Honky Tonk Pirates - Das vergessene Volk - Joachim Masannek - E-Book

Honky Tonk Pirates - Das vergessene Volk E-Book

Joachim Masannek

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Beschreibung

»Wilde Kerle« meets »Fluch der Karibik« – das actiongeladene Piratenabenteuer

Hannah, Will, Jo und Moses haben es geschafft: Sie sind im Besitz des kostbaren Amuletts! Doch die Schatzsuche ist weitaus schwieriger als gedacht – nicht nur, weil Talleyrand und die von ihm angeheuerte Piratencrew ihnen dicht auf den Fersen sind! Zudem hat Aweiku, die Prinzessin der Schatzinsel, ganz eigene Pläne: Mithilfe des Amuletts will sie die Insel für immer in eine andere Welt verschwinden lassen – und damit den geheimnisvollen Schatz, der seinem Besitzer ungeahnte Macht verleiht, vor den Menschen retten. Doch Hannah und Will wären keine echten Piraten, wenn sie sich diesen Schatz entgehen lassen würden!
Als Talleyrand und die Piratenhorde die Insel angreifen, müssen die beiden sich für eine Seite entscheiden ...

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Titel
TEIL EINS – Der Lockruf der Rose
INS HERZ DER FINSTERNIS
DAS GEHEIMNIS VON FEUERLAND
DAS AUGE DES KRAKEN
DIE PROPHEZEIUNG ERFÜLLT SICH
DER TANZ MIT DEN SCHWÄRMERN
DIE INSEL, DIE ES NICHT GEBEN DARF
DER VALASHELM
WILLS TRAUM
MOSES’ GEHEIMNIS
SCHMETTERLINGSFALLEN
TEIL ZWEI – Das vergessene Volk
DIE JAGUARKRIEGERIN
HONKY TONK HANNAH UND HÖLLENHUND WILL
PARADIES »HÖLLE«
DER SCHATTEN DES ROCHENS
DER VERRÄTER HEISST JO
KING MOSES
WER EIN TEUFEL SEIN WILL, DARF DIE HÖLLE NICHT FÜRCHTEN
DAS VERGESSENE VOLK
AWEIKU
EINFACH NUR DRECK
TEIL DREI – Für alle Schätze dieser Welt
DAS QUECKSILBERMEER
EIN NEUES ZUHAUSE
ZEIT, ZU VERSCHWINDEN
TRAUMLAND
VERKAUFTE SEELEN
TALLEYRANDS SIEG
DIE DREI BESTEN PIRATEN DER WELT
DEN TEUFEL, MOSES, GIBT ES DOCH!
HELD JO
DOPPELTES SPIEL AUF DOPPELTEM BODEN
ABSCHIED FÜR IMMER
Copyright
TEIL EINS
Der Lockruf der Rose
INS HERZ DER FINSTERNIS
Ja-mahn! Wir fliegen!«, lachte Honky Tonk Hannah und warf ihren Dreispitz hoch in die Luft. Das petrol-graue Leder leuchtete im Sonnenuntergangslicht und für einen kurzen, atemlos-atemberaubenden Augenblick hing der Piratenhut still in der Luft. Er drehte sich langsam im lauwarmen Wind zwischen glitzernden Wassertropfen, bis diese vom Dschunkensegelflügelschlag des Fliegenden Rochens wild durcheinandergewirbelt wurden.
Das schönste, stolzeste und schnellste Piratenschiff der Welt erhob sich zum dritten Mal nacheinander aus der Karibischen See. Es sprang aus den Wellen. Vorhänge aus Wasser fielen von den mit Algen und Muscheln bewachsenen Doppelrümpfen des Katamarans und folgten dem Rochen wie ein kristalliner Kometenschweif auf seinem dreihundert Meter langen Gleitflug über das Meer.
Dann setzte das Schiff wieder auf. Der Kopf der Galionsfigur, des majestätischen Mantas, tauchte ins Wasser und Gischt spritzte über das Deck zwischen den von den Mantaschwingen umschlossenen Rümpfen bis zur Brücke hinauf. Dort stand Honky Tonk Hannah hinter dem Steuer. Ihr sonnendurchflutetes Haar wehte um ihren Kopf, und das Feuerwerk in ihren dunkelrehbraunen Augen, das ihr Lachen entfachte, blitzte und funkelte wie in Bernstein gegossenes Gold.
Will strahlte sie an. Sommersprossen umtanzten seine himmelhellblauen Augen und in seinem Glück wollte sich der 14-jährige Junge nie wieder daran erinnern, wovon er noch vor wenigen Wochen felsenfest überzeugt gewesen war: Frauen sind Unglück. Frauen und Unglück sind ein und dasselbe!
Heiliger Flitzfliegenschiss! Vielleicht stimmte das ja. Aber Hannah war anders. Oh verfuchst, ja-mahn, Hannah … Hannah war cool. Hannah war so, wie er immer sein wollte. Sie war ein Pirat und trotz ihrer gerade mal 18 Jahre war sie der beste Pirat auf der Welt.
Das blutrote Stirnband saß goldmünzendurchwirkt wie eine Krone auf ihrem Haupt. Die Ketten um ihren Hals, die auf ihr weißes Hemd herabfielen, erzählten von Abenteuern, die er alle hören wollte, nach denen er sich verzehrte. Und die Knöpfe an ihrer Jacke glänzten wie silberne Monde aus einer anderen Welt. An ihren Hüften rechts und links hingen die leicht geschwungenen japanischen Schwerter.
