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Die Ära Napoleons ist abgelaufen. Der Wiener Kongress ordnet Europa neu und in den deutschen Kleinstaaten fordern erste Stimmen ein geeintes Deutschland. Ehre, Freiheit, Vaterland verlangen die Burschenschaften und streben lautstark nach einer anderen Herrschaftsform. Doch noch ist man nicht bereit für eine geeinte Nation. In Amerika geht der Britisch-Amerikanische Krieg zu Ende und es erwacht ein gesteigertes Nationalbewusst-sein. Die Welt ist überall im Wandel. Ausgerechnet da geschieht eine der größten Naturkatastrophen der Menschheitsgeschichte. In Südostasien explodiert der Vulkan Tambora. Weltweit kommt es zu Hungersnöten, weil das Wetter Kapriolen schlägt. Wie kommt Katharina in dieser Welt ohne ihren Mann Franz zurecht? Der Totgesagte ist verschwunden. Aber er lebt und baut sich in den USA ein neues Leben auf. Seine Söhne Karl und Hans stoßen per Zufall auf eine Spur. Wird es ihnen gelingen, viele Puzzlestücke zusammenzusetzen und den Vater wiederzufinden? Die Suche treibt die Mathes-Brüder bis hinter den Horizont der Welten…
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Seitenzahl: 749
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Thomas W. König
Horizont der Welten
Taschenbuch Erstausgabe
24. November 2025
Erstdruck
Impressum
Texte:
© 2025 Copyright by Thomas W. König
Bilder:
Umschlag: Transatlantiksegler Anfang 19. Jhdt
Seite 5: Tecumseh, Häuptling der Shawnee
(beide Bilder KI-generiert von Thomas W. König)
Verantwortlich
für den Inhalt:
Thomas W. Koenig
Am Heiligenstock 5
61231 Bad Nauheim
Druck:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Thomas W. König
Horizont
Der
Welten
Historischer Roman
Band II
Verlorene Heimat
1813 – 1820
Shawnee Häuptling Tecumseh
»Zuhause heißt, wenn dein Herz
nicht mehr so schreit«
Feine Sahne Fischfilet
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts mischt Napoleon Bonaparte die politische Landkarte Europas auf. Auch in Ober-Mörlen, einem Dorf in der Wetterau, ändern sich die Herrschaftsverhältnisse. Jahrhundertelang hatte das Dorf zu Kurmainz gehört. Doch nachdem Frankreich alle deutschen Gebiete links des Rheins und somit auch Mainz zu französischem Staatsgebiet erklärt, wird das Dorf 1803 der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt zugeschlagen.
Franz Johann Mathes und seine Familie nehmen es in der Hoffnung hin, dass sich nicht viel ändern wird. Drei Jahre später wird die Landgrafschaft durch Bonaparte zum Großherzogtum aufgewertet. Nicht ohne Gegengabe! Denn dafür muss der neue Großherzog dem Rheinbund beitreten, einer politischen und militärischen Allianz mit Frankreich. Die Zeiten werden rauer.
Im Dorf spielt sich derweil Unteroffizier Althaus, Vorgesetzter einer kleinen hessischen Militärgruppe, als Vertreter des Großherzogtums auf. Eigenmächtig drangsaliert er die Dorfgemeinschaft und fälscht sogar Steuerabgaben zu seinen Gunsten.
Franz Mathes und Dorfmüller Philipp Morschel kommen ihm auf die Schliche und bringen Althaus vor Gericht. Trotz handfester Beweise kommt er dennoch ungeschoren davon.
Althaus’ Rache folgt wenige Jahre später auf dem Fuße. Napoleon braucht Soldaten für seinen Russlandfeldzug, und Althaus bekommt den Auftrag, Rekruten anzuwerben. Durch eine Hinterlist bewegt er Franz dazu, sich freiwillig für Napoleons Kriegszug zu melden und in einen Kampf zu ziehen, der niemals seine Sache war.
Bis nach Moskau begleitet Mathes Napoleon, während Katharina zu Hause den Hof und die Familie durchbringen muss. Die Grausamkeiten des Krieges fordern Franz auf seinem Weg in die russische Hauptstadt, und selbst am Ziel nimmt das Elend kein Ende. So beschließt der Mörler kurz vor dem Wintereinbruch, mit einem Kameraden zu desertieren. Die Flucht gelingt, und Franz schlägt sich auf einer abenteuerlichen Reise in seine Heimat durch.
Dort aber hat Althaus erneut eine Intrige gegen ihn geschmiedet: Er erklärte Franz im August 1812 für tot. Katharina glauben zu machen, dass auch ihr Mann in Russland gefallen sei, ist Teil seiner perfiden Rache an der Familie Mathes.
Katharina verzweifelt. Doch sie fängt sich wieder und findet zurück ins Leben, da Schulvikar Josef Groß ihr eine Stütze in schweren Zeiten ist. So erwächst eine neue Liebe, und die beiden beschließen, an Mariä Himmelfahrt 1813 die Ehe einzugehen.
Rückkehrer Franz, den nur die Liebe zu seiner Frau das Kriegselend überdauern ließ, muss, unbemerkt von Katharina feststellen, wie sehr sie im neuen Glück mit Josef aufgeht. Nach allem Abwägen beschließt Franz schweren Herzens, seiner Frau nicht im Wege zu stehen, da ihm zudem noch immer eine Verhaftung wegen Fahnenflucht droht.
Während Katharina nichts von seiner Rückkehr ahnt, beschließt Franz in aller Stille in die noch jungen USA auszuwandern, um dort ganz von vorne zu beginnen. Keiner im Dorf außer Müller Morschel hatte seine Rückkehr mitbekommen. Dieser aber hatte Franz sein Ehrenwort gegeben, zu schweigen.
Er hält sein Versprechen. Doch während der Trauungszeremonie an Mariä Himmelfahrt bricht es aus ihm heraus; er schreit Althaus’ Lüge in die Welt. Als Katharina erfährt, dass Franz lebt, ist dieser bereits auf einem Schiff unterwegs nach New York …
August 1813
Minutenlang herrschte Chaos im Gotteshaus. Wer hatte je einen größeren Tumult in dieser Kirche erlebt? Jeder redete, ja schrie lauter, um seinen Banknachbarn zu übertönen. Pfarrer Lanzinger stand am Altar und presste sich die Hände auf beide Ohren. Nie war er ratloser gewesen als in diesem Augenblick.
Ein Zwischenrufer hatte die Trauungsmesse just in dem Augenblick, als das Brautpaar gewillt war, sich das Ja-Wort zu geben, durch einen einzigen Einwurf zu einer Farce verkommen lassen. Das hatte der Geistliche auf seinem priesterlichen Lebensweg noch nie erlebt; die unerwartete Wendung stürzte ihn in erhebliches Unbehagen.
Katharina war dieser Aufregung nicht gewachsen. Die Nachricht von der plötzlichen Auferweckung ihres tot geglaubten Mannes hatte der Braut das Bewusstsein geraubt. Ohnmächtig und regungslos lag sie noch immer vor dem Altar auf dem Boden.
»Jetzt helft mir doch mal, Katharina wieder zurückzuholen«, flehte Josef Groß die umstehenden Personen an. Er kniete verzweifelt neben der Frau, die heute seine Ehefrau hätte werden sollen. Mit der linken Hand patschte er unbeholfen auf ihrer Wange herum, während er sie mit der rechten stützte.
»Loß mich dat mol maache, Jupp«, ergriff Marie Schmitz die Initiative. Die Bekannte aus Ehrenfeld bei Cöln war die Frau von Hennes Schmitz, dem Arbeitgeber von Katharinas ältestem Sohn Karl, und als Hochzeitsgast angereist. Katharina hatte sie spontan gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Marie schubste den Bräutigam sanft, aber bestimmt zur Seite. Aus ihrer Handtasche kramte sie ein Riechfläschchen, öffnete es und fummelte damit der Ohnmächtigen unter der Nase herum.
»Katring, jetz kumm allt. Maach der Auchge op!« Auch sie tätschelte der leblosen Frau die Wangen und knöpfte deren hochgeschlossene Bluse ein wenig auf, um ihr das Atmen zu erleichtern. Endlich zeigten die Bemühungen Wirkung. Verwirrt öffnete Katharina die Augen und schaute um sich.
»Jott sei Dank, do biste de ija widder!« Erleichtert stellte Marie ihr Fläschchen ab und half der Braut in eine aufrechte Sitzposition. Noch benommen von der gerade überwundenen Ohnmacht, kamen langsam ihre Erinnerungen zurück.
»Franz!«, hauchte sie. »Franz, wo bist du?«
»Dat es e Frooch, die dir wol nor d’r Här do unne beantwode kann«, meinte die verhinderte Trauzeugin und nickte hinunter ins Kirchenschiff, wo noch immer nacktes Chaos herrschte. Einige Leute hatten den Mann gepackt, der mit seinem Zwischenruf die Trauung so abrupt unterbrochen hatte.
»Jetzt beruhigen wir uns erst alle wieder einmal!« Lanzinger hatte sich gefangen und versuchte, seine Gemeinde mit erhobenen Händen zu beschwichtigen. »Setzt euch, ihr Leut’! Der Braut geht es wieder besser.«
Nur mühsam durchdrangen seine Worte die Geräuschkulisse. Doch allmählich kehrte mehr und mehr Ordnung in die aufgeregte Menge der Kirchenbesucher zurück. Endlich nahmen die ersten wieder ihre Plätze ein. Auch Josef hatte Katharina zu ihrem reich verzierten Brautsitz geführt und redete ermutigend auf sie ein.
