Honigsüßer Typ No. 1 - Andrea Mühlen - E-Book

Honigsüßer Typ No. 1 E-Book

Andrea Mühlen

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Beschreibung

Eine beeindruckende Lebensgeschichte, die Mut macht und inspiriert! "Honigsüßer Typ No. 1" - so nennt Andrea Mühlen ihren Diabetes. Abgeleitet von der medizinischen Fachbezeichnung "Diabetes mellitus", die so viel wie "honigsüßer Ausfluss" bedeutet. 1982 wird bei ihr die Stoffwechselerkrankung Typ-1-Diabetes festgestellt. Da war sie 13 Jahre alt. Welche Herausforderungen diese lebensverändernde Diagnose mit sich bringt und wie es sich anfühlt, plötzlich rund um die Uhr mit einem unerwünschten Begleiter leben zu müssen, beschreibt sie in ihrer Autobiografie. Ihre Geschichte schildert den Umgang mit der chronischen Erkrankung in verschiedenen Lebenssituationen sowie die dazugehörigen Höhen und Tiefen. Vor allem macht sie aber Mut und zeigt, wie glücklich und erfüllt das Leben mit Diabetes sein kann.

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Das eigene Herz ist gemeinhin ein recht kluges Organ.

Ihm auf dem Weg durchs Leben zuzuhören lohnt sich immer, auch mit Diabetes.

(Andreas Moscho)

Andrea MühlenDr. Hansjörg Mühlen

Honigsüßer

Typ No. 1

mit Cartoons von Sonja Kling

Bibliografische Information der Deutsche Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://portal.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-87409-752-9

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Bildnachweis:

Cartoons & Titelillustration: Sonja Kling

Fotos Umschlagseite und Vita: Daniel Haeker, Matthias Steiner; Fotos S. 56, S.179: Klaus Baier; Foto S. 279:

Gila Sonderwald. Alle nicht ausdrücklich erwähnten

Fotos sind von Andrea Mühlen.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© Verlag Kirchheim + Co GmbH

Wilhelm-Theodor-Römheld-Str. 14 55130 Mainz

www.kirchheim-shop.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Kapitel: Wie alles begann

Ende der Kindheit – Beginn der Verantwortung

Ursachen Typ-1-Diabetes

Aufklärung

Entwicklung, Diagnose und Symptome eines Typ-1-Diabetes

Warum wurde Andrea nicht sofort mit Insulin behandelt?

2. Kapitel: Das erste Mal

Ich will nicht spritzen!

Verhältnis Kind – Eltern

Insulinwirkung

Stoffwechselentgleisung (entgleister oder dekompensierter Diabetes)

Unterzuckerungen (Hypoglykämie oder kurz: Hypo)

Schwere Unterzuckerung (schwere Hypo)

Schulungen

3. Kapitel: Meine Jugend

Schule – Hobbys – Freunde – Familie

Gewichtsabnahme bei Manifestation des Diabetes

Historie des Insulins und der Insulintherapie

Alkohol und Diabetes

4. Kapitel: Meine Krankenhausaufenthalte

Wichtig – lästig – lehrreich

Diabetologische Schwerpunktpraxen

Lanzetten

Wenn der Diabetes auf die Nerven geht – Neuropathie

Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) oder auch Basis-Bolus-Konzept

5. Kapitel: Mein Studium

Freiheit – Eigenverantwortlichkeit – Selbstliebe

Kann man durch Weglassen von Insulin abnehmen?

Diabetes und Lebensroutinen

6. Kapitel: Meine Partnerschaft

Verständnis – Kontrolle – Sorgen – Kommunikation – Vertrauen

Verhalten des Partners bei Hypo- und Hyperglykämie

7. Kapitel: Meine Kinder

Glück – Verantwortung – Sorgen – Kommunikation – schwere Hypos

Diabetes und Schwangerschaft

Versorgung von Kindern nach der Geburt

Vorteile und Nachteile einer Pumpentherapie

Vererbung des Typ-1-Diabetes

8. Kapitel: Mein Beruf

Balanceakt – Mut – Ablenkung – Erschöpfung

Kontinuierliches Glukose-Monitoring (CGM)

CGM: Blut- und Gewebezucker, Blutzuckermessung

CGM: Funktion und Kalibrierung

Psychische Energie bei Diabetes

9. Kapitel: Meine Freizeitgestaltung

Musik – Handball – Tennis – Reiten – Hund – Tauchen

Berufswahl

Unterzuckerungen und Tauchen

Weitere wichtige Informationen zum Tauchen mit Diabetes

10. Kapitel: Reisen

Zusatzgepäck – Diabetesequipment

Urlaub vom Diabetes?

Diabetes und Urlaub, Umgang mit Zeitverschiebung

11. Kapitel: Ein Erfahrungsbericht

Tauchen auf Bonaire – Bewältigung von Ängsten

12. Kapitel: Mein Gewicht – meine Ernährung

Was tue ich da?

Insulintherapie und Gewichtszunahme

Gewicht abnehmen (bei Diabetes und Insulin)

Wie kann ich aber trotz Insulintherapie Gewicht abnehmen?

Adipositas – eine Krankheit

13. Kapitel: Weitere Erkrankungen

Schau mir in die Augen!

Auch das noch! Schulter, Hände, Knie, Rücken

Diabetes und Folgeerkrankungen

Folgekomplikationen: Retinopathie

Diabetes und andere Erkrankungen

14. Kapitel: Mit Diabetes zur OP im Krankenhaus

Ein Erfahrungsbericht

Insulinwirkung nach Unterbrechung der Pumpentherapie

Zertifikat: Klinik für Menschen mit Diabetes geeignet

15. Kapitel: Schwerbehinderung

Bin ich schwerbehindert?

Schwerbehinderung?

Antrag auf Schwerbehinderung. Wann?

16. Kapitel: Das Letzte kommt zum Schluss

Resümee

Rückblick – Zukunft

Diabetes-Technologie

Stirbt man früher am Diabetes? Über den Umgang mit Statistiken

Zukunft aus Sicht des Diabetologen

Anhang

Die Autorin

Der Arzt

Die Cartoonistin

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

als ich 1982 mit dreizehn Jahren die Diagnose Diabetes bekam, dachte ich, es handele sich um eine Krankheit, die eigentlich nur ältere Menschen betrifft. Heute gehöre ich so langsam selbst zu den älteren Menschen und lebe immer noch mit meinem Diabetes.

In den vergangenen vierzig Jahren bin ich mit ihm durch viele Höhen und Tiefen gegangen und möchte Sie mit diesem Buch dazu einladen, mich auf eine Reise durch mein Leben mit meinem honigsüßen Typen No. 1 zu begleiten.

