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Ein schockierender Cold Case, eine verschwundene Journalistin und ein ungewöhnlicher Ermittler – der erste Fall für Krimi-Podcaster Markus Heger.
Fagernes, Norwegen: Krimi-Podcaster Markus Heger plant eine Serie über die vor fünfzehn Jahren verschwundene Leah. Obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde, kam Leahs Vater Tobias für den Mord an ihr damals ins Gefängnis. Als nun eine Journalistin, die sich für den Fall interessierte, verschwindet, nimmt Markus die Ermittlung selbst auf. Und je tiefer er in die Abgründe der Vergangenheit eintaucht, desto überzeugter ist er, dass der wahre Täter noch frei herumläuft. Und dass dies noch lange nicht sein letztes Verbrechen gewesen ist ...
Der Nr.-1-Bestseller aus Norwegen! Auftakt der neuen packenden Krimireihe der SPIEGEL-Bestsellerautoren Jørn Lier Horst & Jan-Erik Fjell.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Fagernes, Norwegen: Krimi-Podcaster Markus Heger plant eine Serie über die vor fünfzehn Jahren verschwundene Leah. Obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde, kam Leahs Vater Tobias für den Mord an ihr damals ins Gefängnis. Als nun eine Journalistin, die sich für den Fall interessierte, verschwindet, nimmt Markus die Ermittlung selbst auf. Und je tiefer er in die Abgründe der Vergangenheit eintaucht, desto überzeugter ist er, dass der wahre Täter noch frei herumläuft. Und dass dies noch lange nicht sein letztes Verbrechen gewesen ist …
Die Autoren
Jørn Lier Horst, geboren 1970, arbeitete lange in leitender Stellung bei der norwegischen Kriminalpolizei, bevor er Schriftsteller wurde. 2004 erschien sein Debüt; seither belegt er mit seiner Reihe um Kommissar William Wisting und seiner Thrillerreihe über die Ermittler Alexander Blix und Emma Ramm regelmäßig die Spitze der norwegischen Bestsellerliste. Für seine Werke erhielt er zahlreiche renommierte Preise, zuletzt 2019 den Petrona Award für den besten skandinavischen Spannungsroman.
Jan-Erik Fjell wurde 1982 geboren und wuchs bei Fredrikstad im Osten des Oslofjords auf. Er studierte Informatik, heute ist er als Radiomoderator tätig und widmet sich dem Schreiben von Kriminalromanen. Er zählt zu den erfolgreichsten Krimiautoren Norwegens und wurde mit dem renommierten Preis des norwegischen Buchhandels und dem Frederik-Preis ausgezeichnet. Seine Thriller um den Kommissar Anton Brekke stürmen in Norwegen regelmäßig die Buchcharts und sind auch hierzulande Bestseller.
Gemeinsam haben die Autoren mehr als zwölf Millionen Exemplare verkauft. Hörst du den Schrei?, der Auftakt einer neuen Krimireihe um Podcaster Markus Heger, ist ihr erstes gemeinsames Buch.
Jørn Lier Horst & Jan-Erik Fjell
Hörst du denSchrei?
Kriminalroman
Deutsch von Günther Frauenlob
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Skriget« bei Bonnier Norsk Forlag, Oslo.
This translation has been published with the financial support of NORLA.
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright der Originalausgabe © 2024 by Jørn Lier Horst & Jan-Erik Fjell
Published by agreement with Salomonsson Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2026 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Ricarda Essrich
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
JaB · Herstellung: CS
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-33117-7V002
www.blanvalet.de
TEIL 1
Kapitel 1
»Sie hören den Crimecast«, kam es aus dem Lautsprecher des Laptops auf der Anrichte der kleinen Küche. »Und mein Name ist Markus Heger.« Der Sprecher machte eine Pause von zwei Sekunden und fuhr fort. »Lassen Sie uns die Zeit etwas zurückspulen. Es ist Montag, der 20. Oktober 2008, und ich bin gerade erst zwanzig geworden. Der Tag ist noch jung. Ich sitze auf dem Beifahrersitz von Mutters altem Opel, der sich wie viele andere um diese Uhrzeit auf der E6 langsam nach Norden durch den Verkehr schiebt. Wir sind auf dem Weg zum Flughafen Gardermoen. Keiner von uns sagt etwas. Meine Mutter, weil sie deprimiert und traurig ist. Ich, weil ich vor Spannung kaum reden kann.«
Mathilde Wold fuhr mit dem Lappen über den untersten und letzten Boden des Kühlschranks. Schob den Kopf hinein und inspizierte die Ecken. Danach überprüfte sie die Ablagen in der Tür. Es war alles sauber. Sie schob die frisch ausgewaschene Gemüseschublade wieder an ihren Platz, trank den Wein aus, den sie noch im Glas hatte – irgendein Franzose, dessen Name sie nicht aussprechen konnte –, und gönnte sich das zweite Glas des Abends.
»Im Radio heißt es, dass Barack Obama in exakt drei Monaten als 44. Präsident der USA vereidigt werden soll«, fuhr der Mann fort, von dem sie nicht wusste, wie er aussah. »Ich versuche, die Stimmung aufzuhellen, und mache einen schlechten Witz, aber meine Mutter bittet mich, das nicht zu tun, weil ihr heute nicht nach Lachen zumute sei. Nicht aus Mitleid mit George Bush und seiner Frau Laura, die so langsam ihren Auszug aus dem Weißen Haus vorbereiten, sondern weil sie sich sicher ist, dass sie mich nicht wiedersehen wird.«
Mathilde mochte die Stimme des Mannes. Sie war tief und klar, voller Selbstvertrauen, Charme und Enthusiasmus. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich ihn als durchtrainierten, maskulinen Mann mit breitem Kiefer, kurz geschnittenen Haaren und blauen Augen vor. Er unterhielt sie schon seit dem Nachmittag, und mittlerweile hatte sie bereits mehrere Podcast-Folgen gehört. Unter anderem eine Episode über einen Leichenfund in einer über den Winter verschlossenen Hütte in Stavern vor zwölf Jahren.
»Vor den Toren des militärischen Teils des Flughafens umarmt meine Mutter mich lange, bevor ich sie weinend zurücklasse. Bald habe ich die anderen meiner Truppe gefunden, und wir sind noch bei der gegenseitigen Begrüßung, als wir erfahren, dass es technische Probleme mit unserem Flugzeug gibt und das Boarding auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss. Ich erinnere mich an jedes Detail dieses Tages. Von den Tipps und Ratschlägen eines Soldaten, der auf Heimaturlaub gewesen war und jetzt mit demselben Flugzeug zurück sollte, bis hin zu der enormen Enttäuschung, als der Befehlshaber irgendwann am Nachmittag zu uns kam und sagte, das Flugzeug könne vorläufig nicht starten, weshalb unser Abflug auf den Morgen des nächsten Tages verschoben werden müsse. Das, woran ich mich aber am besten erinnere, ist weder der tränenreiche Abschied von meiner Mutter noch das Warten irgendwo im Flughafen, sondern die Bilder, die in dem Raum, der uns schließlich zugewiesen worden war, abends über den Fernseher flimmerten.«
Mathilde schaltete die Deckenlampe und das Licht an der Abzugshaube aus. Sie nahm den Laptop und das Weinglas mit zum Sofa. Stellte beides auf den Tisch und warf einen Blick durch das Kellerfenster in das Septemberdunkel, das sich über Fagernes gelegt hatte. Sie ließ die Lamellenjalousie herunter und schloss sie. Zündete drei Kerzen an, die in einer kleinen Schale auf dem Tisch standen, schob sich in die Ecke des Sofas, zog die Füße unter sich und überprüfte ihr Handy. Sie hatte auf Snapchat eine Nachricht von einer Freundin erhalten, die ein Foto von sich in einem Kleid gemacht hatte, an dem noch das Preisschild hing. Mathilde legte das Handy aufs Sofa. Streckte sich nach dem Glas aus, trank einen Schluck und studierte die tanzenden Flammen auf dem Tisch.