Lanzinger hoffte wieder Herr der Lage zu sein. Also kletterte er die Stufen zur Kanzel hinauf, um von jedem gesehen und verstanden zu werden. Mit einem besorgten Blick über die Kirchenbesucher stellte er fest, dass die Gemeinde wieder aufnahmefähig war.
»Liebe Anwesende, ich bin der Überzeugung, dass es im Interesse aller ist, diese Trauung vorerst auszusetzen. Es wäre unmöglich, Gott um seinen Ehesegen zu bitten, als wäre nichts geschehen. Lasst uns die Messfeier zu Ende bringen und anschließend in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.«
Gemurmel im Kirchenschiff zeigte ihm, dass nicht jeder mit seinem Vorschlag einverstanden war.
»Philipp soll sich hier und jetzt vor uns erklären! Wir müssen verstehen, was ihn zu diesem Zwischenruf veranlasst hat!« forderte ein aufgeregter Gottesdienstbesucher.
»Ja, wir wollen Gewissheit«, stimmte ein anderer zu.
Lanzinger blickte unschlüssig zu Katharina und Josef, die wie ein Häuflein Elend in der ersten Reihe auf den festlich geschmückten Plätzen saßen.
»Wir sollten dies unserem Paar ersparen. Es wäre besser, wenn Familie Mathes sich zuerst in Ruhe mit dem Müller unterhalten könnte, da es hier in erster Linie um familiäre Angelegenheiten geht.«
»Falsch!« Magda Nikolai fuhr aufgebracht in die Höhe. Die Frau hatte auch einen Sohn im Russlandkrieg verloren. »Wir alle müssen wissen, was da gewesen ist. Vielleicht ist Franz ja keine Ausnahme und unsere Söhne und Männer sind auch noch am Leben.«
Sie drehte sich zu dem Müller hin und forderte: »Philipp, sag was!«
»Aber ich weiß doch gar nichts!«
Der Nachdruck, mit dem Morschel gerade noch seinen Einwand ins Kirchenschiff geschrien hatte, war verflogen. Kleinlaut wehrte er sich gegen die Aufforderung der erregten Frau. »Franz war doch nur kurz bei mir zu Hause. Ich weiß lediglich mit Bestimmtheit, dass er noch lebt.«
Ungläubig wendete sich Karl an Philipp: »Was? Vater war sogar bei dir? Warum hast du uns nichts davon gesagt?«
Seine Frage hatte einen vorwurfsvollen Unterton.
»Warum, warum!«, verteidigte sich der Müller gereizt. »Weil dein Vater es mir verboten hat.«
Karl konnte kaum fassen, was der Müller da von sich gab. »Das musst du uns dringend näher erklären!«
»Verdammt noch mal, da gibt es nichts zu erklären! Er hatte mitbekommen, dass deine Mutter ihn für tot hielt und im Begriff stand, den Schulvikar zu heiraten«, ereiferte sich der Müller. »Franz wollte ihrem Glück nicht im Wege stehen. Er sagte, er wolle das Dorf verlassen und nie wieder zurückkehren, damit deine Mutter mit dem Vikar in Frieden leben kann. Ich musste ihm mein Ehrenwort geben, zu schweigen.«
Der Mann war den Tränen nahe.
»Das Sie jetzt aber dennoch gebrochen haben«, grollte Josef Groß zerknirscht.
»Ich konnte doch nicht zulassen, dass Käthchen Sie zum Mann nimmt, wo ihr Franz noch lebt. Das sechste Gebot sagt schließlich: Du sollst nicht ehebrechen! Gott hätte mir das nie verziehen.«
»Sie haben damit unser Glück zerstört«, fauchte Groß. »Hätten Sie doch nur zu Ihrem Wort gestanden und geschwiegen, Sie Unglücklicher! Es wäre für alle besser gewesen.«
»Hört auf!« Der Pfarrer fuhr energisch zwischen die Streithähne. »Wir befinden uns in einem Gotteshaus, nicht auf dem Marktplatz – hier erwartet man Respekt und Andacht.Was nutzen jetzt Schuldzuweisungen? Geht nach Hause! Alle! Ich breche auch die Messe ab. Es wird sich zeigen, was Gott uns mit diesem Vorfall lehren will.«
Lanzinger stieg von der Kanzel und sammelte seine Messdiener ein. »Kommt!« Er griff hastig nach seinem Birett, machte eine flüchtige Kniebeuge vor dem Allerheiligsten und verschwand schleunigst in der Sakristei.
Es dauerte eine Weile, bis die ersten Gottesdienstbesucher realisierten, dass die Trauungsmesse damit endgültig gescheitert war. Nach und nach verließen sie tuschelnd und mit aufgeregt zusammengesteckten Köpfen ihre Plätze. Kurze Zeit später waren neben den verhinderten Brautleuten, den Mathes-Kindern und den drei Schmitz’ nur noch Philipp Morschel und seine Frau in einer Kirchenbank verblieben.
Der Müller brachte es nicht übers Herz, sich unauffällig aus der Kirche zu stehlen. Obwohl er überzeugt war, richtig gehandelt zu haben, nagte ein schlechtes Gewissen an ihm. Er atmete tief durch, sammelte seinen Mut und ging mit einem Gefühl der Reue zu Katharina und Josef.
»Du weißt, Käthchen, wie sehr ich deinen Franz schätze.«
Nervös massierte der Müller seine Hände. Ihm fehlten die rechten Worte, sein Verhalten zu begründen. Doch es drängte ihn danach, zumindest Katharina seinen Standpunkt begreiflich zu machen.
»Es tut mir leid, was passiert ist. Aufrichtig! Aber ich hab’s einfach nicht fertiggebracht, den Mund zu halten.«
Katharina schwieg. Sie starrte ihn nur an. Was sich in ihrem Kopf abspielte, vermochte niemand zu sagen.
Die unerträgliche Stille zerrte an Philipps Nerven. »So sag doch etwas, Käthchen, bitte! Dein Schweigen macht mich wahnsinnig!«
Der Anblick seiner Mutter schnürte Karl das Herz zusammen. Entschlossen stand er auf und stellte sich schützend vor sie.
»Lass sie in Ruhe, Philipp! Du hast ihr heute schon genug zugemutet.«
Katharina war wie in einem schlechten Traum gefangen. Doch allmählich befeuchteten sich ihre Augen, und schließlich flüsterte sie: »Franz war tot. Ich hatte ihn bereits betrauert und gerade wieder meinen Frieden gefunden. Jetzt aber ist der Schmerz zurück; schlimmer als zuvor.«
Eine Träne rollte über ihre Wange und fiel zu Boden.
»Glaube mir, ich verstehe, wie du dich fühlst«, stammelte Philipp, und seine Stimme zitterte dabei. »Und Franz hat wohl genau dies befürchtet. Deshalb wollte er, dass du nichts von seiner Rückkehr erfährst.«
»Aber ich wäre ihm vor Freude in die Arme gesunken«, schluchzte die Frau. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich habe ihn so geliebt, so sehr geliebt …«
Philipp wusste in seiner Verlegenheit nichts zu antworten. Er schaute betroffen erst zu Josef und dann zu Boden. Leise fuhr er fort:
»Er hat mir anvertraut, dass er von der Armee desertiert ist. Seine Angst, man würde ihn suchen und verhaften, war groß. Wenn die Franzosen ihn in die Finger bekommen, droht ihm ein Militärverfahren. Du weißt, was man mit Flüchtigen macht. Er wollte nicht, dass du noch einmal um ihn trauern musst. Zweimal den Tod desselben Menschen beklagen zu müssen, erschien ihm unmenschlich.«
Alle schwiegen erschüttert. Hans aber legte Philipp die Hand auf die Schulter.
»Es ist, wie es ist. Du kannst daran auch nichts mehr ändern. Aber sag, wann war es, als du ihn getroffen hast?«
Philipp musste nicht lange überlegen.
»Das kann ich dir ganz genau sagen. Es war am 13. Juni. Franz erzählte mir, dass er euch alle mit Schulvikar Groß spätnachts heimkommen sah.«
»Das Bardofest!«, rief Groß erschrocken aus. »Er hat uns bei der Rückkehr vom Fest beobachtet!«
Schlagartig erkannte Katharina, warum Franz sich ihnen nicht gezeigt hatte. Sie war an diesem Abend so aufgekratzt gewesen, dass sie Josef gegen seinen Willen überredet hatte, die Nacht mit ihr zu verbringen – die einzige Nacht, in der sie das Bett geteilt hatten. Ein intensives Gefühl der Schuld überkam sie beim Gedanken an diese Nacht.
»Oh Gott!« Mehr brachte sie nicht über ihre Lippen.
»Hat er dir gesagt, wohin er wollte?«, fragte Hans.
»Nein«, schüttelte Philipp den Kopf. »Das weiß ich nicht. Er meinte nur, dass er kein Recht habe, eurer Mutter das neue Glück zu nehmen.«
»Aber irgendwo muss er doch sein. Hat er keine Andeutung gemacht?«
»Ich hatte das Gefühl,dass er selbst nicht so recht wusste,was er tun sollte. Er nahm mir das Versprechen ab, mit niemandem über unser Treffen zu reden.«
»Dem hättest du niemals zustimmen dürfen, Philipp«, murrte Karl, noch immer verärgert.
