gerade. Ich habe dich bis in mein Zimmer heulen gehört. Was denn los?“

„Das braucht dich ja nicht zu jucken! Und verstehen wirst du’s auch nicht.“

„Erklär’s mir.“

Zur Antwort holte Tom einen Packen Papiere unter sich hervor und hielt sie über seinen Kopf. Kathrin trat hinter ihn, nahm den Stoß Papiere und blätterte sie durch. Briefe von Schulen. Gymnasien, Berufskollegs – Tom schien jeder Möglichkeit nachgegangen zu sein, nach dem Abschluss mit der Schule weiterzumachen Sie brauchte jeweils nur die ersten paar Zeilen zu überfliegen, um zu verstehen, was los war.

„Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen“, und so weiter. Ausschließlich Absagen.

„Ich habe alle angeschrieben. Auch nicht nur hier. In Freiburg unten die Schulen natürlich. Überall. Mein Durchschnitt haut einfach nicht hin. Zu viele Bewerber, haben sie geschrieben. Sehr großer Jahrgang. Der notwendige Notendurchschnitt ist für nächstes Schuljahr besonders heftig. Und blahblahblah kein Schulplatz. Nix. Ich soll es nächstes Jahr vielleicht noch einmal versuchen. Aber bei 3,0 kann man wohl nichts garantieren.“

Jetzt erst drehte sich Tom wieder zu Kathrin um, hielt sich am Zaun fest und zog sich daran hoch. Sein Gesicht war Kathrins plötzlich ganz nah, nur ein paar Zentimeter entfernt. Seine Augen waren überall mit roten Linien durchzogen. Seine Haut strahlte eine feuchte Wärme aus, dass Kathrin sie trotz der Sommerhitze spüren konnte.

„Ich hab jetzt eigentlich gar nichts. Zumindest nichts, was ich wollte. Und was kann ich jetzt?“ Kathrin wusste es nicht. Natürlich nicht! Sie hatte einen Einserschnitt. Keinen perfekten, 1,7, aber immerhin. Ihr waren alle weiterführenden Schulen offengestanden. Das Annahmeschreiben war schon vor zwei Wochen gekommen. Kathrin war eine der ersten in ihrer Klasse gewesen, die gewusst hatte, wie es weitergehen würde. Das hatte eigentlich von Anfang an festgestanden. Sie konnte jetzt natürlich viele Worte machen. Sie konnte viel erzählen – aber sie konnte nichts zu Tom sagen.

„Du guckst genauso blöd wie meine Eltern. Wir haben uns bis gerade angeschrien. Zwanzig Minuten lang nur Brüllen. Mal wieder. Ich habe ihnen immer wieder versprochen, dass es doch noch besser werden würde. In der Neunten. Dieses Schuljahr. Und sie haben mir vertraut, sagen sie. Ich hätte ihr Vertrauen nicht annehmen dürfen, wenn ich es versauen würde. Das haben sie auch gesagt. Jetzt sind sie erst mal weggefahren und ich wollte meine Ruhe.“ Während seines ganzen Redeschwalls hatte sich Tom nicht von Kathrins Gesicht entfernt. Erst jetzt rückte er ab, blickte ihr aber weiter forschend ins Gesicht, dann plötzlich nach oben, wohin? Er konnte nur durch ihr Fenster blicken. Was gab es da zu sehen, außer die Zimmerdecke?