Hosianna! - Johanna Alba - E-Book

Hosianna! E-Book

Johanna Alba

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Beschreibung

«Buon natale, Eure Heiligkeit!» Es weihnachtet in Rom. Der Geruch nach Zuckerwatte und Apfelsinen liegt in der Luft, Touristen und Einheimische freuen sich in seltener Einigkeit auf die besinnlichen Tage. Auch Papst Petrus II. würde sich jetzt gern der Planung des Festtagsmenüs widmen. Doch als Herrscher über die Weihnachtshauptstadt der Christenheit stehen ihm dieser Tage lauter Pflichttermine mit trockenen Keksen und noch trockeneren Kardinälen bevor. Für Abwechslung sorgen da die beiden Schwestern des Papsts. Samt Kater ziehen sie im Vatikan ein – sehr zum Leidwesen der strengen Haushälterin Schwester Immaculata. Die Damen sind sich sicher: Im heimischen Palazzo geht es nicht mit rechten Dingen zu! Schließlich ist ihr Mitbewohner – ein junger, spanischer Priester – unter mysteriösen Umständen verschwunden. Irdisches Verbrechen oder übersinnlicher Spuk? Klar, dass da die päpstliche Spürnase gefragt ist! «Ein Papst, wie man ihn gerne hätte: lebensfroh, volksnah und alles andere als bigott.» (Abendzeitung)

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Johanna Alba • Jan Chorin

Hosianna!

Ein Papst-Krimi

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoPrologNoch 16 Tage bis WeihnachtenNoch 15 Tage bis WeihnachtenNoch 14 Tage bis WeihnachtenNoch 13 Tage bis WeihnachtenNoch 12 Tage bis WeihnachtenNoch 11 Tage bis WeihnachtenNoch 10 Tage bis WeihnachtenNoch 9 Tage bis WeihnachtenNoch 8 Tage bis WeihnachtenNoch 7 Tage bis WeihnachtenNoch 6 Tage bis WeihnachtenNoch 5 Tage bis WeihnachtenNoch 4 Tage bis WeihnachtenNoch 3 Tage bis WeihnachtenNoch 2 Tage bis WeihnachtenNoch 1 Tag bis WeihnachtenEndlich Weihnachten6. Januar – Tag der BefanaDank

«Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.»

 

Lukas 2,7

Prolog

Ihre nackten Füße auf dem Marmorboden. Ihre Hände auf dem steinernen Treppenlauf.

Die Stufen nach unten: einundzwanzig.

Und noch einmal: fünfunddreißig.

Das Licht der Straßenlaternen, diffus durch die hohen Fenster. Der brüchige Stuck. Das Portal mit dem Medusenhaupt. Das Vorzimmer, dunkel, mit geschlossenen Läden.

Sechzehn Schritte noch bis zur Tür.

Sie hüpfte nun, schmiegte sich für einen Moment in den hölzernen Türstock, tastete nach der schmalen Klinke. Geschmeidig gab das Schloss nach. Nun spürte sie die rauen Holzdielen unter den Zehen: der Dienstbotendurchgang, fensterlos.

Fünfeinhalb Schritte nur.

Und sie stand mitten im Raum.

Die Fensterflügel: aufgerissen. Die Brokatvorhänge: in Fetzen. Der Stuhl: umgestoßen auf dem Boden. Bücher und Blätter, verstreut, als hätte der Scirocco sie durchs Zimmer gefegt. Die Kleider: aus dem Schrank gerissen. Der Bilderrahmen auf dem Schreibtisch: zersplittert. Sie zog das Foto aus den Scherben. An die Aufnahme erinnerte sie sich noch genau: Sie hatte sich die langen, rotblonden Haare zu unzähligen Locken gedreht. Sie hatte nackt posiert, eine Sünderin vor den Augen des Herrn. Sie selbst war es gewesen, die das Bild hier aufgestellt hatte. Aber nun leuchtete es ihr entgegen. Verräterisch. Mit einem Griff löste sie es aus dem Rahmen. Und schnitt sich dabei in die Hand.

Der Teppich hatte sich vollgesogen mit Regen und Feuchtigkeit. Die Nässe drang ihr unter die Haut, ließ sie die Zehen krümmen. Der Papierkorb umgestoßen, die Akten zerfleddert vor dem Kamin. Die letzte Glut, leuchtend in einem Berg von grauer Asche. Sie kauerte sich zusammen, machte sich ganz klein, ballte die Fäuste und drückte sie in die Augenhöhlen, lauschte ins Nichts.

Sie stellte sich vor, wie es gewesen sein musste.

Der Angriff, ganz unerwartet.

Der Stich, mitten ins Herz.

Die Verwüstung.

Die Stille danach.

Ein scharfer, schneller Luftzug hinter ihr, eine fast unmerkliche Bewegung im Raum. Sie konnte es spüren: Jemand war ihr gefolgt.

Sie streckte ihren Arm aus – und die Katze sprang mit einem Satz auf sie zu. Rot im letzten Feuerschein.

Blutrot, dachte sie.

Wie ihre eigene Hand.

Noch 16 Tage bis Weihnachten

I

Der Himmel glänzte. Die Wintersonne tauchte Rom in klares, kreidehelles Licht.

Und Schwester Immaculata lächelte.

Die päpstliche Haushälterin war adventlich gestimmt. Heute war ihr Tag. Ihr Fest. Der 8. Dezember, Tag der «Santa Maria Immacolata», der unbefleckten Empfängnis. Ein Feiertag, natürlich, wie könnte es anders sein. Makellos rein. Wie ihre Küche, das Buffet, der blank gescheuerte Tisch, vor dem sie jetzt an diesem heiteren Morgen stand.