»Oder Sie hätten zu Ihrem Wort stehen müssen. Was Sie jetzt getan haben, hat alles nur noch schlimmer gemacht.« Groß sprach aus, was er fühlte. Hans’ kurzem Wortwechsel mit dem Müller hatte er schweigend zugehört, aber es hatte ihm die Augen geöffnet. So wie die Dinge lagen, liebte Katharina Franz noch immer, und zu seiner Bestürzung wohl viel stärker, als sie ihn liebte. Diese schmerzhafte Erkenntnis brannte sich wie ein glühendes Eisen in seine Seele.
»Was machen wir jetzt, Katharina?«
Groß stellte die Frage aufrichtig; seine Stimme zitterte vor Unsicherheit. Er hatte absolut keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Katharina zuckte nur mit den Schultern, ihre Augen glänzten vor Tränen. Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht – auch sie war ratlos, fühlte sich verloren.
»Verzeih mir, Käthchen! Es war nie meine Absicht, dich erneut ins Unglück zu stürzen – das wäre das Letzte, was ich wollte.« Philipp war mit der Situation sichtlich überfordert. Aber er konnte nicht rückgängig machen, was geschehen war.
»Besser, wir lassen euch jetzt alleine«, meinte Philipps Frau Gertrude. Sie griff den Arm ihres Mannes und zog ihn aus der Kirche.
»Gonn m’r zoröck zom Hoff. Isch muss op all den Schreck watt drinke. Kopp huh, Kathrinchen, m’r weede e Lösung finde.«
Hennes Schmitz war der erste, der Optimismus verbreitete. Als gestandener Geschäftsmann war er es gewohnt, Rückschläge zu überstehen. Es lag in seiner Natur, nach Misserfolgen wieder aufzustehen und nach vorne zu schauen. Mit einem warmen Lächeln legte er seine Hand tröstend auf Katharinas Schulter.
Am Arm von Marie Schmitz hängend, machte sich Katharina mit den anderen auf den Rückweg zur Hintergasse. Die kleine Gruppe der Heimkehrer glich einem Trauerzug, als sie sich durch die Sandgasse zum Matheshof bewegte. Josef Groß folgte ihnen, ging aber ein paar Schritte hinter Katharina, ihren Kindern und den Schmitz’. Er fühlte sich ausgebrannt, leer und völlig überflüssig. Am liebsten hätte er sich gleich in seine kleine Mansardenwohnung hinter der Kirche zurückgezogen, doch das wollte er Katharina nicht auch noch antun …
*
Die folgenden Tage lasteten auf Katharina wie ein schwerer Stein. Sie wusste, dass Franz lebte, und doch hatte sie ihn erneut verloren. Stärker als in den Tagen, da Althaus die Liste der Kriegsgefallenen verlesen hatte, überfiel sie die Verzweiflung. Mit dem Schicksal hadernd, fragte sie sich, warum Gott ihr immer wieder Tiefschläge auferlegte.
Vor allem fragte sie sich, wie ihr Verhältnis zu Josef Groß in Zukunft aussehen könnte. Sie hatte geglaubt, eine neue Liebe gefunden zu haben, doch nun war sie gezwungen, ihre Gefühle neu zu sortieren. Wie konnte sie einen anderen Mann lieben, obwohl Franz noch lebte? Einen toten Franz hätte ihr Seelengleichgewicht verkraftet, aber der Lebende stand zwischen ihr und Josef wie eine unüberwindbare Mauer.
So oder so – eine Ehe mit dem Schulvikar war nun ausgeschlossen. Das Gesetz und die Kirche sahen in ihr weiterhin eine verheiratete Frau, auch wenn ihr rechtlich angetrauter Ehemann nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Zudem war Josef Groß ganz gewiss nicht der Mann, der mit ihr eine Beziehung eingegangen wäre, die man landläufig als »wilde Ehe« bezeichnete. Seine konservativ-religiöse Einstellung war dazu viel zu fest in ihm verwurzelt. Katharina wusste nicht einmal, ob sie selbst zu einer solchen Beziehung fähig gewesen wäre.
Nach dem Eklat in der Kirche hatte Josef sie noch in die Hintergasse begleitet. Dort hatte er unter vier Augen noch einmal versucht, seine verbliebenen Chancen bei Katharina auszuloten.
»Hat das alles etwas an unserer Situation geändert?«, hatte Groß sie eindringlich gefragt. »Wie es scheint, ist Franz nicht tot, aber er ist dennoch nicht bei dir. Du bist noch immer eine alleinstehende Frau und wirst es wohl auch bleiben. Ich dagegen stehe an deiner Seite. Ich liebe dich und möchte für dich da sein.«
In seiner Verzweiflung hatte er Katharina angeboten, über den Bischof einen Antrag an das Kirchengericht zu stellen, um die Ehe mit Franz annullieren zu lassen. Der Papst hatte die Macht, in bestimmten Fällen eine Eheaufhebung auszusprechen, und Katharina könnte somit wieder frei sein, eine andere Ehe einzugehen. Groß kannte sich ein wenig im Kirchenrecht aus und hegte die leise Hoffnung, dass er unter den gegebenen Umständen vielleicht Erfolg haben könnte.
Doch Katharina hatte ihm darauf nicht geantwortet, und so zog sich der Schulvikar,von einem Gefühl der Enttäuschung überwältigt,in seine Dienstwohnung zurück.
Als sich der Tag neigte und sie alleine auf ihrer Bettkante saß, hätte sie seine Nähe und Beistand dringend benötigt. Groß aber war nicht mehr da. Sie hatte sich so verlassen gefühlt. Aber Katharina wusste, dass es nicht in Groß’ Weltbild passte, ohne Eheschließung über Nacht im Hause einer Frau zu verweilen. Einmal war er über seinen Schatten gesprungen. Im Überschwang der Gefühle hatte er sich in jener Nacht nach dem Bardofest dazu hinreißen lassen, nicht nur bei ihr, sondern sogar mit ihr zu schlafen. Und dann wurde ausgerechnet jene Nacht zum Auslöser allen Übels. Franz war unbemerkt aus dem Krieg zurückgekehrt und hatte sie beobachtet!
Jetzt, so glaubte Katharina, war der Vikar gewiss davon überzeugt, von Gott für diese Verfehlung bestraft worden zu sein. Auch Groß war nur ein Gefangener seiner Überzeugung …
Was Katharina in diesen Augusttagen aufrecht hielt, war die Entscheidung der Schmitz’, sie nicht im Stich zu lassen. Marie und Hennes Schmitz hatten ihr versichert, einige Tage länger zu bleiben, um sie moralisch zu unterstützen. Eine Woche, so ihr Versprechen, wollten sie noch in Ober-Mörlen verbringen.
Unter anderen Umständen hätte Katharina diese Zeit sicherlich genossen, denn auch ihr Sohn Karl blieb länger als gedacht. Doch unter den gegebenen Umständen fiel es ihr schwer, die Zeit auszukosten.
Nichtsdestotrotz mussten die Tage sie alle wieder zurück in den Alltag führen. Es war August, die Zeit, in der die landwirtschaftlichen Arbeiten ihren Höhepunkt erreichten. Zwar hatten die Mathes die Ernte schon vorgezogen und in die Scheune gebracht, um für die bevorstehende Hochzeit vorbereitet zu sein, doch blieben Hans genügend Aufgaben, seine Tage bis zur letzten Stunde auszufüllen. So drängte die Arbeit seine Gedanken an das Geschehene wenigstens für den Moment in den Hintergrund.
Am Dienstag nach Himmelfahrt spannte er morgens die beiden Kühe vor den Leiterwagen, um frisches Gras heimzuholen. Er war froh, der heimischen Hofreite für einige Stunden entfliehen zu können, denn die Stimmung hier war einfach nur bedrückend. Ein wenig Abstand davon – nur er alleine mit seiner Arbeit – würde ihm guttun.
Der Junge war abfahrbereit, als sich unversehens die Haustür öffnete und Jutta Schmitz in den Hof trat.
»Kann ich mit dir kommen, Hans?«
Bittend sah ihn das Mädchen aus treuherzigen Augen an.
»Ich mache keine Fahrt ins Blaue. Es gibt auf der Wiese einiges zu tun. Du wirst dich langweilen«, versuchte Hans sie abzuwimmeln.
»Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Das werde ich ganz sicher nicht.« Verstohlen schaute sie sich um und vergewisserte sich, dass niemand außer Hans sie hörte. Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und gestand leise: »Ich will ehrlich sein. Mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Alle sind so geknickt, und das schlägt mir fürchterlich aufs Gemüt. Bitte, nimm mich mit!«
Sein geplanter Rückzug in die Einsamkeit war damit geplatzt. Hans seufzte. Mit Jutta an seiner Seite würde er sich ständig beobachtet fühlen. Doch ihm war klar, dass er ihren Gast nicht einfach vor den Kopf stoßen konnte; Juttas Argument war ihm wohl bekannt und spiegelte sein eigenes Empfinden wider.
Er musterte sie von oben bis unten. Das Mädchen sah in seinem hellen Sommerkleid und dem Strohhut aus, als wolle es zu einem entspannten Sonntagnachmittagsspaziergang aufbrechen. Eine sehr unpassende Kleidung, um Gras von der Wiese zu holen, wie Hans fand.