Ja-mahn! Genau so möchte ich sein!, dachte der Junge und vergaß dabei ganz, dass Hannah mit Hilfe der Rose der Aweiku in der Lage war, seine Gedanken zu lesen.
»Das ist nicht dein Ernst!«, grinste die junge Piratin. »Hey, Moses und Jo, ihr werdet’s nicht glauben, aber Will wünscht sich nichts mehr, als so zu sein wie ich.« Sie drehte sich einmal im Kreis und ließ ihren knapp bis zu den Knien reichenden Rock aus schwarz-türkis schimmernden Federn schwingen. »Er will eine Frau sein! Eine Frau, die verrückt ist nach Kleidern und Schuhen. Oh, besonders nach Schuhen.«
Will wurde rot. Er spürte Moses’ grüne Augen auf sich. Der Chevalier du Soleil war so alt wie sein Vater, das heißt, wenn Will einen gehabt hätte. Er sah das breite Grinsen von Jo. Die schneeweißen Zähne glänzten in dessen schwarzem Gesicht und er wollte seinem 10-jährigen Freund gerade drohen, da kam ihm Hannah lachend zuvor.
»Und ich hab gedacht, er wär ein Pirat. Er ist Höllenhund Will, der Kerl, vor dem sich selbst so ein Teufel wie Blind Black Soul Whistle in Acht nehmen muss.« Sie strahlte ihn an, und Will, dem in diesem Moment Hannahs lederner Dreispitz auf den Kopf fiel, wurde so rot wie eine reife Tomate. Er wandte sich ab, starrte über den Bug, ohne etwas zu sehen, und für einen endlosen Augenblick wünschte er sich, er könnte verschwinden.
Da nahm Jo seine Hand. Der afrikanische Junge grinste ihn aus riesigen Augen an. »Ich glaube, sie mag dich«, flüsterte der Kleine verschmitzt und Will hätte ihn würgen können. Doch dafür fühlte er sich gerade zu glücklich.
Musik ertönte, fremdländisch schön. Sie kam von den Krebsen, den vier Teilen der Rose der Aweiku. Die tanzten und drehten sich auf dem goldenen Diskus. Dort neben Hannah auf dem Kompass des Rochens. Sie ließen die silbernen Schriftzeichen im dunklen Holz des Schiffs leuchten, sie ließen den Rochen fliegen und der hob jetzt mit seinem vierten Sprung ab. Wie ein mächtiger Schwan sich nach kräftigem Anlauf von der Wasseroberfläche erhebt, schwang sich der Rochen mit dem sechsfachen Flügelschlag seiner mit Dschunkensegel bespannten Masten in den Himmel hinauf.
»Komm, Moses!«, rief Hannah. »Zeig uns den Weg. Den Weg zu der Insel, ins verheißene Land!«
»Ja, zeig uns das Land, wo alles andersherum ist!« Der kleine Jo weinte vor Freude, als er das rief: »Zeig uns das Land, wo die Schwachen die Starken sind!« Will spürte, wie sich der Arm seines Freundes um seine Schulter legte, und dann flogen sie auf dem Fliegenden Rochen direkt in die Sonne, die pulsierend und rot wie ein Herz – das Tor zum Abenteuer! – in der alles verschlingenden Dunkelheit schlug.
Doch Blind Black Soul Whistle sah das anders: Das Tor zur Nacht, dachte der Alte, ins Herz der Finsternis! Der blinde Piratenfürst stand auf der Brücke des Requin du Roi‚ dem mächtigen Schoner des Schwarzen Barons, und hörte ausdruckslos zu, wie alles, was er begehrte, der Fliegende Rochen, Honky Tonk Hannah, der goldene Diskus und die Rose der Aweiku lachend und triumphierend dorthin verschwanden: ins Herz der Finsternis!
Wasser tropfte aus seinem Dreispitz und den langen meergrauen Haaren. Es tropfte aus seinem Bart, der das dreifache Doppelkinn umrahmte, und es tropfte aus seinen Kleidern, die die Monstermuränen in der Lagune mit ihren Krallen und Zähnen zerrissen hatten. Er, der Piratenfürst von New Nassau, der gefürchtetste Pirat der Welt, war diesen Bestien mit seinen vom Teufel und Gott verfluchten 200 Männern erst in letzter Sekunde entkommen. In allerletzter Sekunde hatten sie sich auf Talleyrands Schiff retten können und schuld an dieser demütigenden Niederlage war niemand anderes als Will.
»Er hat Euch überlistet«, hörte er die dünne, aber rasiermesserscharfe Stimme des Schwarzen Barons. – Oh, wie er diesen eitlen Lackaffen hasste! Der Franzose trat neben ihn und Whistle konnte den Spott in dessen fahlgelben Augen riechen. Er spürte den Zorn in dessen Echsengesicht. »Ihr wurdet von einem 14-jährigen Jungen verladen. Einem Rotzbengel, einer Göre, einem Waisenkind aus Berlin.«
Die Stimme des Franzosen klang kalt, arrogant, und Whistle brauchte alle Kraft, um sich zu beherrschen. Er war zwei Köpfe größer als sein vom Ehrgeiz zerfressenes Gegenüber und trotz seiner über 70 Lenze war Blind Black Soul Whistle mindestens viermal so stark. Doch dieser Gabriel Marie Baron du Talleyrand war niemals allein.
