Hope - Christin Thomas - E-Book

Hope E-Book

Christin Thomas

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Beschreibung

"Du solltest aufhören den Erinnerungen nachzujagen, Sam. Die Erde ist heute nicht mehr als eine Fantasie." Der siebzehnjährige Samuel Stanson träumt davon, eines Tages zu seiner Heimat, der Erde, zurückzukehren. Doch dieser Wunsch rückt in unerreichbare Ferne, als er gezwungen ist, die Stadt Cyron Hals über Kopf zu verlassen. Er flieht mit seinem Vater, um dessen größte Errungenschaft zu retten: Sky, einen weiblichen Cyborg, der in der Lage ist wie ein Mensch zu fühlen. Inmitten des Krieges zwischen Technik und Magie keimt eine Liebe, die Hindernisse und Grenzen überwinden muss. Eine Geschichte, in der die Liebe eines Jungen zu einer Maschine Grund genug ist, alles zu riskieren.

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Seitenzahl: 538

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HOPE

Unsere einzige Hoffnung

Christin Thomas

Die Originalausgabe erschien 2014

bei Christin Thomas

www.christin-thomas.de

E-Mail: [email protected]

© 2014 Christin Thomas

Publishing Rights © 2014 Christin Thomas

Cover © Christin Thomas

Text Copyright © 2014 Christin Thomas

Lektorat: Autorenbetreuung Jennifer Wagner, www.lektorat-wagner.de

E-Book-Erstellung: www.mach-mir-ein-ebook.de

Schriftart: „Gentium“ von SIL International, „Orbitron“ von The League of Moveable Type; beide Schriftarten sind unter der Open Font License verfügbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog

Impressum neobooks

Für Yvonne. Als Dank für die wunderbaren Jahre unserer Freundschaft.

„Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft – keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.“

Epikur von Samos

Wir schreiben das Jahr 2723.

Wo einst Milliarden Menschen lebten, bleiben nur die Leere und eine langanhaltende Stille zurück. Es ist so ruhig, dass man den Sturm, der einst auf die Erde niederging, nicht mehr erahnen kann. Wir haben uns beinahe selbst vernichtet. Es begann mit dem unaufhörlichen Wunsch nach Wachstum und Konsum. Je zahlreicher wir wurden, desto mehr Rohstoffe benötigten wir. Das führte dazu, dass schon bald ein Mangel an allem anstatt der einstigen Fülle vorherrschte.

Erste Tierarten starben aus und das Öl versiegte. Doch das war nur die Spitze des Eisberges. Wir hatten zahlreiche Waldflächen gerodet. Wir verbrauchten Unmengen an Wasser für die Herstellung von Nahrung und anderer Güter. Wir glichen einem Heuschreckenschwarm, der das Land so schnell kahl fraß, dass die Natur nicht mithalten konnte. Während uns Lebensmittel und Medizin langsam ausgingen, blieben uns stattdessen Tonnen von Müll und Abwässern. Jeder war sich selbst am nächsten. Supermärkte wurden ausgeraubt. Menschen starben auf den Straßen, weil andere sie umbrachten. Nicht des Geldes wegen! Im Angesicht der untergehenden Wirtschaft war das nichts mehr wert.

Das Ende von allem nahm seinen Anfang, als sich die ersten Länder wegen der fehlenden Rohstoffe bekriegten. Dafür wurden harte Geschütze aufgefahren. Die Regierungen nahmen den Verlust der Toten in Kauf, solange sie selbst weiter existieren würden. Diese blutigen Schlachten arteten aus. Einige der Länder, die unter Beschuss standen, wollten nicht alleine untergehen. Erste Atombombenzündungen führten in einer Kettenreaktion zu weiteren. Die unsichtbare Gefahr verbreitete sich mit dem Wind. Es war ein Kampf, den niemand mehr gewinnen konnte. Wir haben alle verloren bis auf die, die unseren Fortbestand durch ihre Flucht sicherten, eine Flucht ins All. Ein Weg, der uns von unserer kranken Heimat entfernte und bis zu einem erreichbaren und bewohnbaren Planeten führte.

Wir nennen ihn Hope, denn er ist unsere einzige Hoffnung. Hoffnung auf ein neues Leben, eine Zukunft und einer neuen Chance.

Doch wo Hoffnung nötig ist, ist kein Friede zu finden. So erwartete uns ein neuer Kampf in unserer neuen Welt, denn die Menschen spalteten sich schon wenige Jahre nach ihrer Ankunft in zwei Fraktionen – in die sogenannten Techniker, die weiter forschten und Wissenschaft lehrten, und die Jäger, die Derartiges verabscheuten. Sie gaben dem Fortschritt die Schuld an der Zerstörung der Erde. Sie entfernten sich von ihresgleichen und näherten sich einer anderen Spezies, Lebewesen aus dem All, die wir Magier nennen. Ihre Entwicklung reicht so weit über unsere hinaus, dass keine andere Bezeichnung treffender sein könnte. Ihre Fähigkeiten wirken wie Zauberei im Angesicht unserer technischen Errungenschaften. Sie beherrschen Teleportation und Telekinese. Außerdem verfügen sie über Elementarkräfte und sind in der Lage unsere Gedanken zu lesen sowie sie durch Illusionen zu täuschen. Blind und naiv unterwarfen sich die Jäger diesen Wesen.

Seit diesem Tag versuchen sie, unseren wissenschaftlichen Fortschritt aufzuhalten. Sie entfachten dabei selbst einen zerstörerischen Krieg. Einen, der unser endgültiges Ende bedeuten könnte und den es zu beenden gilt. Die Gefahr wächst mit jedem Tag, an dem sie unsere Städte angreifen. Sie dezimieren uns strategisch und haben ihr Augenmerk auf unsere wichtigsten Verteidigunsmechanismen gelegt. Es ist an der Zeit sich zur Wehr zu setzen. Wir wollen diesen Planeten nicht einfach aufgeben. Wie gesagt, er ist unsere einzige Hoffnung auf eine Zukunft.

Nun stellen sich unsere Maschinen gegen ihre Kräfte.

Kapitel 1

Rauch stieg im östlichen Teil der Stadt Cyron auf. In diesem Areal lagen die Labore, daher war das kein seltener Anblick. Dennoch waren kurz zuvor viele Menschen voller Panik aus dem Stadtarchiv und anderen nahegelegenen Gebäuden geeilt. Sie hatten eine kleine Erschütterung gespürt und fürchteten einen Anschlag der Magier. In den letzten Wochen hatten einige Angriffe die Angst der Bewohner in Cyron geschürt. Ihre Feinde hatten es auf das Hauptenergie-Netzwerk namens „Coroc“ abgesehen. Es war das Herzstück der Stadt, eine künstliche Intelligenz, die mit so ziemlich allem verbunden war. Würden die Magier es schaffen Coroc lahmzulegen, wäre die Stadt dem Untergang geweiht.

Professor Robert J. Stanson sah durch die verglaste Westwand seines Wohnzimmers. Erst vor Kurzem war er aus dem Forschungszentrum nach Hause gekommen. Die Erschütterung hatte auch ihn erfasst und zum Fenster getrieben. Sein Blick fiel auf den schwarzen Liegesessel, auf dem sein Sohn noch immer mit dem Hologramm eines Buches beschäftigt war.

„Du schaust nicht einmal aus deinen Geschichten auf, wenn Cyron tatsächlich angegriffen wird, oder?“

Sam sah ihn genervt an. „Bitte! Das passiert doch ständig in den Laboren. Bei den ganzen Explosionen wundert mich, dass sie es überhaupt schaffen irgendetwas fertig zu bauen.“

„Erfolg und Misserfolg liegen eben eng beieinander. Die Erfahrung wirst du sicher noch oft genug machen. Du solltest aufhören den Erinnerungen nachzujagen, Sam. Die Erde ist heute nicht mehr als eine Fantasie.“

Sein Sohn rollte mit den Augen und ließ das Hologramm erlöschen, bevor er sich aufsetzte. „Das sagst du immer. Aber es interessiert mich eben. Ich kann mit deinen Forschungen nichts anfangen – oder dem albernen Krieg vor der Haustür.“

Da waren sie wieder. Die Worte alberner Krieg, die Sams Vater nur allzu oft Sorgen bereiteten. Zu gern würde er auf ein Neues versuchen seinem Sohn den Ernst der Lage zu erklären, doch er wusste, dass Sam ihm nicht wirklich zuhören würde. Er war mit seinen Gedanken sicher wieder ganz woanders. Vielleicht hatte er ein Buch über das alte Ägypten gelesen, über Pyramiden, Pharaonen und Sonnengötter. Vielleicht war er aber auch mit seinen Gedanken auf den sieben Weltmeeren unterwegs gewesen, wo er Piraten jagte oder nach unentdeckten Inseln suchte.

„Ich kann nur hoffen, dass dein Unterricht bald weitergeht. Irgendwann verschwindest du noch in einem dieser Hologramme.“ Sam verschränkte genervt die Arme. „Bestimmt“, pflichtete er ihm sarkastisch bei.