Der Titel dieses Buchs „Honigsüßer Typ No. 1“ leitet sich zum einen von meinem Typ-1-Diabetes und zum anderen von der zugehörigen medizinischen Fachbezeichnung „Diabetes mellitus“ ab, was so viel wie „honigsüßer Ausfluss“ bedeutet. Aber Vorsicht, lassen Sie sich nicht von diesem klangvollen Namen täuschen. Mein Typ No. 1 ist vielleicht süß, aber das heißt nicht, dass das Leben mit ihm ein Zuckerschlecken ist.

Eins ist auf jeden Fall klar, diesen Typ No. 1 wird man nicht wieder los.

Meine Hoffnung, einmal eine neue Bauchspeicheldrüse zu bekommen und mich damit von ihm verabschieden zu können, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Zwar gab es in der Diabetesforschung und -therapie in regelmäßigen Abständen neue Errungenschaften, diese brachten allerdings für das Leben mit Diabetes ganz eigene Herausforderungen mit sich. Manchmal war die Umstellung – beispielsweise auf eine neue Technologie – unproblematisch, manchmal aber auch schier zum Verzweifeln. Dennoch hat sich gerade in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven verändert. Insbesondere die Einführung der Closed-Loop-Systeme kommt meinem Wunsch nach einer neuen Bauchspeicheldrüse schon recht nah.

Eins ist auf jeden Fall klar, diesen Typ No. 1 wird man nicht wieder los!

Ich möchte mit meiner Geschichte zeigen, dass man mit diesem ständigen Begleiter trotzdem ziemlich gut leben kann. Ich möchte den Menschen Mut und Hoffnung geben, die selbst die Diagnose Diabetes mellitus erhalten oder Angehörige haben, die sich mit dieser Krankheit arrangieren müssen. Vielleicht wird sich der ein oder andere Leser in meinen Erlebnissen und Gefühlen wiedererkennen. Denn der Diabetes ist, wie manch andere chronische Erkrankung, oft ein unsympathischer Begleiter, der sich einem immer wieder in den Weg stellt und versucht, Vorhaben zu durchkreuzen. Ihnen möchte ich meinen Umgang mit dem Diabetes in verschiedenen Situationen schildern und zeigen, dass man mit ihm leben kann. Und das kann man tatsächlich, sogar sehr gut und glücklich!

Wichtig auf meinem Weg waren und sind meine Familie, meine Freunde und auch mein Diabetes-Team aus Ärzten und Beratern. Denn ein solches Umfeld braucht jeder Mensch mit Diabetes, um Schritt für Schritt weiterzukommen und sich täglich mit dieser Erkrankung auseinanderzusetzen.

Ich habe viele Jahre mit meinem Diabetes im Verborgenen gelebt. Ich wollte keine Sonderrolle spielen, wollte nicht bemitleidet werden oder mich ständig erklären müssen. Mein Diabetes war mein Diabetes und ich kam mit ihm allein zurecht. Natürlich wusste mein engstes Umfeld, was wichtig für mich war und was es zu beachten galt. Natürlich war ich regelmäßig beim Diabetologen. Aber über mehr sprach ich einfach nicht. Vor einigen Jahren merkte ich allerdings, dass ich so nicht weitermachen wollte. So fasste ich den Entschluss, aus meiner Höhle herauszukommen und offen zu meiner Erkrankung zu stehen. Ich fühlte mich dadurch nach kurzer Zeit freier, erhielt von meinem Umfeld viel positives Feedback und so manche ehrlich interessierte Nachfrage. Das tat und tut gut!

Schnell wurde ich Mitglied der Deutschen Diabetes-Hilfe, einer Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung aller Diabetiker in Deutschland, und nahm Kontakt zu Kinderärzten auf, um bei Problemen in Schule oder Kindergarten als Vermittlerin und Patin zu helfen. Schon als Jugendliche hatte ich gerne Tagebuch geschrieben und gerade zu Beginn meiner Erkrankung viele Seiten gefüllt. So war es nur konsequent, mein Leben mit diesem honigsüßen Typen ausführlicher festzuhalten, um meine Erfahrungen mit anderen zu teilen.

Dieses Buch soll kein weiterer wissenschaftlicher Diabetesratgeber sein. Es ist zunächst einmal eine ehrliche und offene Biografie, die mich und mein Leben mit dem Diabetes beschreibt. Mein Ehemann, Arzt und Diabetologe Dr. Hansjörg Mühlen wird einzelne Stationen und Situationen aus meinem Leben als Jugendliche, Studentin, Partnerin, Mutter, Lehrerin und Freundin aus medizinischer Sicht kommentieren und erläutern.

Als mir meine Frau Andrea zum ersten Mal von der Idee erzählte, ein Buch zu schreiben, war mein erster Gedanke: „50-jährige blonde Lehrerin (zum Glück ohne Doppelnamen) auf Selbsterfahrungstrip!” Jeder, der im medizinischen Bereich arbeitet, weiß, wovon ich rede. Mehr Klischee geht nicht. Aber ihre Intention war anders und das Ergebnis ist es auch. In ihrer vierzigjährigen Diabeteskarriere hat sie wohl kein Problem mit ihrem Typ No. 1 ausgelassen. Und auch ich hatte so manches Problem mit ihm, denn oft stand ich als Ehemann in der zweiten Reihe. Ich hatte schon vor unserer Ehe im diabetologischen Bereich gearbeitet und wusste, worauf ich mich einlasse, zumindest teilweise. Aber diese „Dreiecksbeziehung“ war auch ein Glücksfall für meine Patienten, da ich nun ganz anders in die Probleme von Menschen mit Diabetes involviert war und vieles besser nachvollziehen konnte als zuvor. Das Leben mit Diabetes geht weit über Wissenschaft und klinische Studien hinaus, die die Alltagsprobleme einfach nicht erfassen können.

50-jährige blonde Lehrerin (zum Glück ohne Doppelnamen) auf Selbsterfahrungstrip! Mehr Klischee geht nicht.

