Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont - Joachim Masannek - E-Book

Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont E-Book

Joachim Masannek

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Beschreibung

Ein Feuerwerk an Action und Abenteuer!

Im gnadenlosen Kampf um die Gunst von Honky Tonk Hannah werden Will und Nat einmal mehr zu Rivalen. Doch nun stehen sich die beiden erstmals auch in feindlichen Lagern gegenüber: Will verbündet sich mit Talleyrand und Prinz Gagga, während Nat im Lager von Wills Freunden einen kühnen Plan entwirft . Auf einer geheimen Insel will er den Piratenstaat Libertaria gründen und dort mit Honky Tonk Hannah glücklich werden. Doch er hat die Rechnung ohne Will gemacht, denn der setzt mit Hilfe seiner neuen »Freunde« alles daran, gerade diesen Plan zu vereiteln ...

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Joachim Masannek

Honky Tonk Pirates

Der letzte Horizont

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Mit aufrichtigem Dank an

Gina Gray, Robin Rosenhäger und Marvin Biehne

für ihre begeisterte und inspirierende Hilfe

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013

© 2013 cbj, München

Alle Rechte vorbehalten

Innenillustrationen: Susann Bieling

Umschlagillustration und -konzeption: Max Meinzold, München

Ku · Herstellung kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-08741-8

www.cbj-verlag.de

Teil Eins – Herz aus Gold

Träume sterben mit der Nacht

ill hörte die Schreie der Möwen und erinnerte sich an die Schwalben in Berlin, wenn sie, den Frühsommerwind unter den Schwingen, um den Turm der Domkuppel schossen. Doch vor wie vielen Jahren war das gewesen?

Dort auf der Domkuppel in ihrem geheimen Versteck über den Dächern Berlins hatte alles begonnen. Will hieß noch Willfried Zacharias Carl Otto Stupps. Er war damals gerade vierzehn geworden. Und Jo war erst zehn Jahre alt.

»Regentropfen-fallen-auf-dich-kleiner-genialer-Erfinder-Jo.«

So hatte Will seinen besten Freund mit den ängstlichen Augen im kohlrabenschwarzen Gesicht immer schmunzelnd genannt. Sie hatten sich in die Rundbogenfenster des Turms auf der Spitze der Domkuppel gesetzt und dort hatte er Jo dann Geschichten erzählt. Kühne Geschichten von kühnen Piraten, die die Welt befreien wollten. Befreien vom Krieg, der um Berlin herum tobte. Und von ihrem bösen Tyrannen: dem Freiherrn von Eulenfels, der in der Stadt herrschte und sie für die Menschen, die in ihr lebten, zu einer Hölle auf Erden machte. Eulenfels, der Will jagte, ihn fing und ihn zusammen mit Jo sogar aufhängen wollte.

Doch Wills Geschichten waren stärker gewesen. Stärker und besser. Denn sie waren seine Träume. Ehrliche Träume, von Herzen geträumt. Träume von Freiheit, von Frieden und … Ja, und mit der Kraft dieser Träume waren sie dem Galgen entkommen. Sie hatten Freunde gefunden: Moses Kahiki, den Chevalier du Soleil, den Freigeist und Spinner. Rachel und Sarah, die kleinen Mädchen, und ihren Vater Feuerkopf Finn. Die echten Piraten aus Old Nassau, den Windschiefen Cutter, Ratten-Eis-Fuß und Blind Black Soul Whistle, ihren Käpten. Den alten O’Brien aus New York und die Roten Korsaren, die Straßenkinder aus Berlin. Salome und Ophelia, die einstigen Gespielinnen des Tyrannen, und natürlich die atemberaubende Honky Tonk Hannah, die größte Piratin, die es je gab. Ja, und nicht zu vergessen, den undurchschaubaren Nat, der Waldläufer war und Käpten des Bisons.

Sie hatten das Schiff aller Schiffe, den Fliegenden Rochen, aus Nassau befreit. Sie hatten das Vergessene Volk und deren Insel gerettet. Sie hatten den Ring der Witwe Chen, der seinen Träger unbesiegbar macht, geraubt und beschützt Sie hatten gegen Mohawks gekämpft, gegen Tausende Mohawks. Will hatte den Tanz mit dem Teufel bestanden. Auf der Insel Rum Bottle Bottom hatte er sich dem Test der Hexe Jay-Nice-Jo-Pi-Lin gestellt und war so erwachsen geworden. Er hatte für Honky Tonk Hannah gekocht, mit ihr in Mitsommernachtsseidenschleiern geschlafen, und sie hatten danach – zum wievielten Mal? – die Hölle besiegt: Talleyrand und Prinz Gagga und ihre fünf Monster. Die Valas-Schwestern. Riesige Schlangen, Vorboten der Hölle, die schon immer versteckt unter Old Nassau lag. Jo war trotz seiner Angst zum Helden geworden, und das versteinerte Herz von Blind Black Soul Whistle, dem alten Piraten, hatte wieder zu schlagen begonnen. Im Sterben hatte es sein Gefängnis gesprengt, und dann hatte Whistle Will gebeten, den Bund zu schließen, der die Welt retten sollte.