Zufrieden blickte sie auf ihr Werk. Schwester Immaculata, die Unbefleckte – diesen Namen trug sie nicht umsonst. Sie hatte ihn selbst gewählt, als sie dem strengen Orden der Bußfertigen Begonninen beigetreten war. Jung war sie damals gewesen, dachte sie versonnen – und straffte sich sofort wieder. Jung, aber diszipliniert. Pflichtbewusst. Streng. Zu sich und den anderen. Deshalb hatte es auch nicht lange gedauert, bis man sie auserwählte: erst als Haushaltshilfe, dann als Haushälterin des Papstes im Vatikan. An vorderster Front kämpfte sie seither ihren täglichen Kampf: gegen Gottlosigkeit, Luxus, Habgier. Und seit der Römer Petrus auf dem Papstthron saß, auch noch gegen Völlerei und die sündhafte Leidenschaft des Fußballs.

Papst Petrus entsprach in keiner Weise Immaculatas strengen, katholischen Moralvorstellungen. Zu sehr war er den weltlichen Genüssen, vor allem der üppigen römischen Küche und dem süßen Gebäck, zugetan. Zu ihrem Bedauern sah man es ihm auch an. Außerdem pflegte der Heilige Vater einen merkwürdig milden Umgang mit seinen Gläubigen und entwischte immer wieder zu Fuß – oder, schlimmer noch, auf der Vespa seines Privatsekretärs Francesco – aus dem Vatikan. Und schließlich neigte er, für Immaculata besonders ärgerlich, zu Humor und guter Laune. In einer Welt, die zur Gottlosigkeit tendierte und ohnehin dem Untergang entgegentaumelte, waren solche Eigenschaften völlig fehl am Platze. Darum bedurfte Petrus mehr als jeder andere seiner Vorgänger ihrer harten Hand und ihrer entschiedenen Führung.

Sie seufzte, während sie sich ihren Brennnesseltee hauchdünn aufgoss und einen Tropfen mit dem Schwammtuch entfernte. Der letzte Papst hatte sie an ihrem Namenstag stets überrascht: mit einem Brevier, einem Rosenkranz, einer Sammeltasse aus Lourdes. Und einmal sogar – sie wurde rot, wenn sie nur daran dachte – mit einer Kernseife in Form des nackten, heiligen Jesuleins.

Im vergangenen Jahr hatte sie bei Papst Petrus vergeblich auf solch eine kleine Aufmerksamkeit gewartet. Morgens, gleich nach dem Aufstehen. Auch nach dem Mittagessen, der Nachmittagsandacht, dem Abendbrot hatte er sich nicht zu ihrem Namenstag geäußert. Diesmal aber hatte sie einen Heiligenkalender gekauft, auf Petrus’ Schreibtisch gelegt – und vorsichtshalber schon gestern Abend die entsprechende Seite aufgeschlagen. Das Bild am 8. Dezember zeigte die Madonna im Strahlenkranz, mit den zarten Füßen einen Drachen zertretend. Daneben hatte sie mit Rotstift (und in Druckbuchstaben): «Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria, Santa Maria Immacolata» geschrieben. Das sollte als Erinnerung reichen.

Mit spitzen Fingern nahm sie die Caffettiera vom Feuer, die gurgelnd braune Brühe auf dem weißen Herd verspritzte. Papst Petrus bestand auf seinem morgendlichen Caffè, wie jeder andere vulgäre Italiener aus dem Volk. Mochte ihrer Meinung nach auch ein frisches Glas Wasser reichen, so wollte sie ihn heute nicht unnötig verärgern. Sie richtete das Tablett mit der Espressotasse und fand sogar noch zwei trockene, ungesüßte Haferkekse in der Schublade. Sie straffte ihre grauen Haare mit einer Klemme unter der Nonnenhaube, überprüfte den Sitz ihres Kragens, strich noch einmal über ihre gestärkte Festtagsschürze mit der kleinen Stickereiborte und öffnete die Küchentür. Kein Laut war zu hören. Ein gutes Zeichen.

Schwungvoll lief sie den Flur entlang, schwungvoll klopfte sie, schwungvoll öffnete sie die Tür zum päpstlichen Arbeitszimmer – und wäre beinahe der Länge nach gestürzt. Sie schaffte es gerade noch, das Tablett zu halten, doch der Espresso hatte sich schon über Teller, Kekse und, schlimmer noch, ihre Schürze ergossen. Wie durch ein Wunder war die päpstliche Soutane ohne den kleinsten Spritzer geblieben. Ein Wunder deshalb, weil Papst Petrus direkt vor ihr auf dem Boden kniete, inmitten einiger großformatiger und, wie sie sofort sah, äußerst schmutziger Pappkartons. Immaculata, gewöhnlich nie um eine scharfe Bemerkung verlegen, verschlug es die Sprache. Papst Petrus sah nicht einmal auf.

«Ich hätte mich in den letzten Jahren schon darum kümmern sollen», murmelte er und wühlte in einem großen Haufen Packpapier. «Ah, da ist es ja.»

Behutsam zog er einen kleinen, schmutzig weißen Wachsklumpen hervor und betrachtete ihn entzückt. Sein rundliches Gesicht glühte vor Freude. Er trug seine Lesebrille, sein Käppchen lag achtlos unter einem Haufen Packpapier. Seine wenigen, grauen Haare standen, verstrubbelt wie ein flaumiger Strahlenkranz, rings von seinem Kopf ab.

Immaculata fasste sich.