»Hast du denn etwas anderes zum Anziehen dabei? Das Kleid wirst du ganz bestimmt schmutzig machen.«
Jutta überlegte kurz, doch dann schüttelte sie den Kopf.
Wen wundert’s, dachte Hans, schließlich sind die Schmitz’ zu einer Hochzeitsfeier angereist.Da hat man selten Arbeitskleidung dabei.
Insgeheim hegte der Junge leise Zweifel daran, dass diese Leute überhaupt wussten, was Arbeitskleidung war, die seinen Ansprüchen gerecht wurde.
»Warte!«
Er stieg wieder vom Leiterwagen und ging zurück ins Haus. Jutta wartete auf ihn. Wenige Augenblicke später stand er wieder neben ihr; in der Hand hielt er eine weitgeschnittene Latzhose und ein Hemd aus seinem Kleiderbestand. Er drückte ihr die Sachen in die Hand.
»Das müsste dir passen. Vielleicht ein bisschen zu groß, aber wenn du den Gürtel enger schnallst, rutscht die Hose nicht. Probier’ das Zeug doch mal an.«
Jutta schaute entgeistert. »Ist das von dir?«, fragte sie.
Hans nickte.
»Wie witzig …«, kicherte sie. Dann blickte sie um sich. »Wo kann ich mich umziehen?«
»In der Scheune?«, schlug Hans vor.
Jutta zögerte keinen Augenblick und verschwand.
Hans ließ missmutig die Luft zwischen den Zähnen entweichen. Eigentlich wollte er schon längst unterwegs sein. Jetzt hatte er auch noch das Schmitz-Mädchen an der Backe. Zum Glück musste er nicht lange warten. Jutta hatte sich beeilt und kam in Hose und Hemd gekleidet wieder aus der Scheune.
»Und? Wie sehe ich aus?«, feixte sie amüsiert und drehte sich um die eigene Achse.
Hans musste schmunzeln. Der Anblick war einfach köstlich: Die Hose war viel zu lang, sodass das Hemd wie ein Sack um ihren Oberkörper fiel. Doch ihr fröhliches Gesicht strahlte so viel Freude aus, dass alles andere verblasste.
»Wenn ich dir noch eine Heugabel in die Hand drücke, könntest du glatt als Bauernbursche durchgehen.«
»Bauernbursche? – Warte!«
Das Mädchen griff sich beherzt ins hochgesteckte Haar und zog die Spange heraus, die ihre Lockenfülle zu einem Dutt gebändigt hatte. Das braune Haar fiel in einer Üppigkeit über ihre Schultern, die Hans nicht erwartet hatte. Sie schüttelte den Kopf und strich sich mit den Fingern durch ihr Haar, als würde sie es mit einem grobzahnigen Kamm richten.
»Besser so? Dann bin ich wenigstens ein Bauernmädchen«, grinste Jutta.
Hans sagte gar nichts. Er schaute nur auf das Mädchen und fand es durch seine neue Frisur völlig verändert. Jutta hatte wirklich unglaublich viele Locken. Die vorwitzigsten hingen ihr über die Stirn und wippten bei jeder Bewegung munter auf und ab.
»Du bist wirklich hübsch!« platzte es spontan aus Hans heraus. Sofort biss er sich auf die Lippen. Es war ihm einfach herausgerutscht und augenblicklich schämte er sich dafür.
»Danke!«, lachte Jutta mit einem kessen Augenaufschlag. »Dann lass uns jetzt aufbrechen.« Entschlossen ging sie zum Wagen und stieg hinauf.
Hans fand, dass sie mit der Gewandtheit einer Ziege auf den Leiterwagen kletterte; so, als hätte sie es schon tausendmal zuvor getan. Aber er vermied es, ihr dies mitzuteilen. Der Vergleich wäre wohl etwas unpassend gewesen. Er stand hinter ihr und beobachtete sie. Wie sie sich auf den Kutschbock schwang, das sah schon nett aus …
Dann kletterte auch er hinauf und nahm die Zügel in die Hand.
»Hü«, rief er den beiden Kühen zu und der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung.
Das Fuhrwerk rumpelte die Hintergasse hinauf, bog rechts in die Zwerchgasse ein und polterte weiter über die Obergasse zur Dorfpforte. Zwei Männer standen im Gespräch beieinander. Als der Leiterwagen an ihnen vorbeifuhr, schauten sie zu Hans und seiner Begleiterin hinauf. Der Junge grüßte wie gewohnt, aber heute überkam ihn das Gefühl, dass die beiden neidvoll auf seine hübsche Beifahrerin starrten. Ein Hauch von Eitelkeit überkam ihn – in solch schöner Gesellschaft fuhren nur die wenigsten Bauersleute aufs Feld. Es war der Augenblick, in dem er die Fahrt zu genießen begann …
*
Die Strecke durchs Dorf hatten die beiden schweigsam zurückgelegt. Jutta schaute sich eingehend um und Hans vermied es, durch törichtes Geschwätz ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Doch schließlich war es Jutta, die das Schweigen brach.
»Sag mal, Hans, dein Bruder hat mir erzählt, dass du gerne in Ehrenfeld eine Lehre beginnen möchtest. Ist das wahr?«
Hans nickte. »Ja, wir hatten besprochen, dass Karl sich nach einer Stelle umsieht und ich nachkomme, sobald er etwas Passendes findet.«
Jutta nickte. »Das fände ich großartig!« Ein Funkeln spielte in ihren Augen. »Dann hätten wir öfter die Gelegenheit, uns zu sehen.«
Hans verspürte ein leichtes Unbehagen. Er fragte sich, ob das auch für ihn erstrebenswert sei. Die meisten Mädchen, die er kannte, hatten ganz andere Interessen. Wäre Jutta ein Junge, könnte er sich eine Freundschaft vorstellen, denn sie waren etwa im gleichen Alter. Aber mit einem Mädchen? Das ließ ihn zögern. Schließlich zuckte er nur mit den Schultern und sagte:
»Es wird nicht so weit kommen. Nicht jetzt, wo Mutter wieder so niedergeschlagen ist. Wir hatten vereinbart, dass ich erst nach Ehrenfeld komme, wenn hier alles wieder in Ordnung ist. Doch nach dem Vorfall in der Kirche wirkt das nun wie ein unerreichbarer Traum.«
Hans bedauerte es aufrichtig. Der Wunsch, die Welt kennenzulernen, brannte noch immer in ihm. Doch er würde niemals den Mut aufbringen, seine Mutter in einer so schwierigen Situation allein zu lassen.
Das Mädchen schwieg, doch in ihrem Kopf ratterten die Gedanken.
»Ich habe mich schon gestern gefragt, warum ihr alle so verzweifelt seid. Natürlich begreife ich, dass deine Mutter sich auf die Hochzeit gefreut hatte. Aber dass sie nicht stattfinden konnte, hat doch einen überaus erfreulichen Grund: Dein Vater lebt! Sollte da nicht wenigstens ein kleiner Lichtblick in euch aufkeimen?«
Hans sah Jutta erstaunt an. »Meinst du das jetzt im Ernst?«
»Ja sicher!«, kam ihre Antwort mit fester Überzeugung. »Wenn man Papa für tot gehalten hätte und sich dann herausstellt, dass er noch lebt, könnte ich vor Freude kaum stillhalten!«
»Das mag stimmen. Aber in diesem Fall ist es doch etwas anderes. Ja, Vater lebt, aber er hat es nicht für nötig gehalten, mit uns zu sprechen. Stattdessen ist er einfach wieder abgehauen. Und niemand weiß, wo er jetzt ist.«
»Na hör mal. Der Mann in der Kirche hat doch erklärt, warum er so entschieden hat. Für mich klang das sehr überzeugend.«
»Blödsinn! Ich finde, Philipp hätte zuerst mit meiner Mutter sprechen sollen, bevor er sich öffentlich gegen diese Eheschließung stellte.«
»Aber in diesem Fall hätte deine Mutter nur früher erfahren, dass dein Vater noch lebt, was ihre Heiratspläne auch durchkreuzt hätte.«
»Ja, das stimmt wohl«, meinte er kurz angebunden. »Aber sie hätten eine Chance auf eine Aussprache gehabt. Vor allem wäre ihr dieses Aufsehen in der Kirche erspart geblieben.«
Wieder legte sich Schweigen über die beiden. Das Gefährt holperte die staubige Straße entlang. Jutta schaute immer wieder verstohlen zu ihm rüber. Nach einer Weile rutschte sie näher an Hans heran. Entschlossen hakte sie sich bei ihm unter.
Überrascht zuckte Hans zusammen. Er fühlte ihre warme Haut und nahm den angenehmen, natürlichen Geruch ihres Körpers wahr. Ein seltsames Gefühl überkam den Jungen. So nahe war ihm außer seiner Schwester noch kein Mädchen gekommen. Es war kein unangenehmes Gefühl – das räumte er sich ein. Doch die Nähe zu ihr löste eine gewisse Beklemmung in ihm aus. Er verharrte stocksteif und lenkte seine beiden Kühe, während sein Puls schneller schlug.
Jutta spürte seine Unsicherheit. Um ihm etwas von der Anspannung zu nehmen, ließ sie den Druck ihrer Arme leicht sinken und griff erneut das Gespräch auf.