„Mister Stanson?“, schon an der etwas verzerrten Stimme erkannte Sam, dass das liebste Spielzeug seines Vaters soeben den Raum betreten hatte: die gute Seele des Hauses, wie er sie oft nannte. Ein Roboter oder, wie man auf Hope sagte, ein Cyborg. In diesem Fall ein weiblicher, der dafür zuständig war das Haus sauber zu halten und einem sämtliche Erledigungen abzunehmen. Sein Vater hatte darauf bestanden ihr einen Namen zu geben, ihre Serienkennung war ihm zu unpersönlich. Dabei hatte diese Version noch nicht einmal eine K.I., obwohl sein Vater sich einen neuen Cyborg ohne Probleme hätte leisten können. Roboter waren unheimlich teuer und auf Hope ein Statussymbol, wie zu den Zeiten der Erde vielleicht eine Luxusyacht. Aber scheinbar hing sein Vater an diesem alten Modell. Für Sam war der Roboter allenfalls eine billige Haushaltshilfe, die seinem Vater die Hausarbeit erleichtern sollte - und seiner Mutter, wenn diese zu Hause war. Solange diese sich noch mindestens zwei weitere Jahre in der westlichen Außenanlage befand und sich um neue Energiequellen bemühte, musste er sich das Essen wohl weiterhin von Jenna machen lassen. Jenna! Schon den Namen fand er furchtbar unpassend. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Sam darauf bestanden, sie zumindest mit dem Kennungskürzel Q anzusprechen. Q wäre ein wesentlich passenderer Spitzname gewesen. Aber er wurde ja nie nach seiner Meinung gefragt! Wenn es um Roboter ging, war sein Vater in seiner eigenen Welt. Mit dem Erschaffen der K.I. durchbrachen die Techniker laut Meinung der Magier ihre Grenzen. Schließlich spielten sie Gott mit den Maschinen.

Sam hatte selbst keine Meinung dazu, er war mit Robotern aufgewachsen. Er konnte sie nicht als ebenbürtig ansehen, jedoch auch nicht als unnütze Gesellschaft. Für ihn war es vollkommen normal, dass fast alles technisch gesteuert wurde. Wieso sollte es falsch sein, einen Cyborg an die Tür zu schicken? Das war doch immer noch freundlicher und menschlicher, als einem Gast die Tür einfach ferngesteuert zu öffnen.

Aber was wusste er schon? Während er sich in seinen Gedanken verloren hatte, war sein Vater längst in ein Gespräch mit Jenna vertieft. Sam hatte nur Bruchstücke davon aufgeschnappt. Es ging um eine neue Roboter-Serie der K.I.-Entwicklung und sein Vater wurde nun wohl zum endgültigen Testlauf gerufen. Alles andere war irgendwie an ihm vorbeigegangen.

„Willst du mich begleiten?“ Sein Vater strahlte plötzlich wieder diese wahnsinnige Vorfreude aus, die man ihm immer ansah, wenn eine seiner Forschungen sich dem Ende neigte.

Durch die zahlreichen Angriffe der Magier waren die Schulen vorübergehend geschlossen worden. Selbst die Grenzgebiete außerhalb der Stadt waren zum Sperrgebiet erklärt worden. Alles aus Sicherheitsgründen. Wohin hätte Sam also sonst gehen können, wenn ihn alles andere in Cyron langsam langweilte?

„Wenn ich jetzt mitkomme, darf ich wieder ins Stadtarchiv. Ist das ein Deal?“

Sein Vater lächelte. Das war eindeutig ein gutes Zeichen, wenn man bedachte, dass Sam ein zweiwöchiges Verbot erhalten hatte. Davon waren gerade einmal drei Tage vorüber, die ihm schon jetzt wie eine Ewigkeit vorkamen.

„Abgemacht“, willigte sein Vater ein. Er wollte seinen Sohn unbedingt an diesem Testlauf teilhaben lassen, denn er plante etwas ganz Besonderes und war gern dazu bereit einmal ein Auge zuzudrücken.

Sam klatschte voller Freude in die Hände und sprang vom Sessel auf.

„Aber“, ertönte die Stimme seines Vaters plötzlich mit mahnender Stimme, „ich will, dass du dich dann auch an die Regeln hältst. Erwische ich dich noch einmal dabei, wie du dich nachts aus dem Haus schleichst, kannst du dem Archivmaterial der Erde für mindestens einen Monat auf Wiedersehen sagen. Ist das deutlich genug, junger Mann?“

Sam nickte, auch wenn er am liebsten den Kopf geschüttelt und seinem Vater einen Vogel gezeigt hätte. Er schlich sich ja nicht ohne Grund aus dem Haus! Sein Vater war doch auch irgendwann einmal 17 gewesen. Man sollte meinen, er wüsste, wie wichtig es war auf einer Party aufzutauchen, um nicht als Außenseiter dazustehen. Oft genug musste Sam sich blöde Sprüche von seinen Mitschülern anhören, seitdem sie ihm das Hologramm-Armband geklaut hatten und seine Vorliebe für alte Geschichten entdeckt hatten. Der Zeitreisende hatten sie ihn genannt. Schon der Unterricht in Geschichte war für die meisten langweilig und uncool. Das Leben von früher war für seine Mitschüler primitiv und lächerlich. Die Entwicklung dahinter erkannten sie nicht, aber Sam war auch nicht daran interessiert ihnen das Thema näherzubringen. Er musste seinen scheußlichen Spitznamen loswerden und wieder einer von ihnen werden. Andernfalls würde das Abschlussjahr ein wahrer Alptraum werden.

Sein Vater schickte Jenna, um ihm und Sam ihre Mäntel zu bringen.

„Sehr gern“, lautete ihre verzerrte Antwort und schon verließ sie das Wohnzimmer in Richtung Flur.

Sie brachte ihnen zügig zwei weiße Mäntel. Was auch sonst? Zu dieser Zeit war Weiß unglaublich in Mode. Schräg geschnitten und eng anliegend, mit passenden weißen Handschuhen. Sam war eher ein unauffälliger Typ. Dunkle und unscheinbare, schlichte Kleidung hätte seinen Geschmack eher getroffen. Mit den blonden Haaren und der hellen Haut kam er sich schon blass genug vor. Doch er wurde auch bei solchen Dingen nicht gefragt. In Cyron sah einer wie der andere aus und das schien auch jedem zu gefallen.

„Willst du das nicht hierlassen?“ Sein Vater deutete auf das Hologramm-Armband. Sam griff instinktiv danach und umklammerte es mit seiner rechten Hand, als wollte sein Vater es ihm wegnehmen.

„Natürlich nicht. Vielleicht will ich Aufnahmen machen.“

Sein Vater lachte. „Die lassen dich niemals mit einem Gerät wie diesem da rein. Bilder sind nicht sicher, mein Sohn.“

„Das sind Erinnerungen auch nicht mehr. Was ist denn, wenn die Magier dich eines Tages entführen und sich in deinem Kopf einfach alles ansehen, was sie wissen wollen?“

Sein Vater strich sich über den Mantel, als wollte er ihn noch etwas zurechtrücken. „Ich wäre sicher tot, ehe sie irgendetwas wüssten.“ Sein Lächeln erlosch. „Deshalb ist dein alberner Krieg vor der Haustür auch gar nicht so lustig.“

Dann wandte er sich an Jenna, der er zur Verabschiedung stets zunickte. Sam ging wie immer achtlos an ihr vorbei, während er sich das Armband abstreifte und es in seine Manteltasche steckte.

Er ließ sich nichts anmerken, doch allein der Gedanke an den Tod seines Vaters ließ ihn erschaudern.

Die Tore des Forschungsgeländes öffneten sich. Ein weiß lackiertes Fahrzeug schwebte auf den großen Platz und wurde von zwei riesigen Robotern mit Laserstrahlen gescannt. Sams Vater erklärte ihm, dass es sich hierbei um die neuesten Versionen der sogenannten Kontrolleure handelte. Sie prüften die Fahrzeuge auf Waffen und Sprengstoffe aller Art. Diese beiden waren länger in der Lage Kälte und Hitze standzuhalten als das Vorgängermodell. Seit die Magier nun auch mit elementarer Energie angriffen, war es zwingend notwendig, dass Cyrons Forscher dafür ausgerüstete Maschinen erschufen.

„Das Hauptsystem Coroc ist an vielen Stellen bereits mit Material dieser Art ausgestattet, aber solange die Aufrüstung nicht abgeschlossen ist, haben wir allen Grund uns vor ihren Angriffen zu fürchten.“ Sein Vater klang ernst. Er machte sich allem Anschein nach große Sorgen und Sam konnte das nicht nur in seiner Stimme hören. Die Augen seines Vaters strahlten es in letzter Zeit oft aus. Kein Wunder, wenn man auf den ganztägigen Nachrichtensendern rund um die Uhr mit Bildern aus den Kriegsgebieten konfrontiert wurde! Die Schutzkuppeln der attackierten Städte wurden mit Gesteinsbrocken beschossen. Ganze Horden von Magiern lenkten sie mit unsichtbarer Kraft auf das tonnenschwere Glas. Jagdgleiter des ansässigen Militärs wehrten sich unterdessen mit Lasergeschützen. Die Bodentruppen sahen sich während solcher Szenarien meist dem Pfeilhagel der Jäger ausgesetzt. Das alles wurde vom Lärm der Einschläge und der panischen Schreie übertönt. Magier teleportierten sich unter die Schutzkuppel. Sie töteten die Wachen an den Energietoren und bereiteten den Weg für die Elementarmagier vor. Diese schleuderten dann ungehindert Feuerbälle auf ihre Opfer oder gefroren sie noch an Ort und Stelle.