»Denn nur zweieinhalb Stunden von Gardermoen entfernt, in Fagernes, gibt es ein Mädchen, das an diesem Morgen ebenso gespannt wie ich ihren Tag beginnt. Sie alle haben garantiert Bilder von ihr gesehen. Ein kleines, blondes Mädchen mit kornblumenblauen Augen, Sommersprossen auf der Nase und zwei neuen Schneidezähnen, die sie bei jedem Lächeln stolz präsentiert. Sie strahlt in die Kamera, hat die Hände übereinander geschoben und auf das Buch gelegt, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Sie ist sieben Jahre alt und heißt Leah. In den Nachrichten ist fast immer das gleiche Foto zu sehen. Leah freute sich bei der Aufnahme auf die Geburtstagsfeier einer Freundin am Nachmittag. Sie redet beim Frühstück – zwei Scheiben Brot mit Erdbeermarmelade und ein Glas Milch – über nichts anderes. Wir wissen nur wenig. Leah geht normalerweise zu Fuß zur nur einen knappen Kilometer entfernten Schule. So auch an diesem Tag. Nach dem Frühstück putzt sie sich die Zähne und umarmt ihre Mutter noch einmal an der Tür. Mit dem Ranzen auf dem Rücken macht sie sich dann auf den Weg. Die hohen Bäume, die dicht an dicht auf beiden Seiten der schmalen Straße wachsen, lassen den Tag noch jünger wirken. Unten in der Stadt wird es um diese Uhrzeit schon hell. Aber nicht dort, wo Leah und ihre Mutter wohnen. Nach hundert Metern bleibt sie stehen, dreht sich um und winkt ihrer Mutter noch einmal zu, die auf der Treppe wartet und ihr hinterhersieht. Dann verlässt Leah den Weg und verschwindet zwischen den Bäumen. Sie nimmt immer eine Abkürzung zur Grundschule von Nord-Aurdal. Leah kennt den Pfad durch den Wald ganz genau. An diesem Tag aber passiert etwas. Offenbar begegnet sie jemandem, der sie gegen ihren Willen mitnimmt. Denn heute wissen wir, dass sie sich zur Wehr gesetzt hat. Der kleine Stoffpinguin, der immer an ihrem Ranzen hing, wird am Rand des Pfades gefunden. Sie bekommt keine Hilfe, ihre Schreie werden von niemandem gehört.«
Er machte eine Kunstpause. Die Erkennungsmelodie des Podcasts ertönte.
»Sie hörten den ersten Teil von Der Schrei, den niemand hörte«, erklärte Markus Heger, bevor die Musik lauter wurde.
Er war ein guter Erzähler, dachte Mathilde und nippte an ihrem Glas. Sein Einstieg war bei jedem Fall sehr persönlich, bevor er die Hörer auf eine Weise in den Alltag der Hauptperson einführte, die informativ, aber nie melodramatisch war.
Es klopfte. Mathilde zuckte zusammen. Die Kellerwohnung, die sie mietete, hatte zwei Eingänge. Einen nutzte sie selbst, er führte direkt auf den Hof, über den sie kam und ging. Der andere verband die Wohnung mit dem Kellerflur, von wo eine Treppe nach oben in die Wohnung ihrer Vermieterin führte. In den drei Monaten, die Mathilde jetzt bei Gjertrud Ydse wohnte, war die Achtzigjährige nicht ein einziges Mal zu ihr nach unten gekommen. Weder durch die eine noch durch die andere Tür. Nicht weil sie keine Gesellschaft wollte – denn das tat sie –, sondern weil ihr Hüftleiden es ihr unmöglich machte, Treppen zu steigen. Mathilde wusste nicht mehr, wie oft sie oben bei Gjertrud gegessen hatte. Ihre Vermieterin trat dafür immer oben an die Treppe und rief nach unten, dass das Essen fertig sei. Mathilde hatte schon ein schlechtes Gewissen, denn diese Essenseinladungen waren immer einseitig, dabei hatte sie längst verstanden, dass es der alten Dame nur um die Gesellschaft ging.
Lediglich der Sohn der Vermieterin war einmal über den Kellerflur in ihre Wohnung gekommen. Sie war gerade im Bad gewesen und konnte von Glück reden, dass sie sich zufällig ein Handtuch umgeschlungen hatte, als sie durch das Wohnzimmer gegangen war, um sich im Schlafzimmer saubere Sachen zu holen. Sie hatte so laut aufgeschrien, als sie den Mann plötzlich auf der Türschwelle stehen sah, dass auch er zusammengezuckt war. Einar Ydse hatte sich sofort entschuldigt und gesagt, er habe geglaubt, sie sei nicht zu Hause. Er habe nur überprüfen wollen, ob auch bei ihr der Strom ausgefallen sei. Mathilde hatte ihm versichert, dass alles gut sei. »Ein Glück, dass ich nicht nackt bin«, hatte sie lachend hinzugefügt, ohne es eigentlich lustig zu finden. Ein beklemmender Versuch, einen Fehler zu überspielen, den nicht sie gemacht hatte. Er war ihr eine Antwort schuldig geblieben und hatte sie von der Tür aus unverhohlen angestarrt.
Genau wie jetzt. Er stand auf der anderen Seite der halb geöffneten Tür. Mathilde war überrascht, dass Einar erst 40 Jahre alt sein sollte. Sein schmales, mageres Gesicht ließ ihn deutlich älter aussehen. Er war groß und dünn. Einen Kopf größer als sie mit ihren 164 Zentimetern.
»Stimmt was nicht, Einar?«, fragte sie durch den Türspalt.
»Alles in Ordnung, ich soll Ihnen nur von meiner Mutter ausrichten, dass Sie nach oben kommen sollen, wenn Sie Hunger haben.«
Der Geruch von Essen drang in ihre Nase.
»Brathähnchen mit Dillkartoffeln und zerlassener Butter«, fuhr er fort und versuchte sich an einem Lächeln.
»Nein, ich will Sie beide nicht stören.«
»Das tun Sie nicht. Ich muss jetzt ohnehin wieder fahren. Lindis wartet zu Hause mit dem Essen.« Er stellte ein Bein auf die unterste Treppenstufe und drehte sich etwas weg. »Soll ich ihr sagen, dass Sie kommen?«
Mathilde hatte bis jetzt nur ein paar Scheiben Knäckebrot und am Nachmittag etwas Schokolade gegessen.
»Aber vielleicht haben Sie ja andere Pläne?«
»Nein, die habe ich nicht«, erwiderte sie. »Sagen Sie ihr, dass ich komme. Ich ziehe mich nur noch rasch um.«
Mathilde wartete, bis sie seinen Wagen vom Hof fahren hörte, dann ging sie nach oben.