»Die französische Flotte«, hüstelte der Schwarze Baron, »kreuzt keine Tagesreise von hier entfernt und ich hätte, das könnt Ihr Euch ganz bestimmt denken, ungeheure Lust, ihr den Befehl zu erteilen, Euch und Euer erbärmliches Piratennest für immer in die Hölle zu schießen.«
Whistles riesige Hände umklammerten das Geländer so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten und das Holz zu bersten begann. »Dann tut, was Ihr nicht lassen könnt«, zischte der alte Pirat, der besser hören und riechen, als Talleyrand sehen konnte. »Aber wenn Ihr das tut, werdet Ihr niemals auf diese Insel gelangen. Das vergessene Volk wird für Euch immer vergessen bleiben und damit der Schatz, der Euch jetzt schon den Verstand geraubt hat und mit dem Ihr mich und die Welt beherrschen wollt.« Er musterte den Franzosen aus den Winkeln seiner milchig-trüben Augen und hörte die Geräusche der Waffen: das Rasseln der Säbel, Dolche und Entermesser seiner 200 Männer, die mit ihm zusammen den Monstern in der Lagune entkommen waren. Aber er hörte auch das metallische Klicken, mit dem Talleyrands 80 grau vermummte Soldaten ihre Pistolen, Musketen und Kanonen auf ihn richteten. Verflucht, und deren Pulver war trocken. Der Franzose hatte gesiegt. Doch der alte Whistle blieb ruhig. So böse Talleyrand war, so abgebrüht und gerissen war er: 60 Jahre Piratenleben hatten ihn die Geduld gelehrt, die er brauchte, um mit seinen Feinden wie mit Puppen zu spielen.
»Er hat mich nicht verladen«, antwortete er ruhig, nahm den Dreispitz vom Kopf und strich sich das Wasser aus seinen Haaren. »Auch wenn ich in Euren französischen Augen vielleicht wie ein begossener Pudel aussehe.« Er hörte und roch Talleyrands spöttisches Grinsen.
»Eure ganze Mannschaft sieht aus, als hätte sich eine Herde Elefanten auf ihr entleert.« Der Schwarze Baron konnte sich seinen Spott nicht verkneifen.
Doch Whistle, der spürte, wie seine Männer vor Wut zu beben begannen, schluckte auch diese Demütigung. »Elefanten?«, fragte er listig. »Oder meint Ihr vielleicht Möwen. Habt Ihr nicht so Eure Erfahrung mit Möwen gemacht?«
Talleyrand biss sich auf die Lippe. Er dachte an seine Reise von Berlin nach New Nassau, als dieser verfluchte Moses Kahiki, der Chevalier du Soleil, Tausende von Möwen dazu gebracht hatte, sein Schiff zu be…
»Nun«, seufzte Whistle. »Vielleicht war es ein Fehler, dass wir uns verbündet haben. Aber falls es das nicht war, schlage ich vor, dass wir auch weiterhin meinem Plan folgen.«
»Eurem Plan?«, hüstelte Talleyrand verächtlich. »Euer Plan hat dazu geführt, dass …«
»… Honky Tonk Hannah«, fiel ihm Whistle ins Wort, »und dieser Rotzbengel Will für uns die Drecksarbeit tun.Was glaubt Ihr, was Euch auf dieser Reise erwartet? Das vergessene Volk will nicht gefunden werden. Es hat keine Lust auf Leute wie Euch und Euren von oben bis unten gepuderten König. Und um das sozusagen unmissverständlich klarzustellen, hat es sich lauter niederträchtige und fiese Dinge einfallen lassen: den Nebel der Zwietracht zum Beispiel. Der kriecht einem durch die Nasenlöcher direkt in den Kopf, packt sich das Herz mit seinen klammfeuchten Fingern und bringt einen Vater dazu, seinen Sohn zu erwürgen.«
Ein Raunen ging durch die Reihen seiner Piraten.
»Ja, und im Schutz des Nebels folgen die Schwärmer. Geisterhafte Wesen, gegen die Eure Soldaten wie Kindermädchen aussehen.« Whistle hörte das erschrockene Rascheln von Talleyrands vermummten Männern. »Ja, sie stehlen sich an Bord, lautlos und heimtückisch, und wenn man sie endlich bemerkt, ist es zu spät. Dann stehen sie da, erzengelartige, gesichtslose Hünen. Sie packen sich die wehrlosen, weil untereinander zerstrittenen Seelen und springen mit ihnen von Bord.« Der Alte Pirat lauschte in die knisternde Stille hinein und spürte die Angst. »Dort tanzen sie mit ihren wehrlosen Opfern und die lassen sich das nur zu gerne gefallen. Denn die Schwärmer sind schön. Unter Wasser haben sie plötzlich Gesichter. Gesichter von Männern und Frauen. Und die sind, auch wenn man es sich nicht vorstellen kann, noch schöner als Hannah.« Whistle seufzte und wischte sich über den Bart. »Doch in Wirklichkeit sind die Schwärmer böser als wir. Böser als Ihr und ich jemals sein könnten.« Er sah den Schwarzen Baron aus seinen blinden Augen an. »Die Schwärmer sind Quallen. Riesige Hai und Walfisch verschlingende Quallen, deren Körper all den Wesen Zuflucht gewähren, die zu böse und verdorben sind, um sterben zu können.«
»Dann wissen wir doch, wo wir uns am Ende alle wieder begegnen«, amüsierte sich Talleyrand über diese Gespenstergeschichte.