»Also wenn du mich fragst, hat dein Vater wirklich bewundernswert gehandelt. Er hat das Glück deiner Mutter über seine eigenen Wünsche gestellt, ohne an sich selbst zu denken. Das zeigt doch, dass er sie noch immer sehr liebt – oder siehst du das anders?«
Hans schwieg. Er wusste darauf nichts zu antworten. Vielleicht waren es Juttas Worte, vielleicht aber auch ihre körperliche Nähe, die ihm den Kopf benebelten. Jedenfalls dauerte es einige Augenblicke, bis er sich zu einer Frage aufraffte: »Was nützt ihr das jetzt?«
»Nichts, solange ihr nicht etwas unternehmt! Ihr solltet unbedingt nach eurem Vater suchen. Er weiß nichts von der neuen Situation. Wüsste er davon, käme er sicherlich sofort wieder zurück.«
»Wie sollen wir das denn machen? Niemand kennt seinen Aufenthaltsort. Sollen wir das ganze Land durchsuchen?«
»Heutzutage gibt es doch viele Möglichkeiten. Ihr könntet eine Anzeige in der Zeitung aufgeben, in der steht, dass er sich melden soll.«
»Und dann? Wenn das jemand liest, der weiß, dass Vater aus der Armee geflohen ist? Was dann? Das könnte sein Todesurteil sein.«
»Dann solltet ihr euch eben selbst umhören. Irgendjemand muss doch etwas wissen.«
Hans dachte eine ganze Zeit lang über ihren Vorschlag nach.
»Hm, vielleicht? Ich werde mal mit meinen Geschwistern reden. Vielleicht haben sie eine Idee.«
»Tu das. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich auch Paps bitten, die Ohren offenzuhalten. Er ist oft unterwegs und trifft dabei eine Vielzahl von Menschen.«
»Wir können es ja versuchen. Aber ich glaube nicht an einen Erfolg.«
»Das wäre schade.« Sie legte ihren Arm wieder mit mehr Nachdruck um Hans und suchte die Nähe zu ihm. »Denn dann würdest du nie nach Ehrenfeld kommen.«
Hans schaute sie nicht an. Ihre Antwort berührte ihn, aber das wollte er dem Mädchen nicht zeigen. Er nahm die Zügel fester und zog sich vorsichtig aus ihrem Griff zurück, bemüht, nicht zu abweisend zu erscheinen. ZumGlück erreichten sie in diesem Moment auch ihr Ziel.
»Wir sind da.«
Er deutete auf eine Wiese voller bunter Sommerblumen und kniehohem Gras. Hans griff hinter sich und nahm die Sense und den Rechen von der Ladefläche.
»Ich werde jetzt mähen. Du kannst ja ein bisschen spazieren gehen, solange ich das Gras schneide.«
»Darf ich dir denn nicht helfen?« Mit einem enttäuschten Augenaufschlag blickte sie ihn an.
»Kannst du das denn?«, fragte Hans zweifelnd. »Hast du jemals eine Sense in der Hand gehalten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber wenn du es mir zeigst, würde ich es gerne versuchen.«
Hans schenkte ein warmes, nachsichtiges Lächeln. »Zumindest scheust du dich nicht vor Arbeit. Na schön, lass uns absteigen. Ich bin gespannt, wie du dich anstellst.«
*
»Josef hat sich für heute Nachmittag angekündigt.«
Katharina saß mit Marie Schmitz in der Küche. Sie waren alleine. Beide Kinder waren beim Unterricht im Schulhaus, und Hennes hatte sich von Drickes, dem Kutscher der Familie Schmitz, nach Butzbach chauffieren lassen. Zwar hatte er beschlossen, eine Woche bei den Mathes zu verbringen, doch das hinderte ihn nicht daran, sich um seine Geschäfte zu kümmern. Gestern war er in Friedberg gewesen, um Werbung für seinen Brennstoffhandel zu betreiben und hoffentlich neue Kunden zu gewinnen. Heute setzte er seine Mission in Butzbach fort und plante vielleicht sogar, weiter nach Gießen zu fahren.
Die Bemerkung über Josefs Besuch hatte Katharina so beiläufig einfließen lassen, dass Marie sie fast überhört hätte. »Meinst du, das ist ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen?«, schob sie deshalb nach.
Marie zuckte mit den Schultern.
»Op jede Fall heißt et, hä well noh dir luure un met dir rädde. Dat es emme e jutes Zeiche.«
»Und wenn er mir nur sagen will, dass er mich nicht mehr sehen möchte?« Mit Katharinas Selbstbewusstsein war es seit Sonntag nicht mehr gut bestellt. Sie hatte Angst, Josef auch noch als Freund und Ratgeber zu verlieren.
»Jetz sin net su schwatz, Katring. Hör dir endoch eesch ens aan wat hä ze saache hät.«
Katharina ergriff Maries Hand und hielt sie fest.
»Mir wäre es am liebsten, wenn du bei dem Gespräch dabei wärst. Ich habe wirklich ein bisschen Angst davor.«
»Och kumm! Wat sull dann Schlimmes passiere? Natörlich kumm isch järn ze däm Jespräch, wann et nüdije weed. Ävver isch denk, ehr solltet eesch eenmol alleine miteinander rädde. Dat weed schon.«
Marie legte tröstend den Arm um die Bäuerin und drückte sie aufmunternd. Katharina lächelte scheu, nickte aber tapfer.
»Vielleicht hast du recht. Ich muss einfach wieder selbstbewusster nach vorne schauen. Seit Josefs Antrag habe ich mich zu sehr darauf verlassen, wieder einen Mann an meiner Seite zu haben. Es ist für eine Frau so schwer, in diesen Zeiten alleine durchs Leben zu gehen.«
»Wann en wirklich wat aan dir litt, dann weed hä och weiterhin ze dir ston. Dozo muss hä dich net hierode. Och a joode Fründ deit d’r Seel jood.«
»Oder eine gute Freundin … so wie du!«, erwiderte Katharina und umarmte Marie herzlich. »Schön, dass ihr noch ein paar Tage geblieben seid.«
»Och hör op. Dat es endoch selbstverständlich, ming Leev.« Marie kniff ihr freundschaftlich in die Wange. »So – un jetz mache m’r zwei Hübschen wat Leckers zom Meddahsmohlzick. Wann Hans un Jutta noh hus kumme sin se secher hungrig.«
»Eure Jutta ist ein nettes Mädchen, Marie. Nicht jeder geht freiwillig mit aufs Feld, wenn es heißt, beschwerliche Arbeit zu verrichten.«
Marie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Isch gläuve do steckt och wat anderes dohinger als pures Interesse aan Arbeid. Jutta hät schon zohus emme widder vun eurem Hans gesprochen. Isch muss dir ija net sagen, wat e ehschte Schwärmerei auslösen kann.«
»Du willst doch nicht sagen …« Katharina blickte entgeistert auf. »Aber dafür sind unsere Kinder doch noch viel zu jung!«
Marie lachte nur. »Wie ahl wors de, als dir dat ehschte mol Schmetterlinge em Buch flatterten?«
Katharina schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Hans war knappe vierzehn und Jutta, auch wenn sie älter wirkte, im gleichen Alter. Ob Marie sich da mal nicht irrte? Sie seufzte nur.
Ach ja, die Liebe. Wenn’s einen trifft, dann ist es schwer, sie zu ignorieren … Ach Franz, warum hast du dich mir nicht gezeigt?
*
Josef hatte keine Uhrzeit genannt. Er hatte nur ausrichten lassen, dass er am Nachmittag vorbeikäme. Jetzt war es halb vier und Katharina wartete noch immer. Sie hatte sich extra etwas Hübsches angezogen und eine Kanne von dem guten Kaffee gekocht, nicht den Muckefuck, den sie morgens tranken.
Als die Kirchturmuhr vier schlug und Josef noch immer nicht erschienen war, stand Katharina enttäuscht auf und ging ins Schlafzimmer. Frustriert zog sie sich wieder um. Es war das erste Mal, dass Josef eine Verabredung nicht einhielt.
Katharina kannte den Mann als verlässlich und äußerst genau. Sie hätte ihn als einen Pedanten im positiven Sinne bezeichnet, dessen Wort immer galt. Ausgerechnet zu der heutigen Aussprache, von der sie sich so viel erhofft hatte, versetzte er sie.
Sie hängte ihr gutes Kleid wieder sorgfältig auf den Bügel und platzierte es am Garderobenhaken. Dabei fiel ihr Blick in den großen Spiegel, der an der mittleren Tür des Kleiderschranks angebracht war. Sie zuckte schockiert von ihrem eigenen Spiegelbild zusammen! Ihre eingefallenen Augen und die dünne, durchsichtige Haut an Hals und Armen erinnerten sie an Papier. Mit einer Hand zog sie die Gesichtshaut straff und beugte sich nah an den Spiegel, überzeugt, schon einige Falten um Augen und Nase zu sehen. Ihr Haar wirkte zudem leblos und ohne jeden Glanz.
»Mein Gott, bist du alt geworden«, sagte sie leise zu sich selbst und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
Was will ein Mann auch schon mit einer so alten Frau? Im kommenden Jahr wirst du neununddreißig, da fehlt dann nicht mehr viel zur Vierzig.
Sie blickte an sich herab. Das dünne Unterkleid hing auf ihren Brüsten und wölbte sich über ein kaum sichtbares Bäuchlein. Spontan zog sie ihren Bauch ein. Doch es machte sie in ihren Augen nicht attraktiver. Entsetzt schweiften ihre Augen nach unten, wo ihrer Meinung nach zwei formlose Bohnenstangen in sehnige Füße mündeten. Katharina schlug die Hände vor die Augen. Frustriert ließ sie sich auf ihr Bett sinken und schluchzte. Plötzlich glaubte sie zu wissen, warum Josef nicht erschienen war.