Kapitel 2
Markus Heger holte am Tresen zwei Gläser Bier und eine Schale mit Erdnüssen. Er stellte das eine Glas vor seinen alten Studienfreund und schob sich mit dem anderen in der Hand neben ihm auf die Bank.
»Wir sehen uns echt viel zu selten«, sagte Daniel Lind und deutete nickend auf das Glas. »Ich glaube, das letzte Mal waren wir auch hier.«
Markus sah sich um. Das Lokal hatte sich gefüllt. Die Rhythmen, die aus den Lautsprechern kamen, kannte er nicht.
»Das war nach der Beerdigung meiner Mutter«, sagte Markus.
»Ist das wirklich schon vier Monate her?« Daniel hob das Glas. »Auf Anita?«
Markus stieß mit ihm an und trank einen Schluck. Der Schaum legte sich auf seine Lippen. Er wischte ihn weg und sah zum Nachbartisch. Drei Frauen Ende zwanzig nippten an ihren Drinks, während die vierte eine Geschichte erzählte.
Daniel nahm sich eine Handvoll Nüsse.
»Und du?«, fragte er und warf sich alle auf einmal in den Mund. »Irgendwelche Neuigkeiten? Der letzte Podcast ist schon eine ganze Weile her.«
»Nicht mehr als drei Wochen«, antwortete Markus. »So viel ist in der letzten Zeit nicht passiert.«
»Ich finde ja, dass die Episoden über die alten Fälle am besten sind.«
»Die sind ziemlich arbeitsintensiv und nach der Sache mit meiner Mutter bin ich noch nicht wieder richtig in Gang gekommen. Ich verfolge natürlich aber auch die aktuellen Nachrichten, ich muss das ja alles mitbekommen.«
»Und wie läuft es mit dem Schlafen?«
Daniel sah ihn fragend an, als säßen sie sich plötzlich in einem Verhörraum im Präsidium und nicht in einer Bar in Grünerløkka gegenüber.
Markus zog die Stirn in Falten.
»Du brauchst mich gar nicht so anzusehen«, sagte Daniel mit einem Lächeln. »Du siehst so aus, als hättest du die ganze letzte Woche nicht geschlafen.«
»Du kommst der Wahrheit damit ziemlich nahe.«
»Als wir zuletzt darüber gesprochen haben, hast du doch gesagt, es würde besser.«
»Eine Zeit lang war es das auch.« Markus trank noch einen Schluck. »Aber nach Mutters Tod hatte ich ziemlichen Stress. Ein Haufen Rechnungen und Mahnungen, um die ich mich kümmern musste. Außerdem habe ich ihre Wohnung renoviert. Neues Bad und neuer Fußboden in der ganzen Wohnung. Nur die Decke habe ich gelassen. Jetzt muss nur noch die alte Küche raus und die neue rein, und dann muss ich die Decke streichen und schließlich das angehen, wovor mir am meisten graut.«
»Und das wäre?«
»Den Keller ausräumen. Da stapeln sich die leeren Flaschen bis unter die Decke. Ich weiß echt nicht, wie sie das hingekriegt hat. Es gibt in dem ganzen Ding wirklich nur eine Stelle, an der man sich umdrehen kann.«
»Mit dem Leergut kannst du dann ja reich werden. Sag Bescheid, wenn ich dir meine Jungs schicken soll, um dir zu helfen. Die lieben es, Pfandflaschen zu Geld zu machen.«
»Tja, da gibt es nur ein Problem.« Markus starrte in sein Bier. »Das sind keine Pfandflaschen.«
»Ah, verstehe. Aber melde dich, wenn du Hilfe mit der Küche brauchst. Zu zweit ist das ein bisschen einfacher.«
»Danke, aber irgendwie erfüllt es mich, das allein zu machen.«
»Du willst das alles allein machen?« Daniels Stimme hatte etwas Spitzes bekommen. »Irgendwo gibt es doch immer einen Punkt, an dem man Hilfe braucht. Es dauert nicht mehr lang, und dann melden sich deine Albträume auch noch tagsüber. Plötzlich hörst du den Schrei, wenn du unter der Dusche stehst, frühstückst oder im Auto sitzt«, er legte das Glas an die Lippen, »oder Bier trinkst.« Der letzte Schluck verschwand in seinem Mund. »Rede mit jemandem, der sich auf so was versteht, Markus.«
»Nett, dass du das sagst.« Markus lächelte gequält. »Mein Hausarzt rät mir nämlich dasselbe.«
»Ja, siehst du, ich kenne eine Psychologin, zu der viele Polizisten gehen. Sie ist wirklich tüchtig. Schon etwas älter. Hat viel Erfahrung und …«
»Stopp«, unterbrach Markus Heger ihn. »Hör einfach auf. Ich will das nicht hören. Mama hat auch immer damit genervt, dass ich mit jemandem reden müsse, bla bla bla. Ich will das nicht! Ich krieg das alleine hin!«
Ein Tablett mit Drinks fiel am Tresen zu Boden. Einer der Barkeeper war sofort mit einem Lappen und einem Handfeger zur Stelle.
»Das geht jetzt aber schon seit fünfzehn Jahren so. Wenn du mich fragst, deutet ziemlich viel darauf hin, dass du das nicht allein hinkriegst. Stell dir doch bloß mal vor, dass diese Gespräche dich … Ich will nicht sagen gesund machen, aber dir auf jeden Fall helfen können, dass du diesen Mist loswirst.«
»Das wird besser, sobald ich die Wohnung verkauft habe, und …«, er schob die Hand unter seine Jacke und holte ein verschlossenes Kuvert heraus, »wenn ich endlich weiß, was ich mit dem hier machen soll.« Er wedelte mit dem Brief vor Daniels Nase herum. »Ein paar Wochen nach der Beerdigung habe ich den in ihrem Briefkasten gefunden.«
Markus Heger
c/o Anita Heger
Ringgata 5 F
0577 Oslo
»Guck mal auf den Absender«, sagte Markus. »Der ist wirklich interessant.«
Daniel drehte den Umschlag um und legte ihn mit der Rückseite nach oben auf den Tisch. Er beugte sich etwas vor, um die in die linke obere Ecke gedrückten Buchstaben lesen zu können, dann formte sein Mund sich zu einem »Oh«.
»Verdammt!« Er sah zu Markus. »Und du hast den noch nicht aufgemacht?«
»Nee. Das ist ja genau mein Problem.« Er steckte den Brief zurück in seine Jacke. »Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das überhaupt tun soll.«
Kapitel 3
Nach dem Essen hatte Mathilde den Tisch abgeräumt und Teller und Besteck in der Spülmaschine versorgt. Den Topf reinigte sie von Hand. Gjertrud sah ihr lächelnd zu.
»Sie verwöhnen mich wirklich mit all diesem guten Essen«, sagte Mathilde. »Wenn das so weitergeht, wiege ich Weihnachten 300 Kilo.«
Gjertrud antwortete, Mathilde verstand bei dem Plätschern des Wassers aber nicht, was die alte Frau sagte. Sie drehte den Wasserhahn ab.
»Was haben Sie gesagt?«
»Es tut Ihnen nur gut, ein bisschen zuzulegen. Sie sind ja klapperdürr.«
Mathilde lachte.