«Heiliger Vater», sagte sie in einem Ton, der nichts Gutes verhieß. «Hätten Sie irgendeine Erklärung für dieses, dieses …» – sie schnaufte kurz – «für dieses unwürdige Chaos an einem hochheiligen und feiertäglichen Morgen?»

Papst Petrus blickte irritiert nach oben. Seine Haushälterin hielt noch immer das Frühstückstablett umklammert, auf der die Espressotasse in der braunen Brühe herumrutschte. Ihre weiße Schürze war mit feinen Spritzern überzogen.

«Schade um den schönen Caffè», versuchte er es. Merkte aber sofort, dass dies der falsche Ansatz war. Er richtete sich ächzend auf und entschied sich für Angriff.

«Meine liebe Schwester Immaculata», sagte er in einem salbungsvollen Tonfall. «Vielleicht ist Ihnen gar nicht bewusst, welcher Tag heute ist?»

Immaculata sah ihn fassungslos an.

«Nun, dann wollen wir doch einmal das Datum überprüfen», sagte Petrus und nahm den Jahreskalender seines römischen Lieblingsfußballvereins von der Wand. Auf dem Dezemberbild wirbelte einer der Spieler in einem Salto über das Spielfeld – vor Freude über das gerade geschossene Tor.

«Heute», dozierte er, «ist der 8. Dezember. Und in ganz Italien beginnt damit traditionell die Weihnachtszeit. Ein besonderer Tag, liebe Immaculata, besonders für die vielen Familien in Italien, die am heutigen Festtag nach alter Sitte den Weihnachtsbaum aufstellen. Oder, wenn sie keinen haben», hier blickte er seine Haushälterin scharf über den Rand seiner Lesebrille an, «zumindest die Weihnachtskrippe vom Dachboden holen. Und, liebe Immaculata, genau das habe auch ich gerade getan.»

Mit einer weit ausholenden Handbewegung präsentierte er stolz die Landschaft aus Pappkartons und Staubflocken, die sich zwischen dem Schreibtisch und seinem kardinalroten Lieblingsohrensessel ausbreitete.

«Das Jesuskind habe ich zwar noch nicht gefunden, aber …»

Er beugte sich zu den Kartons und wühlte in ihnen herum. Die Brille rutschte dabei von seiner beachtlichen Römernase, was ihn aber nicht zu stören schien, denn er tauchte kurz darauf ohne wieder auf. In der Hand hielt er vorsichtig ein kleines Figürchen aus Holz.

«Diesen Josef hat mein Vater geschnitzt, genauso wie die Hirten und die ganze Heilige Familie. Meine Mutter hat die Kleider genäht und die Hüte. Die Schafe …» – hier hielt er triumphierend wieder den kleinen Wachsklumpen hoch – «sind noch von meiner Nonna. Genauso wie der erste König. Die beiden anderen hat meine Mutter später auf dem Markt aus Plastik nachgekauft. Am besten aber …», er tauchte wieder in den neben ihm stehenden Karton, «ist das Wasserrad. Leider ist es, äh, eher reparaturbedürftig …» Bekümmert sah er auf einige kleine Holzstückchen, die nun lose in seiner Hand lagen.

Immaculata hatte sich noch immer nicht gerührt. Nicht nur, dass Petrus ganz offensichtlich ihren Namenstag ignorierte, er besaß auch noch die Stirn, am heiligen Feiertag das Arbeitszimmer in Schutt und Asche zu legen. Statt eine Messe zu lesen, theologische Werke zu studieren und erleuchtete Predigten zu verfassen, baute er eine Krippe auf wie der kleine Mann aus dem Volk. Und natürlich ging es ihm dabei nicht um die Geburt des Herrn, sondern um die niedlichen Schnitzereien, die possierlichen Kleidchen, technische Spielereien und die Freude am Basteln. Kinderkram also. Nicht einen Tag länger würde sie sich das bieten lassen. Noch heute würde sie einen Brief an ihren Mutterorden aufsetzen und um sofortige Rückkehr ins Kloster bitten. Sollte sich doch eine andere in diesem Sündenpfuhl herumärgern. Sie jedenfalls würde ohne ein weiteres Wort kündigen.

Entschlossen drehte sie sich um – und ließ das Tablett mit lautem Klirren auf den Boden fallen, als eine riesige, rot getigerte Katze wie der Leibhaftige an ihr vorbei zur Tür hereinsprang.

II

«Hallo, hallo? Hallo, Angelo, bist du da?» Papst Petrus horchte auf. Es kam nicht häufig vor, dass er im Vatikan bei seinem Taufnamen gerufen wurde. Im Grunde konnte das eigentlich nur eines bedeuten …

Und wirklich: Noch ehe Immaculata die Tür mit Hinweis auf die päpstlichen Privatgemächer wieder zudrücken konnte, standen sie auch schon in seinem Arbeitszimmer, inmitten des Papiergewühls: zwei ältliche Damen, die eine rundlich, mit widerspenstigen grauen Löckchen, die andere schmal und hager, die weißen Haare zu einem sorgfältigen Dutt gedreht.

«Angelo», zwitscherte die Hagere, «da bist du ja.»

Und: «Oh Angelo», fiel ihr die Rundliche ins Wort, «wir wollten dich ja gar nicht stören, Tesoro, aber es ist etwas Furchtbares passiert.»

«Etwas Furchtbares», setzte die Hagere wieder an und riss die Augen weit auf.