Sam sah sich solche Dinge ungern an. Der Anblick der Außerirdischen weckte in ihm immer ein ungutes Gefühl. Sie mochten sich mit einigen Menschen verbündet haben, doch die Techniker waren der Meinung, dass die Magier sie nur aufhalten wollten. Vielleicht fürchteten die Magier sich davor, dass die Techniker ihnen eines Tages gefährlich sein könnten. Das ganze Gerede um das Gleichgewicht im All schien bislang nichts Handfestes zu sein. War ein Stern zerstört, entstand irgendwo ein neuer.

Die Natur kannte keinen Tod. Sam war davon fest überzeugt, seit er es in einem Buch gelesen hatte. Alles, was verging, brachte etwas Neues. Die Erde war für ihn eines der besten Beispiele. Sie war ja noch da, sie war nur krank, wie er es nannte. Und sie würde einige Zeit brauchen, um sich davon zu erholen. Dann würde es neues Leben geben, wenn sie nicht sogar schon Geschöpfe hervorbrachte, die unter den jetzigen Bedingungen leben konnten. Hier wusste das schließlich keiner. Seit sie geflohen waren und die letzten Generationen, die die Erde noch als ihr Zuhause gekannt hatten, starben, verblasste der allgemeine Wunsch dorthin zurückzukehren. Es gab bisher niemanden, der dorthin gereist war. Doch Sam hatte sich fest vorgenommen die Erde eines Tages zu besuchen. Er wollte den Ort sehen, der eigentlich seine Heimat gewesen wäre, und den blauen Planeten selbst erkunden.

Die Kontrolleure gaben Entwarnung und ließen Sam und seinen Vater passieren. Der Weg bis zum Haupteingang lag weit vom Tor entfernt. Alles war übersichtlich gestaltet. Auf diesem Platz gab es nur ebene Erde, denn die Kontrolleure mussten die gesamte Umgebung im Blick haben. Die Schutzzäune zogen sich um das Gelände herum. Die Flüssigkeit, die von den Metallstangen abgesondert wurde, war bei jedem Kontakt mit menschlicher Haut tödlich. Die Umgebung des Forschungszentrums war mit Warnhinweisen versehen. Leuchtend schwebten sie über die umliegenden Wege, um jeden zu alarmieren, der sich dem tödlichen Zaun näherte. Sams Vater hatte ihn schon im Kindesalter darauf geeicht, diesen Absperrungen niemals zu nahe zu kommen, denn diese gab es in vielen Gebieten der Stadt. Die Labore, das Regierungsgebäude und das Militärzentrum wurden damit geschützt. Alle anderen Schutzmaßnahmen, die sich direkt in Cyron befanden, waren nicht ganz so drastisch. Sie konnten jemanden betäuben, sonderten Stromschläge ab oder lähmten den Körper schmerzhaft, doch das war im Gegensatz zum sofortigen Tod eher harmlos. Die silberne Flüssigkeit, die von den Hochsicherheitszäunen ausging, griff den Körper nicht sofort an, sie drang durch die Haut ein. Bei Maschinen fand sie ihren Weg durch kleinste Öffnungen und fraß sich wie Säure durch ihr Inneres. Sam hatte zum Glück niemals jemanden gesehen, der diesem Schrecken ausgesetzt war, doch in den Nachrichten wurden immer mal wieder Tote beklagt, die mit den Absperrungen in Berührung gekommen waren.

Als das Fahrzeug vor dem Haupteingang hielt, bat Sams Vater darum, die Mäntel dort ablegen zu dürfen. Die Sicherheitskontrollen hielten einen schon lang genug auf und er wollte umgehend in den Testraum. Sam hatte schon seit Wochen keinen Fuß mehr in das Forschungszentrum gesetzt. Die Prozedur durch die fünf Sicherheitszonen war ihm jedoch nur allzu vertraut. Die Tür ließ sich ohne Ausweis und Scan der Pupille seines Vaters erst gar nicht öffnen. Doch als diese endlich lautlos aufglitt, betraten sie einen langen und tristen Korridor.

Die Stimme der K.I. des Forschungszentrums erklang: „Guten Abend, Professor, die Nachricht aus dem Fabrikgebäude hat Sie wohl erreicht.“

„Ihnen auch einen guten Abend, Verone. Der Bau der ersten Serien ist endlich abgeschlossen. Ich bin gespannt, ob sie alle Testläufe reibungslos absolvieren werden.“

Sein Vater ging während des Gesprächs weiter. Verone war überall in dem Gebäude – wie ein unsichtbarer Wächter. Sam eilte hinterher. Diese K.I. kannte ihn und stellte daher keine Fragen. In der Zeit seiner ersten Besuche hatte er sich mehrmals weiteren Sicherheitskontrollen stellen müssen, denn sie war Fremden gegenüber unglaublich misstrauisch.

„Ich werde die Energiezufuhr zum Testraum freischalten. Werden Sie eine Cyborg-Hilfe benötigen?“

Am Ende des Ganges legten Sam und sein Vater alle Gegenstände ab und leerten ihre Taschen. Dinge wie Schmuck, Körperfunktionsmesser, Kommunikationsgeräte oder ähnliches wurden direkt in eine quadratische Öffnung in der Wand gelegt. Von einem Eingang war zu dieser Zeit noch nichts zu sehen.

„Ich werde keinen wissenschaftlichen Cyborg brauchen. Aber Sie können uns gern einen militärischen zur Verfügung stellen, nur für den Notfall, Verone.“

„Sie haben den Vorfall der R1-Serie wohl noch nicht vergessen, Professor?“

Sein Vater lächelte. „Den werde ich wohl nie vergessen können. Aber aus solchen Dingen lernt man.“

„Was ist denn da passiert?“, fragte Sam neugierig, während er seine Aktionsbrille, die er für Spielsimulationen benutzte, in die Öffnung legte.

„Die ersten Testborgs der R1-Serie waren etwas aggressiver Natur.“

Dann gab sein Vater Verone den Befehl zum Scannen. Die Vertiefung schloss sich und vor ihnen zog sich die Wand nach oben. Nun gingen sie in den kleinen Raum vor ihnen, in dem sie selbst noch einmal durchleuchtet wurden. Als Verone für sie und ihre Habseligkeiten die Freigabe erteilte, ging es in diesem Raum abwärts. Die nächste Sicherheitstür ließ sich erneut nur durch seinen Vater und die anderen Forscher öffnen. Er legte seine Handfläche auf die vorgesehene Scheibe. Es wurde ein Stimmabgleich gemacht, während der Professor seine Mitarbeiternummer nannte. Doch auch im nächsten Gang waren sie noch immer nicht im Zentrum angekommen. Eine weitere Sicherheitstür trennte sie von den Laboren, IT-, Test- und Lagerräumen.

Die Öffnung in der Wand lichtete sich und sie konnten ihre Gegenstände wieder an sich nehmen. Alles, was im Forschungszentrum als verbotenes Gut galt, wäre längst zerstört worden – so wie Sams Hologramm-Armband, das nun sicher im Wagen lag. Bild- oder Tonaufzeichnungen waren strengstens verboten, ebenso wie Lebensmittel, Getränke, Waffen, Speichergeräte, Werkzeuge und viele andere Dinge. Alles, was für die Arbeit benötigt wurde, war vor Ort. Verone überwachte jeden Forscher und war für seine Sicherheit, aber auch für die Kontrolle seines Handelns verantwortlich.

Sie verfügte über ein unglaubliches Arsenal an Verteidigungs- und Angriffsmöglichkeiten.

„Verone, ich leite jetzt die letzte Sicherheitsstufe ein“, informierte sein Vater die K.I. und gab seinen mehrstelligen Code in das Tastenfeld der letzten Tür ein.

„Zutritt gewährt“, ertönte Verones Stimme und die letzte Tür glitt beiseite.

Vor ihnen lag die riesige Eingangshalle des Forschungszentrums. Inmitten des Raumes stand ein Kontrollfeld, über dem Überwachungsbilder der gesamten Anlage schwebten. Die Felder wurden von den Wachleuten bedient, die sämtliche Daten der Forschungsobjekte und der Forscher selbst kontrollierten. Überall eilten Männer und Frauen in ihren Kitteln umher, meist begleitet von einigen Cyborgs, die ihnen zur Sicherheit und als Hilfe dienten.

„Der Testraum ist für Professor Robert James Stanson freigegeben“, gab Verone den Bedienern des Kontrollfeldes bekannt. Ein weiteres Bild leuchtete auf.

„Komm mit, Sam“, sagte sein Vater und deutete ihm weiterzugehen. Es war ein weiter Weg durch die Halle bis zu ihrem Ziel. Immer wieder grüßten einige andere Forscher seinen Vater. Nur bei einem blieben sie kurz stehen.