Den Bund mit Hannah: Honky Tonk Hannah. Eine Liebeshochzeit zwischen Piraten, die sich gegenseitig nicht über den Weg trauen durften. Die sich bei jeder Gelegenheit berauben, verraten oder übervorteilen wollten. Das wäre ein richtiges Wunder gewesen.

Und mit diesem Gedanken wachte Will auf.

Er hörte die Möwen. Er spürte das Schaukeln der beiden Rümpfe des stolzen Seeräuberkatamarans, des Fliegenden Rochens, und mit den ersten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg hinter die verdunkelten Fenster suchten, vernahm er plötzlich Hannahs Gesang. Rau und glasklar und verwegen und glücklich. Will musste schmunzeln. Nein, er lächelte stolz. So stolz wie man es nur als Mann sein kann. Und deshalb vermochte selbst der Schmerz in seiner Brust dieses Lächeln nicht zu vertreiben, als er sich – nach wie vielen Tagen? – endlich aus dem Bett erhob.

Will strich mit der Hand über den weißen Verband. Er erinnerte sich an den stechenden Schmerz, das Verbrennen von Fleisch, als sich Talleyrands Kugel knapp unterhalb des Schlüsselbeins in seinen Körper bohrte. Und dann sprangen sie auch schon. Hannah und er sprangen von den im Todeskampf zuckenden Leibern der riesigen Schlangen, der Schwestern von Valas ins rettende Meer, wo Nat und sein Schiff schon auf sie warteten. Er sah, wie Hannah neben ihm lachte, während sie auf die Wellen zu flog. Sie strahlte ihn an. Glasklar und glücklich wie ihr Gesang, und Will musste lachen. Er lachte, weil sich die viel zu große und quietschgelbe Pumphose, die Hannah trug, im Fallwind zum runden Kürbis aufblies und das knallrote Oberteil mit dem flatternden Schmetterlingskragen samt Hannah verschluckte.

Dann machte es Splash!

Er schluckte Wasser, weil er immer noch lachte. Er bekam plötzlich Angst. Der Schmerz in der Brust schoss in seinen Kopf. Er schmeckte das Blut in seinem Mund. Es schmeckte nach Blei. Das Blei der Kugel. Dann wurde es schwarz, schwarz vor seinen Augen und um ihn herum. Er fühlte noch Hände, die nach ihm griffen. Hannahs Hände. Das mussten sie sein …

Doch jetzt war er wach. Er ging aus dem Schlafzimmer des Fliegenden Rochens, durchquerte den dahinterliegenden kleinen Salon und stand vor der Tür von Hannahs Ankleidezimmer. Er hörte sie singen. Es war ein Lied, das er heute zum ersten Mal hörte. Und unwillkürlich dachte er an Nassau zurück, als sich der Fliegende Rochen zum ersten Mal mit ihm in die Lüfte erhoben hatte.

Mit ihm und mit Hannah.

»Die schönste Melodie ist die, die du noch nicht kennst!«, hatte Hannah ihm zugerufen, und mit diesem Gedanken stieß er die Tür auf und betrat das Zimmer.

Dort drehte sich Hannah langsam im Kreis ihrer Ankleidepuppen um die eigene Achse. Die standen Schulter an Schulter um sie herum und verschwanden fast unter Bergen von Kleidern. Er ging auf sie zu, und sie summte drohend, ohne dabei die Melodie zu verlieren:

»Ohohoho! Du bist nackt. Sehr nackt, hörst du, Otto?«

»Ich weiß!«, grinste Will. »Genau wie du.«

»Ach ja!«, zischte sie. »Und wie hast du gedacht, dass ich rumlaufen soll? Etwa als Kürbis, auf dem ein fetter Schmetterling sitzt?«

»Nein«, sagte Will und entdeckte einen Hut: einen perlenbestickten Dreispitz aus bordeauxrotem Leder. »Das sah wirklich nicht gut aus. Aber der würde dir stehen. Er passt zu dem Rock, den mir Whistle geschenkt hat. Dem Rock des Peste Angelica1.«

1 DerTeufel, der ein Engel war

Er warf ihn ihr zu.