So entwickelten wir das Konzept dieses Buchs: Die Darstellung eines Lebens mit Diabetes, gespickt mit ein paar Kommentaren und Erklärungen eines Diabetologen. Wir haben bewusst so weit wie möglich auf eine wissenschaftliche Darstellung verzichtet, manches ist sogar eher unwissenschaftlich. Daher gibt es auch fast keine Quellenangaben. Meine wissenschaftlich orientierten Kolleginnen und Kollegen mögen es mir verzeihen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Klinische Studien sind wichtig, um medizinische Fragestellungen zu untersuchen, die wir mit unserer ärztlichen Erfahrung nicht beantworten können. Mein Job ist es, aus den Ergebnissen von Studien und meiner ärztlichen Erfahrung (manche nennen das auch „interne Evidenz“ oder „Bauchgefühl“) für den jeweiligen Patienten die jeweils beste Therapie ausfindig zu machen.

Hauptsache Sie als Leser und Betroffener verstehen, worum es geht. Die Kommentare und Erklärungen sind so, wie ich sie auch in der täglichen Sprechstunde bei meinen Patienten verwende – „frei Schnauze“, wie es im Ruhrgebiet eben üblich ist. Manchmal einfühlsam und vorsichtig, manchmal auch sehr direkt, eben die Essenz aus der dreißigjährigen Erfahrung eines Arztes.

Von ganzen Herzen möchte ich mich bei meinem lieben Mann bedanken, nicht nur für deine Kommentare und Erläuterungen, die das Buch mehr als bereichert haben und mir geholfen haben aus dem Schreibprojekt das zu machen, was es geworden ist. Ein Gemeinschaftswerk! Du betreust mich seit dreißig Jahren als Arzt, aber viel wichtiger bist du mir als treuer, verständnisvoller Partner und kritischer Berater in allen Lebenslagen.

Meine Söhne Lars und Jan haben mir ebenfalls immer Rückendeckung gegeben, mir meine „Eskapaden“ nie übel genommen und die ein oder andere Geschichte zu diesem Buch beigetragen. Ich könnte mir keine besseren Söhne vorstellen und danke euch für all eure Liebe und euer Verständnis. Ohne euch drei wäre ich in meinem ganzen Leben nicht da, wo ich jetzt bin.

Neben meinem Mann und meinen Söhnen haben viele weitere Menschen zum Gelingen dieses Buchs beigetragen, denen ich im Folgenden danken möchte:

Danke an Sonja Kling, meine genial kreative Schwägerin. Du hast mit deinen unvergleichlichen Cartoons meine Geschichte aufgelockert und so manches Problem auf eine andere, nicht so ernste Ebene gehoben.

Danke auch an Daniel Haecker, den Lebenspartner meines Patenkinds Julia, für deine großartigen Fotos, und danke euch beiden für das Gefühl, das alles möglich ist.

Danke an Karina Görgemanns – du bist den Weg von Anfang an mit mir gegangen und warst mir als Erstleserin eine große Unterstützung.

Danke auch an Dr. Matthias Kaltheuner und seine Frau Dr. Ulla Schultens-Kaltheuner für die konstruktive Kritik. Ihr wisst genau, worum es hier geht, und habt mir mit eurer Unterstützung den entscheidenden Anstoß gegeben, das Buch zu veröffentlichen.

Danke aber auch an all meine Wegbegleiter für eure Erinnerungen und Berichte von Erlebnissen mit mir und meinem Typen No. 1, namentlich meine Schwester Uschi, meinen Neffen Florian, meinen Chef Rene, meine Freundinnen und Freunde Andreas, Beate, Kai, Karin, Karina, Marina und Nicole sowie Klaus für einige schon vergessene Erlebnisse, die du mit Fotos festgehalten hast.

Vielen Dank an das gesamte Team des Kirchheim Verlags, das mich von Anfang an in meiner Arbeit unterstützt und ermutigt hat. Danke für die großartige Arbeit im Lektorat, bei der Covergestaltung, dem Layout, der Herstellung, dem Vertrieb und der Öffentlichkeitsarbeit.

Was die sprachliche Umsetzung der Geschlechtergleichheit angeht, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir uns für eine leichtere Lesbarkeit dazu entschieden haben, vorwiegend die männliche Form zu nutzen. Selbstverständlich meinen wir damit aber alle Geschlechter.

Wenn Ihnen als Leser das Buch Spaß macht und Sie ab und zu denken: „Genau wie bei mir …“, „Jetzt habe ich das verstanden!“, „Guter Tipp, das muss ich mal ausprobieren.“ oder „Wenn die das schafft, schaffe ich es auch!“, dann haben wir unser Ziel erreicht. Vielleicht hat der ein oder andere von Ihnen ähnliche Situationen auch ganz anders erlebt oder andere Lösungen gefunden. Dieses Buch erzählt natürlich unsere ganz persönliche Geschichte. Wenn wir aber zumindest einigen von Ihnen einen Tipp oder einen Gedanken mit auf den Weg geben konnten, freut es uns. Nachrichten oder Feedback nehmen wir gerne entgegen unter: [email protected].

Moers, Mai 2022

Andrea & Dr. Hajo Mühlen

Kap. 1 Wie alles begann

Ende der Kindheit – Beginn der Verantwortung

Aufklärung – Entwicklung – Diagnose – Symptome

Ursache Typ-1-Diabetes

„Nein, nicht noch einen Hamburger!“, sagte meine Mutter zu mir, als wir dabei waren, das Fast-Food-Restaurant zu verlassen, ich aber durchaus noch Appetit auf einen zweiten Burger hatte. Solch eine Bitte wurde mir selten ausgeschlagen – und nun mit einem solch seltsamen Unterton? Ich war dreizehn Jahre jung und voll in der Pubertät. Natürlich wollte ich mich mit diesem „Nein“ nicht abfinden und begann zu nörgeln: „Hey, das ist doch voll gemein! Was soll das jetzt?“ Aber anstatt wie sonst die Augenbrauen hochzuziehen und mich genervt anzusehen, lag dieses Mal ein eher sorgenvoller Blick in den Augen meiner Mutter. Das irritierte mich und ich hörte mit meinem Gezeter auf, sah sie an und fragte ganz ruhig: „Was ist los?“

Meine Mutter und mein Vater sahen mich mit besorgter Miene an. Dabei wollte ich doch nur einen Hamburger!

Wir befanden uns im Osterurlaub 1982 in Trier. Den ganzen Morgen hatten wir uns schon alte Steine und Kirchen in der Stadt angesehen und nun eine Mittagspause eingelegt. Wir standen vor einer Filiale der schon damals sehr angesagten Kette McDonald’s. Meine Mutter und mein Vater sahen mich mit besorgter Miene an und sagten erst einmal gar nichts. „Hallo? Ich wollte doch nur noch einen Hamburger!“, dachte ich. „Was soll das hier?“ Schließlich führten mich meine Eltern zu einer Bank, wo es ruhiger war. Wir setzten uns und meine Mutter begann mit ruhiger Stimme zu erklären.