„Frank, ich hatte dir doch versprochen, dir einmal meinen Sohn vorzustellen.“ Der Mann reichte Sam die Hand. „Das ist Samuel.“

Oh nein, schoss es Sam durch den Kopf. Er mochte seinen Namen nicht. Wieso musste sein Vater ihn immer ausgerechnet so vorstellen?

„Guten Tag, junger Mann! Sie werden sicher einmal der nächste Einstein.“ Er lächelte und Sam war schlagartig fasziniert von diesem Mann.

„Sie kennen Einstein?“, verblüfft sah er ihm in die Augen.

„Na, es wäre eine Schande einen Mann wie diesen nicht zu kennen. Unsere Geschichte ist doch der Anfang von all dem hier, nicht wahr?“

Sam nickte sprachlos.

„Nun wird er dich so schnell nicht vergessen, Frank.“

Sams Vater lachte. „Mein Sohn ist an Geschichte sehr interessiert.“

Frank schien erfreut. „Das ist immer eine gute Basis für einen großen Wissenschaftler. Nur, wer Altes kennt, kann Neues entdecken. Es war mir eine Ehre, Samuel.“

„Mir auch, Sir“, erwiderte Sam kurz, der gar nicht begreifen konnte, wie er in so kurzer Zeit so viel Sympathie für diesen Mann aufbringen konnte.

Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er sah ihn voller Stolz an und führte ihn dann weiter durch die Halle. „Hier ist es.“

Neben dem Eingang hielt, wie bestellt, der Soldat, ein militärischer Cyborg, Wache. Sein Vater legte seine Hände auf eine Scheibe an der Tür und diese öffnete sich.

„Du wirst fasziniert sein, Sam. Die R2-Reihe sieht uns schon unglaublich ähnlich. Wir planen, sie in sämtlichen Altersgruppen zu liefern. Das wird für Kinder sicher förderlich sein. Sie werden zum ersten Mal in unserer Geschichte ein Cyborg-Kind als realistischen Spiel- und Lerngefährten erhalten.“

„Du meinst, solange man in einer Familie lebt, in der man sich so etwas leisten kann.“ Sam klang mal wieder skeptisch.

„Der Preis sinkt mit der Nachfrage, mein Sohn. Wir haben schon so viele Vorbestellungen, dass der Preis dieser Serie schon in den ersten Monaten unglaublich sinken wird.“

Sam blies die Wangen auf und stieß seinen Atem hervor.

„Sehen wir uns das einfach mal an“, schlug er vor. Sein Vater war immer begeistert von dem, was sie erschufen. Meist gab es aber kaum erkennbare Unterschiede zwischen den Ziffern der Alphabet-Serien. Mit der A1-Serie hatte das Projekt Cyborg angefangen. Als diese damaligen Modelle ihre ersten Verbesserungen erhielten, entstand daraus der A2. Bei den folgenden B-Modellen wurde das Aussehen weiter optimiert. Doch bislang waren der Wissenschaft zwischen den Serien kaum große Sprünge gelungen. Bis auf den Durchbruch, der mit den ersten K.I.-Cyborgs der Q3-Serie gelungen war, kamen nur langsam weitere Optimierungen hinzu. Die R1 Cyborgs sahen schon sehr menschlich aus, doch viele Änderungen erwartete Sam nicht. Wieso sollte ein R2 gleich um ein Vielfaches besser sein als das Vorgänger-Modell der R1-Serie, die erst im letzten Jahr vorgestellt worden war?

Sie traten an die Versorgungskapsel heran. Sie war das Gefäß, in dem der Cyborg bis zur Auslieferung lag, eingebettet in ein zähflüssiges Material, das sein Vater Lebenssaft nannte, weil es jeden Teil der Maschine auch über Jahre hinweg im besten Zustand erhielt.

Bevor der Professor die Kuppel öffnete, packte er seinen Sohn mit beiden Händen fest an den Schultern. „Ich hoffe, dass alles gut laufen wird, denn wenn sie funktioniert, wird sie dein erster eigener Cyborg werden.“

Sams Augen weiteten sich überrascht. „Ich weiß, dass du nur nett sein willst, aber wozu soll das gut sein?“

Doch sein Vater ließ sich nicht beirren und schlug mit der Faust auf den Knopf, der die Versorgung beendete und die Kuppel öffnete. Licht strömte durch den zähflüssigen Inhalt nach draußen. Nackt und in Fötus-Stellung lag der weibliche R2-Test-Cyborg dort. Die dunklen Haare waren über dem Kopf zusammengebunden. Unter ihren geschlossenen Augen, an den Brüsten, Beinen und Kniescheiben zogen sich blaue Linien durch die Haut, in denen bläuliches Licht schimmerte. Diese Öffnungen waren nur an den Oberschenkeln sehr breit, ansonsten konnte Sam seinem Vater nur Recht geben. Sie wirkte unglaublich realistisch und sah ziemlich jung aus, in etwa so alt wie Sam selbst.

„Die Öffnungen sind bei diesem Modell gering gehalten. Die bläuliche Substanz ist ähnlich wie die Haut, nur etwas durchsichtiger. Man erkennt allerdings nichts Technisches, denn dahinter liegen Kontrollpunkte, die während ihrer Laufzeit stets beleuchtet sind. Gibt es ein Problem, dringen wir durch die Öffnungen ein, um der ansonsten perfekten menschlichen Haut nicht zu schaden. Die Substanzen sind leicht und unerkennbar zu verschließen, das macht die R2-Serie bislang einzigartig. Es gibt einige wichtige Kontrollpunkte, das sind die hinter den runden Öffnungen: einer unter dem Arm nahe ihrer Brust, mit dem sie zum ersten Mal gestartet wird und durch den wir an das sogenannte Herz kommen, dann je zwei an jedem Fuß. Diese sind wichtig, weil wir dort einige Speicherkristalle platziert haben, die Daten ihres Körpers aufzeichnen. Das ist wirklich eine ganz neue Technik, Sam. Sie ist mit einer gefühlvollen K.I. ausgestattet, sie empfindet Schmerz, Mitgefühl, Freude und dergleichen. Das ist bahnbrechend und wir glauben, damit einen ganz neuen Schritt in die Beziehung zwischen Cyborg und Mensch zu gehen. Cyborgs werden ein Teil der Familie werden. Ihnen einen Namen zu geben, wird nicht länger lächerlich anmuten. Ihnen keinen zu geben wird herzlos erscheinen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir mit den Erkenntnissen, die wir bei der Herstellung der R2-Serie gesammelt haben, auch das Hauptsystem Coroc weiter ausbauen können.“

Aufgeregt streichelte er dem Cyborg über die Haut, während er seinem Sohn diese Errungenschaft ans Herz zu legen versuchte.

„Ist sie 17?“

Sein Vater begriff schnell, dass Sam mal wieder kaum zugehört hatte. Doch er freute sich, dass er zum ersten Mal mit den Gedanken im Hier und Jetzt war, als er nachfragte. „Ja, ich dachte, es wäre gut dir einen Cyborg zu schenken, der optisch ungefähr deinem Alter entspricht.“

„Wofür soll sie denn gut sein? Ich habe Freunde, ich brauche keinen Roboter.“

„Der R2 dient nicht nur als Hilfe, Begleitung, Ratgeber oder ähnliches. Er dient auch der Sicherheit, Sam. Sie ist auch darauf programmiert, dich vor Gefahren zu schützen.“

Sein Sohn verdrehte genervt die Augen. Eine nicht unbekannte Geste für den Professor.

„Sie soll mich von Dummheiten abhalten, oder?“

„Wir werden sehen, wie sie sein wird, Sam. Ich kann sie zu nichts zwingen. Sie ist eine gefühlvolle K.I., vergiss das bitte nicht.“

„Wenn sie bei Filmen anfängt zu weinen, hört mein Verständnis für den Gefühlskram bei Robotern aber wirklich auf.“ Er lächelte kurz und steckte auch seinen Vater damit an.

„Jaja, Sam, mach dich nur lustig!“

Dann ergriff er die Hand seines Sohnes und führte sie zu dem runden Kontrollpunkt unter ihrem Arm. „Du musst fest drücken. Es wird einen Moment dauern, bis sie erwacht und dann können wir nur hoffen, dass sie keine Probleme wie ihre Vorgänger-Version verursacht.“

Sam presste seine Finger auf ihre durchschimmernde Haut. Sie fühlte sich bereits jetzt warm und dadurch irgendwie lebendig an. Schnell zog er die Hand zurück.

Sein Vater wandte sich erneut an Verone: „Starten Sie die Aufzeichnung, ich brauche mindestens eine Frontansicht und eine vom Profil des R2.“

„Aufzeichnungen werden gestartet, Professor.“

Die Fingerspitzen des Cyborgs zuckten mehrmals, bevor sie sich streckten. Es sah wirklich aus, als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen. In ihrem Gesicht konnte man noch die Müdigkeit erkennen. Nur langsam öffneten sich ihre strahlend blauen Augen.

Kapitel 2

Der R2 richtete sich langsam auf. Verwunderung lag in ihren Augen und sie bedeckte beschämt ihre Brüste. Sam sah peinlich berührt auf den glänzenden weißen Boden hinab. In ihrem künstlichen Bewusstsein war die Erweckung als Teil ihres bisherigen Wissens eingespeichert. Sie erkannte den Testraum, dessen Bilder man in den Speicherkristallen angelegt hatte. Auch der Mann vor ihr kam ihr bekannt vor. Sie wusste, dass sie im Forschungszentrum war und dennoch fühlte sie sich aufgrund ihrer Nacktheit unwohl.