»Außerdem sollte eine junge Frau wie Sie an einem Freitagabend nicht allein zu Hause sein oder ihre Zeit mit einer alten Schachtel wie mir verbringen.«
»Mir ist das sehr recht so.« Mathilde spülte den Topf noch einmal mit Wasser aus und trocknete ihn ab. »Ich habe heute die ganze Wohnung geputzt inklusive Kühlschrank.«
»Das haben Sie gemacht?«
»Ja, und dabei einen Podcast über ein Verbrechen gehört, das vor vielen Jahren hier in Fagernes passiert ist.«
Mathilde setzte sich wieder an den Tisch.
»Podcast?«
»So eine Art modernes Hörspiel.«
»Ah ja«, sagte Gjertrud, als wüsste sie damit, was gemeint war. »Einar hört sich so was auch an.«
»Besonders weit bin ich nicht gekommen. Eigentlich hatte die Folge gerade erst begonnen, als Einar geklopft hat. Auf jeden Fall geht es um diese Leah. Erinnern Sie sich daran?«
»Natürlich erinnere ich mich daran.« Gjertrud schenkte ihnen beiden mit zitternden Händen Rotwein nach. »Es wird in ganz Valdres kaum einen Menschen geben, der sich nicht daran erinnert.« Sie trank einen Schluck und schmatzte kurz. »Dass jemand was über sie geschrieben hat, ist jetzt aber lange her.«
»Haben Sie Lust, sich das anzuhören? Der Mann, der diese Podcasts macht, ist richtig gut.«
»Nein, nein, Sie sollten nicht den ganzen Abend hier bei mir hocken, Liebes. Lassen Sie uns dieses Glas austrinken, und dann ziehen Sie sich etwas Schönes an und suchen sich einen Tanzpartner.«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.« Ein breites Lächeln zeichnete sich auf Mathildes Lippen ab. Dann begann sie zu lachen. »Tanzpartner … Gott bewahre!«
Mathilde spürte, wie der Alkohol in ihrem Blut arbeitete. Und fühlte das, was sie gesucht hatte, als sie sich um die Vertretungsstelle bei der Zeitung in Valdres beworben hatte, und was sie zu Hause in Oslo nicht hatte finden können: Ruhe. Hier in Fagernes wohnten nur zweitausend Menschen, und sie war einer davon. Das machte das Leben einfacher, langsamer und auf eine befreiende Weise vorhersehbarer.
Gleichzeitig aber auch langweiliger.
Sie stand rasch von ihrem Stuhl auf und ging aus der Küche. »Ich hole meinen Laptop, dann können wir uns das zusammen anhören.«
Eine Minute später stand der Computer zwischen ihnen auf dem Tisch. Mathilde startete die Episode aufs Neue.
»Er fängt damit an, eine Geschichte über sich selbst zu erzählen«, erklärte sie und regelte die Lautstärke. »Und dann beginnt er, über Leah zu sprechen. Ist die Lautstärke gut so?«
»Ich bin schwerhörig«, sagte Gjertrud, »nicht taub.«
Beide lachten laut. Die alte Frau faltete die kleinen, runzligen Hände, legte sie vor sich auf den Tisch und hörte zu.
»Bis zu dieser Stelle bin ich gekommen«, sagte Mathilde nach wenigen Minuten.
Die Erkennungsmelodie verklang nach ein paar Sekunden, dann war wieder Markus Hegers Stimme zu hören:
»Als die Klingel zur ersten Stunde der Grundschule verstummt, machen sich weder die Lehrer noch die Klassenkameraden Gedanken darüber, dass der Tisch in der zweiten Reihe am Fenster leer ist. Leah hat vor dem Wochenende ein paar Tage wegen Fieber gefehlt, weshalb der Lehrer wie der Rest der Klasse annimmt, dass sie noch immer krank ist. Was dann passiert, ist sicher nicht entscheidend für ihr Verschwinden, wohl aber für den Zeitpunkt, an dem man mit der Suche beginnt: Durch ein Missverständnis zwischen dem Lehrer und dem Sekretariat ruft niemand bei der Mutter an, um zu fragen, warum Leah nicht zur Schule gekommen ist. So dauert es bis zwei Uhr nachmittags, als Leahs Mutter in der Schule anruft, um zu fragen, ob Leah noch dort sei. Erst in diesem Moment wird allen bewusst, dass etwas sehr, sehr Ernstes geschehen ist. Während Feuerwehr und Polizei, unterstützt von Freiwilligen, in den nächsten Tagen die ganze Umgebung und alle Teiche absuchen, konzentriert sich der Verdacht der Polizei mehr und mehr auf Leahs Vater. Ein Streit um das Sorgerecht hat zu Drohungen und einem Kontaktverbot geführt. Vier Tage, nachdem die Mutter Leah vermisst gemeldet hat, wird der Vater verhaftet. Im Zuge der Ermittlungen ist viel alter Mist aufgedeckt worden. So kommt heraus, dass Tobias Forsberg eine Zeit lang Alkoholprobleme hatte. Auch seine Finanzen sind in Schieflage geraten, er hat psychische Probleme und neigt zu Gewalt. Eine frühere Lebensgefährtin sagt überdies aus, sie habe sich von ihm getrennt, weil er ihren Sohn geohrfeigt habe. ›Blutspuren im Auto des Vaters‹ titeln die Zeitungen, als der Staatsanwalt die Hauptanklagepunkte präsentiert. Forsberg selbst sagt dazu nur, dass Leah in seinem Auto einmal Nasenbluten gehabt hat. Die Richter halten dies aber für eine konstruierte, unglaubwürdige Erklärung.«
Gjertrud nickte, als erinnerte sie sich an die Details.
Heger erklärte weiter, dass Tobias Forsberg hartnäckig behauptete, ein Freund von ihm könne ihm ein Alibi geben.
»Vor Gericht sagt dieser Freund dann aber aus, dass Forsberg nicht bei ihm gewesen sei«, fuhr er fort. »Andere Bekannte sprechen von einem geänderten Verhalten des Angeklagten. Forsberg soll in der letzten Zeit frustriert gewesen sein und sich provoziert gefühlt haben, was sich in Aggression und Wut geäußert habe. Einer der Hauptzeugen ist ein Handwerker, der auf dem Weg zur Arbeit am Ende der Abkürzung durch den Wald zur Schule einen Wagen gesehen haben will, bei dem es sich um Forsbergs Auto gehandelt haben könnte, und zwar exakt 250 Meter von Leahs Haus entfernt. Dichter durfte er sich dem Haus wegen des Kontaktverbots nicht nähern. Die Mutter einer Schulkameradin von Leah sagt überdies aus, ihn dort schon öfter im Wagen sitzen gesehen zu haben.«
Der Moderator ging auf ein paar weitere Details ein, ehe er den Ausgang des ersten Verfahrens gegen Tobias Forsberg zusammenfasste.
»Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass Leahs Vater sowohl die Zeit als auch die Möglichkeit gehabt hat, seine Tochter zu entführen, und dass auch seine Gemütslage zu einem solchen Verbrechen passen würde. Das Hauptargument für die Verurteilung sind die Blutspuren im Auto und sein Versuch, ein Alibi zu konstruieren. Darüber hinaus glaubt man ihm nicht, dass der Akku seines Handys leer gewesen ist, weshalb sich nicht mehr feststellen lässt, wo das Handy sich zum Zeitpunkt von Leahs Verschwinden befunden hat. Das Gericht ist der Ansicht, er habe es selbst ausgeschaltet, um keine Spuren zu hinterlassen. Obwohl Leahs Leichnam verschwunden bleibt, fällt das Gericht ein sehr hartes Urteil: Tobias Forsberg wird zu sechzehn Jahren Haft verurteilt. Er feuert seinen Verteidiger, legt Berufung ein und wappnet sich mit einem Anwalt aus der Hauptstadt für das nächste Verfahren.«
In den folgenden zwanzig Minuten spielte Markus Heger Ausschnitte aus Nachrichtensendungen und Interviews mit Sachverständigen ab, gefolgt von einer Zusammenfassung, die eigentlich nur wiederholte, was er bereits gesagt hatte. Die Art und Weise wie er das tat, machte aber Lust, ihm weiter zuzuhören.