«So entsetzlich, caro mio, dass wir sofort zu dir geeilt sind. Und den Monsignore haben wir auch gleich mitgebracht. Er ist noch ganz verstört.» Sie wies auf den majestätischen, feuerroten Kater, der ganz oben auf einer der Kisten saß und sich völlig ungerührt vom Kopf bis zu den Schwanzhaaren putzte.

Immaculata hatte zu ihrer alten Form zurückgefunden. Sie stieg über das Tablett hinweg auf die beiden älteren Damen zu. «Sie», sie bohrte ihren Zeigefinger in den Wintermantel der Dickeren. «Sie … Sie kommen hier einfach so herein … mit diesem schmutzigen, fetten, abscheulichen Vieh …»

Die rundliche Dame sah sich erschrocken um. «Ist hier irgendwo ein Vieh?»

«Sie meint doch nicht etwa den Monsignore?», sagte die Hagere ungläubig.

«Marta! Maria! Was macht ihr denn hier?» Petrus schälte sich aus seinen Kartons und ging auf seine Schwestern zu, die freundlich und leutselig lächelten, wie sie es seit ihren Mädchentagen getan hatten. Schon damals waren sie unzertrennlich gewesen, steckten kichernd zusammen und hatten alle Männer, die es wagten, sich um eine der beiden zu bemühen, in die Flucht geschlagen. Viele waren es ohnehin nicht gewesen, da die beiden nicht eben zu den Schönheiten von Trastevere zählten. Doch das störte sie nicht weiter. Ihre weitgespannten Interessen füllten ihre Tage aus; sie reichten vom Anfertigen raffinierter Häkeldecken bis zur Lektüre blutrünstiger Spannungsromane.

Vor allem aber verstanden sich beide – und dies war der Grund, warum Immaculata ihnen besonders feindlich gesinnt war – vorzüglich auf die traditionelle römische Küche. Martas Schwerpunkt waren reichhaltige Suppen, während sich Maria mit Energie raffinierten Nachspeisen widmete. Außerdem waren beide vorzügliche Konditorinnen. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, denn Petrus, seine beiden älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüder stammten aus einer alteingesessenen Bäckersfamilie. Nach vielen Jahrzehnten, in denen sich die beiden als Haushälterinnen in den Palazzi reicher Römer betätigt hatten, kümmerten sie sich nun im Alter um die römischen Katzen, die zu Tausenden die antiken Ruinen, Hinterhöfe und Parks bevölkerten. Wie die vielen anderen «gattare», wie man die älteren Katzenfreundinnen Roms nannte, fütterten Marta und Maria seit Jahren die streunenden Tiere und bemühten sich besonders um kranke Exemplare. So war der Monsignore zu ihnen gekommen und seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen.

«Darf ich Ihnen helfen, liebe Immaculata?», fragte Maria freundlich und wollte sich zu den Scherben bücken.

«Das kann ich alleine. Es ist meine Pflicht – und ich vermag sie zu tun.» Immaculata sammelte mit eisiger Miene das Tablett und die Scherben auf. Wenig später hörte man sie in der Küche hantieren.

Ungewöhnlich laut, wie Petrus fand.

Zwischen seinen Schwestern und Immaculata hatte es schon immer Spannungen gegeben. Dabei besuchten Maria und Marta nahezu täglich die Messe und gehörten zu den eifrigsten Rosenkranz-Beterinnen der Heiligen Stadt. Gleich zu Beginn seines Pontifikats hatte Petrus versucht, zwischen den Schwestern und Immaculata einen guten Kontakt herzustellen – vergeblich. Von einem Kaffeebesuch bei den Schwestern, zu dem Petrus seine Haushälterin mitgenommen hatte, war sie zornschnaubend zurückgekehrt. Sie hatte die drei üppigen Torten gerügt und ihr Missfallen über den Raumschmuck der beiden Damen kundgetan. Den Einwand des Heiligen Vaters, die Wände seien ausschließlich mit Heiligenbildern geschmückt, hatte sie nicht gelten lassen und entrüstet die Motive aufgezählt: ein nahezu unbekleideter Augustinus («Er lebte als Einsiedler in einer Höhle – da trägt man doch nur wenig, liebe Immaculata!»), einen völlig nackten heiligen Sebastian vor seiner Hinrichtung («Die Römer haben ihn ausgezogen, damit ihre Pfeile besser treffen – was können Maria und Marta dafür?») und mehrere Darstellungen des Herrn am Kreuz, bei denen die Künstler die verschiedenen Muskelpartien durch Licht- und Schatteneffekte plastisch ausgestaltet hatten.

«Ist sie nicht wohlauf, deine gute Seele?», fragte Maria, die rundliche Schwester, mitfühlend.

«Sie sollte sich vielleicht hinlegen», sagte Marta.

«Genau, und sich schonen», ergänzte Maria. «Schließlich ist doch heute ihr Namenstag.»

Petrus ließ sich seufzend in seinen Lieblingsohrensessel fallen. Das war es also, was ihm diesen überaus anstrengenden Morgen bescherte: Er hatte Immaculatas Namenstag vergessen. Wie entsetzlich! Das würde er büßen müssen, wochenlang, vielleicht sogar bis Weihnachten: kein ungestörtes Frühstück mehr, keine geselligen Kardinalsrunden am Abend, kein gemütliches Fußballschauen am Sonntagnachmittag mit seinem Privatsekretär Francesco. Keine kurzen Abstecher mit seiner schönen Pressesprecherin Giulia in Trattorien. Kein Zucker in den Caffè, keine Sportzeitung, kein Schlummertrunk am Abend. Alles, alles würde sie ihm verderben. Oh, und Weihnachten erst: Sie brachte es fertig und ließ ihn am Heiligen Abend ohne Essen und Tannenbaum sitzen.