Der Professor sprach erneut die K.I. des Forschungszentrums an. „Verone, schicken Sie uns bitte umgehend einen Cyborg, der uns einen der R2-Körperanzüge bringt und legen Sie eine Notiz über ihre Scham-Reaktion ab.“

Verone antwortete umgehend. „Die Ablage dieser Notiz ist soeben erfolgt. Ein Cyborg macht sich auf den Weg zu Ihnen, Professor.“

Dann wandte sich sein Vater an das R2 Modell, das ihn unsicher ansah, als er sich einen Schritt näherte. „Du bist im Forschungszentrum in Cyron und wir haben dich soeben aus deinem Erstschlaf erweckt. In Kürze bekommst du Kleidung, damit du deinen Körper bedecken kannst. Danach werden wir einige Tests durchführen müssen, um zu sehen, ob dein System fehlerfrei funktioniert. Nun möchte ich mich aber kurz vorstellen: Mein Name ist Robert James Stanson. Ich bin einer der leitenden Professoren im Bereich der Cyborg- und K.I.-Forschung. Das ist mein Sohn Samuel, er ist hier, weil deine zukünftige Aufgabe darin besteht, durch ihn unsere Welt, sozialen Interaktionen und unsere Geschichte kennenzulernen. Außerdem dienst du seinem Schutz. Er wird also dein Pate sein, dieses Wort sowie sein Name sollten dir bereits ein Begriff sein. Ist dem so, R2?“

Vorsichtig nickte sie. Es beruhigte sie zu wissen, dass ihr Pate bereits vor Ort war. Kurz musterte sie ihn, ehe sich ihr Blick wieder auf Robert richtete. „Ist das mein Name?“

Ihre Frage zauberte dem Professor ein Lächeln ins Gesicht. Ihre Stimme war angenehm sanft und unglaublich klar, ganz anders als die von Jenna. Sie klang so perfekt wie Verones Stimme. Es gab keinen einzigen technischen Klang darin.

„Nein. Deinen Namen erhältst du von Samuel.“

Sein Sohn sah auf und blickte in die beiden erwartungsvollen Gesichter, die ihn plötzlich ansahen. Sein Vater hatte ihn schon wieder mit seinem vollen Namen vorgestellt. Eigentlich hätte er das nur zu gern korrigiert, aber ihm war die Situation noch immer unangenehm. „Wie, jetzt sofort?“ Er geriet etwas in Stress.

„Du bist doch sehr belesen und ideenreich. Es wird doch sicher einen Namen geben, den du in alten Büchern sehr gemocht hast. Vielleicht so etwas wie Gaya oder Helene“, schlug sein Vater vor.

Sam schüttelte den Kopf. „Das passt doch überhaupt nicht. Sie ist viel zu modern, um ihr einen solchen Namen zu geben.“

„Gut. Was passt denn deiner Meinung nach?“

Während die beiden sich unterhielten, wanderte der Blick des R2 aufmerksam zwischen dem Professor und seinem Sohn hin und her. Die Tür glitt plötzlich auf und ein männlicher Cyborg betrat den Raum. In den Händen hielt er einen zusammengelegten weißen Anzug.

„Sehr gut“, sagte Sams Vater und nahm das Kleidungsstück entgegen. „Sie dürfen nun gehen.“

Das männliche Modell der R1-Serie bedankte sich und verließ eilig den Raum. Dann legte Sams Vater den Anzug auf dem Boden vor der Versorgungskapsel ab, auf der der R2 nun wesentlich beruhigter aussah.

„Einfach die vorderste Naht auseinanderziehen, sie schließt sich von allein, wenn du den Anzug anhast und die Naht zusammenstreichst.“

Sie nickte dankbar.

Der Professor und Sam drehten sich um und hörten, wie sie den Stoff öffnete. Es dauerte etwas, bis sie mitteilte, dass sie fertig war. Sam und sein Vater drehten sich zu ihr um. Sie stand nun und war etwa zehn Zentimeter kleiner als Sam. Aber das war auch nicht verwunderlich. Er war generell immer ein paar Zentimeter größer als seine Mitschüler oder Freunde. Der Anzug lag ganz eng an ihrer Haut, der weiße Stoff hatte am Dekolleté einen V-Ausschnitt und ging an den Beinen bis knapp unter die Knie. Die Arme waren bis zu den Händen vollständig bedeckt.

Der Professor versicherte ihr, dass sie Schuhe und eine große Auswahl an Kleidern erhalte, sofern die Tests gut ausfallen würden. Dann dürfe sie in spätestens zwei Tagen das Forschungszentrum mit ihm verlassen und erhalte ein eigenes Zimmer und wie versprochen die alltagstauglichere Kleidung.

Dann sah er seinen Sohn erneut erwartungsvoll an. „Wir warten noch auf den Namen, Sam.“

Einen Augenblick lang fühlte er sich völlig ratlos, doch als ihr Blick den seinen traf und er in das helle Blau ihrer Augen versank, gab es keinen Zweifel mehr an dem Namen, den sie tragen sollte.

„Sky“, sagte er fest entschlossen, „wie der Himmel über der Erde.“

Sein Vater sah ihn erfreut an. Er schien zufrieden mit der Wahl. „Also gut. Gefällt dir der Name?“ Mit dieser Frage wandte er sich dem R2 zu. Der Cyborg nickte.

„Sky“, wiederholte sie zufrieden, „wie der Himmel über der Erde.“ Und sie lächelte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Vorstellung von der Erde hatte. Doch sie empfand den Klang dieses Satzes als schön und war durchaus zufrieden.

„Wir reichen einander die Hand, wenn wir uns dem anderen vorstellen. Daher würde ich gern noch einmal anfangen. Mein Name ist Robert James Stanson. Und du bist …?“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

„Mein Name ist Sky“, antwortete sie und ergriff seine Hand.

Der Professor schüttelte sie leicht und Sky verstand, dass sie sich diese Geste merken musste.

Nachdem sein Vater seinem Sohn auffordernd zugenickt hatte, trat Sam ihr entgegen und stellte sich selbst vor. „Ich bin Samuel, aber alle nennen mich Sam.“

Sie lächelte ihn an. „Sam. Das gefällt mir gut. Ich bin Sky.“

Nun reichte sie selbst ihm zuerst die Hand und Sam ergriff sie. Ihre Haut fühlte sich überraschend echt und weich an. Vorsichtig schüttelten sie einander die Hände.

„Sehr gut“, erklang die Stimme seines Vaters. „Verone, legen Sie den Namen Sky in der Datenbank dieser Serie ab und sperren Sie ihn für die Nutzung weiterer R2-Cyborgs.“

„Der Name ist abgelegt und wird an die Datenbanken Cyrons übermittelt. Können wir mit den Tests beginnen, Professor?“

„Wer ist das?“, flüsterte Sky Sam zu. Sie wunderte sich über die immer wiederkehrende Stimme, die sie keinem Gesicht zuordnen konnte.

„Das ist die K.I. des Forschungszentrums. Ihr Name ist Verone, sie hat keinen Körper wie du und ich. Sie ist quasi das gesamte Gebäude.“

„Wofür steht denn K.I.?“

Sam sah sie überrascht an. „Das steht für künstliche Intelligenz. Sie wurde von Menschen wie meinem Vater entwickelt und dient dazu, technische Geräte mit einem Lernprozess auszustatten – oder wie in eurem Fall sogar mit Gefühlen.“ Er war sich eigentlich gar nicht sicher, ob er ihr so etwas sagen sollte, geschweige denn durfte. Sie schien ja noch nicht allzu viel zu wissen, doch Sam wusste nicht, dass Sky lediglich die Abkürzung nicht kannte.

Die Stimme seines Vaters übertönte ihr Gespräch „Wir werden mit den Bewegungskoordinationsversuchen anfangen. Danach prüfen wir sie auf ihre körperlichen Empfindungen. Dazu können Sie schon einmal die Ablage mit den benötigten Utensilien ausfahren. Zeichnen Sie ihre Bewegungen bitte mit einer Nahaufnahme der Gelenke auf. Das wäre bis dahin erst einmal alles, Verone.“

„Nahaufnahme der Gelenke wurde soeben aktiviert. Die benötigten Utensilien stehen zur Verfügung. Viel Erfolg, Professor!“

Eine Schublade fuhr aus der rechten Wand des Raumes heraus. Was sich darin befand, konnten weder Sam noch Sky aus der Entfernung sehen. Als sein Vater sich Sky näherte, trat Sam einige Schritte beiseite.