Ihre Hand wanderte zu dem Medaillon, das sie um den Hals trug. Es war ein Weihnachtsgeschenk von Josef, über das sie sich einst so sehr gefreut hatte. Sie nahm es ab und hielt es nachdenklich in ihrer Hand. Auf der Rückseite verbarg sich eine kleine Klappe zu einem Fach, in dem sie ihren Ehering verwahrte – den Ring, den ihr Franz zur Hochzeit anno 1795 geschenkt hatte. Sie nahm ihn heraus und betrachtete ihn. Es war ein schlichter, goldener Ring ohne viel Schnickschnack. In der Innenseite waren der Name ihres Mannes und das Hochzeitsdatum eingraviert, während sich auf der äußeren Ringschiene einige tiefe Kratzer eingegraben hatten. Doch selbst das wenige Licht, das durch das Schlafzimmerfenster fiel, brachte ihn zum Leuchten.
Schrammen bleiben nicht aus, wenn man einen Ring Tag für Tag – selbst bei der Feldarbeit – getragen hat, sagte sie sich. Es sind die Spuren des Lebens, unseres Lebens. Und dennoch glänzt er noch immer so herrlich.
Sie empfand mit einem Mal diesen Ring als Sinnbild ihrer Liebe zu Franz. Auch ihre Liebe hatte über die Zeit einige Narben davongetragen, aber tief im Innern ihres Herzens glänzte sie strahlender als am Tag ihrer Hochzeit.
16. September 1795 las sie. Sie erinnerte sich genau. Es war ein herbstlicher Mittwoch gewesen, an dem sie morgens bei dichtem Nebel im elterlichen Haus erwachte. Doch im Laufe des Tages lichtete sich der Nebel. Pünktlich zur Trauung hatte sich die Sonne durchgesetzt und das gelblich werdende Laub der beiden großen Bäume vor dem Kirchenportal strahlen lassen wie Gold.
»Franz! Wo bist du nur? Wir gehören doch zusammen«, flüsterte sie. Sie legte das Medaillon in die Schublade ihres Nachttischs und steckte sich den Ring wieder an den rechten Ringfinger.
Es war ein Fehler, ihn vor der Welt zu verbergen. Franz lebt, mein Mann lebt! Ich bin noch immer seine Frau und das soll jeder sehen.
Entschlossen zog sie ihr Alltagskleid über und verließ das Schlafzimmer.
*
Josef Groß saß zusammengekauert in dem einzigen Polstermöbel seiner Mansardenwohnung. In dem riesigen Ohrensessel verschwand er wie ein Nichts. Und genauso fühlte er sich auch seit Sonntag: ein Nichts, ein Niemand, der überflüssigste Mensch auf Gottes Erden.
Er hatte die beste Frau heiraten wollen, die ihm jemals über den Weg gelaufen war. Mit einem Schlag hätte er eine Familie gehabt. Endlich! Auch wenn es nicht seine eigenen Kinder waren; er hatte nicht nur Katharina, sondern auch die Mathes-Kinder ins Herz geschlossen. Und dies alles war durch einen einzigen Zwischenruf zunichtegemacht worden.
Warum hat dieser Müller nicht seine verdammte Klappe gehalten? Wem hat es genutzt, dass er sein Wissen in die Welt hinausposaunen musste?
Groß wollte den Mann am liebsten packen und schütteln, bis der Müller in einen wirbelnden Haufen Mehlstaub zerfiel. Aber selbst das hätte nun nichts mehr gebracht. Jetzt, da Katharina wusste, dass Franz noch unter den Lebenden weilte, würde er, Josef Groß – Schulvikar, Organist und Glöckner – ihr Herz nicht mehr erreichen können.
Es war so bitter zu hören, mit welch emotionaler Intensität sie Franz’ Namen in der Kirche gestammelt hatte. Jede Faser ihres Körpers hatte verraten, dass er, Josef, immer nur zweite Wahl sein würde – bestenfalls. Der Schulvikar war ein intelligenter Mann. Er wusste, wann er verloren hatte. Am letzten Sonntag war genau dies der Fall gewesen.
Was konnte er nun noch tun? Was sollte er tun? Er war in diesem Dorf zu einer tragischen Witzfigur verkommen. Einer, der sich eingebildet hatte, einer schönen Frau zu gefallen.
Vielleicht würden die Leute nun zögern, ihre Kinder weiterhin zu ihm in die Schule zu schicken.
Da, seht her, das ist der Mann, der die Mathes heiraten wollte! Aber er kann dem Franz nicht das Wasser reichen – das kleine Dorflehrerlein.Und so einer soll unseren Kindern etwas beibringen? Niemals!
Bald würden die Schüler ausbleiben. Und sollte der Pfarrer je erfahren, dass er schon vor der Ehe mit Katharina intim gewesen war, wäre er auch von der Kirche nicht mehr tragbar. Womit sollte er dann seinen Lebensunterhalt bestreiten? Er wäre das Gespött des Dorfes. In Gedanken hörte er schon die Schmährufe durch die Straßen hallen:
Groß, der geile Hurenbock
verlassen von dem Mathes-Rock!
Sollte er Ober-Mörlen den Rücken kehren; woanders einen Neustart wagen?
Es wäre das Beste für mich, wenn ich auf der Stelle tot umfiele, dachte Groß und fragte sich plötzlich, ob er dem Tod nicht ein wenig in die Hände spielen sollte. Er könnte Gift nehmen und sich schlafen legen. Bis man ihn fände, wäre er bereits in einer anderen Welt. Aber wäre diese wirklich besser als die jetzige? Schließlich war es eine Todsünde, sich selbst zu richten.
Doch was er getan hatte, war auch eine Sünde. Wie hatte er sich nur nach dem Bardofest dazu hinreißen lassen, die Nacht in Katharinas Armen zu verbringen? Es schien ihm unbegreiflich, dass er so schwach gewesen war.
Wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er in ihren Armen die wunderbarste Nacht seines Lebens verbracht. Er hatte sich der Hoffnung hingegeben, dass ihm noch viele solcher Nächte vergönnt sein könnten – ganz legal und im Einklang mit den Regeln der Kirche. Nein, er wollte nichts bereuen; und Lanzinger würde mit Sicherheit niemals etwas davon erfahren. Katharina würde ihm so etwas nie antun, davon war er felsenfest überzeugt.
Groß saß schon lange in seinem Sessel. Eigentlich hatte er zu Katharina gehen wollen, um mit ihr zu reden. Sie mussten schließlich einen Weg finden, wie sie in Zukunft miteinander umgehen wollten. Doch da waren noch diese Gäste aus Ehrenfeld. Es waren Fremde und er konnte nicht frei mit Katharina vor ihnen sprechen. Es wäre besser, wenn Katharina ihn besuchen würde. Hier wären sie ungestört und er könnte sich sicherer fühlen, um die Aussprache zu führen – viel besser als in der Hintergasse.
Ob sie von selbst darauf kommt, wenn ich nicht bei ihr auftauche? Vielleicht warte ich erst einmal ab.
Die Kirchturmuhr schlug viermal. Der Nachmittag, für den er sich bei ihr angekündigt hatte, war bald vorüber. Sein Schneid, sich auf den Weg zu machen, war zu einem elenden Häuflein verkommen. Er war sich sicher, dass er es nicht schaffen würde.
Nach all den Fehlern der letzten Tage spielte es letztlich keine Rolle mehr, ob er seine Ankündigung einhielt oder nicht. Vielleicht würde Katharina ja auch gar nicht auf ihn warten. Vielleicht war es ihr sogar lieber, ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht … so blieb er in seinem Sessel sitzen und starrte die Wände an, bis ihn der Schlaf übermannte.
*
Mitten in der Nacht schreckte er hoch. Draußen war es dunkel und die Sterne funkelten von einem schwarzen Nachthimmel.
»Sakrament nochmal!«, fluchte Groß, als er bemerkte, dass er den ganzen Abend verschlafen hatte.
»Was muss Katharina jetzt von mir denken?«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Blick glitt hinüber zum Sekretär. Auf dem Sims des halbhohen Schrankes stand seine Kaminuhr. Sie zeigte eine Stunde nach Mitternacht an.
»Du Jammerlappen! Du hast dich jetzt zwei Tage in Selbstmitleid ergossen und jedes Pflichtbewusstsein vergessen!«, schalt er sich selbst.
Der Vikar stand auf, goss Wasser aus der Kanne in seine Waschschüssel und wusch sich den Schlaf aus den Augen. Dann zündete er eine Kerze an, holte Feder und Tintenfass aus dem Sekretär und setzte sich an den Tisch. Er begann sich selbst eine Rede zu schreiben, mit der er gleich morgen zu Katharina gehen würde. Natürlich würde er ihr die Rede nicht vortragen wie einer Schulklasse, aber er wollte Stichworte und Formulierungen ausarbeiten, um all seine Bedenken, Wünsche und Hoffnungen in einer durchdachten Weise anzusprechen. Für den Rest der Nacht schrieb Josef sich die Finger wund …
Um halb acht Uhr morgens sammelte er die Papiere zusammen und sortierte sie thematisch in der Reihenfolge, in der er die Punkte bei Katharina ansprechen wollte. Dann schraubte er den Deckel auf das Tintenfass, säuberte die Feder und verstaute alles wieder auf seinem Platz im Sekretär. Josef Groß konnte nicht aus seiner Haut; er war zum Pedanten geboren!