»Und das sind die Schuhe!« Er schickte die Stiefel gleich hinterher. »Mehr brauchst du doch nicht. Das hast du immer gesagt. Schuhe und Hut. Oder willst du heute auch eine Hose?«

Er fand eine Hose und zeigte sie ihr. »Oh, nein, das ist meine. Die hat Finn mir geschenkt.«

Er schlüpfte geschickt in die ledernen Leggins.

»Aber wie wär’s mit ’nem Kleid? Ja, ich glaube, du solltest ein Kleid für mich tragen.«

»Für dich?«, fragte Hannah. Sie traute ihren Ohren nicht.

»Ja, für mich«, lachte Will. Er ging um die Puppen herum und besah sich die Kleider. »Oder willst du, dass ich so zu dir komme? Ich bin nämlich sechzehn. Seit heute bin ich’s.«

»Hey, untersteh dich!« Hannah schnappte nach Luft. »Ich warne dich, Will. Ich kann Gefühle nicht ausstehen. Ich krieg keine Luft. Sie erdrücken mich, hörst du?«

Doch ihre dunkelrehbraunen Augen straften sie Lügen. In ihnen brannte das Bernsteinfeuer, und als Will das erkannte, durchbrach er langsam den Kreis der Puppen. Er ging auf sie zu, und sie konnte und wollte es nicht mehr erwarten, dass er sie in den Arm nahm und endlich küsste.

Da hörte Will Talleyrands eisige Stimme:

»Er lebt«, sagte der. »Und er scheint noch zu träumen.«

»Ja«, zischte Gagga. »Aber gleich wacht er auf. Und dann wird er sich wundern, in wessen Kissen er liegt. Wer ihn gesund pflegt und sich um ihn kümmert.«

Will schlug die Augen auf. Huh! Wenn er nicht sechzehn gewesen wäre und ein Pirat – der beste Pirat, den es auf dieser Welt gab –, hätte er vor Entsetzen geschrien. Er lag in einem großen Bett aus rot-weiß gepunkteter Seide in einem kopfüber auf der Decke stehenden Raum, und dessen Wände pulsierten, als befände er sich mitten in einem gigantischen Herzen.

Das Herz der Ozeane, dachte Will. Durch die Luke in einer der Wände des Zimmers sah er das Meer, und in dem kreisten Haie, Muränen und Barrakudas vor einem gleißenden Ball aus Licht.

»Guten Morgen, mein Freund«, hörte er Gaggas fistelnde Stimme.

Will legte den Kopf in den Nacken und entdeckte den pummeligen Neffen des Königs von Frankreich am Kopfende seines Bettes.

»Das ist nicht der Mond. Das ist die Sonne!«, kicherte Gagga und zog dabei am Zopf seiner aus Gold gesponnenen Perücke, die er wie immer falsch herum auf der polierten Glatze trug. »Das heißt: Es ist Tag, die Nacht ist vorbei und mit ihr sind alle Träume gestorben.«

Wills Muskeln verkrampften und seine Finger bohrten sich unter der Fliegenpilzbettdecke durch das seidene Laken bis in die mit Rosshaar gefüllte Matratze.

Gagga zog einen Schmollmund und schniefte pathetisch. »Ups. War das jetzt grausam? Hey, Gabi, was ist? Hab ich den Kerl zu hart angefasst? Hätte ich ihm was vorlügen sollen? Ein Märchen erzählen vom Dummkopf und der Honky-Tonk-Hexe?«

Will entdeckte den Schwarzen Baron, der im Türrahmen stand. Der betrat keinen Raum. Der blieb auf der Schwelle stehen, der lebte im Schatten immer abseits des Lichts, und ohne den Zweispitz wirkte sein kleiner, von dünnen braunen Haaren bedeckter Kopf wie der einer Echse.

»Dabei ist die Wirklichkeit doch noch viel grausamer!«, kicherte Gagga und wurde ernst. »Weißt du, wo du bist?« Er rieb sich den Nacken. »Nun, ich fange am besten ganz langsam an. Das Bett, in dem du liegst, ist das von Gabi-Marie, dem Schwarzen Baron, und in ihm haben wir seit drei Nächten alle ganz brav zusammen gekuschelt.«

Will wurde schlecht. Er schwitzte und fror und die Wunde in seiner Brust begann wieder zu bluten.