»Das Berufungsgericht kommt zur gleichen Schlussfolgerung: Es sieht keinen Anlass für berechtigte Zweifel und schließt wie die vorhergehende Instanz, dass Tobias Forsberg seine Tochter getötet und irgendwo verscharrt hat. Sie erhöhen das Strafmaß auf siebzehn Jahre. Tobias Forsberg ist damit einer der wenigen in Norwegen, der wegen Mordes verurteilt wurde, obwohl der Leichnam des vermeintlichen Opfers nie gefunden wurde. Es gab in beiden Verfahren keine schlagenden Beweise, dass er die Tat wirklich begangen hat. Die Verurteilung erfolgte anhand einer langen Reihe von Indizien und – was sehr schwerwiegend war – der Aussage seines Freundes.
Jetzt, da ich diese Aufnahme mache, ist es bald ein Jahr her, dass Tobias Forsberg sich im Gefängnis von Halden das Leben genommen hat. Mein Crimecast bekommt viele Zuschriften. Ein Teil davon ist – nun, wie soll ich das sagen? – etwas fragwürdig. Andere sind interessant, führen aber selten weiter. In der letzten Woche hielt ich aber das Schreiben einer Frau in der Hand, die behauptete, den von der Polizei konstruierten zeitlichen Ablauf der Tat zum Einsturz bringen zu können, und damit berechtigte Zweifel an Tobias Forsbergs Schuld zu wecken. Wegen dieser kurzen Nachricht habe ich mich entschlossen, den Fall des Verschwindens der kleinen Leah noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich habe mich mit der Frau verabredet, um ihre ganze Geschichte zu hören. In der nächsten Episode werden wir sie kennenlernen.
Sie hörten den ersten Teil von Der Schrei, den niemand hörte. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse.«
Die Schlussmelodie ertönte, und Gjertrud starrte ernst vor sich hin.
»Sollen wir uns noch eine Episode anhören? Oder hat Ihnen das nicht gefallen?«
»Doch, gerne noch eine, ich bin nur überrascht, dass ich so viel vergessen habe.«
»Ist doch keine Wunder, Gjertrud, der Fall liegt ja schon ewig zurück.«
»Schon, aber mein Gedächtnis ist auch nicht mehr wie früher.«
Mathilde kniff die Augen zusammen, scrollte langsam und starrte auf den Bildschirm. Es gab keine Episode Nummer 2. Sie tippte den Suchbegriff »Schrei« ins Spotify-Suchfeld ein und fand neben der Podcast-Folge, die sie gerade gehört hatte, ein paar Künstler, aber sonst nichts. Dann googelte sie »Crimecast«. Sie hoffte, dass der Fehler beim Streaming-Dienst lag und die Folge auf der Homepage des Podcasts verfügbar war. Ein Foto füllte den obersten Teil des Bildschirms. Es war aus der Distanz aufgenommen worden und zeigte die Front eines Wohnmobils vor einem aprikosenfarbigen Sonnenuntergang. Eine Person, von der sie annahm, dass es Markus Heger war, saß auf dem Dach und ließ die Beine vor der Frontscheibe baumeln. Das Foto war aus so großer Entfernung aufgenommen worden, dass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Unter dem Bild stand »Crimecast – kontaktieren Sie mich, wenn Sie Tipps oder Vorschläge haben, was wir uns genauer anschauen sollen. Wir behandeln alles vertraulich.« Darunter standen eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer.
Mathilde scrollte weiter. Eine Reihe von Links zu verschiedenen Podcast-Episoden folgte. Sie fand Teil 1, der vor vier Jahren veröffentlicht worden war. Danach folgte ein vierteiliger Podcast über den Serienmörder Stig Hellum. Mathilde erinnerte sich an die Nachrichten, die die Jagd auf ihn dokumentierten, nachdem Hellum bei seiner Flucht bei einem Gefangenentransport einen Wärter umgebracht hatte.
Auf der Webseite gab es aber nichts, was sie nicht auch schon bei Spotify gesehen hatte.
»Ich kann sie nicht finden …«, sagte Mathilde.
»Ist sie … weg?«
»Sieht so aus.«
»Wie ärgerlich.« Gjertrud führte das Glas an die Lippen. Ihre Hände waren ruhiger geworden. »Na ja, dann ist das halt so.«
Mathilde scrollte noch einmal nach oben.
»Sie können anrufen und fragen, wo wir die Folge finden können«, sagte sie im Spaß.
»Ich?«, lachte Gjertrud. »Sie sind die Journalistin.«
»So beschwipst bin ich nun auch noch nicht«, erwiderte Mathilde lächelnd und trank einen weiteren Schluck.
Kapitel 4
»Wo wohnst du jetzt eigentlich?«, fragte Daniel Lind, nachdem sie sich ihr viertes großes Bier geholt hatten. »Gibt es da etwas Neues?«
Markus warf einen kurzen Blick zur Tür, durch die fünf junge Männer kamen, aber gleich wieder gingen, weil das Lokal schon voll war.
»Vor dem Haus von meiner Mutter.«
»Im Wohnmobil?«
»Nein«, antwortete Markus. »Zwischen den Containern, die ich gemietet habe, und ein paar Büschen.« Daniel sah ihn konsterniert an. »Nee, Mann, was denkst du denn? Natürlich wohne ich im Wohnmobil.«
Daniel lachte.
»Bei dir kann man sich ja nie ganz sicher sein. Hast du vor, dir was Eigenes zu suchen, wenn du die Wohnung erst verkauft hast?«
»Warum sollte ich das tun? Ich habe doch ein Zuhause.«
»Du lebst in einem Wohnmobil.«
»Ja, und?«
»Kommst du nie auf den Gedanken, dass du 35 bist und es vielleicht an der Zeit ist, ein bisschen … zur Ruhe zu kommen?«
»Wie du, meinst du? Mit Frau Nummer 2 und drei Kindern?«
»Zum Beispiel.«
Das Handy auf dem Tisch begann zu vibrieren, und im Display tauchte eine unbekannte Nummer auf.
»Saved by the bell …«, sagte Markus und nahm das Gespräch an.
Am anderen Ende war eine Frau zu hören, er verstand aber nicht, was sie sagte, weshalb er sich einen Finger in das freie Ohr steckte und sie bat, ihr Anliegen zu wiederholen.
»Mein Name ist Mathilde Wold. Ich rufe wegen Ihres Podcasts an. Ich …«
»Eine Moment bitte«, unterbrach Markus sie, steckte das Handy in seine Brusttasche und stand auf. »Kleinen Moment, Daniel, ich bin gleich zurück.«
Es gehörte zu seiner Policy, entgegenkommend zu sein, wenn jemand Kontakt mit ihm aufnahm. Viele seiner guten Fälle hatten mit einem Telefonanruf begonnen, und die interessantesten dieser Anrufe waren nicht selten spät am Abend gekommen, wenn die Leute mit ihren Gedanken allein zu Haus waren und etwas getrunken hatten.