»Ja.« Der Piratenfürst ignorierte den Spott des Franzosen. »Das wissen wir jetzt. Doch wenn Ihr meinem Rat folgen wollt, betet lieber, dass Gott Euch sofort in die Hölle schickt.« Er schloss seine Augen, legte seine Hand auf die Brust an die Stelle, wo andere Menschen ihr Herz schlagen hören, und lauschte in die unheimliche Stille hinein. »Sie tanzen mit ihren Opfern, heißt es. Sie tanzen mit ihnen, bis sie ertrinken. Doch wenn man die Schwärmer besiegt, wenn man es schafft, wenn man im sich dann lichtenden Nebel die Insel entdeckt, entdeckt man das Paradies. Ja, das Paradies gibt es wirklich. Das müsst Ihr mir glauben. Doch es wird von Kriegern bewacht, von Kriegern, die grausamer sind als die Monstermuränen in dieser Lagune.«
Die Stille an Bord des Requin du Roi war eine Stille, die einem den Atem nahm. Eine Stille der Angst, und in diese Stille begann Blind Black Soul Whistle jetzt leise zu pfeifen. »Huh, war das jetzt etwa zu gruselig? Rieche ich Angst? Französisch-hugenottisch gepuderte Angst? Nun, das hab ich vorausgesehen.« Er grinste breit. »Und weil selbst der alte Whistle noch nicht bereit ist zu sterben, hat er die da vorausgeschickt.« Er zeigte in den nachtdunklen Himmel hinauf. »Denn wenn einer es schafft, zum Schatz zu gelangen. Ich spreche von dem Schatz, der seinen Besitzer in die Lage versetzt, mit giftigem Nebel und diabolischen Schwärmern die Welt zu beherrschen.Wenn einer es schafft, dann sind es Honky Tonk Hannah und dieser Rotzlöffel Will. Und wenn sie es schaffen, sitzen wir ihnen direkt im Genick. Ratten-Eis-Fuß? Windschiefer Cutter?«
Ein kleiner Kerl mit Hakenprothese, zwei riesigen Schneidezähnen und Barthaaren, die waagerecht vom Kopf abstanden, saß wie eine vollgesogene Zecke auf der Schulter eines krummen Riesen und hielt sich an dessen Ohren fest. Die wuchsen genau so wie dessen knorrige Nase, das schiefe Kinn und die verzottelten Haare kreuz und quer aus seinem Gesicht.
»Wo auf dem Rochen habt ihr die Pupille versteckt?«, fragte der Alte und grinste vor Vorfreude auf die Antwort.
»Sie liegt in der Achse des Steuerrads«, krächzte der kleine Ratten-Eis-Fuß.
»Gut«, meinte Whistle. »Direkt auf der Brücke. Das ist ein ganz vorzüglicher Platz.« Er hörte jetzt deutlich, wie sich Talleyrands linke Braue neugierig hob, und es machte ihm eine diebische Freude, den Franzosen in seiner Unwissenheit schmoren zu lassen. »Gebt mir zwei Wochen«, sagte er mit einer Höflichkeit, die vor Gehässigkeit glühte. »So lange braucht Hannah, bis sie den Nebel erreicht. Und so lange brauche ich, um in See zu stechen. In zwei Wochen kehrt Valas aus der Arktis zurück.« Mit diesen Worten zog er die Säbel, zerschlug die Seile, die eines der vier Landungsboote an Bord vertäuten, und sprang dem noch fallenden Boot hinterher.
»Cutter und Ratte, wir gehen an Land«, rief der weder durch sein Alter noch durch seine Blindheit behinderte Mann, und nur einen Augenblick später ruderten er und seine 200 Männer weg vom Requin du Roi und zurück auf den kreisrunden See, den die fünf Türme Old Nassaus umstanden. Wie gichtige Krallen streckten sich die Ruinen in den Abendhimmel empor, und die Feuerbälle, die aus dem Vulkan in der Seemitte stiegen, ließen die gerade aufgegangenen Sterne verblassen.
DAS GEHEIMNIS VON FEUERLAND
Eine Woche nach ihrer Flucht aus dem Piratennest New Nassau segelten Will, Honky Tonk Hannah, Moses Kahiki und Jo direkt in den Sommer von Feuerland. Das Meer war nachtblau, Pinguine schossen unter den Rümpfen des Rochens hervor, und an der Spitze des südamerikanischen Kontinents stob die Gischt in die Luft und flatterte in kreischenden Seevögelwolken davon.
Mittags war es so warm, dass Will und Jo ihre Hemden auszogen und die Sonne genossen. Sie legten sich in eine riesige Hängematte, die sich zwischen den beiden Hauptmasten spannte, gruben ihre Körper in die daunenweiche Wolle aus peruanischem Alpaka und schauten zum Himmel hinauf, der sich, hell und blau wie Wills Augen, in die Unendlichkeit erstreckte. Sanft schwang die Matte im Rhythmus der Wellen, im Rhythmus des Rochens, und mit den sich vor- und rückwärts neigenden Masten schwebten die sechs Mädchen über ihnen durchs Blau.Wortlos und stumm standen sie in den Rahen und spähten zum Horizont.
Haben sie überhaupt schon jemals etwas gesagt?, fragte sich Will und konnte sich wirklich nicht mehr erinnern.
Diese sechs Mädchen, von denen die beiden jüngsten vielleicht zwölf und die ältesten gerade mal 16 waren, stellten die Mannschaft des Rochens, Hannahs Piratencrew und ihre Leibgarde, von der sie schon so oft erfolgreich beschützt worden war. Doch viel mehr hatten die Jungen bisher nicht über die drei Zwillingspärchen erfahren. Außer, dass sie nachts, wenn Will und Jo unter Deck schliefen, ihre Waffen reinigten, pflegten und die zahlreichen Kampfkünste übten, die sie beherrschten. Doch auch dabei redeten die Mädchen kein Wort und so wie sie jetzt über ihm in den Rahen standen, die Köpfe mit den strengen Frisuren im Wind, vermutete Will, dass sie sich wortlos verstanden. Dass jede zu jedem Zeitpunkt wusste, was die andere plante.