»Oh, das tat weh«, kommentierte Gagga den roten Fleck auf dem weißen Verband. »Aber das war doch noch lustig. Außer dass Gabi ein wenig muffelig riecht. Doch jetzt wird es ernst. Wir wurden begraben, Will, lebendig begraben. Dein lieber Freund Nat hat uns wie kleine Schiffchen versenkt, und jetzt sitzen wir in diesem Milbenhelm falsch herum auf dem Grund des verfluchten Ozeans und uns geht schon sehr bald die Puste aus. Ich meine, die Luft.«

Er fasste sich an die Kehle und gab vor zu ersticken. Die Augen quollen aus den Höhlen.

»Oh, Gabi, jetzt sag schon, wie lange haben wir noch?«

»Diesen Tag und die nächste Nacht«, antwortete Talleyrand mit eisiger Stimme. »Die Milbe ist leck.« Der Baron deutete zum Bullauge an der Seite des Raums. Hinter dem stieg eine Reihe von Luftblasen auf.

»Hast du das gehört?« Gagga klang heiser. »Also lass dir was einfallen, Karl aus der Hölle. Es wird Zeit für ein bisschen Dankbarkeit. Der Teufelsstupps lebt nur, weil wir es so wollten. Wir haben ihn gepflegt, gepäppelt und trocken gelegt. Du bist jetzt ein Mann, also benimm dich wie einer. Wach auf, Williboy-Satan, pack dein Schicksal mit beiden Händen und ramm deinen Pferdefuß in Nats Hintern. Bahm. Und das bitte mit Schmackes.«

Doch Will schloss die Augen. Das Rosshaar der Matratzenfüllung zerschnitt seine Fingerkuppen, die er noch immer in die Matratze bohrte, und er betete, dass er das alles nur träumte. Das durfte nicht wahr sein. Das war doch unmöglich. Unmöglich und ungerecht.

»Oho! Und jetzt heult er«, hörte er Gaggas spöttische Stimme. »Aber wofür und wozu? Komm, ich will dir was zeigen. Ich hatte dich echt für klüger gehalten. Für klüger und cooler. Aber jetzt machen wir das, was viele sich wünschen, wenn sie vor Selbstmitleid zerfließen. Wir schauen uns deine Beerdigung an.«

Will ist tot

ie Sonne verschwand hinter den Wolken, die über dem Horizont standen, und verschwamm dort zu einem Brei aus blutigem Grau. Oder waren das die Tränen in Hannahs Augen, die alles verzerrten? Die junge Piratin stand auf dem Tatonka, dem aus einem Redwood geschälten riesigen Einbaum, und stützte sich auf die Reling der Bordwand. Seit drei Tagen stand sie an dieser Stelle und wartete darauf, dass Nat wie jeden Abend zu ihr zurückkommen würde. Nat und seine indianischen Krieger, die die Besatzung des Bisons stellten. Nats stumme, verschwiegene Piratencrew.

Seit drei Tagen stand Hannah an der Reling. Sie aß nichts und trank nichts und sie zog sich nicht um. Sie trug noch immer die riesige Pumphose und das Schmetterlingsoberteil mit dem geflügelten Kragen. Sie stand dort und weinte, wenn keiner sie sah. In den ersten Tagen aus Wut. Aus Wut auf Will, der nicht mehr da war. Der sich erlaubt hatte, einfach so zu verschwinden. Nach dem Sprung von der Schlange. Dann wurde sie wütend auf sich selbst. Sie hatte Angst davor, dass ihm was passiert sein könnte, und diese Angst nahm ihr den Atem.

Sie hasste das: Angst.

Doch die Trauer war schlimmer und die kam danach. Die legte sich wie ein Felsblock auf sie und drohte sie nicht nur zu ersticken. Sie zerquetschte sie buchstäblich, und das seit drei Tagen. So lange suchten sie jetzt schon nach Will. Nat, seine Indianer und Moses Kahiki, ihre sechs Triple-Twins, die treuen Mädchen und alle Straßenkinder aus Berlin. Die Roten Korsaren durchstreiften das Meer in ihren wendigen Drachenbooten. Doch Will blieb verschwunden. Und mit jedem Tag, der verging, schwand die Aussicht darauf, dass er lebte. Zu viele Haie durchstreiften das Meer und die waren hungrig. Nachdem Nat die Leiber der Schlangen, der Schwestern von Valas samt ihrer milbenförmigen Helme, den Schlachtschiffen von Gagga, Talleyrand und seinen vermummten Soldaten am Abend des ersten Tags nach ihrem Sieg im Ozean versenkt hatte.

»Es tut mir leid. Aber so muss es gewesen sein! Die Haie haben Will …« Nat versagte die Stimme, als er an diesem Abend zurückkam. Er kletterte müde an Bord und reichte Hannah eine vor Nässe triefende graublaue Wollmütze. Die hatte er aus dem Meer gefischt. »Gehört die nicht Will?«, fragte er heiser, und Hannahs Pupillen weiteten sich. Sie ertränkten ihre rehbraunen Augen in glanzlosem Schwarz.