Anschließend gönnte er sich ein kleines Frühstück und wappnete sich für den täglichen Unterricht. Leider konnte er diesen nicht einfach ausfallen lassen, obwohl es ihm am liebsten gewesen wäre, sofort zu Katharina aufzubrechen. Doch heute hatte er sich wieder im Griff und wusste, was Pflichtbewusstsein bedeutete. So packte er seine Schulmappe und verstaute auch sein Redemanuskript darin. Gleich nach der letzten Stunde würde er in die Hintergasse gehen und endlich die Aussprache mit der Frau suchen, die er immer noch zutiefst liebte.
September 1813
Der Mann lehnte an der Reling und starrte ins endlose Blau des Meeres; eine Beschäftigung, die ihn seit beinahe neun Wochen täglich in ihren Bann zog. Es war weit mehr als ein einfaches Ritual; es hatte sich zu einer obsessiven Hingabe entwickelt, bei der allein das wechselhafte Wetter für eine willkommene Abwechslung sorgte. An sonnigen Tagen schimmerte das Wasser des Atlantiks in tiefen blau- und grünlich-schwarzen Nuancen, während die tief stehende Sonne am Horizont die Wellen in schimmerndes Gold und Silber tauchte. Doch wenn düstere Wolken den Himmel verdunkelten, offenbarte sich der Ozean in einem dramatischen Licht, seine Oberfläche war dann tiefschwarz und unheimlich, fast schon bedrohlich.
Franz Johann Mathes fühlte sich von den düsteren Tagen mehr angezogen, denn sie trafen eher seine Stimmung als die heiteren Stunden. Doch jeden Tag bot sich ihm nur endlose Wasserfläche. Vor ihm, neben ihm und hinter ihm Wasser, Wasser, Wasser. Der Reisende sehnte den Tag herbei, an dem diese Fahrt endlich ihr Ende nehmen würde. Er war auf dem Weg in die Neue Welt. Dieser Begriff traf für ihn den Nagel auf den Kopf. In den Vereinigten Staaten würde er ein neues, ein zweites Leben beginnen. Sein altes hatte er in Europa gelassen – lassen müssen.
Es war bereits September, und seine ehemalige Frau Katharina war seit fast einem Monat mit ihrem neuen Ehemann Josef Groß verheiratet. Franz hatte sich fest vorgenommen, Katharina und die vier Kinder – Karl Heinrich, Johann Remigius, Josef Wilhelm und Mechthild Maria – aus seinem Leben zu streichen. So verrückt es auch erscheinen mochte, er hatte Katharina aus Liebe verlassen.
Schuld daran war Napoleon Bonaparte. Oder war es Feldwebel Althaus? Jedenfalls war Franz gezwungen gewesen, mit der französischen Armee nach Russland zu ziehen, und Althaus hatte ihn aus blinder Rachsucht für tot erklären lassen. Konnte er es seiner Frau verübeln, dass sie sich nach einer langen Leidenszeit in einen anderen Mann verliebte und diesen nach dem Trauerjahr heiratete?
Franz konnte es nicht! Nicht einmal böse durfte er darüber sein, denn er selbst hatte Katharina geraten, sich während seiner Abwesenheit an Josef Groß zu halten, als er in den Krieg zog. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Althaus so niederträchtig sein würde, ihn aus Rache für eine Anzeige für tot zu erklären. Dabei war Franz, ohne körperliche Schäden erlitten zu haben, vom Russlandfeldzug zurückgekehrt. Der Schaden, den er erlitten hatte, war jedoch erheblich psychischer Natur. Viel Elend, Leid und Not hatte er auf dem Zug miterleben müssen und war schließlich desertiert, um der Hoffnungslosigkeit zu entfliehen.
Genau aus diesem Grunde war er in Europa nicht mehr sicher. Die französische Armee konnte ihn jederzeit aufspüren und seiner Strafe zuführen, die nicht anders als Tod durch Erschießen lauten würde. So hatte er Katharina in dem Glauben zurückgelassen, er sei bereits vor einem Jahr in Russland gefallen, um ihr weiteren Schmerz zu ersparen und ihr neugewonnenes Glück mit Josef nicht zu gefährden.
Er wollte Katharina vergessen, aus seinem Gedächtnis streichen. Doch das fiel ihm schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Kein Tag verging, an dem nicht ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Franz wusste, dass er die Frau noch immer liebte. Er würde sie lieben, bis zu dem Tag, an dem er seinen letzten Atemzug tat. Es war wohl die gerechte Strafe dafür, dass er Katharina einmal, ein einziges Mal, betrogen hatte. Yelena, die schöne Russin, bei der er im Winter während seiner Flucht Unterschlupf gefunden hatte, hatte ihn übertölpelt und mit ihm geschlafen. So sehr er sich auch einredete, dass es nicht seine Schuld gewesen sei, er hatte ihren warmen, zarten Körper genossen. Aus diesem Grund war er felsenfest davon überzeugt, dass seine jetzige Pein gerechtfertigt war.
Über Franz knatterten die Segel unter vollem Wind. Neben dem Brechen der Meereswellen, die am Rumpf des schnittigen Segelschoners zerschellten, waren es seit Tagen die einzigen Geräusche – monoton, ermüdend und nervtötend. …
Der Schrei einer Möwe riss ihn aus seinen Gedanken. Franz blickte auf. Tatsächlich! Ein Schwarm Möwen begleitete ihr Schiff, die Yorktown. Die letzten Vögel, die er gesehen hatte, hatten sich in Küstennähe hinter der französischen Küste verabschiedet. War das ein Anzeichen dafür, dass sie sich dem Ziel näherten?
Hoffnung keimte auf, dass diese Reise nun endlich bald geschafft sein würde. Er hatte das Wasser satt. Franz sehnte sich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, grünes Gras, belaubte Bäume und erdige Felder zu sehen. Er verließ die Reling am Bug des Schiffes, wo er in der Regel allein war und nicht von anderen Passagieren behelligt wurde.
Er hatte sich auf der Fahrt zu einem regelrechten Eigenbrötler entwickelt. All die fröhlichen Menschen, die ebenfalls zu dieser Reise aufgebrochen waren, widerten ihm mit ihrer Lebensfreude und Heiterkeit an. Anfangs hatte er es bedauert, eine Einzelkabine gebucht zu haben, denn sie war für seine Verhältnisse viel zu teuer. Doch je länger er auf See war, desto mehr erfreute es ihn, seine Ruhe zu haben. Nur während der Mahlzeiten musste er die Gegenwart der anderen Passagiere ertragen.
Angesichts der Möwen entschloss sich Franz, den Kapitän aufzusuchen, um sich zu erkundigen, wie lange sie noch bis New York unterwegs sein würden. Mit der Zeit hatte sich Franz angewöhnt, breitbeinig über das Schiffsdeck zu gehen, was einer Landratte wie ihm einen möglichst sicheren Schritt auf den schwankenden Brettern garantierte. Trotzdem war es bei Wellengang ratsam, sich zusätzlich irgendwo festzuhalten.
So stieg er die steile Treppe hinauf zum Steuerhaus. Die Yorktown war eines der Schiffe, die über eine erhöhte Brücke verfügten. Von hier aus konnte der Kapitän sein Schiff besser überblicken und hier war auch der Platz, an dem Kapitän und Steuermann den Segler auf Kurs hielten.
Vor dem Steuerhaus pochte Franz an die Holztür.
»Come in!«, ertönte eine Stimme von drinnen. Franz trat ein.
»Guten Tag. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, begrüßte er den Mann. Es war nicht der Kapitän, sondern der Steuermann, der den Schoner mit einem riesigen Steuerrad über die unsichtbare Wasserstraße lenkte.
»Ah, unsere Galionsfigur!«, grinste dieser freundlich und tippte sich zum Gruße mit der Hand an die Stirn. »Was gibt’s?«
Franz verstand die Anspielung sofort. Er hatte wohl nicht unbemerkt die meiste Zeit am einsamen Bug des Schiffes verbracht.
»Ich habe Möwen entdeckt. Sie begleiten uns erst seit heute. Bedeutet das, dass wir bald unser Ziel erreichen?«, fragte Franz.
»Wird wohl so sein!«, nickte der Steuermann.
»Wie lange werden wir noch brauchen?«
»Kommt auf den Wind an. Eins, zwei Tage. Dann werden wir Land sehen.«
»Amerika?«
»Amerika!«
Sehr gesprächig schien der Steuermann nicht zu sein, aber seine Wortkargheit war keineswegs unfreundlich.
Franz zögerte einen Augenblick. Doch er hatte zu viele Fragen, um zu schweigen. So wagte er eine weitere.
»Wohin wendet man sich am besten in New York nach der Ankunft?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Was du vor hast.«
»Hm«, machte Franz nachdenklich. Diese Frage hatte er sich selbst noch gar nicht gestellt. Hals über Kopf war er aufgebrochen, und all die Tage an Bord hatte er nur auf das Wasser gestarrt.
Du bist ein Narr, Franz! Neun Wochen hättest du Zeit gehabt, dir dies zu überlegen, anstatt Maulaffen feilzuhalten!, dachte Mathes. Doch gestand er dem Mann hinter dem Steuer nur kleinlaut:
»Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
Der Schiffer schaute ihn ungläubig an. Dann lachte er laut auf, als wolle er mit seinem Lachen das Schiff versenken.