Ob sie ihm das überhaupt je verzeihen würde, wusste nur der Heilige Geist. Schließlich erinnerte er sich noch dunkel an das Drama des letzten Jahres.

«Vor lauter Aufregung hatten wir noch nicht einmal Gelegenheit, ihr zu gratulieren», plapperte seine Schwester Maria weiter. «Dabei …»

«… haben wir ihr doch etwas mitgebracht …», ergänzte Marta. Sie ging zu Petrus’ Schreibtisch und schob das aufgetürmte Packpapier beiseite. Dann stieß sie einen kleinen entzückten Schrei aus. «Maria, guck doch mal, Angelo hat unsere alte Krippe hervorgeholt.» Behutsam wickelte sie einen kleinen Hocker aus dem Papier. «Der Schemel für die heilige Muttergottes. Und hier ist ja auch die Stalllaterne. Hast du schon ausprobiert, ob sie noch geht, Tesoro mio? Oh, wir müssen dir unbedingt beim Aufbau helfen, das wirst du alleine gar nicht schaffen. Und Maria und ich könnten ein paar der Kleider flicken und ersetzen, da ist doch in all den Jahren sicher einiges kaputtgegangen. Das werde ich mir gleich einmal ansehen. Aber erst einmal …», sie kramte in ihrem Korb und brachte ein weißes Spitzendeckchen und einen golden verzierten Porzellanteller zutage, «…… erst einmal wollen wir uns um deine liebe, herzensgute Schwester Immaculata kümmern.»

Marta ließ einen tiefschwarzen und sensationell duftenden Schokoladenkuchen aus der Form gleiten. Außerdem zog sie, neben Kuchengabeln, Tellern und Servietten, auch noch ein Sträußlein rosa- und fliederfarbener Seidenblumen aus dem Korb. Und zuletzt noch ein silbernes Döschen, auf dessen Deckel Maria auf einer Wolke zu sehen war, umgeben von kleinen, dicklichen Putten.

Petrus sah seine Chance gekommen. Es war seine einzige.

«Euch schickt der Himmel», sagte er zu seinen Schwestern. Er schob die Kartons zur Seite, wühlte in seiner Schreibtischschublade und zog zufrieden eine Marienkerze heraus. Ein Antrittsgeschenk des neuen Erzbischofs von Köln.

Als Immaculata wenig später missmutig mit einem neuen Tablett das Arbeitszimmer betrat, strahlte ihr Papst Petrus entgegen, eingerahmt von seinen Schwestern. In den Händen hielt er ein zierliches Sträußchen aus Seidenblumen, auf seinem Schreibtisch brannte eine Kerze, dahinter stand der Schokoladenkuchen, begehrlich beäugt von dem enormen Kater.

«Na, meine Liebe, ist die Überraschung gelungen? Wir gratulieren dir ganz herzlich zu deinem Ehrentag.»

Marta nahm ihr resolut das Tablett aus der Hand, Maria schob die Haushälterin in den päpstlichen Ohrensessel. Immaculata blickte, immer noch argwöhnisch, auf den Heiligen Vater, der ihr das Seidensträußlein entgegenhielt.

«Dann wollen wir mal.» Petrus drückte ihr die Blumen entschieden in die Hand und näherte sich dem Schokoladenkuchen.

«Bevor ein anderer es tut», sagte er und sah den Kater scharf an.

III

Als Petrus sein erstes Stück Kuchen verputzt hatte und nach einem ordentlichen Schluck Caffè das zweite in Angriff nahm, funktionierte sein Verstand wieder.

«Was gibt es denn nun so Entsetzliches, meine Lieben, dass ihr an einem friedlichen Feiertagmorgen in den Vatikan stürmt?»

«Ach, Amore, wir haben eine schreckliche Entdeckung gemacht», sagte Maria und presste eine der Spitzenservietten vor ihren Mund.

«Ganz furchtbar. Wir sind sofort zu dir gekommen, um dir davon zu erzählen und dich um Rat zu fragen», sagte Marta.

«Sofort heißt, nachdem ihr den Kuchen fertig gebacken hattet?»

Marta errötete und warf ihrer Schwester einen kurzen Blick zu. «Kuchenbacken beruhigt.»

«Und hilft beim Nachdenken», ergänzte Maria. «Wir glauben nämlich, dass in unserem Palazzo ein Unglück geschehen ist.»

«Ja, ein Unglück. Stell dir vor. Unter uns wohnt nämlich seit einiger Zeit ein spanischer Priester», sagte Marta.

«Ein gut aussehender junger Mann mit schwarzen Locken.»

«Und mit einem Dreitagebart. So gepflegt.»

«Wir haben ihn gestern zuletzt gesehen.»

«Und heute morgen war dann der Monsignore verschwunden.»

Petrus sah seine Schwestern irritiert an.

«Na, der Monsignore», sagte Maria und wies ungeduldig auf den Kater, der sich verdächtig den Schnurrbart leckte.

«Wir haben ihn überall gesucht, manchmal klettert er auch die Stufen bis zum Dachboden hinauf …»

«Wir sind durch den ganzen Palazzo gelaufen und haben nach ihm gerufen …»

«Monsignore, Monsignore …»

«Aber er ist einfach nicht gekommen.»

«Dann haben wir gesehen, dass unten die Tür zu Juans Zimmer geöffnet ist …»

«… das ist der junge, gut aussehende Spanier …»

«… denn der Wind hat die Tür immer auf und zu geschlagen …»

«… und dann sind wir reingegangen und haben gesehen …»

«… dass der Monsignore mitten im Zimmer sitzt.»