»Nein!«, flüsterte sie. »Das kann nicht wahr sein. Nein. So kann Will nicht sterben. Er verschwindet nicht einfach. Der geht mit ’nem Knall.« Sie sah Nat flehend an. Er sollte ihr zustimmen.

Doch Nat blieb ernst. Ernst, vorsichtig, sanft. »Aber das ist seine Mütze. Da gibst du mir recht.« Er bekam keine Antwort. »Hannah, es macht keinen Sinn, noch länger zu suchen.«

Da schwankte das Mädchen. Ja, Hannah war noch ein Mädchen. Das fühlte sie jetzt. Ein neunzehnjähriges Mädchen, dem etwas ganz, ganz Wichtiges fehlte. Die etwas verloren hatte, was sie zum Leben brauchte. Wie Luft, die man braucht, um atmen zu können. Sie schwankte und fiel und Nat fing sie auf.

»Bring mich zum Rochen. Bring mich auf mein Schiff«, flüsterte sie und verlor das Bewusstsein.

»Oh, bring mich auf mein Schiff!«, wiederholte Prinz Gagga. Er stand hinter Will in der Kommandozentrale und beobachtete Nat und Hannah auf dem Tatonka durch eines der magischen Augen in der Bordwand der Milbe. »Bring mich auf mein Schiff. Das gefällt dir doch, Will. Sie will nichts von Nat. Sie trauert um dich. Oh, das willst du doch sehen. Das will jeder sehen, der die große Chance hat, seine eigene Beerdigung zu sehen. Doch wer trauert, braucht Trost. Ja, und Hannah braucht das besonders. Sieh dir doch Nat an, wie er sie umarmt. Wie er sie anschaut, und, oh, jetzt streichelt er sie. Würde jemand das tun, wenn der andere nichts von ihm will? Und warum ist Hannah nicht schon jetzt auf dem Rochen? Was hat sie drei Tage auf dem Bison gemacht? Drei Tage und Nächte?«

Will sagte kein Wort. Doch er spürte die giftige Wirkung von Gaggas Worten. Sie durchtränkten sein Blut und drangen ihm ins Herz.

»Ich weiß, das ist schwer«, seufzte Gagga mitfühlend und schielte dabei zum Schwarzen Baron. Der stand wieder schweigend auf der Türschwelle. »Aber das, was du da gesehen hast, ist schon vorgestern Abend passiert. Und jetzt kommen wir zur gestrigen Nacht. Huh, jetzt wird es pathetisch.«

Er ging zu einem der anderen Fenster und stieß mit dem Zeigefinger hinein. Das, was bis dahin wie Glas ausgesehen hatte, verwandelte sich in eine weiche Membran. Quecksilberflüssig schlug es kreisrunde Wellen, und als die verebbten, sah man das Meer von oben aus der Perspektive der Möwen: Die drei Piratenschiffe fuhren nebeneinander. Rechts Hannahs Rochen, links Nats Tatonka, und in der Mitte tanzte Finns kleiner Dreispitz auf den immer höher werdenden Wellen.

»Es ist etwas stürmisch für ein Begräbnis. Aber sie haben es eilig«, säuselte Gagga und spuckte beim Sprechen in Wills linkes Ohr. Das Ohr über dem Herzen. »Trotzdem. Genieß es. Man stirbt ja nur einmal«, kicherte er und ließ Will allein.

Der sah, wie sich alle auf den Schiffen versammelten. Auf dem Tatonka und dem Fliegenden Rochen – der Dreispitz war menschenleer. Hannah trat auf die Brücke zwischen den Rümpfen und sie sah atemberaubend aus. Sie trug die Kleider, die er nur zu gut kannte. Er hätte sie nie im Leben vergessen können. So hatte sie sich für ihn gekleidet, als sie aus Old Nassau vor Blind Black Soul Whistle geflohen waren. Als er endlich bei ihr und Pirat sein durfte, obwohl er doch erst vierzehn war.

Die Stiefel, die sie trug, waren einfach fantastisch. Die Schäfte reichten bis über die Knie, und die Stulpen, die aus ihnen wuchsen, ließen ihre Beine endlos wirken. Darüber trug sie einen Rock aus schwarz-türkis schimmernden Federn. Das weiße Hemd war mit Ketten geschmückt und die rote Jacke ließ ihre Taille so atemberaubend schlank erscheinen. Ja, und ihre Schultern so stolz. Die wurden von blonden Haaren umweht. In geschwungenen Locken oder in Zöpfen gebändigt. Das blutrote Stirnband war mit Münzen verziert und darauf saß der in grauem Petrol gebeizte Dreispitz wie eine perfekte Piratenkrone.