»Wo steckt eigentlich Hannah?«, fragte Jo in das sonnige Schweigen.
Da hob Moses Kahiki, der Chevalier du Soleil, seinen Kopf über den Rand der Hängematte und deutete nach vorn zum Bug. »Da«, sagte er und seine grünen Augen, flackerten besorgt. »Ich glaube, sie will uns etwas erzählen.« Er wischte sich die braunen Rastazöpfe aus dem Gesicht, knotete sie fahrig zum Pferdeschwanz und ging zur Spitze des Schiffs. Will und Jo folgten ihm neugierig und sie spürten die Blicke der Triple Twins über sich in den Masten.
Ein paar Schritte hinter Hannah blieben sie stehen. Die junge Piratin stand neben dem Klüverbaum und blickte aufs Meer. Es wirkte, als würde sie etwas suchen, als erwarte sie etwas oder als müsste sie sich an etwas erinnern, an das sie sich nicht erinnern wollte.
»Hannah?«, fragte Jo, und als sie sich umdrehte, sah sie ihn an, als wäre er ein Fremder. »Was ist denn? Was hast du?«, fragte der Kleine und ging auf sie zu. »Kann ich dir helfen?«
»Du?«, fragte Hannah und dann erkannte sie ihn. »Ach, Jo, vielleicht kannst du das.« Sie rückte ihm seinen Glücksbringer, die alte, aus weißem Gazellenleder genähte und mit ehemals bunten Zeichen verzierte Mütze auf seinen krausen Haaren zurecht. »Ja, und deine Mütze wird dafür sorgen, dass uns kein Regentropfen auf die Nase fällt.« Sie tippte ihm lächelnd auf seine pechschwarze Nase. »Los, kommt, setzt euch zu mir. Setzt euch so, dass ihr das Meer überblickt. Und während ich euch gleich eine Geschichte erzähle, achtet auf alles, was ihr dabei seht.«
Sie wartete geduldig, bis alle, Jo, Will, Moses und die Triple Twins ihre Plätze gefunden hatten, und wollte gerade mit ihrer Geschichte beginnen. Sie atmete ein, schaute noch einmal über das Meer und raunte: »Ja, hier ist es gewesen. Hier fing alles an.« Da juckte ihr Fuß, der linke zuerst, und dann auch der rechte. »Einen Moment!« Sie riss sich die Stulpenstiefel von ihren Beinen. Doch dann juckte ihr Kopf. »Wartet«, zischte sie, kratzte sich ausgiebig und schaute dann an sich hinunter. »So geht das ja gar nicht. Nein. Einen Moment. Ich bin gleich wieder da.« Sie rannte zur Brücke. »Ich zieh mich nur um. Ich brauch ein paar Schuhe. Ja, richtige Schuhe und … einen passenden Hut.«
Sie eilte die geschwungene Treppe hinauf zu ihrer Kajüte, die sich hoch über dem Heck an der Stelle befand, wo sich die Flügelspitzen des Mantas zu zwei senkrechten Flossen vereinten.
»Ich bin gleich wieder da!«, rief sie noch einmal verlegen zurück. Dann schlug sie die Kajütentür hinter sich zu.
»Nein. Nicht schon wieder«, seufzte Will hilflos. »Das letzte Mal hat sie dafür zwei Stunden gebraucht. Und das, obwohl Whistle kurz davor war, den Rochen zu entern.«
»Ja«, lachte Moses. »Aber danach sah sie wundervoll aus.Wie der Traum eines Piraten! Oder was denkst du, Will: wie das, wovon ein Pirat heimlich träumt?«
»Nein«, zischte Will, »denn sie ist kein Pirat. Sie ist eine Piratin, nein, eine Piratenbraut! Wenn sie so wunderbar aussah, wie du behauptest, warum zieht sie sich dann wieder um?«
»Weil es sie juckt«, antwortete der Chevalier amüsiert. »Das hat sie gesagt. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, dann sag alles zu ihr. Nenn sie Zicke oder Hexe oder Monstermuräne, aber sag niemals wieder ›Piratenbraut‹.«
»Ach ja, und was könnte sonst passieren?«, schnaubte Will und blies sich die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Das willst du nicht wissen«, antwortete Moses Kahiki. Er musterte Will, bei dem jetzt die Sommersprossen vor Wut zu tanzen begannen. So zuckten die Muskeln in seinem Gesicht.
»Und ob ich das wissen will«, zischte er trotzig. »Weißt du auch, warum?« Will hielt kurz inne. »Weil es mich juckt. Hey, Hannah, wo bleibst du?«, rief er, drehte sich um und starrte Hannah fassungslos an. Sie stand auf der Brücke. »Ich fress meine Schuhe!«, stammelte Will und zeigte mit offenem Mund auf die junge Piratin. »Sie trägt doch dasselbe wie vorhin. Ich meine, sie hat doch dasselbe an wie …«
»Nein«, unterbrach ihn Hannah und rümpfte die Nase. »Das habe ich nicht.« Mit diesen Worten schritt sie an ihm vorbei und jetzt sahen es alle. Die Kleider und Stiefel, die sie trug, waren eine exakte Kopie der Sachen, die sie noch vor wenigen Minuten angehabt hatte. Nur dass sie jetzt blau waren und nicht rot wie zuvor. »Ja, rot!«, zischte sie und war nicht wenig beleidigt. »Das, was ich vorher anhatte, war nämlich rot: karminrot, ocker, ochsenblut und rubin. So wie der Sonnenuntergang in New Nassau. Doch das, was ich jetzt trage, ist dagegen …«
»… blau?«, raunte Will.