Er ging durch das Lokal und schob sich an Stühlen und Tischen vorbei, bis er draußen auf dem Bürgersteig stand. Kalter Wind pfiff durch die Straßen von Grünerløkka, und eine Straßenbahn rumpelte quietschend vorbei. Markus wartete, bis es etwas ruhiger geworden war, und legte das Telefon ans Ohr.
»Jetzt höre ich Sie etwas besser«, sagte er.
Sie wiederholte ihren Namen, dieses Mal fügte sie aber hinzu, dass sie Journalistin sei. Es kam immer wieder vor, dass sich Reporter meldeten und Informationen von ihm wollten, ohne dafür selbst einen Finger krumm zu machen.
»Wo?«
»Von der Zeitung Avisa Valdres«, antwortete sie. »Aber … also, es tut mir leid, dass ich Sie an einem Freitagabend störe, aber ich habe Ihre Telefonnummer auf der Webseite des Crimecasts gefunden. Und … Ja, also es kann sein, dass ich falsch geguckt habe, aber ich konnte nirgendwo die zweite Folge von Der Schrei, den niemand hörte finden. Die ist weder auf Spotify noch auf der Webseite. Sie halten mich jetzt sicher für komplett bekloppt, aber können Sie mir sagen, wo ich die finden kann? Ich muss einfach wissen, wie es weitergeht.«
Ja, dachte Markus und ärgerte sich, das Gespräch angenommen zu haben. Genau das denke ich.
»Es gibt keine zweite Episode«, antwortete er. »Und das erkläre ich am Anfang der darauf folgenden Reihe. Die mit …«
»Stig Hellum – Wahnsinn für zwei?«, unterbrach sie ihn.
»Ja.«
»Okay, die habe ich noch nicht gehört. Am Ende der ersten Episode über Leah erwähnen Sie eine Frau, die Informationen hätte, die Zweifel an Tobias Forsbergs Täterschaft aufkommen lassen, und ich …«
»Sie hat mir diese Informationen nicht gegeben, sondern einen Rückzieher gemacht«, unterbrach Markus sie. Ein lauter Ruf ließ ihn um 180 Grad herumschwingen. Ein Gruppe Jugendlicher kam mit Plastiktüten voller Flaschen auf dem Bürgersteig auf ihn zu. Dann wurde aus dem Rufen lautes Grölen. Er wich zur Seite aus und ließ sie passieren. »Ursprünglich hatte ich die Episode, die Sie gehört haben, zurückgezogen, aber da viele sie doch wegen der Zusammenfassung des Falls noch einmal hören wollten, habe ich sie wieder neu hochgeladen. Vielleicht hätte ich den Schluss mit dem Hinweis auf den Tipp streichen sollen, auf jeden Fall gibt es keine zweite Folge. Sorry.« Er warf einen Blick aufs Display. Es waren bereits drei Minuten vergangen. »Haben Sie noch einen schönen Abend.«
»Warten Sie«, bat sie. »Wie gesagt, bin ich Journalistin, und natürlich interessiert es mich gewaltig, was die Frau sagen wollte.«
»Sie ist eine ehemalige Lebensgefährtin von einem der wichtigsten Zeugen. Ich habe kurz mit ihr telefoniert und dabei einen Eindruck von dem bekommen, was sie sagen wollte, und eigentlich klang das glaubwürdig. Es ist aber natürlich nicht ausgeschlossen, dass es sich um eine blanke Lüge gehandelt hat. Auf jeden Fall hatte ich damals ein Treffen mit ihr vereinbart. Nur wenige Stunden bevor ich mich ins Auto setzen und zu ihr nach Sarpsborg fahren wollte, hat sie mich dann aber angerufen und mir gesagt, dass sie mich jetzt doch nicht sehen will.«
»Dann wohnt sie also in Sarpsborg?«
Mist, dachte Markus, wenn er Bier trank, kamen ihm immer wieder unbedacht Sachen über die Lippen. Er schaffte es nicht, etwas zu erwidern, bevor Mathilde Wold die Frage stellte, die kommen musste.
»Erinnern Sie sich an ihren Namen?«
»Ja, aber da muss ich Sie enttäuschen: Ich kann Ihnen meine Quellen nicht nennen.«
»Nicht …?«
»Nein.«
»Okay«, sagte sie nach einer Weile.
Markus hörte ihr die Enttäuschung an.
»Ich verspreche jedem, der sich bei mir meldet, volle Diskretion, Ihnen natürlich auch.«
»Verstehe … aber okay. Trotzdem danke.«
»Gerne«, antwortete Markus. »Aber so richtig helfen konnte ich Ihnen ja nicht.«
Er beendete das Gespräch und ging wieder nach drinnen. Daniel tippte auf seinem Handy herum, als Markus sich neben ihn auf die Bank schob und sein Bier nahm.
»Du wirst sauer werden«, sagte Daniel, tippte fertig und legte das Handy weg. Dann sah er Markus fragend an. »Ich habe eine Nachricht an Liv Utseth geschickt und sie gefragt, ob sie Zeit für ein Gespräch mit dir hat. Und das hat sie. Nächsten Montag um drei Uhr.«
»Wer ist das?«
»Die Psychologin, von der ich gesprochen habe.«
»Psychologin …?« Markus grinste. »Vergiss es ganz einfach.«
»Du.« Daniel sah ihn voller Ernst an. »Ich mache keine Witze.«
»Ich auch nicht.« Er nahm sein Glas. »Warum zum Henker sollte ich denn zu einer Psychologin gehen?«
»Weil du irgendwann durchdrehst, wenn du dich dieser Sache nicht stellst.«
Markus trank. Eine der Frauen am Nebentisch begegnete seinem Blick und lächelte ihn an. Er erwiderte das Lächeln.
»Mal im Ernst«, fuhr Daniel fort. »Denk doch einfach mal daran, wie viele Nächte dich dieser Schrei schon gekostet hat. Ganz zu schweigen von deiner Polizeikarriere.«
»Polizeikarriere?« Markus lachte schnaubend. »Eine tolle Karriere war das.«
»Es hätte eine werden können.«
Markus zuckte mit den Schultern. Es rauschte bereits in seinem Kopf, und irgendwie ging die Stimmung in den Keller. Nicht wegen der Promille, sondern wegen der Richtung, die ihr Gespräch genommen hatte. Er machte ein Zeichen, gehen zu wollen, und stand auf.
»Lass uns noch ins Oche weiterziehen und eine Runde Dart spielen.«
»Nein«, sagte Daniel und sah auf die Uhr. »Ich habe meiner Frau gesagt, dass es nicht spät wird.« Er nahm das Handy. »Ich denke, ich fahre nach Hause.«
»Spät?«, sagte Markus eine halbe Oktave höher als sonst. »Es ist doch noch nicht mal halb elf.«
Daniel antwortete nicht, sondern klopfte auf seine Taschen, als wollte er sich vergewissern, alles zu haben.