»Sieht sie nicht aus wie ein echter Pirat?«, meldete sich Gagga noch einmal zu Wort. »Oder nein, falsch. Sie sieht aus wie der beste Pirat, den es gibt. Denn das ist sie doch wieder, weil du nicht mehr lebst. Und das will sie auch sein. Deshalb hat sie dich und alle anderen schon wie viele Male verraten, Will?«

Oh, unzählige Male, schoss es Will durch den Kopf. Hannah war der Verrat in Person. Wenn sie zwei Sätze sprach, log sie dreimal, wenn nicht sogar mehr. Und obwohl Will das an ihr liebte, hatte genau das ihre Liebe unmöglich gemacht. Ja, so wie den Bund, den Whistle von ihnen verlangt hatte. Die Piratenhochzeit, die die Welt retten sollte. Retten vor denen, bei denen Will sich jetzt befand. Prinz Gagga, der Neffe des französischen Königs, der so alt war wie Will, und dessen finsterer Oheim, der Baron du Talleyrand.

»Hört mich jetzt an!«, erhob Hannah die Stimme auf der Brücke des Rochens. »Ihr wisst, wer ich bin. Ihr wisst, was ich von der Wahrheit halte und von Treue und Ehrlichkeit, ja, und von der …«

Hannah würgte und spuckte aus, doch sie konnte nicht weitersprechen. Das Wort, das sie sagen wollte, bekam sie nicht über die Lippen.

»Ich meine, die, die, die … Verfluchter Galgenbaum, ihr wisst, was ich meine!«

Hannah schnappte nach Luft. Schweißtropfen perlten auf ihrer Nase, und sie riss sich die Ketten vom Hals, als wollten die sie strangulieren. Sie hasste Gefühle. Die engten sie ein. Die zerquetschen sie wie ein riesiger Felsen.

»Und trotzdem! Ja, trotzdem!«, sagte sie leise und stotternd. »Trotzdem schreit etwas in mir vor Schmerzen auf. Da vorn auf dem Dreispitz!« Sie wurde lauter und zeigte auf Finns Kanonenboot, das zwischen Rochen und Bison wie eine Nussschale auf den Wellen tanzte. »Da vorn auf dem Dreispitz liegt Höllenhund Will. Für mich liegt er da, weil ich mir nicht vorstellen will, dass ihn die Haie gefressen haben. Da vorn liegt der beste Pirat der Welt und wir werden ihm die letzte Ehre erweisen.«

Sie sah die Tränen von Rachel und Sarah, von Moses Kahiki und die von Jo. Ihm fielen Regentropfen auf die Nase, obwohl die Nacht sternenklar war.

»Wir lassen ihn gehen, wie es sich für ihn gehört, mit einem ganz großen Knall, und bevor wir das tun, sagt jeder, was er für Will empfindet, wer Will für ihn ist.«

Sie blickte zu Moses, und der Franzose begann:

»Willfried Zacharias Karl Otto Stupps!«, sagte er mit heiserer Stimme. »Du warst mehr. Viel mehr als Pirat …«

»… und viel mehr als ein Freund!«, fiel Jo ihm ins Wort.

»… Du warst mehr als ein Käpten«, flüsterten Tanja, Theres, Tujana und Tule, Tabea und Teh. »Ja, mehr als ein Käpten!«

Der Windschiefe Cutter und Ratten-Eis-Fuß stimmten den Triple Twins krächzend zu: »… Auch wenn du kein Schiff hattest. Das brauchtest du nicht!«

»Denn du warst mehr!«, sagte Hannah und sah dann auffordernd hinüber zu Nat.

»Mehr als wir alle wahrhaben wollten«, sagte der Käpten des Bisons und zwang sich zu einer tiefen Verbeugung.

»Du warst mehr als ein Vorbild!«, weinten Rachel und Sarah.

»Und mehr als ein Traum!« Salome schniefte.

»Mehr als das abenteuerlichste Leben!« Ophelia seufzte.

»Du warst mehr als wir alle!«, riefen die Roten Korsaren mit vierhundert Stimmen aus den Rahen des Rochens zu den anderen herab

»Du warst, was wir sind!«, lachte der alte O’Brian durch einen Schleier aus Tränen.

»Und das, was wir werden wollen!«, rief Feuerkopf Finn und legte die Arme um seine Töchter.