»Funny guy! Schon gut, behalt’s für dich!« Der Steuermann glaubte, Franz wolle ihm nicht zu viel auf die Nase binden.
»Ich weiß es wirklich nicht.« Franz’ Eingeständnis klang betreten.
»Ist deine Passage geschäftlicher oder anderer Natur.«
»Eher privat.«
»Wann geht’s zurück?«
»Gar nicht. Ich werde bleiben.«
»Oh, ein Auswanderer. Und noch unentschlossen!«
Das traf Franz’ Situation wohl ganz gut. Ein Blick genügte, um dem Steuermann seine Vermutung zu bestätigen.
»Well, dann gehst du am besten zur Hafenbehörde. Die registriert alle Einwanderer und weist ihnen eine erste Bleibe zu.«
»Hm. Wollte eigentlich nicht meine Zeit in New York verbringen.«
»Auch gut. Bestimmtes Ziel?«
»Nein. Was raten Sie?«
»Du bist Deutscher?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Franz nickte.
»Wie steht’s mit deinen Englischkenntnissen?«
»Bescheiden, um nicht zu sagen, gleich null.«
»Alright, mein Freund! Dann schlage ich vor, du reist von New York nach Pennsylvania. Dort gibt es genügend Siedlungen deutscher Abstammung, wo man deine Sprache spricht. Könnte dir helfen! Aber auch in Ohio findest du deutsche Settlements.«
Das schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Franz merkte sich die beiden genannten Namen, obwohl sie ihm nichts sagten.
»Was ist einfacher zu erreichen?«, fragte er.
»Pennsylvania ist näher, aber auch schon dichter besiedelt. Schon mal was von Philadelphia gehört, Buddy?«
»Phila…-was?«, fragte Franz.
»Philadelphia.« Wieder ließ der Steuermann sein ansteckendes Lachen ertönen. »Die Stadt war bis vor wenigen Jahren unser Capitol, unsere Hauptstadt. Dort wurden die Vereinigten Staaten aus der Taufe gehoben. Nicht nur die Unabhängigkeitserklärung, sondern auch unsere Verfassung wurde dort verabschiedet.«
»Aha!«, meinte Franz lapidar.
»Kleiner Tipp: Sag Alright anstatt Aha. Das klingt eher nach Amerika, wenn du ein echter Yankee werden willst.«
»Werd’s mir merken.« Er dachte einen kurzen Augenblick nach. »Und was spräche für Ohio?«
»Ohio? Nice place! Seit 1803 unser neuster Bundesstaat, aber noch weitestgehend Indianergebiet. Da tummeln sich Shawnee, Wyandot und Delaware. Die Rothäute können recht ungemütlich werden, besonders wenn man versucht, sich dort ein Stück Land anzueignen.«
Das klang nicht sehr einladend. Franz hatte die Nase von Auseinandersetzungen voll. Er wollte in Frieden leben und sich nicht wieder mit irgendwelchen Menschen um Gebiete schlagen.
»Alright!«, sagte Franz; ganz bewusst, sich der Vokabel bedienend, die ihm der Steuermann geraten hatte. »Ich danke Ihnen für die Informationen.«
Der Steuermann nickte lachend. »Du lernst schnell, Buddy! Übrigens, in den Staaten verwendet man kein Sie. Wir sind hier alle per Du! Wenn du höflich sein willst, nennst du deinen Ansprechpartner Sir oder Ma’am, ansonsten beim Vornamen. Das ist schon alles.«
Das erste Mal seit langem huschte Franz ein Lächeln über das Gesicht.
*
Samstag, der 11. September 1813; ein Tag, den Franz ganz sicher nie wieder vergessen würde. Es war einer dieser strahlend hellen Spätsommertage, an denen die Sonne vor dem Herbst noch einmal ihren Glanz auf der Erde verbreitete. Seit gestern hatten sie Land vor Augen. Im Morgendunst war es als dünne Linie am Horizont aus den Fluten aufgetaucht. Kaum wahrnehmbar hatte Franz es zunächst für eine Täuschung gehalten, doch dann war es immer größer und herrlicher geworden. Es hatte sein Herz vor Freude springen lassen. Endlich!
Franz hatte seinen Platz am Bug des Schiffes nicht mehr verlassen. Aufgewühlt beobachtete er, wie die dunkle Linie dicker und unregelmäßiger wurde. Gegen Mittag waren Erhebungen erkennbar und erst am Abend gab er seinen Beobachtungsposten auf, als es zu dunkel wurde, um die Landmasse zu sehen.
Mit dem ersten Tageslicht hatte er sich wieder am Vordersteven eingefunden. Über Nacht war das Land so nahe gekommen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis das Schiff den Hafen von New York erreichen würde. Doch die Stunden zogen sich.
Erstaunlich, welche Nähe einem die Augen vorgaukeln können, obwohl wir doch noch so weit vom Festland entfernt sind, dachte Franz. Sein Herz pochte vor Aufregung. Heute würden sie in Amerika ankommen, seiner neuen Heimat. Ober-Mörlen wollte ihm wieder in den Sinn kommen, doch heute verdrängte er die Gedanken an die alte Heimat. Es war jetzt Zeit, nach vorne zu schauen, nicht zurück.
Immer öfter kamen ihnen nun andere Schiffe entgegen; große Transatlantiksegler, die die Fahrt in die andere Richtung angetreten hatten. Vielleicht war sogar eines darunter, was einen deutschen Hafen anlief. Wer konnte das schon sagen? Die Yorktown, jedenfalls erreichte nach monatelanger Reise über das endlose Meer endlich ihr Ziel und näherte sich dem Hafen von New York.
Der Wind wehte kräftig in die Segel, und das Schiff glitt über die Wellen. Wo sich an Land vor einigen Stunden noch ausschließlich riesige Wälder präsentiert hatten, tauchte nun die Silhouette einer Stadt auf. Hohe Gebäude sowie schmale Häuser erhoben sich gegen den Himmel, und Franz überfiel ein Gefühl der Aufregung und des Staunens.
Mathes hatte sich noch einmal mit dem Steuermann unterhalten. Er wollte mehr über die Stadt wissen, in der er anlandete. So hatte er erfahren, dass New York schon vor rund zweihundert Jahren gegründet worden war. 1624 hatten die Niederländer am Hudson eine hügelige, dicht bewaldete Landspitze vorgefunden, die von dem Stamm der Lenape Manna-hata genannt wurde. In ihrer Sprache bedeutete dies genau das, was die Holländer vor sich sahen: die Insel der vielen Hügel.
Nieuw Amsterdam war zunächst nichts als eine Holzburg zum Schutz gegen Eindringlinge, egal ob diese aus der indigenen Bevölkerung oder aus Europa kamen. Doch entwickelte sich die Siedlung rasch zum Handelszentrum für die Westindische Kompanie und wurde zum strategisch wichtigen Mittelpunkt des Pelzhandels. Vierzig Jahre konnten die Niederländer Nieuw Amsterdam halten, bevor die Engländer die Stadt übernahmen und zu Ehren des damaligen Befehlshabers James, Herzog von York und Bruder von König Charles II., in New York umbenannten.
Inzwischen hatte sich die Stadt zu einer Metropole im Osten der USA gewandelt. Die Zahl der ursprünglichen Herren des Territoriums, der Lenape-Indianer, war in den zweihundert Jahren auf die verschwindend geringe Zahl von etwa hundert Seelen geschrumpft. Die Insel der vielen Hügel hieß nun Manhattan anstatt Manna-hata. Noch immer wuchs New York, und niemand konnte sagen, wohin sich diese wuselige Stadt noch entwickeln würde.
Die Yorktown hatte die Hauptsegel gestrichen. Das lebhafter werdende Treiben auf dem Wasser verbot eine zu rasche Fahrt. Kleine Boote, von Einheimischen gesteuert, umkreisten das einfahrende Schiff. Franz konnte die Rufe der Hafenarbeiter und die Geräusche einer geschäftigen Stadt hören. Gekonnt manövrierte der Steuermann den Schoner den East River hinauf, vorbei an einigen Anlegestellen in Lower Manhattan. Der bekannte Geruch von Meerwasser und salziger Luft vermischte sich zunehmend mehr mit dem Duft von Lebensmitteln, der von den Booten herrührte, die sie belagerten. Sie verkauften Esswaren jeglicher Art.
Nach einer langen Reise voller selbst gewählter Einsamkeit und depressiver Erinnerungen spürte Franz eine Mischung aus Erleichterung und Nervosität. Die Hoffnung auf ein neues Leben in Amerika erfüllte ihn, aber auch die Angst vor dem Unbekannten. Immer wieder schaute er auf die anderen Passagiere. Viele von ihnen waren ebenfalls Deutsche, die vielleicht ähnliche Hoffnungen hegten wie er. Doch auch sie waren nichts als Fremde für ihn.
Endlich legte die Yorktown im Hafen an. Für Franz war es ein einschneidendes Erlebnis, doch die Menschen der Stadt nahmen gar keine Notiz von dem ankommenden Schiff. Zu alltäglich war es für sie. Die Seeleute warfen Taue aus und sobald die Yorktown backbordseitig den Kai berührte, wurden Planken ausgelegt, über die die ersten Reisenden an Land drängten. Franz stand noch immer an seinem Platz am Vordersteven. Fast schien es, als habe er Angst, ihn zu verlassen.