»Jetzt bist du sauer«, Markus seufzte. »Mein Gott.«
»Nein, nicht sauer, bloß ein bisschen resigniert.«
»Weil ich nicht zu dem Termin mit der Psychologin gehen will, um den ich gar nicht gebeten habe? Ehrlich, Daniel. Das ist ungerecht.«
»Du weißt ganz genau, dass du ein Problem hast. Du hast bloß Angst davor, dich dem zu stellen. Und das macht mich traurig.«
»Jetzt hör aber auf, lass die Sache doch einfach mal auf sich beruhen.« Markus machte eine Geste mit dem Kopf. »Komm, lass uns ins Oche gehen.«
»Unter einer Bedingung. Wenn ich im Dart gewinne, gehst du zu der Psychologin. Und wenn du gewinnst, rede ich nie wieder über die Sache.«
»Wenn etwas niemals passieren wird, dann, dass du mich im Dart besiegst.«
Kapitel 5
»Eine Sache haben die da im Radio ausgelassen.«
Sie waren ins Wohnzimmer gegangen. Gjertrud hatte sich in ihren Sessel gesetzt, während Mathilde die gerahmten Fotografien an den Wänden betrachtete. Sie sah sich die Bilder gerne an. Tat es jedes Mal, wenn sie oben war. Die meisten Fotos waren schwarz-weiß und zeigten eine jüngere Ausgabe von Gjertrud und ihrem Mann, als beide noch frisch verliebt gewesen waren. Die farbigen Fotos dazwischen gaben Zeugnis von Einars Leben ab. Als Junge, als Konfirmand, als Teenager, als junger Mann und schließlich gemeinsam mit seiner frisch angetrauten Frau.
»Was?«, fragte Mathilde.
»Tobias Forsberg. Er war schon als Kind schrecklich. Wirklich von klein auf.« Sie zeigte aus dem Fenster. Gjertruds Haus stand etwas erhöht an einem Hang, sodass sie eine schöne Aussicht über Fagernes und den Strondafjorden hatte. »Siehst du das Haus da ganz unten links? Da ist er aufgewachsen.«
Das Haus lag nur wenige Hundert Meter entfernt. Hinter den Fenstern war ein schwacher Lichtschein zu erkennen.
»Er hat sich wirklich übel verhalten. Immer wieder. Es sind sogar Leute weggezogen wegen ihm.«
»Wie das?«
»Vor vielen Jahren hat hier in Fagernes ein Junge namens Roger gelebt.« Gjertrud beugte sich zur Seite und zog an einem Hebel an ihrem Sessel. Die Lehne senkte sich etwas, während die Fußstütze ihre Beine anhob. Sie seufzte zufrieden. »Dieser Roger hatte es nicht so leicht. Seine Schwester auch nicht, aber sie wurde nicht so schlimm gequält wie ihr Bruder. Die beiden lebten allein mit ihrem Vater, der ziemlich viel trank. Roger und seine Schwester waren weitestgehend auf sich gestellt. Sie hatten nur selten saubere Kleider am Leib, und Roger hatte ständig eine Schniefnase, das weiß ich noch. Dieser Tobias hat ihn schrecklich gequält. Und nicht nur ihn. Es haben wirklich viele unter diesem Jungen gelitten.«
»Er hat die anderen gemobbt?«
»Was Tobias gemacht hat, war mehr als Mobbing. Mein Mann meinte, es war der reinste Terror. Rogers Vater ist deswegen sogar mit seinen beiden Kindern nach Vågåmo gezogen. Einmal hat Tobias Roger so in Panik versetzt, dass der arme Junge sich schließlich vor Angst in die Hose gemacht hat.«
»Oh nein …«
»Doch, und das ist noch nicht alles. Denn das ist am 17. Mai passiert, beim Festumzug, sozusagen vor den Augen aller Leute hier in Fagernes. Roger stand mitten auf dem Schulhof, als seine weiße Hose plötzlich gelb wurde.«
»Der Arme!«
»Ja, aber letztlich ist alles gut geworden.«
»In Vågåmo ist er zurechtgekommen?«
»Mehr als das. Roger ist sicher derjenige von allen, der am meisten aus sich gemacht hat. Auf jeden Fall ökonomisch.«
»Was macht er?«
»Statt nach dem Umzug auf die weiterführende Schule zu gehen, hat er bei einem Bauunternehmen angefangen. Roger hat es immer geliebt, mit seinen Händen zu arbeiten, er hat ständig irgendetwas gebaut. Und er war ein helles Köpfchen. Es hat mich deshalb nicht gewundert, dass er Handwerker wurde. Aber dass es bei ihm so gut laufen würde, hat uns alle dann doch ein bisschen überrascht. Er war erst achtzehn oder neunzehn, als er sein erstes Haus gekauft hat. Er hat es renoviert und vermietet, während er selbst weiter zu Hause gewohnt hat. Jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, gehört ihm da oben fast die halbe Stadt. Einar hat mal erzählt, dass Roger in Hamar, Lillehammer und Elverum mehr als hundert Wohnungen vermietet. Ja eigentlich im ganzen Inland.«
»Wow«, sagte Mathilde. »Das ist ja mal ’ne Erfolgsstory.«
Gjertrud hob ihr leeres Glas, und Mathilde schenkte ihr nach.
»Nehmen Sie sich doch auch noch etwas.«
»Nein, danke«, erwiderte Mathilde lächelnd. »Ich hätte schon vor zwei Gläsern aufhören müssen. Ich muss morgen schreiben, und der Rotwein macht mir so einen schweren Kopf.«
»Oh, Sie müssen arbeiten? Woran schreiben Sie denn?«
»Ich bin fast fertig. Es geht um einen Flächennutzungsplan, über den die Gemeinde sich nicht einigen kann. Ziemlich langweilig.«
»Sie müssen Ihrem Redakteur mal ein bisschen Druck machen. Er kann Ihnen doch nicht immer nur die langweiligen Sachen geben, so gut, wie Sie schreiben. Wie spät ist es?«
»Viertel vor elf.«
»Dann ist es jetzt aber wirklich an der Zeit, dass Sie sich unter die Leute mischen!«
Mathilde grinste. »Nein, nein, das werde ich ganz sicher nicht tun.«
»Sie lachen, aber so habe ich den Vater von Einar getroffen, wissen Sie?«
»Ja, ich weiß. Aber ich bin doch nur noch drei Monate hier. Da macht es doch keinen Sinn, mich jetzt noch zu verlieben.«
»Der Gedanke ist mir eben auch schon gekommen. Dass Sie jetzt schon die Hälfte der Zeit hier sind.« Ein trauriger Zug huschte über ihr Gesicht. »Wirklich schade.«
»Aber Gjertrud …« Mathilde stand auf, ging zur anderen Seite des Tisches hinüber und nahm die Hand der Alten. »Ich kann Sie doch besuchen kommen.«
»Nein, nein. Dafür werden Sie keine Zeit haben. Schließlich müssen Sie sich um all Ihre Verehrer kümmern.«
»Ich habe keine Verehrer«, sagte Mathilde mit einem Lachen. »Ich werde also ganz sicher Zeit haben.«
Gjertruds Augen wurden blank. Sie blinzelte, und eine Träne rann über ihre faltige Wange.
»Sie …«, sagte Mathilda warmherzig. »Sie müssen nicht traurig sein.«
Gjertrud wischte sich die Wange ab.
»Tut mir leid«, schniefte sie. »Das war dumm von mir.«
»Wir werden ganz sicher den Kontakt halten. Außerdem habe ich doch ein Auto und kann Sie besuchen kommen. Vielleicht öfter, als Ihnen lieb ist – so wie Sie mich in den letzten Wochen mit all dem guten Essen verwöhnt haben.«
Gjertrud lächelte.