»Ja«, sagte Hannah, »das warst du für uns. Und für mich warst du ein Horizont. Der letzte Horizont, den es gibt und den ich jetzt niemals erreichen werde.«

Sie schluckte und schaute wieder zu Nat. Der senkte den Blick, doch sie ließ das nicht zu. Sie zwang ihn, sie wieder anzuschauen.

»Los, seht mich jetzt an!«, forderte sie mit brüchiger Stimme und meinte damit nur den Amerikaner. »Ich leiste einen Schwur.«

Sie hob eine Hand und zeigte die Finger.

»Ich leiste einen Schwur, ohne die Finger zu kreuzen. Ich schwöre, hört ihr.«

Sie schluckte und würgte und ließ den Blick dabei nicht von Nathaniel.

»Ich schwöre, dass ich dich in Ehren halte, und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand anderer jemals deinen Platz einnimmt. Du warst für den Bund mit mir bestimmt, so wie Chen für Blind Black Soul Whistle, und so soll es bleiben. Ich halte den Bund und schwöre dir Treue. Treue über den Tod, weil ich dich, puh, für immer …«

Ihre Stimme brach ab.

»Weil ich dich für immer …«

Sie schnappte nach Luft.

»Weil ich dich, verfluchter Galgenbaum, ihr wisst, was ich meine, und jetzt sorgt für den Knall!«

Sie blitzte Ratten-Eis-Fuß zornig an und der sprang mit Cutter zu den Kanonen.

»Lasst Will so verschwinden, wie es ihm gebührt.«

Sie atmete tief. Für einen Moment war es still. Selbst das Meer schien verstummt, bevor alle Backbordkanonen des Rochens und die auf der Steuerbordseite des Bisons das Feuer eröffneten und den Dreispitz buchstäblich pulverisierten.

»Huh«, seufzte Gagga, »das war nicht gerade romantisch, oder?« Er spuckte schon wieder in Wills linkes Ohr. »Das war eher Hals über Kopf. Gibst du mir da recht? Als ob sie dich ganz schnell loswerden wollte.«

Will starrte ihn, als spräche der verrückte Kerl ein verkorkstes Chinesisch.

»Oder bist du noch immer benommen von dem, was sie da über dich gesüßholzraspelt hat? ›Treue über den Tod hinaus‹, ›für immer und ewig‹, und dann dieser ›verfluchte Galgenbaum‹. Das war wirklich echt. Als könnte sie das kleine Wörtchen ›Liebe‹ nicht sagen. Dabei ist es so einfach. Oh, Liebe, Liebe, Liebelei.«

Er drehte sich tanzend im Kreis.

»Und hast du gesehen, wo ihre andere Hand war? Ich meine nicht die, mit der sie so demonstrativ gewedelt hat. Ich meine die andere hinter dem Rücken. Und ist dir entgangen, wen sie angeschaut hat? Oho, und wie sie ihn angeschaut hat. Und dabei hat sie den ganzen romantischen Schwachsinn gesagt. Von wegen ›Nie einen Bund mit einem anderen eingehen‹ … und dann hat sie dich einfach weggepufft. Mit ihren Kanonen.«

Er grinste Will an, doch der starrte benommen durch ihn hindurch.

»Hey, Honky Tonk Willi!«, stupste Gagga ihn an. »Bist du jetzt verpuppt? Ich meine, versponnen? Wie eine Raupe, die sich verwandeln will? Schlägt dir dein Herzchen zwischen den Ohren. Dann ist das sehr gut. Denn ich bin noch nicht fertig. Jetzt wird gestorben und wiedergeboren. Jetzt zeige ich dir, was wirklich geschah. Wie du hierher und in Talleyrands rot-weiß-gepunktetes Bettchen gepurzelt bist.«

Neue Freunde, neue Feinde

chnell nahm Gagga Will bei der Hand und zog den jetzt fast willenlosen Jungen zu einem dritten magischen Fenster in der Kommandozentrale des Milbenschiffs.

»Bist du bereit?«, fragte er mit gespielter Fürsorglichkeit. »Jetzt erfüllt sich deine Bestimmung. Jetzt wirst du das, was Jay-Nice, die fiese Hexe, vorausgesagt hat.«

Will schaute ihn an. Was wusste dieser kleine Giftzwerg von Jay-Nice-Jo-Pi-Lin, der Herrin der Insel Rum Bottle Bottom, auf der er erwachsen geworden war?