„Wir waren doch vor dem Urlaub bei Dr. Bey.“ Ja, klar waren wir bei unserem Hausarzt gewesen. Ich hatte in letzter Zeit häufig Wadenkrämpfe in der Nacht. So schlimm, dass ich aus dem Bett springen musste und es eine Zeit lang dauerte, bis ich wieder richtig auftreten konnte. Deshalb wurde mir beim Arzt Blut abgenommen. Er meinte, es könnte ein Eisen- oder Magnesiummangel sein. Also nichts weiter Schlimmes.

„Was hat das jetzt mit meinem Hamburger zu tun?“, unterbrach ich meine Mutter. Sie atmete tief aus und erklärte weiter: „Dr. Bey hat mich am letzten Tag vor dem Urlaub angerufen und gebeten, nach den Urlaubstagen noch einmal mit dir in seine Praxis zu kommen. Er würde gerne eine Kontrolluntersuchung machen, da ein paar deiner Blutwerte nicht so gut waren. Er hat mich gebeten, vor allem beim Essen etwas darauf zu achten, dass du nicht zu viel isst.“

Na großartig. Was sollte ich denn davon halten? „Wieso? Was heißt denn ‚nicht so gut‘, und was hat das mit meinem Essen zu tun?“, fragte ich. Ich verstand das nicht. Meine Mutter erklärte mir daher weiter mit Tränen in den Augen: „Du hast wohl keinen Eisenmangel, aber einen zu hohen Blutzucker.“

Mir war, als bekäme ich keine Luft mehr. Da mein Onkel zuckerkrank war, hatte ich schon einmal von dieser Erkrankung gehört. Ich wollte im Erdboden versinken, weglaufen … Mir schwirrten wirre Gedanken durch den Kopf: „Keine Süßigkeiten mehr, keine Cola oder Limo, kein Eis mit Freunden, nie wieder …“

Meine Mutter bemerkte meine Panik und versuchte, mich zu beruhigen: „Es ist ja noch nicht sicher. Deshalb sollen wir ja auch noch einmal zur Blutentnahme in die Praxis kommen.“ Aber diese Worte konnten mich nicht beruhigen. Ich spürte, dass dieser Zustand von Dauer sein würde, und mir wurde ganz schnell klar, dass ich mit dieser Krankheit würde leben müssen. Woher diese innere Erkenntnis so schnell kam, weiß ich auch nicht, wobei es damit natürlich noch nicht getan war. So fragte ich mich oft: „Warum gerade ich? War das nun mein Schicksal?“ Zu dieser Zeit glaubte ich nämlich sehr stark an Gott und war der Auffassung, dass er mir dieses Schicksal auferlegt hatte und es nun meine Aufgabe war, es zu meistern. Ich und kein anderer in der Familie. Da es in Trier genug Kirchen gab, gingen wir gleich in eine hinein, und ich sehe mich noch kniend in der Bank beten, dass ich wenigstens nicht würde spritzen müssen. Ich hatte vor etwas Angst, dass ich nicht kannte. Es war ein gruseliger Augenblick in dieser Kirche.

Irgendwie haben wir die Urlaubstage dann überstanden, aber es schwebte die ganze Zeit etwas über uns, das wir nicht fassen konnten. Übrigens habe ich kein einziges Foto aus diesem Urlaub und war bis heute nicht mehr in Trier. Seltsam!

Zurück aus dem Urlaub ging ich wieder zum Arzt und ließ mir Blut abnehmen – es funktionierte erst beim vierten Versuch.

Zurück aus dem Urlaub ging ich morgens nüchtern mit meiner Mutter wie gewünscht wieder zum Arzt und ließ mir Blut abnehmen. Es funktionierte beim vierten (!) Versuch an der Hand. Wie ich dieses Prozedere hasste! Und es sollten noch viele Kanülen und Spritzen folgen. Der Arzt erklärte uns, dass der Zuckerwert im Blut bei der ersten Blutentnahme erhöht gewesen sei und er dies nun noch einmal kontrollieren wolle. Das Ergebnis habe er in drei Tagen und dann würden wir weitersehen.

Zu hoher Zucker im Blut? Was bedeutete das? Ich kannte außer meinem Onkel niemanden, der so etwas hatte, und wusste nur, dass ich dann ganz viele Dinge nicht mehr würde essen und trinken dürfen.

Ursache Typ-1-Diabetes

Ein Typ-1-Diabetes (oft auch jugendlicher Diabetes genannt) kann in jedem Alter auftreten, manifestiert sich aber bevorzugt in jüngeren Lebensjahren. Ursächlich ist eine Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen (Langerhans-Inseln oder Inselzellen) in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) durch Antikörper, die gegen körpereigenes Gewebe gerichtet sind (sogenannte Autoantikörper). Als Folge des daraus resultierenden Insulinmangels kommt es zu einem Anstieg des Blutzuckers mit erheblicher Veränderung des Stoffwechsels, der unbehandelt zum Koma und zum Tod führt. Die einzige Therapie ist, das fehlende Insulin zu ersetzen, und zwar sofort, wenn die Diagnose bekannt wird. Daher müssen Menschen mit Typ-1-Diabetes mit Insulin behandelt werden.

Genau drei Tage später klingelte bei uns das Telefon und Dr. Bey war am Apparat. Ich sah, wie das Gesicht meiner Mutter bei diesem Gespräch immer trauriger und verzweifelter wurde. Als sie aufgelegt hatte, nahm sie mich in den Arm und meinte: „Deine Zuckerwerte waren wieder stark erhöht. Dr. Bey glaubt, dass du zuckerkrank bist. Er meint, wir sollten uns an einen Spezialisten …“ Den Rest ihrer Worte bekam ich nicht mehr mit. Ich entriss mich ihrer Umarmung, warf mich auf den Boden, trommelte mit meinen Händen auf den Teppich und schrie nur: „Nein, ich will nicht zuckerkrank sein! Nein, ich will das nicht! Warum ich? Nie mehr mit meinen Freunden Eis essen gehen? Nein, nein, nein!“ Ich war verzweifelt und meine Eltern mit mir. Mit so etwas hatte keiner von uns gerechnet, und keinem von uns war bewusst, was eine solche Diagnose für mich, mein Leben und meine Familie bedeuteten würde.

Etwa eine Stunde später – mein Vater war gerade aus dem Büro vorzeitig nach Hause gekommen – klingelte das Telefon erneut. Es war wieder mein Hausarzt. Er hatte sich erkundigt, wo ich weiter behandelt werden könnte, da er sich als einfacher Hausarzt dies bei einer dreizehnjährigen Patientin nicht zutraute.