«Aber, Tesoro, das Zimmer …»

«… sah ganz unheimlich aus …»

«… alles war herausgerissen und umgekippt und in Scherben und …»

«… von Juan gar keine Spur …»

«… nicht eine!» Marta holte kurz Luft. «Weißt du, er ist so ein zuverlässiger Junge.»

«Ja, er trägt uns immer die Einkaufstüten nach oben.»

«Und lädt uns manchmal sogar auf einen Caffè in die Bar an der Ecke ein.» Marta kicherte – und Maria sah sie strafend an.

«Jedenfalls sind wir in großer Sorge …»

«Aber wir wollten nicht gleich zur Polizei gehen. Na, man weiß ja manchmal nicht, ob diese jungen Leute nicht doch in Schwierigkeiten stecken …»

«… Juan natürlich nicht, so ein herzensguter Ragazzo», sagte Maria. «Aber wir haben gedacht …»

«… du hast doch eine Vorliebe für solche Fälle, nicht wahr? Und du warst immer so erfolgreich – gerade dann, wenn die Polizei nicht weiterkam …»

«… und es ist eben doch diskreter, wenn jemand aus der Familie nach dem Rechten sieht und nicht so ein Kriminalpolizist, nicht wahr? Möglicherweise hat Juan ja doch …»

«… und nun ist er verschwunden … wir haben noch kurz abgewartet, ob er nicht wieder auftaucht … aber nachdem er immer noch nicht zurück ist …»

Die beiden sahen ihn erwartungsvoll an.

Petrus schaufelte gedankenverloren den Rest des Kuchens in sich hinein und dachte an die Vergangenheit: an den geheimnisvollen Tod seines Freundes Rotondo, an die verschwundene Petrusreliquie, an die Machenschaften des Kardinals Oscuro. Es waren spektakuläre Fälle gewesen, in denen es – unbemerkt von der Öffentlichkeit – um den Fortbestand der Kirche gegangen war, um die Ehre seines Pontifikats, manchmal auch um sein Leben. Hier verhielt es sich anders: Seine Schwestern vermissten einen jungen Priester, dessen Wohnung verwüstet worden war. Dafür konnte es viele Erklärungen geben, die meisten waren harmlos.

Petrus blickte zu der Kuchenplatte, die Immaculata entschlossen von ihm wegzog. Nachdenklich rührte er die Crema in seiner Tasse auf.

Das unaufgeräumte Zimmer konnte auf eine überstürzte Abreise hindeuten. Einen harmlosen Wohnungseinbruch. Oder ließ sich mit einem Trinkgelage erklären. Handelte es sich allerdings tatsächlich um eine Gewalttat, konnte es ungemütlich werden. Schon wieder Ungemach mit einem Priester – nach den Vorfällen der letzten Zeit?

Petrus rekapitulierte in Gedanken das Sündenregister der Kurie und beschränkte sich dabei auf das letzte halbe Jahr: ein hochrangiger Kleriker der Glaubenskongregation, der regelmäßig seine sehr jungen und sehr blonden Nichten empfing, um sie zu spirituellen Übungen anzuleiten – bis die Medien herausfanden, dass er keine Geschwister hatte und darum auch keine Nichten haben konnte. Ein Mitarbeiter der Vatikanbank, der die Konten katholischer Obdachlosenheime geplündert hatte, um seine Luxusurlaube zu finanzieren. Und nun also eine verwüstete Priesterwohnung, ein verschwundener Geistlicher – der nächste Skandal wäre perfekt.

Noch bevor Petrus etwas erwidern konnte, schaltete sich Immaculata ein: «Meine verehrten, lieben Damen. Wir sind Ihnen wirklich ganz außerordentlich dankbar für Ihren Besuch und die überaus freundlichen Aufmerksamkeiten zu meinem Namenstag. Aber, wie schon erwähnt, feiern wir heute das Hochfest unserer lieben Madonna, und der Papst …», an dieser Stelle warf sie Petrus einen scharfen Blick zu, «ist nun einmal der Papst. In seiner Eigenschaft als Stellvertreter Christi», hier hob sie die Stimme leicht an, «ist es ihm leider nicht möglich, in alten baufälligen Palazzi herumzukriechen, nur weil ein Stuhl umgefallen ist und sich ein junger Geistlicher irgendwo herumtreibt. Heute Nachmittag wird unser Heiliger Vater», wieder sah sie Petrus streng an, «vor Hunderten Gläubigen an der Mariensäule der Piazza di Spagna beten, und …»

«Heute Nachmittag, liebe Immaculata, heute Nachmittag», sagte Petrus, dessen Widerspruchsgeist durch die moralinsaure Ansprache sofort erwacht war. Außerdem fühlte er sich gestärkt durch Caffè und Schokoladenkuchen. «Aber nun haben wir ja noch Vormittag. Es ist, glaube ich, besser, wenn ich selbst nach dem Rechten sehe.»

«Wir haben äußerst fähige Polizisten in Rom.» Immaculata startete einen letzten Versuch, diesen unwürdigen Ausflug zu verhindern. «Sie sind bestimmt in der Lage, die Lösung des Rätsels zu finden.»

«Das befürchte ich auch, liebe Immaculata», sagte Petrus freundlich. «Und genau deshalb ist es vielleicht besser, wenn ich mich selbst darum kümmere.»

IV

Wie viele Jahre war er nicht mehr hier gewesen? Fünf waren es bestimmt. Seit dem letzten runden Geburtstag seiner Schwester Marta.