„Wir beginnen nun damit deine Bewegungsfähigkeit zu prüfen. Dazu fangen wir von oben an und arbeiten uns bis zu deinen Füßen vor.“

Der R2 nickte bereitwillig. Es folgten einige Übungen. Sie musste den Kopf, soweit es ging, nach links und rechts drehen, dann nach oben und unten richten. Dabei war es ihr scheinbar nicht möglich diesen weiter zu drehen als ein Mensch. Bei Jenna sah das noch ganz anders aus. Zu ihrer Zeit spielte die Ähnlichkeit eine viel geringfügigere Rolle. Sie konnte den Kopf um 360° drehen und den Raum aus einer Position heraus komplett durchleuchten. Der Professor und Sky testeten die Schultergelenke und den Halswirbel. Bei Cyborgs achtete sein Vater stets darauf die Bauteile so zu benennen wie die Körperteile eines Menschen. Sie schauten, wie weit sie sich nach vorn beugen konnte und sie schaffte es sogar ihre Zehen zu berühren.

Sam war leider nicht ganz so sportlich. Er war zwar schlank, aber nicht wirklich muskulös. Während die meisten Jungs in seinem Alter sportlichen Aktivitäten wie Spinrun oder dem auf Hope sehr beliebten Juno nachgingen, verbrachte er seine Zeit damit die Archivkammern nach alten Schätzen zu durchforsten. Dieser Unterschied zu seinen Mitschülern machte sich meist dann bemerkbar, wenn er bei einem Sportwettbewerb der Schule schon nach den ersten Aufgaben außer Atem geriet und folglich einen der letzten Plätze belegte. Doch Sam schob diese Gedanken schnell beiseite, denn er sah sich nicht gern als Verlierer und so versuchte er sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Sky sollte derweil jeden ihrer Finger mit dem Daumen berühren und danach die Hände einmal zu Fäusten ballen. Sie bekam danach die Aufgabe ihre Augen zu schließen und zuerst den rechten Arm auszustrecken und ihren Zeigefinger zur Nasenspitze zu führen. Danach musste sie diese Übung mit dem anderen Arm wiederholen. Es folgten eine Reihe weiterer Tests wie das Hüftkreisen, Kniebeugen, auf einer Linie Laufen und das Kreisen der Füße. Für Sam war das schnell langweilig, denn sie schien jede Aufgabe problemlos zu beherrschen und er erkannte längst, dass sie einwandfrei funktionierte. Als sie zu allerletzt auch mit all ihren Zehen wackeln konnte und sich auf deren Spitzen stellte, war dieser Test endlich erfolgreich abgeschlossen.

„Bewegungsabläufe funktionieren optimal. Notieren Sie das“, die Stimme des Professors wandte sich eindeutig erneut an Verone, die ihm die Sicherung der Notiz bestätigte. Dann gratulierte er Sky beeindruckt. „Wirklich hervorragend. Für einen ersten Ablauf direkt nach der Erweckung zeigst du große Körperbeherrschung.“

Ihre Mimik verriet, dass sie das Lob mit Freude annahm.

„Nun zum zweiten Test“, der Professor drehte sich zu seinem Sohn um. „In der Ablage dort liegen mehrere Gegenstände. Ich brauche zuerst den kleinen Hammer für einen Reflextest.“

Sein Sohn gehorchte und brachte ihm umgehend das ihm nicht unbekannte Werkzeug. Der Schularzt hatte diese Übung bereits einige Male auch bei Sam durchgeführt. Bei der alljährlichen gesundheitlichen Kontrolle wurden die Schüler auf Herz und Nieren geprüft. In Skys Fall schienen auch die körperlichen Reflexe einwandfrei zu reagieren. Schlug ihr Vater mit dem Hammer auf die Kniescheibe, so fuhr das Bein etwas hoch. Dies wiederholte er an einigen anderen Körperstellen. Danach reichte er Sam den Hammer und bat ihn, diesen gegen einen Glühstein zu tauschen. Während Sam den Stein holte, schnipste der Professor einmal an ihrem linken und dann am rechten Ohr. Daraufhin näherte er sich mit einem Finger ihrem linken Auge, das sich erfolgreich zu schützen versuchte und sich dementsprechend umgehend schloss. Diesen Ablauf wiederholte er mit dem anderen Auge, das dieselbe positive Reaktion hervorbrachte.

Als sein Sohn ihm den Stein reichte, bat er Sky eine Handfläche zu öffnen, damit er ihr den Stein in diese legen konnte. Sein Vater rieb den Glühstein zuvor in beiden Händen und ließ ihn dann auf ihre Haut fallen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie plötzlich schmerzhaft das Gesicht verzerrte und ihn zu Boden fallen ließ.

„Das tat weh!“ Ihre Stimme klang erschrocken.

„Dieser Stein baut nach dem Reiben Hitze auf und er wird nach einiger Zeit so heiß, dass es Schmerzen verursacht. Das ist ein Schmerzgefühl gewesen, Sky, und zeigt deinem Körper, dass dort etwas ist, das dir schaden könnte.“ Die Erklärungen seines Vaters klangen unglaublich liebevoll. Es schien, als würde er sie bereits jetzt wie ein menschliches Kind behandeln. „Es gibt eine ähnliche Übung mit einem Kühlstein. Er simuliert Kälte, dein Körper hält ihr stand, aber eben nicht dauerhaft. Reagiert deine Haut auch darauf, kannst du dich erst einmal ausruhen. Dann machen wir eine kleine Pause und du kannst Sam etwas kennenlernen. Ich muss nach den Tests erst einmal gehen und die Aufzeichnungen überprüfen.“

Sky nickte und zeigte damit ihr Einverständnis, sich erneut einem Schmerzgefühl auszusetzen. Sam wurde geschickt, um den Kühlstein zu holen und die Prozedur wurde damit erneut durchgeführt. Wieder dauerte es einige Zeit bis auf ihrem Gesicht abzulesen war, dass sich der Stein auf ihrer Haut langsam unangenehm anfühlte. Sie ließ ihn zu Boden sinken und ballte die Hand zur Faust, um die Kälte zu vertreiben.

„Eine sehr gute instinktive Reaktion, Sky. Deine Hand nun wärmen zu wollen ist ein wundervolles Zeichen. Solche Maßnahmen gibt es auch gegen die Hitze. Du hättest dir in die Handfläche pusten können, um den Schmerz zu lindern oder, sofern du Zugriff auf eine Wasserquelle gehabt hättest, hättest du die Hand unter kaltem Wasser abkühlen können. Diese Dinge wirst du noch früh genug lernen, aber deine Ergebnisse sind bislang unglaublich beeindruckend, Sky.“ Er lächelte ihr zu. „Ich gehe nun kurz rüber. Die Steine werden nachher eingesammelt. Lasst sie solange einfach liegen, die könnt ihr im Moment wirklich nicht anfassen. Vielleicht mag Sam dir ja etwas über sich erzählen.“ Er sah seinen Sohn schon wieder erwartungsvoll an.

Na toll!, Sam würde gleich zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen allein sein. Und das nicht einmal mit einem menschlichen. So hatte er sich das für seine Zukunft eigentlich nicht ausgemalt: eine Roboterfreundin an die Seite gestellt zu bekommen, die ihm den Kontakt zu richtigen Mädchen womöglich nur erschweren würde … Genervt rollte er mit den Augen.

Ja, da war es wieder. Sein Vater hatte es genau gesehen, aber sein Sohn würde da jetzt durch müssen. Es war an der Zeit, dass er aufhörte seine Zeit meist allein zu verbringen und endlich seine Schüchternheit abzulegen. Sky war dafür ein optimaler Gesprächspartner. Sie war unvoreingenommen und wissbegierig. Sein Wissen würde sie keinesfalls langweilen, sondern beeindrucken und Sam sollte erkennen können, dass er gar nicht so uninteressant war, wie er von sich zu denken pflegte.

Als die Tür des Testraums aufglitt und sein Vater in der Zentrale verschwand, stand Sam etwas hilflos da. Er wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Unsicher bohrte er mit seinem rechten Fuß imaginäre Löcher in den Boden.

„Wie alt bist du?“, fragte Sky unerwartet.

Sam sah zu ihr auf. „Siebzehn.“

Sie lächelte wieder. „Das ist noch sehr jung für einen Menschen, oder?“

„Ja. Im Durchschnitt werden wir über einhundert Jahre alt.“

Sie nahm die Informationen auf, die er ihr gab. Er merkte es bis dahin noch nicht einmal, aber er schulte sie. Sam fütterte häppchenweise das Wissen weiter an, das voreingestellt in ihr verankert war.

„Du sagtest ,Wie der Himmel über der Erde‘. Doch ich finde nichts dergleichen in meinen Erinnerungen.“

Sam war sich zuerst unsicher, ob er ihr tatsächlich etwas vom blauen Planeten erzählen sollte. Bislang hatte das ja kaum einen interessiert und wenn sie eine so hochentwickelte K.I. hatte, war es ja durchaus möglich, dass er sie mit diesem Thema langweilen könnte. „Willst du wirklich etwas darüber erfahren?“

„Natürlich“, antwortete sie und setzte sich auf den Rand der Versorgungskapsel. „Wenn du magst, kannst du dich auch gern setzen.“ Freundlich bot sie ihm den Platz neben sich an.