Eine weise Erkenntnis in dieser Zeit, in der es noch keine diabetologischen Schwerpunktpraxen gab und jeder Hausarzt allein herumdokterte. Er empfahl uns eine Klinik in Hösel bei Düsseldorf und schon kurze Zeit später hatten wir einen Termin für den nächsten Tag.

Die Nacht war unruhig. Ich schlief nur wenig. Ich hatte Angst vor dem, was kommen würde. Zum Glück waren noch Ferien, sodass ich mir über die Schule keine Gedanken machen musste. Außerdem hatte ich sowieso keine Vorstellung davon, wie mein Leben weiterlaufen würde. Kann ich eigentlich einfach jeden Tag weiter zur Schule gehen? Wie wird sich mein Leben verändern?

Am nächsten Tag packte meine Mutter eine Tasche mit dem Nötigsten. Denn eins war wohl klar: Ich musste erst einmal in eine Klinik. Schweigend fuhren wir nach Hösel. Die Angst überrollte mich mehrmals in Wellen. Ich merkte, dass es meinen Eltern nicht anders erging. Sie litten Höllenqualen. Acht Jahre hatten sie warten müssen, bis ich als ihre zweite Tochter auf die Welt gekommen war. Mit vierzig Jahren war meine Mutter endlich noch einmal schwanger geworden. Ihre größte Sorge war, mich groß zu bekommen – und jetzt diese Erkrankung!

Wir kamen schließlich in Hösel an und betraten mit mulmigem Gefühl ein großes altes Gebäude. Einladend wirkte es überhaupt nicht. „Warte mal ab“, meinte mein Vater voller Optimismus. Nachdem mich meine Eltern angemeldet hatten, warteten wir in einem kühlen, ungemütlichen Raum. Wir sprachen kaum. Schließlich kam eine ältere Dame, nannte meinen Namen und meinte ohne irgendeine Freundlichkeit: „Dann komm du mal mit.“ Das tat ich dann zögerlich, was blieb mir auch anderes übrig. Ich folgte ihr in eine Art Labor. Ohne Erklärung nahm sie meinen Finger, stach mit einer komischen Nadel hinein, drückte einen Blutstropfen heraus und sagte, immer noch völlig emotionslos: „Das war das erste Mal. Und nun trink das hier.“ Dabei hielt sie mir einen Becher mit einer sirupähnlichen Flüssigkeit hin. Irgendwie schaffte ich es, dieses eklig-süße Zeug zu trinken, und gab ihr den Becher zurück. Ich war dreizehn Jahre alt und völlig eingeschüchtert von dieser Person, die sich Krankenschwester Irmgard nannte. Jedenfalls stand das auf ihrem Schild. Vorgestellt hatte sie sich nicht, aber ihren Namen habe ich nie vergessen. Sie nahm den Becher an und befahl: „Geh jetzt zurück ins Wartezimmer. In einer Stunde hole ich dich wieder.“ Es klang wie eine Drohung.

Ich ging zurück zu meinen Eltern und sagte ihnen, was los war. Mein Vater schlug vor: „Lasst uns draußen an der frischen Luft warten, bis die Stunde um ist.“ Eine gute Idee. Auch ihm schien die Stimmung in diesem Gebäude auf den Magen zu schlagen.

Nach einer Stunde kam eine Ärztin zu uns und meinte, dass der erste Wert gar nicht so schlecht gewesen sei und ich vielleicht erst in einem halben Jahr wiederkommen müsse. Wir bekamen etwas Hoffnung.

Nun wurde mir noch zweimal im Abstand von einer Stunde in den Finger gepikt und ein Blutstropfen abgenommen. Schließlich wurden wir von der Ärztin wieder in ihr Büro gebeten: „Ihre Tochter muss hierbleiben. Am besten gleich für vier Wochen. Sie ist definitiv zuckerkrank, die Werte sind viel zu hoch und das müssen wir hier erst einmal behandeln. Die Schwester zeigt Ihnen gleich das Zimmer.“ Mit diesen Worten stand sie auf, verabschiedete sich kurz und es war klar, dass wir nun zu gehen hatten.

Der Schock saß tief. Wie gelähmt standen wir auf und folgten schließlich einer Schwester in ein oberes Stockwerk. Wir sprachen kein Wort. Die Zimmer waren, wie befürchtet, äußerst ungemütlich. Es war kaum zu glauben. Hier schien die Zeit vierzig Jahre stillgestanden zu haben. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer.

Zum Glück sprach mein Vater dann die erlösenden Worte: „Wir werden jetzt erst noch einmal nach Hause fahren, Andreas Sachen packen und dann am Montag wiederkommen.“ „Moment – der Koffer liegt doch schon im Auto!“, dachte ich, sagte aber kein Wort und mein Vater sah mich dankbar an. Mit ausdrucksloser Miene entgegnete die Schwester nur: „Wenn Sie das für richtig halten … dann bis Montag um acht Uhr.“

Wir verließen die Klinik, stiegen ins Auto und mein Vater fuhr so schnell wie möglich vom Parkplatz auf die nächste Autobahn Richtung Heimat. Meine Eltern sprachen immer noch kein Wort und ich starrte einfach nur aus dem Fenster. An der ersten Raststelle, die auf dem Weg lag, fuhr mein Vater raus und stellte den Wagen ab. Im Rückspiegel sah ich sein Gesicht. Er konnte seine Tränen nicht mehr unterdrücken. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als wir drei heulend im Auto saßen und nicht wussten, was wir tun sollten. Meine Eltern so hilflos und traurig zu sehen tat mir unendlich leid. Ich glaube, sie gaben sich die Schuld für meine Erkrankung. Ich habe allerdings nie gehört, dass sie sich gegenseitig Vorwürfe wegen falscher Ernährung gemacht hätten. Vielleicht hatten sie sich auch schon darüber informiert, dass mein Diabetes eine genetische Ursache haben könnte. Auf jeden Fall litten sie mehr als ich zu diesem Zeitpunkt.