»Ja, marineblau, dunkelblau, azur, smaragd und jasmin. Mit einem Hauch Flieder und Jade. So wie die Farben des Meeres vor deiner Nase.« Sie blitzte ihn an. »Sind wir jetzt fertig?«
Will wollte etwas sagen, doch es fiel ihm nichts ein.
»Dann ist es ja gut«, grinste Hannah zufrieden. »Dann kann ich ja endlich mit meiner Geschichte beginnen.« Sie holte tief Luft, schaute aufs Meer, biss in ihren Handrücken, dass es Jo schmerzte, und nickte dreimal.
»Ja«, sagte sie leise. »Hier war’s. Genau hier. Ich kann es riechen. Wisst ihr, das Meer riecht überall anders. Und hier riecht es wunderbar, fantastisch und magisch. So magisch, dass es schon wieder gefährlich ist.« Sie lachte sie alle an. Moses zuerst, dann Jo, die Triple Twins und ganz zum Schluss Will.
Der tänzelte vor Spannung auf der Stelle herum.
»Ja, und du riechst es auch«, flüsterte sie ihm verschwörerisch zu. »Du kannst es riechen, habe ich recht? So wie ich es gerochen habe.« Sie nickte ihm zu und als sie das tat, hatte Will alle Kleiderprobleme vergessen. Er wusste auch nicht mehr, dass er sie eine Piratenbraut genannt hatte. »Ich war 15 und schon damals stritt ich mich mit Whistle herum. Nicht richtig ernsthaft. Nur ein paar kleine Streiche. Ich hatte ihm, glaub ich, einen Schlüssel geklaut. Den Schlüssel zu einer Truhe, die nur er öffnen durfte. Und wie es so kommen musste, hatten sie mich gestellt. Sie, damit meine ich Ratten-Eis-Fuß und seinen Kumpanen, den Windschiefen Cutter. Die haben mich kurzerhand ausgesetzt. Irgendwo dort, ein paar Seemeilen östlich. Im Gegensatz zu hier konnte man die Küste nicht sehen. Sie hatten mich einfach in einen Sarg gelegt und den Deckel zugenagelt.«
Hannah schloss die Augen und holte tief Luft.
»Seitdem halte ich es in geschlossenen Räumen nicht aus. Deshalb schlafe ich immer dort oben, unter dem Krähennest.« Sie deutete nach oben, wo unter dem Ausguck des linken der beiden mittleren Masten eine kokonähnliche Schlafmatte hing. »Ich hab mir die Fingernägel abgekratzt und ich habe geschrien. Könnt ihr euch vorstellen, wie ich geschrien habe?«
Hannah machte eine Pause und versuchte sich zu beruhigen.
»Das wünsche ich niemandem. Denn das ist mit das Schlimmste, was es auf der ganzen Welt gibt. Lebendig begraben«, sie schüttelte ihren Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen. »Es war überall Blut. Es lief aus meinen Fingerkuppen und Knöcheln, mit denen ich auf den Sargdeckel eingeschlagen hatte. Es tränkte meine Haare. So viel Blut war da. Und ich schrie immer noch. Ich schimpfte und fluchte und schließlich weinte ich nur. Ich weinte, ohne einen Ton herausbringen zu können.«
Jo hing voller Mitgefühl an Hannahs Lippen und selbst Will hob jetzt seinen Blick. »Das kenne ich«, flüsterte er und wischte sich die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, als wären es Tränen.
Für einen Moment sahen sich Hannah und er ganz tief in die Augen. Himmelhellblau verschmolz mit Dunkelrehbraun.
»Ich weinte so lange, bis ich ohnmächtig wurde. Dann verlor mich die Zeit und die wirkliche Welt. Das glaubte ich wenigstens. Ich fieberte bunte, verrückt-wirre Sachen. Ich schwebte durch Tunnel und Höhlen und über Wiesen und Wälder. Ich fand eine Sonne und in der saß ein Mann. Er war wie du, Moses, nur nicht ganz so verrückt.« Hannah konnte sich das Grinsen jetzt nicht verkneifen. »Er mochte mich, wisst ihr, er fand mich nicht zickig, und er hat mir gesagt, dass ich wieder zurückgehen muss. Ich muss, sagte er, obwohl ich’s nicht wollte. Obwohl ich bei ihm bleiben wollte. Denn da war’s so schön. Doch er hat mir einfach einen Tritt in den Hintern verpasst, und als ich ihn deshalb beschimpfen wollte, lag ich wieder im Sarg, der Deckel war wie durch ein Wunder geöffnet und die Sonne schien mir direkt ins Gesicht.«
»Das gibt es nicht«, raunte der kleine Jo. »Und es ist dir kein Regentropfen auf die Nase gefallen?«
»Nein«, lachte Hannah. »Doch ich hatte es mir gewünscht. Ich war am Verdursten und das Blut war noch da. Es war durch die Ritzen des Sarges gesickert und hatte eine Armee von Haien angelockt.Weiße und blaue und die mit dem Hammerkopf. Sie schabten am Sarg und kämpften um die für sie sichere Beute.«
»Ja, ich hasse die Biester!«, schimpfte Jo und fasste sich an den Hals. »Wenn Will nicht gewesen wäre, hätten die mich gefressen. Damals, auf dem Schiff vom Schwarzen Baron.«
»Ich weiß«, nickte die junge Piratin. Sie suchte Wills Blick und der sah in das Feuerwerk aus Goldstaub, das jetzt in ihren Augen explodierte. »Aber ich hatte keinen Will«, ergänzte Hannah mit rauchiger Stimme. »Auch wenn ich ihn mir so sehr gewünscht hätte. Ich war allein. Und so trieb ich den ganzen Tag auf den Wellen, bis er sich plötzlich, kurz vor der Dämmerung, aus dem Horizont schälte. Er kam aus dem Nichts. Die Farbe der Rümpfe verschmolz mit dem Schwarzblau des Wassers und die Segel standen wie silbermeerblaue Wolken im Wind. Doch dann war er da. Majestätisch, einzig- und fremdartig und atemberaubend.«
»Der Fliegende Rochen«, flüsterte Will.