Vorsichtig nahm Sam Platz, er bedankte sich nicht einmal, so aufgeregt war er. Er saß neben dem ersten Cyborg seines Lebens, der ihm irgendwie so gar nicht technisch vorkam. Sie schien furchtbar realistisch, mal abgesehen von den kleinen Öffnungen unter ihren Augen, durch die das Licht schimmerte. Von Weitem sah es auch eher aus wie Schminke. Daher wirkte selbst das nicht abschreckend unmenschlich. Sein Blick wanderte zur Tür. Er stellte sich die Erde bildlich vor. Oft hatte er Bilder von ihr aus allen Perspektiven betrachtet. In seiner Vorstellung wählte er die Sichtweise der ersten Menschen, die die Welt von einem anderen Planeten bewundern konnten. Die Aussicht vom Mond.

„Die Erde ist unsere eigentliche Heimat. Sie liegt viele Lichtjahre entfernt von hier. Man nennt sie den blauen Planeten, weil sie zu über 70 Prozent mit Wasser bedeckt ist. Es gibt dort Ozeane, die von einem bis zum anderen Horizont reichen.“ Er fuhr sich unterdessen gedankenverloren durchs Haar. „Aber nicht nur das Wasser dort ist blau. Die Atmosphäre der Erde ist ganz anders als die hier auf Hope. Wenn das Licht ihrer Sonne sich in der Atmosphäre bricht, erstrahlt der Himmel in einem zarten bis satten Blau. Deine Augenfarbe erinnert mich irgendwie an diese Besonderheit der Erde. Außerhalb unserer Schutzkuppel würden wir hier ohne ein Beatmungsgerät gar nicht überleben. Der Himmel über Hope ist gelblich und wirkt ziemlich trocken. Wenn ich jedoch den Himmel der Erde auf den Bildern der Archive sehe, dann fühlt es sich an, als betrachte ich schwebendes Wasser. Es ist ein viel erfrischenderer Anblick.“

Sam hielt inne. Er hatte tief im Inneren stets das bohrende Gefühl, nicht zu Hause zu sein. Es war bedrückend. Wenn es Tage gab, an denen er aus irgendwelchen Gründen traurig war und sich nicht wohl fühlte, gab es stets nur einen Gedanken in seinem Kopf: Ich will nach Hause. Doch je mehr er mit den Jahren seines Alterns begriffen hatte, wonach er sich so sehr sehnte, desto mehr erkannte er darin eine fast unmögliche Aufgabe. Die Kosten für eine Expedition zur Erde würden das Vermögen seines Vaters sprengen und so hing es an ihm, den Forschungsrat und die Regierung eines Tages von der Wichtigkeit dieser Reise zu überzeugen. Nur mit ihrer Hilfe würde er seinen Traum verwirklichen können.

„Warum sind wir dann hier und so weit von eurer Heimat entfernt?“ Sky schien ehrliches Interesse an seinen Erklärungen zu haben.

Sam merkte schnell, dass sie scheinbar wirklich mehr darüber wissen wollte. „Weil die Menschen den Planeten mit nuklearen Sprengsätzen krank gemacht haben.“

Seine Antwort war die Wahrheit, doch sie klang bitter in den Ohren des R2. Sie wusste, was nukleare Waffen waren. Die Forscher hatten in ihrem System etliche Begriffe abgelegt, damit sie von Beginn an im Stande war, reibungslos zu kommunizieren. Sky konnte sich die Erde dank Sam gut vorstellen. Er sprach so fasziniert von ihr, dass sie sich mitreißen ließ. Sie stellte sich diesen Planeten mit seiner Fülle an Wasser vor und dachte an seinen strahlend blauen Himmel. Sam hatte ihr einen wirklich bezaubernden Namen gegeben. Wie konnte man einem so wunderschönen Ort nur schaden? Sie verstand nicht, wie man einen Planeten auslöschen konnte, den man scheinbar liebte. „Wieso zerstört man seine eigene Heimat?“

Sam sah tief in ihre blauen Augen. „Ich glaube, dass die Menschen von damals nicht die Fähigkeiten besaßen, weit genug in die Zukunft zu denken. Sie hatten Vorstellungen davon, malten sich in Geschichten aus, wie sie in hunderten von Jahren sein würden und manchmal gab es darunter auch den Gedanken, dass sie selbst ihr Ende herbeiführen würden. Doch scheinbar waren sie nicht in der Lage ihre Lebenseinstellung zu ändern und durchdachter mit ihren Ressourcen umzugehen. Also wurde das Überleben irgendwann schwierig. Wenn ein Land stärker als das andere war, nahm es sich in einem Krieg, was es wollte. Und so kam es schon bald zu einem der schlimmsten Kriege der Menschheit. Einige starke Länder verbündeten sich, doch auch jene, von denen sie bis dahin dachten, dass diese schwach seien, fuhren plötzlich starke Geschütze auf. Es wurden erste Atombomben gezündet. Jene, die angegriffen wurden, zündeten ebenfalls welche, als sie erkannten, dass sie dem Untergang geweiht waren. Und so bombten sie sich in den Tod und vergifteten ihre eigene Heimat. Es gab einige wenige Rettungskapseln, die die sogenannten Auserwählten ins All retteten. Den Planeten Hope hatten sie schon einige Jahre zuvor als möglichen Zufluchtsort entdeckt. Die Lage der Erde wurde schon viele Jahre vor diesem Krieg als kritisch betrachtet und deshalb hatten sie sich zum Glück vorbereitet, sonst wären wir jetzt nicht hier, Sky. Es würde hier keinen von uns geben.“

Sie wirkte nachdenklich, als sie die Informationen verarbeitete. Ihr Kopf senkte sich und auch Sam wusste plötzlich nicht mehr, was er noch sagen sollte. Jetzt, da er diese Geschichte jemandem erzählte, der noch nie davon gehört hatte, kam er sich selbst schrecklich vor. Als wäre der Mensch ein Ungeheuer, das einen Planeten zerstört hatte, um sich nun eines anderen zu bedienen. Und so war es ja irgendwie auch. Doch er wusste, dass die Techniker wesentlich bedachter mit den Rohstoffen dieses Planeten umgingen und dass sie ihre Fortschritte nicht nur für den Kampf einsetzten. Sie erarbeiteten auch immer neue Möglichkeiten, um Hopes Ressourcen schonen zu können und selbst Materialien zu entwickeln, die wachsen konnten und die für Nachhaltigkeit sorgten.

Seine Mutter arbeitete für eine solche Forschungseinheit. Sie war nun schon über ein Jahr auf der Suche nach neuen Energiequellen, deren Kopierung wissenschaftlich möglich war und er hoffte, dass sie einen solchen Weg finden würde, damit die Magier sie endlich in Ruhe lassen würden. Diese fürchteten nämlich die Ausbeutung und Zerstörung eines weiteren Planeten. Sie hatten zuerst nur gedroht, als sich ihre und die Wege der Menschen trafen, doch aus der Drohung wurde Ernst, als sie nicht aufhörten zu forschen, zu bauen, zu lernen. Einige Verfechter des einfachen Lebens stellten sich auf die Seite der Magier und gaben jegliche technische Errungenschaft auf. Auf Hope nannte man sie seither die Jäger, weil sie wie zu Urzeiten auf die Jagd gingen, Früchte sammelten und Gemüse ernteten. Hope hielt eine Vielzahl an Nahrungsmitteln bereit, doch in Cyron und den anderen großen Städten gab es längst nur noch eine Form der Lebensmittelaufnahme: Energiegetränke, die mit verschiedenen Zutaten gemischt wurden, um ihren Geschmack zu verändern. Das war schon alles, was man als sogenanntes Kochen bezeichnen konnte. Doch es war nachhaltig, weil nur wenige Zutaten vom Planeten selbst stammten. Der Rest wurde rein künstlich erzeugt, dafür wurde nur wenig Wasser verwendet und das Ergebnis schmeckte ausreichend gut. Die Techniker waren also ganz anderer Meinung. Verbreiteten sich die Jäger durch vielfache Fortpflanzung, würden sie diesem Planeten weit mehr schaden, als ihnen selbst vorgeworfen wurde. Doch während Sam sich dessen bewusst war, so war es für Sky noch ein langer Weg, das alles zu begreifen.

Er spürte plötzlich, dass ihr Blick auf ihm ruhte und sah sie an. „Was ist denn?“, fragte er.

„Du musst mir unbedingt einmal die Erde zeigen.“ Es war ein Satz, der ihm das Herz erwärmte und er lächelte.

„Das machen wir. Gleich nachdem du hier raus kannst. Versprochen.“

Kapitel 3

Wasser prasselte auf Sam ein. Langsam lief es ihm die Haut hinab, als er sich den Tag vom Körper wusch. In Gedanken war er noch immer im Forschungszentrum. Er fragte sich, ob Sky ebenfalls über die letzten Stunden nachdachte und ob sie vielleicht sogar dabei war in der Vorstellung der Erde zu versinken. Sam schaltete auf den Trockenmodus um und wartete, bis alle Feuchtigkeit die Dusche verlassen hatte. Dann stieg er vorsichtig aus der Duschkammer und griff nach seiner Unterwäsche. Zügig schlüpfte er hinein. Er wollte vor dem Schlafen noch einmal zu seinem Vater. Leise schlich er durch den dunklen Flur und betrat das Wohnzimmer, in dem noch immer Bilder eines Films auf die Glasfront projiziert wurden. Sein Vater hatte sich auf das großzügige schwarze Sofa gelegt. Das und der Liegesessel waren die einzigen dunklen Möbelstücke im ganzen Haus. Sam ging zu seinem Vater, der überrascht schien.