Aufklärung

Bei nahezu allen Aufklärungsgesprächen wird die Frage nach der Ursache gestellt. Oft kommen auch Kommentare wie „Ich habe dir immer gesagt, dass du nicht so viele Süßigkeiten essen sollst“ oder „Hätten wir vor zwei Wochen das große Eis lieber weggelassen!“. Wie bei allen Autoimmunerkrankungen liegt die Ursache in einer Störung des Immunsystems, deren Auslöser wir nicht kennen. Keiner hat Schuld am Auftreten des Diabetes, weder der Mensch, der Diabetes bekommt noch die Eltern noch die Umwelt. Das Auftreten des Diabetes muss man als schicksalhafte Änderung seines Lebens akzeptieren. Viel wichtiger als Ursachenforschung und Schuldzuweisungen ist es, den Diabetes zu akzeptieren, seine Lebensgewohnheiten anzupassen und sich kompetente Hilfe zu holen.

Nachdem wir uns etwas beruhigt hatten, rief mein Vater von einer Telefonzelle aus meine Schwester an. Die Eltern ihres Freundes waren Mediziner und über diesen Kontakt erfuhr mein Vater am Telefon von einem Diabetes-Forschungsinstitut in Düsseldorf. Vielleicht sei dies eine Alternative. „Begeben Sie sich direkt dorthin, gehen sie nicht über Los, ziehen sie …“, so jedenfalls kam es mir vor. Allerdings im Positiven, denn das „Gefängnis“ hatten wir ja schon kennengelernt. Wir fuhren vom Rastplatz aus auf direktem Weg nach Düsseldorf. Dieses Gebäude war modern, freundlich und einladend gestaltet. Was für ein Gegensatz! Mein Vater meldete uns an und wir warteten erneut. Doch diesmal kam eine freundliche Ärztin, Frau Dr. Töller, auf uns zu, begrüßte zuerst mich und dann meine Eltern mit einer sehr offenen und positiven Ausstrahlung. Wir folgten ihr in ihr Sprechzimmer. Meine Eltern erzählten ihr von mir und was bisher geschehen war. Die Ärztin hörte sich meine Geschichte an und sagte dann mit einem Lächeln zu mir: „Das kriegen wir schon hin.“ Ich nickte nur sprachlos. Sie erklärte uns in aller Ruhe meine Erkrankung, die wohl durch eine Mittelohrentzündung ausgelöst worden war, und gab mir Hoffnung, erst einmal gar kein Insulin spritzen zu müssen. Ich sollte am kommenden Montag erst einmal zu einem Tagesprofil vorbeikommen. Dieses fiel mit Werten von 109 mg/dl (6,1 mmol/l), 168 mg/dl (9,3 mmol/l), 94 mg/dl (5,2 mmol/l) und 118 mg/dl (6,6 mmol/l) recht gut aus. Frau Dr. Töller klärte uns weiter über den Diabetes mellitus auf und erklärte auch, warum ich jetzt erst einmal nicht würde spritzen müssen.

Die Ärztin hörte sich meine Geschichte an und sagte dann mit einem Lächeln zu mir: „Das kriegen wir schon hin.“

Wir hatten außerdem noch einen Termin bei einer Ernährungsberaterin, die genauso freundlich war wie die Ärztin. Sie erarbeitete mit mir und meiner Mutter einen Diätplan, an den ich mich halten sollte. Mein Essen musste ich nun in BE (Broteinheiten) berechnen. Eine Broteinheit entspricht 12 g Kohlenhydraten und ich durfte 14 BE am Tag essen, möglichst immer zur gleichen Uhrzeit.

Puh, das war jetzt nicht so einfach und nicht gerade toll, aber alles war besser als das, was wir vorher erlebt hatten.

Mein ganz persönlicher Diätplan aus dem Jahre 1982.

Meine Schwester Uschi: „Von da an verlor der große Schrecken für die ganze Familie etwas von seiner Heftigkeit. Wir waren sicher, den richtigen Einstieg gefunden zu haben, und merkten, dass wir einfach würden lernen müssen, mit dieser Krankheit zu leben, und das auch schaffen würden.“

Mit einem ausführlichen Diätplan wurde ich 1982 nach Hause geschickt, ohne Aufenthalt in der Klinik.

Manchmal braucht man eben Glück im Unglück und den Mut, eine Entscheidung zu treffen, wie mein Vater in Hösel. Die Devise hieß von da an: möglichst wenig Zucker und eine gesteuerte Zufuhr von Kohlenhydraten. Ich sollte so viel Sport wie möglich machen, was mir nicht schwerfiel, denn ich war sowohl im Tennis- als auch im Handballverein. Sport senkt den Blutzucker und ist daher wichtig. Besonders wichtig war aber das Testen des Zuckers. Da es noch keine Blutzuckerselbstkontrolle gab, erhielt ich Teststreifen für den Urin. Bei erhöhten Blutzuckern über ca. 180mg/dl (10,0 mmol/l) wird nämlich Zucker über den Urin ausgeschieden. Die Teststreifen zeigten an, wie viel Zucker sich im Urin befand. Tatsächlich wird der Urin bei Menschen mit Diabetes süßlich. Die Übersetzung von Diabetes mellitus lautet „honigsüßer Ausfluss“.

Die Devise hieß: möglichst wenig Zucker, eine gesteuerte Zufuhr von Kohlenhydraten und möglichst viel Sport.

In den nächsten Monaten fuhren meine Mutter und ich regelmäßig zu Schulungen und Kontrollen nach Düsseldorf. Die Umsetzung dieses neuen Lebens war nicht immer einfach, aber irgendwie funktionierte es. Lange Zeit waren meine Blutzuckerwerte sehr zufriedenstellend und wir hatten die Hoffnung, dass sich meine Bauchspeicheldrüse wieder erholt haben könnte und es nur ein vorübergehender Diabetes war.

In den Sommerferien reisten wir nach Rom. Wir ließen nichts unversucht. Aber es half nicht – die Hoffnung währte nur ein halbes Jahr. Denn der nächste Belastungstest zeigte wieder stark erhöhte Werte. Ich musste also weiterhin meine Diät einhalten, meinen Urin testen und zu Untersuchungen in die Klinik fahren.

Im April 1983 gab meine Bauchspeicheldrüse dann leider komplett auf. Sie produzierte kein Insulin mehr. Nun reichte die Diät nicht mehr aus und ich musste Insulin spritzen. Um das zu lernen, packte ich nun doch meinen Koffer und zog für eine Woche auf die Station B des Diabetes-Forschungsinstituts in Düsseldorf.

Meine Mutter und ich vor dem Petersdom in Rom 1982.