»Ja, der Fliegende Rochen!«, raunte Hannah. »Und er kam direkt auf mich zu. Ich musste nur über die Haie hinweg an die Bordwand springen und dann kletterte ich auch schon an den Seilen, die dort vertäut hingen, aufs Deck. Ja, und dort sah ich die silbernen Zeichen, die in das Holz eingearbeitet waren. Ich hörte ihre Stimmen und ihren Gesang.
»Ja, die hab ich auch gehört und ich höre sie immer noch.« Will strahlte über das ganze Gesicht.
»Ja, und wenn man ihnen zuhört, kann man sie auch verstehen. Nicht im Klang, aber in ihrer Bedeutung. Und so führten sie mich auf die Brücke. Dort lag ein Beutel, ihr kennt ihn inzwischen: Als ich ihn öffnete und den Krebs herausließ, verstand ich die Stimmen noch besser. Ich las sie wie die Gedanken des Schiffes, als wäre das ein lebendiges Wesen, und sie führten mich unter Deck zu einem verborgenen Raum ohne sichtbare Tür. Doch mit Hilfe der Stimmen konnte ich die Tür finden. Ich konnte sie öffnen und fand eine Kammer: die war kreisrund und mit Karten gefüllt. Karten, die nicht von Menschen stammten, auf jeden Fall nicht von den mir bekannten. Und auf dem Tisch in der Mitte lag eine ausgerollt. Sie zeigte die Welt und fünf leuchtende Punkte. Fünf Punkte, die Positionen anzeigten. Die ersten beiden leuchten hier, vor der Spitze von Feuerland. Sie meinten den Rochen und den Krebs. Der dritte leuchtete über New Nassau. Dort fand ich Moses und den zweiten der Krebse. Den zweiten von vieren, und der vierte Punkt leuchtete in der Nähe Berlins, dort wo der rothaarige Vater mit den abstehenden Ohren mit seinen Töchtern lebte.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Nun, die Geschichte kennt ihr ja alle. Dann bleibt nur noch einer übrig: der fünfte Punkt.«
»Der in Paris?«, fiel Will ihr ins Wort.
»Nein, nicht in Paris«, antwortete Hannah ganz ernst. »Über Paris lag ein Schatten. Den verstand ich noch nicht. Der fünfte Punkt leuchtete vor der Küste von Mexiko, genau im Bermudadreieck, und er meinte den Kraken. Den Kraken, der den Goldenen Diskus trug: in seiner Stirn.« Hannah zwinkerte Will verschmitzt zu. »Dort, wo du es geträumt hast, ist es wirklich passiert.«
»Aber was war der Schatten?«, unterbrach Jo sie besorgt.
»Oh, der Schatten war Talleyrand. Das Böse wurde auf dieser Karte als Schatten gezeigt. Und als ich genauer hinschaute, waren sie überall. Die Karte war ein wehender Teppich aus Schatten, doch der größte von ihnen war hier. Direkt unter dem Rochen.«
»Aber warum?«, fragte Jo. »Ist der Rochen in Wirklichkeit böse? Wurde er dir vielleicht vom Teufel geschickt?«
»Nein«, lachte Hannah, »den Teufel habe ich kennengelernt.« Sie lachte ein stumpfes, trockenes Lachen und wischte sich diese Erinnerung aus dem Gesicht. Dann schaute sie zu den Triple Twins, und als Will ihrem Blick folgte, sah er in deren Gesichtern, die sich sonst auf jeden Kampf freuten, zum ersten Mal Anzeichen von Furcht.
»Aber ich weiß es nicht, Jo.« Hannah riss sich zusammen. »Ich glaube eher, dass alles, was lebt, einen Schatten besitzt. Und je größer und prächtiger, je strahlender und mächtiger etwas ist, desto größer und böser ist auch sein Schatten.«
»So wie dein Schatten Whistle ist?«, fragte Moses Kahiki.
»Ja«, nickte sie, »und Talleyrand ist der Schatten von Will.«
»Talleyrand?«, fragte der 14-jährige Junge ungläubig. Er hielt das Ganze für einen riesigen Bären, den Hannah und Moses ihm aufbinden wollten.
»Ja«, nickte Moses. »Und du wirst ihn nicht los. Selbst wenn du ihn tötest, wird ihn ein anderer ersetzen. Ein anderer Talleyrand oder Eulenfels.«
»Das ist ja schrecklich«, mischte sich Jo jetzt ein. »Und wer ist mein Schatten? Hannah und Moses, wen werd ich nicht mehr los?«
»Oh, das ist bestimmt dieser Ratten-Eis-Fuß.« Will lachte, wie man lacht, wenn man nachts im Wald singt: »Ja, Ratten-Eis-Fuß oder dieser hässliche Cutter.«
Jo schluckte vor Schreck und Will lachte noch lauter.