»Sie erinnern mich so sehr an meine Tochter.«
»Ihre Tochter?«, fragte Mathilde überrascht. »Ich wusste ja gar nicht, dass Einar eine Schwester hat.«
»Hatte«, sagte Gjertrud.
Mathilde sah, wie die Alte von ihren Gefühlen überwältigt wurde.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie vorsichtig. »Ist sie … tot?«
Gjertrud nickte.
»Oh, mein Gott, Gjertrud, entschuldigen Sie, das wusste ich nicht. Warum haben Sie nie davon erzählt?«
»Weil es noch immer wehtut, darüber zu sprechen. Nachdem mein Mann im Frühjahr ins Pflegeheim ziehen musste, habe ich die meisten Erinnerungsstücke weggeräumt. Ich habe noch ein Foto auf meinem Nachtschränkchen, aber …« Sie lächelte Mathilde traurig an. »In der Regel liegt es mit der Vorderseite nach unten. Ich schaffe es einfach nicht, es anzusehen.«
»Was ist passiert?«
»Sie ist krank geworden.« Gjertrud zog die Nase hoch, schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Wein. »Aber Sie erinnern mich an sie und wahrscheinlich habe ich Sie deshalb so ins Herz geschlossen.«
»Und ich Sie!«
Mathilde umarmte sie.
»Sie sind so nett und hilfsbereit. Genau wie sie es war. Sie war immer für alle da. So wie Sie. Deshalb macht es mich ja so traurig, dass Sie bald wieder weggehen werden.«
Kapitel 6
»Ich weiß die Initiative zu schätzen, und es gefällt mir, dass du außerhalb der Box denkst. Du kannst dir sicher sein, dass ich mir darüber bewusst bin, dass wir hier in der Redaktion ziemlich engen Grenzen unterliegen, ich muss aber leider trotzdem ablehnen.«
Ivar Brynes Antwort kam nur wenige Sekunden, nachdem Mathilde ihren Vorschlag vorgebracht hatte. Der Redakteur der Zeitung Avisa Valdres war Anfang sechzig und hatte dunkelblonde, etwas wirre Haare. Wie Mathilde war er zugezogen, doch im Gegensatz zu ihr war er geblieben und jetzt bereits acht Jahre hier. Siebeneinhalb Jahre länger, als sie es sich vorstellen konnte. Sie stand vor seinem Schreibtisch in der Mitte der offenen Bürolandschaft, während die drei anderen Mitarbeiter der Redaktion bereits in dem kleinen schalldichten Glaskäfig Platz genommen hatten und darauf warteten, dass die Morgenbesprechung begann.
»Darf ich fragen, warum?«
»Natürlich darfst du das«, sagte er lächelnd und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir haben hier im Haus ein ungeschriebenes Gesetz, das mein Vorgänger eingeführt hat. Und das lautet, dass wir keine Storys über Leah Forsberg machen, nur um über Leah Forsberg zu schreiben.«
»Es geht aber doch nicht darum, irgendeine Story zu erfinden«, sagte Mathilde und lehnte sich mit dem Gesäß an einen der anderen Schreibtische. »Mir geht es eher darum, den Fall noch einmal in Erinnerung zu bringen, schließlich ist es im nächsten Monat genau fünfzehn Jahre her, dass sie verschwunden ist.«
»Das ist mir schon klar«, antwortete Ivar Bryne. Er sah auf die Uhr und dann zum Glaskäfig, wobei er den Wartenden mit den Fingern zu verstehen gab, dass es gleich losgehen würde. »Wir dürfen diese Wunde nicht wieder aufreißen, dafür schmerzt sie noch zu sehr. Außer natürlich, es gibt irgendwelche neuen Informationen. Dann müssen wir darüber schreiben.«
»Ich dachte schon daran, etwas Ordentliches zu schreiben«, sagte Mathilde. »Nicht bloß viertausend Anschläge inklusive Leerzeichen. Mir schwebt eher ein größeres Feature vor.«
»Feature?« Ivar Bryne amüsierte sich. »So was machen wir hier nicht. Die Avisa Valdres ist kein … Journal.«
»Auf die Idee gekommen bin ich, nachdem ich heute Nacht ein Interview mit Leahs Mutter gelesen habe. Das ist jetzt aber auch schon zehn Jahre alt.«
»Nicht hier in der Zeitung?«
»Nein, das war in einem … Frauenmagazin.«
»Eben, darin findet man so was.«
»Ja, aber es ging in dem Beitrag darum, dass die arme Mutter jetzt zum fünften Mal allein Weihnachten feiern musste. Ohne ihre Tochter. Mit ihr müsste ich sicher reden, ich würde den Fokus aber nicht auf sie legen, sondern auf Leah. Ihre Geschichte aus den Augen von jemandem, der genauso alt ist, wie sie es heute wäre. Von einer Außenstehenden. Von mir.«
»Ihr seid gleichaltrig?«
Mathilde nickte.
»Ich würde erzählen, wer sie war und was sie gemocht hat. Welche Träume sie hatte. Wir könnten ihre alten Freunde interviewen. Der Titel könnte zum Beispiel lauten: Leahs 2604 Tage.«
»So lange hat sie gelebt?«
»Vorausgesetzt, sie ist am Tag ihres Verschwindens gestorben, ja.«
Ivar Brynes Mund wurde zu einem schmalen Strich. Dann starrte er vor sich hin.
»Ich meine«, fuhr Mathilde fort, »wenn Eltern, die ein Kind verloren haben, sich eines wünschen, dann doch wohl, dass dieses Kind niemals vergessen wird.«
»Leahs Mutter ist nach Kopenhagen gezogen. Hat einen Dänen geheiratet und noch einmal ein Kind bekommen.«
»Ich könnte sicher einiges telefonisch oder per E-Mail lösen. Ich denke nicht, dass ich nach Dänemark muss.«
»Mathilde.« Wieder dieser gerade Strich. »Das ist zweifellos eine gute Idee, aber nicht für uns.«
Mathilde nickte stumm.
»Tut mir leid«, fuhr der Redakteur fort. »Ich verstehe deine Enttäuschung, aber … ich glaube nicht, dass Fagernes für so etwas bereit ist. Nein, ich weiß, dass die Stadt dafür noch nicht bereit ist. Was du da skizzierst, würde in das Magazin vom Dagbladet passen oder in die Wochenendausgabe der VG. Vielleicht sogar ins Aftenposten-Magazin. Aber hier, wo es passiert ist, geht das nicht.« Er stand auf, nahm die Unterlagen vom Tisch und ging in Richtung Glaskäfig. »Zeit für die Morgenbesprechung.«
Sie folgte ihm in den Raum und ließ sich neben Bjørnar auf den Stuhl fallen. Er war es, der sie am ersten Tag herumgeführt hatte, und er war auch der Einzige hier in Fagernes – sah man einmal von Gjertrud ab –, den sie einmal umarmt hatte. Zu seinem sechzigsten Geburtstag in der vorangegangenen Woche. Sein blanker Schädel wurde von einem Kranz grauer, nein weißer Haare gesäumt. Der Bauch spannte sein Hemd, obwohl er abgenommen hatte. Das wusste sie, weil er ihr Fotos aus der Zeit vor dem Beginn seiner Diät gezeigt hatte.