Entwicklung, Diagnose und Symptome eines Typ-1-Diabetes

Unser Körper hat für alle Funktionen große Reserven, so auch für die Insulinproduktion. Beim Typ-1-Diabetes erfolgt die Zerstörung der Inselzellen langsam über Wochen und Monate hinweg, sodass sich der Insulinmangel auch nur langsam entwickelt. Wir können auf einen erheblichen Anteil an Langerhans-Inseln verzichten, ohne dass sich die Blutzuckerwerte erhöhen, da die Restzellen ihre Produktion steigern können. Aufgrund der zunehmenden Überlastung der verbleibenden Zellen erschöpfen sich diese, wodurch es letztlich zu einem absoluten Insulinmangel und einer Entgleisung des Stoffwechsels (Hier „Stoffwechselentgleisung“) kommt. Neben dieser langsamen Entwicklung des Diabetes kann es durch besondere Ereignisse, z. B. durch Festessen, emotionale Belastung oder einen Infekt (bei Andrea war es eine Mittelohrentzündung), zu einem akut hohen Insulinbedarf kommen, den der Körper nicht mehr decken kann, weswegen der Stoffwechsel auch entgleist.

In früheren Zeiten wurden Menschen mit einer Erstmanifestation des Typ-1-Diabetes häufiger mit einem ketoazidotischen Koma (Hier „Insulinwirkung“) ins Krankenhaus eingeliefert. Aufgrund der allgemein besseren Kenntnis der Diabetessymptome und der einfacheren Blutzuckermessung wird heutzutage ein Diabetes viel früher entdeckt.

Früher wurden Menschen mit einer Erstmanifestation des Typ-1-Diabetes häufiger mit ketoazidotischem Koma ins Krankenhaus eingeliefert. Heutzutage wird ein Diabetes viel früher entdeckt.

Die Symptome eines beginnenden Diabetes lassen sich gut durch die physiologischen Vorgänge im Körper erklären. Bei hohem Blutzucker wird der Zucker über die Niere ausgeschieden, der allerdings Wasser an sich bindet. Daher kommt es zu häufigem Wasserlassen und durch den Wasserverlust zu Durst. Trinkmengen von fünf bis zehn Litern am Tag kommen durchaus vor. Die Umstellung des Stoffwechsels auf die Fettverbrennung hat einen Verlust an Gewicht von teilweise zehn bis fünfzehn Kilogramm zur Folge, was bei vielen häufig am Anfang willkommen ist. Die hohen Zuckerwerte und die Ketonkörper vermindern die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Die Menschen sind müde, schlapp und unmotiviert.

Warum wurde Andrea nicht sofort mit Insulin behandelt?

Andrea hatte Glück im Unglück. Ihr Diabetes wurde zu einem Zeitpunkt entdeckt, als noch so viel Insulin produziert wurde, dass der Körper den Insulinbedarf mit einer reduzierten Zufuhr von Kohlenhydraten decken konnte. In den 1980er-Jahren bestand die einzige Möglichkeit zur Selbstkontrolle in der Messung des Urinzuckers, sodass eine Selbstanpassung des Insulins zur Mahlzeit kaum möglich war. Die Behandlung bestand daher in einer streng reglementierten Diät mit wenig Kohlenhydraten zu festen Zeiten. Erst wenn der Urin damit nicht mehr zuckerfrei zu bekommen war, wurde Insulin eingesetzt, und dann eher nur ein Basalinsulin. Das Leben hatte sich der Therapie anzupassen.

Heute wissen wir, dass eine sofortige Insulintherapie sinnvoller ist, da die Abstoßung und die Erschöpfung der verbleibenden Insulinzellen verlangsamt wird. Die eigene Restsekretion bleibt länger erhalten, was die Insulintherapie lange vereinfacht.

Das heute gängige Therapiekonzept besteht aus einer an den Blutzucker, die Ernährung, die Bewegung und die Bedürfnisse angepassten Insulintherapie, die der Patient nach entsprechender Schulung selbstständig vornimmt (= intensivierte Insulintherapie oder Basis-Bolus-Konzept). Hierbei werden unterschiedlich wirkende Insuline oder auch programmierbare Insulinpumpen eingesetzt.

Kap. 2 Das erste Mal

Ich will nicht spritzen!

Verhältnis Kind – Eltern

Insulinwirkung und Stoffwechselentgleisung

Unterzuckerungen (Hypoglykämie kurz: Hypo)

Schulungen

Am 2. Mai 1983, fast genau ein Jahr, nachdem ich das erste Mal im Diabetesinstitut gewesen war, kam ich morgens mit meinen Eltern in Düsseldorf an. Mein Stationsarzt war sehr nett und sympathisch, was für mich und meine Eltern wichtig war, denn ich musste ja eine Woche allein dort verbringen. Mir wurde in einem Vierbettzimmer mit älteren Frauen ein Bett zugeteilt. Zusammen mit meiner Mutter packte ich die Tasche aus und legte meine Sachen in einen Schrank. In der Cafeteria gingen wir noch etwas trinken und dann musste ich mich von meinen Eltern verabschieden. Es fiel ihnen schwer, mich dort allein zu lassen, und auch ich hatte ein paar Tränen in den Augen, wussten wir doch, was in den nächsten Tagen passieren würde. Ich sollte lernen, Insulin zu spritzen.

Nachdem meine Eltern weg waren, ging ich zunächst auf mein Zimmer. Ich legte mich aufs Bett und wartete weitere Anweisungen ab. So erfuhr ich von einer netten Krankenschwester, dass ich nicht die ganze Zeit im oder auf dem Bett liegen sollte, sondern dass ich herumspazieren durfte. Allerdings musste ich zu bestimmten Zeiten entweder mit allen anderen Patienten in den Keller, damit dort im Labor der Blutzucker jedes Patienten getestet wurde oder wir gingen alle gemeinsam in einen Speisesaal, wo es auf Tabletts das jeweils abgesprochene Essen gab. Ich folgte einfach den anderen, und so fand ich mich recht schnell zurecht.

Dieser erste Tag sollte aber ein besonderer für mich sein, denn ich bekam meine erste Insulininjektion.

Insulinwirkung

In der Regel wird die Energie in unseren Körperzellen durch Verbrennung von Kohlenhydraten (Zucker, Mehl, Stärke und Ähnliches) gedeckt. Damit die Kohlenhydrate (egal ob diese über die Nahrung aufgenommen werden oder aus körpereigenen Speichern stammen) in die Zellen gelangen können, ist Insulin notwendig, da das Insulin die Türen zur Zelle aufmacht.