»Huhu! Ratten-Eis-Fuß, er wird dich gleich holen!« Doch dann hielt Will inne. »Hey, was ist mit euch los?« Er sah in die ernsten Gesichter seiner drei Freunde. »Das ist der größte Quatsch, den ich jemals gehört hab. Das meint ihr nicht ernst.«
Doch Hannah und Moses meinten es ernst.
»Und was ist der Schatten vom Fliegenden Rochen?«, fragte Will leise.
»Was oder wer?«, präzisierte Hannah die Frage. »Ich weiß es nicht,Will. Deshalb habe ich euch die Geschichte erzählt. Und ich hab euch gebeten, auf alles zu achten. Egal was ihr seht, riecht, fühlt oder hört.«
»Oh, ich hab Angst«, rief Jo vorwurfsvoll, und im nächsten Moment platschte dem Jungen ein fetter Regentropfen auf die Nase. Jo schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf. »Siehst du, ich fühle die Angst!«, sagte er, schniefte und rümpfte dann angewidert die Nase. »Und riechen tue ich … Fisch. Nein … Land, ich mein … Fisch, der schon lange an Land liegt.«
»Fisch, der schon stinkt?«, fragte Hannah erschrocken. Sie sprang sofort auf und schaute aufs Meer.
»Aber hören tue ich nichts«, sagte Moses nervös. »Gar nichts, noch nicht einmal Wellen oder den Hauch von Wind.«
Will starrte zur Küste. Die lag verwaist im Nachmittagslicht. DieVögel waren verschwunden. Die Brandung verstummt. Das Meer lag da wie ein gläserner Spiegel und es zog sich langsam von der Küste zurück.
»Was ist das?«, fragte Jo tonlos und Hannah präzisierte: »Du meinst, wer das ist? Jo, das ist eine mutige Frage.«
Und bevor Jo begriff, was sie damit meinte, rief Will: »Da! Schaut, da! Da, unter dem Rochen!« Mehr sagte er nicht und dann sahen sie alle den riesigen Schatten, der langsam und unheilvoll unter dem Schiff hindurchglitt. Er war so groß, dass sie seine Form nicht erkannten, und er schwamm so tief, dass man keine Einzelheiten mehr sah.
Was immer das ist, es muss gigantisch groß sein. Gigantisch und böse, schoss es Will durch den Kopf: durch den Kopf und ins Herz. Und den anderen, das sah er, ging es nicht besser.
»Das ist er«, raunte Hannah. »Ja, bestimmt. Das hab ich gefühlt, gespürt und gerochen, als ich das Schiff gefunden hab.«
»Aber warum hast du es dann nicht wieder verlassen?«, fragte Jo flehentlich.
»Verlassen?«, stutzte Hannah. »Bist du verrückt? Das ist der Rochen. Der Fliegende Rochen. Das ist das beste und schönste Schiff der Welt.«
Und obwohl Will wie Jo die Angst im Bauch spürte, steckte sie ihn mit ihrer Verwegenheit an. »Ja-mahn! Den Fliegenden Rochen gibt man nicht her!«
»Ja-mahn und Irie!«, lächelte Hannah begeistert und dann blickte sie wieder zu dem sich unter der Meeresoberfläche entfernenden Schatten hinab.
DAS AUGE DES KRAKEN
Ja-mahn und Irie!«, säuselte Blind Black Soul Whistle. »Und was seht ihr jetzt? Kommt schon, erzählt’s mir. Ihr müsst mir helfen!«
Der blinde Piratenfürst stand in der rußgeschwärzten, von Säulen gestützten gigantischen Halle in einer der Turmruinen von Old Nassau und beugte sich über einen eisernen Tisch, in dessen Platte eine riesige Schüssel aus Glas eingelassen war. Die hatte die Größe eines ausgewachsenen Mannes und in ihr schwappte eine glibberige, von roten Adern durchzogene Blase: das Auge des Kraken, den Hannah besiegt und dem sie den Goldenen Diskus aus der Stirn geschnitten hatte. Allerdings fehlte dem Auge die etwa faustgroße Pupille. Die hatte Ratten-Eis-Fuß auf dem Rochen versteckt – in der Achse des Steuerrads -, und von dort überwachte die Pupille das Schiff.
Sie sah Hannah, Will, Moses, Jo und die sechs Triple Twins. Die standen am Bug und verfolgten den Schatten, und das, was die kleine Pupille von der Brücke aus sah, sahen auch Whistle, Ratten-Eis-Fuß und der Windschiefe Cutter sieben Tagesreisen entfernt in der wabbelnde Masse des Auges.
»Ist das Meer spiegelglatt? Schweigen die Vögel? Zieht sich das Wasser von der Küste zurück? Cutter!« Whistle packte den Kerl, der wie eine vom Sturm gebeutelte Palme neben ihm stand. »Du musst mir helfen. Meine Ohren und Nase nehmen in dem Auge nichts wahr … Ratten-Eis-Fuß!« Er streckte die andere Hand nach dem buckligen Zwerg aus und hob ihn über die Schüssel. »Was kannst du sehen? Sag es mir!«
Doch Ratten-Eis-Fuß starrte nur auf die glibberige Masse, die noch zu leben schien. Zu groß war die Angst, dass er in sie hineinfallen könnte und durch sie hindurch in die riesige Welle, die jetzt hinter dem Fliegenden Rochen aus der spiegelglatten Oberfläche des Ozeans brach.
Auch Will, Hannah, Moses und Jo sahen die Welle, die sich wie ein Berg aus zerborstenem Glas zum Himmel türmte.
»Hannah!«, rief Jo und umklammerte Will. »Gehört das auch zu den Dingen, die du schon kennst?«