Petrus sah sich um und schlug den Kragen seines alten Priestermantels etwas höher. Niemand würde in ihm auf den ersten Blick den Papst vermuten. Die Verkleidung hatte ihm schon viele gute Dienste geleistet. Selbst seinen Fahrer hatte er darum gebeten, ihn um die Ecke, in der Via delle Botteghe Oscure, aussteigen zu lassen, um nur ja kein Aufsehen zu erregen. Er genoss seine gelegentlichen geheimen Ausflüge vom Papstsein sehr – vor allem wenn er dadurch Schwester Immaculatas Kontrollzwang entkommen konnte.

Die Piazza hatte er schon immer gemocht: ein winziger, versteckter Dorfplatz mitten in der Stadt. Schlichte Palazzi schlossen ihn vom umgebenden Straßengewirr fast vollkommen ab. Die Mauern leuchteten weiß, gelb und ockerfarben in der Vormittagssonne, die braunen und himmelblauen Fensterläden waren weit geöffnet. Sogar einen Brunnen gab es: eine große runde Marmorschale, getragen von vier nackten Knaben. Dicke Puttenköpfe spuckten Wasser in muschelförmige Becken. Die Krönung waren jedoch die kleinen bronzenen Schildkröten, die über den Köpfen der Knaben ins Wasser krabbelten. Schon als Kind hatte er diesen Brunnen geliebt, er erinnerte sich, dass er seine Mutter immer angebettelt hatte, bei Einkäufen einen Umweg über den kleinen Platz zu machen. Außen herum gab es noch viele Handwerksbetriebe, die allerdings heute, am Feiertag, ihre Jalousien und Gitter heruntergelassen hatten. Nur die kleine Bar gegenüber war geöffnet, eine Tatsache, die Petrus mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.

Der Palazzo, in dem seine Schwestern nun schon seit vielen Jahren wohnten, wirkte noch baufälliger, als er ihn in Erinnerung hatte. Vier Stockwerke hoch, von einem mächtigen Gesims gekrönt, war er sicher einmal das Prunkstück dieser Piazza gewesen. Doch die ehemals braunen Fensterläden hinter den schmiedeeisernen Gittern blätterten ab, der helle Putz war fleckig und von Löchern durchsetzt. Und einige der geöffneten Fenster im ersten Stock waren offensichtlich schon länger nicht mehr geputzt worden.

Maria hantierte umständlich an dem antiken Türschloss und schob, unterstützt von Petrus, die mächtigen Türflügel auf. Mit lautem Gepolter rumpelten sie über die Fliesen. Wie immer staunte Petrus über das prächtige marmorne Treppenhaus, das sich hinter der verfallenen Fassade versteckte. Die Treppe schraubte sich in kühnem Schwung nach oben. Weiße Balustraden begrenzten die Stockwerke. An den Wänden befanden sich Fresken, die einmal geleuchtet haben mussten, himmelblau und goldgelb, und nun nur noch mit Mühe zu erkennen waren. Über den gemalten Himmel an der Decke fuhr Apoll in seinem Sonnenwagen – die vier vorgespannten Pferde waren bereits verblichen. Nachträglich hatte man noch einen Kronleuchter in das Gemälde gerammt, der viel zu schwer herunterhing. Von irgendwoher wehte der Wind knisternd eine Plastikplane herein, offensichtlich war eines der Fenster gesprungen und nur notdürftig abgedeckt worden. Der Stuck bröckelte erbarmungslos. Und doch waren Glanz, Geschichte und Grandezza dieses Palazzos immer noch spürbar.

Seine Schwestern führten ihn die Treppe hinauf in den ersten Stock – und ignorierten großzügig kleinere Schutthäufchen und abgebrochene Marmorfliesen. Marta trug noch immer ihren dicken Kater auf dem Arm wie einen kostbaren Muff.

«Wie gut, dass du gekommen bist, Angelo, das Zimmer sieht wirklich schlimm aus und dabei …»

«… ist unser Juan doch immer so ordentlich …»

«… so sorgfältig und genau in allem …»

«… ein höflicher junger Mann, der einem immer die Tür aufhält …»

«… und der für uns auch schon mal kleine Besorgungen macht …»

«… wie du weißt, sind wir ja leider nicht mehr so gut zu Fuß», beendete Marta den Satz.

Das allerdings hielt Petrus für ein Gerücht, als er seine beiden Schwestern eifrig vor sich her trippeln sah. Dieses Bild war ihm aus seiner Kindheit durchaus vertraut: die beiden als Mädchen, damals noch mit festen Zöpfen, trippelnd und hüpfend voraus, er an der Hand seiner Mutter hinterher. Sonntag für Sonntag ging das so, auf dem Weg zur Kirche Santa Maria in Trastevere. Und danach, auf dem feierlichen Spaziergang zurück. Das änderte sich erst, als seine beiden kleineren Brüder mühsam hinter ihm herstapften.

«Was wisst ihr über diesen Priester?» Petrus hatte Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren.

Sie durchquerten einen Saal, der früher einmal eine Art Empfangsraum gewesen sein musste, mit blinden Spiegeln an den Wänden und grünen Samtsesseln in den Fensternischen. Die hölzernen Läden waren geschlossen, doch durch die abgesplitterten Paneele drang das Licht in staubigen Streifen in den Raum. Über dem Portal prangte ein fürchterliches Medusenhaupt aus weißem Stuck. Aus dem abgeschlagenen Kopf quollen die Augen hervor, statt der Locken ringelten sich dicke Schlangen um den Schädel.

«Wann habt ihr zuletzt mit ihm gesprochen?», fragte Petrus.