»Oh, du sprichst im Schlaf und im Fieber noch mehr«, erklärte Gagga, der in seinen Gedanken lesen konnte wie in einem offenen Buch. »Du bist hier im Herzen der Ozeane, und ich zeige dir, was du noch wissen musst. Den letzten kleinen Pinselstrich, der den chaotischen Wirrwarr zum hübschen Bild werden lässt. Das letzte kleine Quäntchen Wahrheit, das die Waagschale in die richtige Richtung kippt und dich zu deiner Erkenntnis bringt. Zu der, wer du bist.«

Er berührte das Fenster, durchstach die Membran und ließ den Tag erscheinen, an dem Will so glücklich gewesen war wie niemals zuvor.

Will sah sich springen. Er sprang neben Hannah von der Schlange herab. Er sah sie und sich lachen und wie sich die Pumphose von unten über sie stülpte. Dann fiel er ins Wasser. Er verschwand in der Gischt, gefolgt von den beiden Franzosen, Prinz Gagga und dem Schwarzen Baron. Will sah den mächtigen Schlangenkörper, der zitterte, zuckte und sich im Todeskampf aufbäumte. Will war sich sicher, dass er sie alle zermalmen würde. Es verging eine Ewigkeit, bis die Schwestern von Valas sich selbst erwürgten. Und als das letzte bisschen Leben mit einem schrecklichen Beben in ihnen verlosch, spuckte das Meer die Franzosen aus. Gagga schrie vor Glück, Wut und Angst. Er ruderte panisch mit den Armen und klammerte sich an den Schwarzen Baron. Er drohte den schmächtigen Mann unter Wasser zu drücken, doch der blieb wider Erwarten cool. Er schwamm wie ein Fisch, erfasste die Situation, entdeckte den Milbenhelm, der nur einen Steinwurf von ihnen entfernt auf den Wellen tanzte, und zog Gagga dorthin. Dann klammerten sie sich an einen der Haken, mit denen der Helm vor der Schlacht im Nacken der Schlange befestigt gewesen war, und beobachteten, wie nach einer weiteren Ewigkeit Hannah und Will aus den Wellen auftauchten.

Hannah riss sich den Stoff der Hose vom Gesicht. Sie schnappte nach Luft und fluchte vor Glück, als sie Will neben sich entdeckte.

»Du Sohn einer stinkenden Wasserratte. Dich kriegt man nicht tot!«. Doch beim Wort »tot« erstarrte das Mädchen. Sie sah, dass Will ohne Besinnung war. Sie sah das Blut aus seiner Schulter sickern und sie sah die Schwärme von Haien um sich herum.

»Nat!«, schrie sie deshalb. »Wo bleibst du, Nat! Beeil dich gefälligst. Ich brauch einen Hut und ein Paar neue Schuhe, sonst werde ich hier noch als Fischfutter enden. Und wenn das passiert, überlebst du das nicht. Ich warte dann nämlich in der Hölle auf dich und dort werde ich dein persönlicher Teufel!«

Da wurde sie von zwei Händen gepackt und die rissen sie aus den Wellen. Nat hielt Hannah an ihrem weißen Schmetterlingskragen und schwang sich mit ihr an einem Seil auf die Reling des Bisons zurück.

»Nat, du verfluchter Grobian! Seit wann kannst du fliegen? Verflixt! Wie kannst du zum Engel mit Flügeln werden?«, lachte die Piratin und zeigte dann auf die Stelle zurück, die der Bison, Nats Schiff, immer weiter hinter sich ließ. Dort kreisten die Haie um den verwundeten Will.

»Wir müssen ihn retten, Nat, hol ihn da raus!«

Sie flehte ihn an, doch Nat zögerte überraschend. Vielleicht nur eine Sekunde und vielleicht nur, weil er die Haie sah.

»Okay. Wie du willst. Ihr wendet den Bison und kommt wieder zurück! Und du, Wolfsherz, kommst mit mir!« Nat rief die Befehle und sprang mit einem der Indianer kopfüber ins Meer.

Sie schwammen furchtlos durch die Haie, erreichten Will sicher und blickten von dort zum Bison zurück. Der Tatonka verschwand gerade hinter einer der Schwanzspitzen der Schwestern von Valas, die immer noch auf dem Wasser trieben. Er würde gleich wenden.

»Wir müssen dorthin!«, befahl Nat dem Indianer und zeigte auf den Milbenhelm. »Beeil dich!«, rief er. »Wir müssen es schaffen, bevor der Bison wieder bei uns ist.«

Und als sie das gespenstische Schlachtschiff erreichten, das, wie sein Name es verhieß, die Gestalt einer Monstermilbe besaß, zogen sie Will auf den Rumpf. Nat öffnete eine der vielen Luken, zog Will die blaugraue Mütze vom Kopf und stieß den bewusstlosen Jungen ins Schiff.