Fehlt Insulin, verbleibt der Zucker im Blut (was langfristig für die Entwicklung von Folgekomplikationen und Organschäden verantwortlich ist). Bei Insulinmangel sind die Zellen gezwungen, ihren Energiebedarf auf die Fettverbrennung umzustellen, wobei sich Abbauprodukte, sogenannte Ketonkörper, entwickeln. Die Aktivierung von Fett und die Ketonkörper haben eine Wirkverminderung des verbleibenden Insulins (Insulinresistenz) zur Folge, wodurch der Körper in eine Entgleisungsspirale eintritt, die letztlich zu einer Übersäuerung (Azidose) des Blutes und zum Koma führen kann (ketoazidotisches Koma).

Eine ketotische Entgleisung entsteht aber nicht nur zu Beginn eines Typ-1-Diabetes, sondern kann auch jederzeit bei Insulinmangel auftreten.

Sich das erste Mal eine Spritze selbst zu setzen tat zwar nicht wahnsinnig weh, aber es war für mich schon eine große Überwindung. Ich war aufgeregt, mein Herz schlug schneller und ich musste mehrmals Anlauf nehmen. Die Schwester machte mir immer wieder Mut und schließlich hatte ich es allein geschafft. Die Nadel drang tatsächlich tief genug in meine Haut ein und ich konnte das Insulin in meinen Körper spritzen.

Nun mussten wir erst einmal abwarten, wie meine Blutzuckerwerte nach dem Spritzen von Insulin reagieren würden. War es genug Insulin gewesen? Schließlich ist man am Anfang der Therapie erst einmal vorsichtig mit der Insulinmenge und tastet sich langsam heran.

Leider fielen meine Blutzuckerwerte am ersten Tag noch erschreckend hoch aus, sodass die Schwester um zweiundzwanzig Uhr noch einmal zum „Blutabzapfen“ kam und mir erklärte, dass sie in der Nacht erneut kommen müsste, wenn dieser Wert wieder so hoch wäre. Tatsächlich kam sie in der Nacht, weckte mich und ich streckte ihr nur meinen Finger aus der Bettdecke entgegen, damit sie mit der Lanzette hineinpiksen konnte. Da dieser Nachtwert ebenfalls hoch war, wurde ich kurze Zeit später noch einmal geweckt und bekam auch noch eine Insulininjektion. Diese wurde dann allerdings von der Schwester gesetzt. Danach war ich todunglücklich, habe geweint und wollte nach Hause. Alles war so neu und ungewohnt. Ich fühlte mich allem so ausgeliefert. Ich hatte ja keine andere Wahl. Mein Diabetes war nun einmal entgleist und dagegen musste ich etwas tun, oder?

Stoffwechselentgleisung (entgleister oder dekompensierter Diabetes)

Jetzt müssen wir mal die Begriffe „entgleister Diabetes“ und „dekompensierter Diabetes“ klären, da sie sehr häufig in der Diabetologie verwendet werden, obwohl es keine allgemeingültige Definition gibt. Mit den beiden Begriffen werden oft die gleichen Zustände beschrieben. In der Regel sind hiermit Zustände gemeint, in denen die Zuckerwerte und das HbA1c längerfristig außerhalb des Zielbereichs des jeweiligen Menschen mit Diabetes liegen (in einer Veröffentlichung heißt es „mehrfach täglich über 300 mg/dl“) und daher eine Anpassung oder Änderung der Therapie notwendig ist.

Damit sind natürlich nicht nur die Medikamente oder das Insulin gemeint. Auch die Ernährung und die Bewegung sind Bestandteile der Therapie. Manchmal reicht es bei einem entgleisten Diabetes, den jeweiligen Patienten an die richtige Ernährung zu erinnern oder einzelne Schulungsinhalte zu wiederholen. Beim Typ-2-Diabetes müssen Medikamente verändert, ergänzt oder Insulin zur Therapie hinzugefügt werden oder die Insulindosis muss angepasst werden.

Nicht jeder kurzfristig erhöhte Zuckerwert ist gleich eine Entgleisung, aber häufige und zunehmend erhöhte Zuckerwerte laufen in diese Richtung.

Nicht jeder kurzfristig erhöhte Zuckerwert ist gleich eine Entgleisung, aber häufige und zunehmend erhöhte Zuckerwerte laufen in diese Richtung.

Abzugrenzen davon ist eine „Stoffwechselentgleisung“ oder ein „dekompensierter Stoffwechsel“.

Alle Stoffwechselvorgänge im Körper werden reguliert und laufen innerhalb bestimmter Grenzen ab. Hierfür hat der Körper für viele Stoffwechselvorgänge diverse Möglichkeiten und Alternativen, also immer einen Plan B (oder auch C) in der Tasche. Der Blutzucker soll zwischen 70 und 140 mg/dl liegen. Er wird über das Insulin gesenkt und über das Glukagon erhöht, die als Gegenspieler fungieren. Wird bei Stress oder körperlicher Anstrengung plötzlich viel und mehr Zucker benötigt, helfen Adrenalin und Cortisol, Zucker aus Speichern zu mobilisieren. Ist der Zucker dann zu hoch, wird Zucker auch über die Niere ausgeschieden. Schafft unser Körper diese Regulation, ist der Stoffwechsel ausgeglichen oder kompensiert.

Bei einem geringen Verlust von Insulin kann der Blutzucker über andere Mechanismen noch im Normbereich gehalten werden.

Bei krankhaften Zuständen kann ein wesentlicher Teil dieser Regulation ausfallen. Im Fall des Diabetes ist es zum Beispiel das Insulin. Bei einem geringen Verlust von Insulin kann der Blutzucker über andere Mechanismen noch im Normbereich gehalten werden. Fällt Insulin zum überwiegenden Teil oder ganz aus, ist der Körper nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft den Blutzucker innerhalb der Grenzen zu halten, der Stoffwechsel dekompensiert.

Wie oben schon beschrieben, verursacht ein anderer Regulationskreis, die Zelle mit genügend Energie zu versorgen. Da wegen des Insulinmangels nicht genügend Zucker in die Zelle gelangt, wird fehlende Energie über die Verbrennung von Fett ausgeglichen. Die dabei entstehenden Ketonkörper wirken zusätzlich noch gegen das eh schon spärliche Insulin, womit der Regulationskreislauf außerhalb der Zelle noch zusätzlich behindert wird.

Zum Glück sind wir mittlerweile in der Lage, das Problem von außen zu erkennen und dem Körper zu helfen, den Stoffwechsel wieder auf Vordermann zu bringen, sprich zu rekompensieren.

Ja, mein Stoffwechsel war dekompensiert. Meine Bauchspeicheldrüse produzierte nicht mehr genug Insulin. Mein Körper verbrannte Fett und die dabei entstehenden Ketonkörper störten meinen Stoffwechsel zusätzlich. Nichts war mehr so, wie es sein sollte.