„Kannst du nicht schlafen?“ In den Augen des Professors lag Müdigkeit.

„Nein, das ist es nicht. Ich wollte dich nur etwas fragen.“ Sam war sich plötzlich unsicher, ob sein Vater sein plötzliches Interesse an dessen Cyborgs nicht als seltsam empfinden würde.

„Nur zu, mein Sohn! Was möchtest du denn wissen?“ Sein Vater setzte sich auf.

„Kann sie träumen und nachdenken?“

Der Professor räusperte sich kurz. „Nun ja, dazu sollte sie fähig sein. Sie ist eine K.I., also ist sie in der Lage Wissen aufzunehmen und es zu verarbeiten. Das passiert in einem Prozess, der dem Nachdenken sicher ähnelt. Aber ich glaube, sie ist sich dessen nicht so bewusst wie wir. Verstehst du das?“

Sam nickte und sein Vater fuhr mit seiner Erklärung fort.

„Ähnlich ist das mit ihren Träumen. Die anderen Forscher und ich haben sehr wohl auch das bedacht. Fällt sie in den Ruhemodus, erhält sie die Wiederholung erlebter oder gelernter Daten. Ein Cyborg kann nicht schlafen und somit wird sie in einen Zustand versetzt, der unserem Schlaf ähnelt. Ihre Funktionen laufen während dieser Zeit vollkommen weiter. Der Körper ist dabei jedoch ruhiger und sie bewegt sich kaum. In ihrem Inneren wiederholen sich die Daten, um sich in ihrem künstlichen Bewusstsein zu verankern. Sofern sie lernt damit umzugehen, wird sie schon bald die Möglichkeiten entdecken sich Szenarien vorzustellen und eine künstlich geschaffene Erinnerung in dieser Art Traum zu erleben. Das macht auch unser Gehirn so. Es experimentiert und dabei kommen die seltsamsten Dinge beisammen, weil es Erinnerungen, Vorstellungen, Wünsche oder Ängste zusammenwirft. Aber das ist ein sehr komplexes Thema und nicht die geeignetste Gute-Nacht-Geschichte. Du scheinst dich für sie zu interessieren. Das erste Mal bist du scheinbar mit deinen Gedanken hier und nicht auf der Erde.“

Sam hatte geahnt, dass sein Vater seine Fragen kommentieren würde. Er verdrehte erneut genervt die Augen. „Es war nur einmal interessehalber, Dad.“

Und sein Vater lächelte sogleich. „Interessehalber. Aha. Noch vor einigen Stunden warst du in deinem Hologramm versunken und danach sagtest du mir, dass dich meine Forschungen nicht interessieren. Ich bin wohl einfach erstaunt darüber, dass das so schnell anders aussieht.“

Sein Sohn zuckte mit den Schultern. „Das liegt sicher noch an der Aussage von Frank. Wenn alle Wissenschaftler so wären, würden mich ihre Gesellschaft und Arbeit wohl weit mehr interessieren.“

Das Grinsen seines Vaters wurde breiter. „Es liegt nun also an Frank.“

Sam gab ein zustimmendes „Ja, genau“ und wünschte seinem Vater eine gute Nacht.

Als sein Sohn den Raum verlassen hatte, blieb der Professor noch einige Zeit nachdenklich sitzen. Er wusste, dass es nicht an Frank lag. Es war Sky, die Sam beschäftigte, und sein Vater empfand großen Stolz. Zum ersten Mal zeigte Sam Interesse für seine Arbeit und etwas so Modernes. Eigentlich war er schon immer ein Träumer gewesen. Er jagte den Schätzen der Erde nach, las die Geschichte seiner Vorfahren und studierte ihre verschiedenen Kulturen. Sam wusste es vielleicht nicht, aber sein Vater hielt ihn für unheimlich clever. Er wollte, dass sein Sohn dies selbst erkannte. Würde er es ihm einfach sagen, würde dies mit dem altbewährten Augenrollen und einer plumpen Antwort, die von seinem Kompliment ablenken würde, quittiert. Sam schien sich kaum eingestehen zu können, was für ein Wunderkind er war. Seine Belesenheit und sein dadurch erlangtes Wissen reichten über das vieler Stadtarchivhalter hinaus. Sky würde seinem Sohn hoffentlich die Augen öffnen und sie hatte heute bereits einen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Ihre Bekanntschaft könnte tatsächlich zu einer Freundschaft werden und Sam brauchte dringend einen wahren Freund. Die Jungs, die ihn aufzogen und ihn dazu drängten an verbotenen Partys teilzunehmen, waren alles andere als das. Der Professor lehnte sich entspannt zurück. Die Idee mit Sky war seine bisher größte Errungenschaft und das nicht nur für die gesamte Menschheit. Er hatte die R2-Serie nicht für Fremde geplant, er hatte sie für seinen Sohn entworfen. Und der heutige Tag hatte gezeigt, dass seine Idee die ersten Früchte trug.

„Gute Nacht, Sam“, murmelte er zufrieden, ehe er in den Schlaf sank.

„Guten Morgen, Professor Stanson“, ertönte die freundliche Stimme Verones, als Robert den langen Flur des Forschungszentrums betrat.

„Ihnen auch einen guten Morgen, Verone. Hat unser R2 die erste Nacht gut überstanden?“

„Alle Werte sind normal, die Phase des Ruhemodus’ haben wir erst vor Kurzem beendet. Sie erhielt soeben die Freigabe freiwillig in den Schlaf zu fallen oder aufzuwachen. Alle Tests sind nun abgeschlossen. Sie hat nach ihrem gestrigen Aufbruch auch die Gedächtnisprüfung sowie die Kampf- und Verteidigungsübungen erfolgreich absolviert.“

„Das sind gute Neuigkeiten an diesem Morgen. Dann bereiten wir sie umgehend für ihren Alltag vor. Lassen Sie Sky von jemandem in den Medienraum bringen und stellen Sie mir einen Energiedrink zur Verfügung. Ich hatte keine Zeit für das Frühstück, Verone.“

„Sehr gern, Professor.“ Sams Vater passierte die Sicherheitskontrollen und bahnte sich seinen Weg durch die Zentrale. Viele seiner Kollegen gratulierten ihm zu den erfolgreichen Testergebnissen. Einige sprachen sogar von Auszeichnungen, für die er schon bald nominiert werden würde. Doch der Professor ließ sich bislang noch eher ungern mit Lorbeeren schmücken. Sky musste es erst schaffen sich in den Alltag Cyrons zu integrieren und ihre Gefühlswelt würde auf die Probe gestellt werden. Würden die Menschen sie nur annähernd als gleichgesinnte Gesellschaft akzeptieren, würde dieser Welt eine völlig neue Zukunft offen stehen. Hope wäre dann Heimat der Menschen und Cyborgs, ein Ort, an dem man die Technik nicht nur als Diener ansehen würde. Man würde sie als neue Spezies anerkennen, lebendige Wesen, die der Mensch selbst geschaffen hatte.

Die Türen glitten auf und wie erwartet saß Sky bereits in einem der vielen Sessel. „Guten Morgen, Sky!“

Als sie sich zum Professor umdrehte, lächelte sie zufrieden. „Guten Morgen, Professor Stanson!“

Doch er winkte umgehend ab. „Du kannst mich gern Robert nennen. Lassen wir das mit dem ganzen Professor-Gehabe. Du wirst bald bei uns leben und wenn du zu unserer Familie gehören möchtest, sollten wir gleich damit anfangen.“ Er griff nach dem Energiegetränk und nahm einen großen Schluck. „Hat man dir bereits etwas Nahrung gegeben?“ Der R2 nickte. Körperlich war sie darauf keineswegs angewiesen, doch sie besaß die Fähigkeit der Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, um sich in diesen typisch natürlichen Prozessen nicht von ihren Schöpfern zu unterscheiden.

„Nun denn“, der Professor stellte sein Getränk ab, „wir sehen uns gleich einige kurze Filme an. Sie zeigen dir typische Verhaltensweisen unserer Gesellschaft: Begrüßung, Verabschiedung, allgemeines Benehmen in der Öffentlichkeit, Höflichkeitsfloskeln und so weiter. Sieh dir das ganz genau an und versuch diese Dinge in der Zukunft umzusetzen! Du wirst eine wichtige Rolle spielen, Sky. Dein Verhalten entscheidet über die Aufnahme in ein Volk, das bis zu deiner Vorstellung am morgigen Tag nur daran glaubte, dass die Technik uns dient. Sie sollen durch dich erfahren, dass die Technik mehr als ein Diener der Menschen sein wird. Du und deine ganze Serie sollen zu Begleitern, oder treffender gesagt, zu Freunden werden.“

Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Was ist, wenn ich das nicht schaffe, Robert?“

Er lächelte und setzte sich in den Sessel neben ihr. Dann griff er nach ihren Händen. Aufmerksam beobachtete sie jede seiner Taten. „Zweifle nicht an dir, Sky. Du hast bereits einen zweifelnden Menschen überrascht und du wirst noch viele weitere überraschen.“