«Gestern Nachmittag …»

«… am späten Nachmittag …»

«… fast schon am Abend …»

«… er kam wahrscheinlich vom Rosenkranzgebet …»

«… ja, er geht immer in die Messe, so fromm ist er, unser Juan …»

«… genau hier, im Treppenhaus, sind wir ihm begegnet.»

«Wir hatten Kekse gebacken, Orangenkekse …»

«… Schokoladenkekse …»

«… die isst er so gerne …»

«… und da sagte Marta …»

«… nein, du warst es, Maria …»

«… möchten Sie nicht ein paar davon probieren?»

«Aber er hat abgelehnt. Obwohl das gar nicht seine Art war.»

«Dann ist er in sein Zimmer gegangen. Müde hat er ausgesehen.»

«Und über Kopfschmerzen geklagt.»

«Darum sind wir später noch einmal hinunter …»

«… um ihm die Orangenkekse zu bringen …»

«… die Schokoladenkekse …»

«… und da haben wir auch sein Zimmer gesehen. Ganz ordentlich sah es aus, aufgeräumt wie immer …»

«… nicht so wie jetzt …»

Die Tür zu dem ehemals hochherrschaftlichen Schlafzimmer war nur angelehnt, und Marta zögerte kurz. Dann gab sie der Tür einen beherzten Schubs, und sie schwang weit auf in den Raum.

V

Verwüstet. Ein anderes Wort fiel Petrus nicht ein. Ein Luftzug wirbelte die Papiere auf, die überall verstreut lagen. Die Vorhänge bauschten sich in Fetzen ins Zimmer. Die Türen des Kleiderschranks standen offen, Wäsche, Hemden, Soutanen lagen zusammengeknüllt auf dem Boden. Der Teppich war mit Scherben übersät. Flecken bedeckten den braunen Teppich. Petrus bückte sich instinktiv und berührte die dunklen Schatten. Sie fühlten sich feucht an.

Vorsichtig stieg er über das Chaos und näherte sich dem Schreibtisch. Feine Splitter überzogen die Papiere und Bücher. Selbst die Lampe lag in Scherben.

Seine Schwestern standen im Türrahmen und ließen ihn nicht aus den Augen.

«Was denkst du, Angelo, sag doch etwas …»

«… ja, bitte, sprich mit uns. Denkst du, dass unser Juan …»

«… in Schwierigkeiten steckt?»

«Ich denke jedenfalls nicht», sagte Petrus, «dass er nur verreist ist. Auf eine Erklärung dieser Art hatte ich gehofft – offen gestanden. Es hätte ja sein können, dass er überraschend wegmusste: ein Todesfall in der Familie oder so etwas. Er reißt den Koffer vom Schrank, der Reisepass fehlt, er zieht alles aus den Schränken, stößt dabei etwas versehentlich um … Aber ich glaube nicht, dass es sich so einfach verhält.»

Vorsichtig ließ er einen der Splitter durch seine Finger gleiten.

«Habt ihr beiden denn irgendetwas gehört?»

«Nein, das heißt, ja, man hört natürlich manchmal, wenn Juan herumgeht, wenn er seinen Schreibtischstuhl zurückschiebt, wenn er sich nebenan ein Bad einlässt.» Marta errötete.

«Bekam er denn gestern Besuch?»

«Nein!» Marta schien geradezu entrüstet.

«Das hätten wir gehört. Die Eingangstür quietscht und kracht so laut, wenn man sie öffnet …»

«… dann hören alle im Palast das. Sie müsste dringend mal repariert werden, man bekommt sie ja kaum auf, wenn man den Einkaufskorb in der einen Hand trägt und in der anderen vielleicht noch einen Schirm …»

«… und das Treppenhaus hallt, man hört jeden einzelnen Schritt auf den Marmorstufen. Und durch die Balkendecken kann man manchmal sogar einzelne Worte verstehen. Ich erinnere mich noch genau, als Eve, die Schriftstellerin, hier für ihr neues Stück geprobt hat, da konnte man ganz deutlich …»

«Seid so gut, ihr Lieben, und lasst mich einen Moment allein. Ich muss nachdenken, was zu tun ist. Und vor allem» – er warf einen misstrauischen Blick auf den dicken Kater im Arm seiner Schwester – «bringt euren Monsignore hinaus. Womöglich richtet er hier noch mehr Unordnung an.»

Die Schritte seiner Schwestern entfernten sich klappernd auf dem Marmorgang. Suchend sah er sich um. Der Schreibtischstuhl, ein schöner Lehnsessel, lag umgekippt vor dem Sekretär. Er hob ihn auf, wischte mit dem Ärmel seines Priestermantels über den ledernen Bezug und setzte sich.

Warum war Juan verschwunden?

Ein Trinkgelage wäre eine Erklärung, eine wüste Party – und danach ein Spaziergang zur Ausnüchterung. Eine Nacht auf der Parkbank. Ein Sturz, betrunken in den Tiber. Doch diese Erklärung schied aus: Die Schwestern hätten die Besucher an der Tür und auf der Treppe gehört, in der Wohnung müssten Flaschen herumliegen. Und die Polizei hätte irgendwann einen verkaterten Juan abgeliefert. Vor allem aber passten solche Exzesse nicht zu einem wohlanständigen, hilfsbereiten jungen Mann. Er selbst war Juan nie begegnet und konnte sich also nur ein Bild machen aus dem, was seine Schwestern ihm erzählten. Und aus dem, was er selbst sah. Petrus drehte den Schreibtischstuhl so, dass er in den Raum blickte, und nahm Platz.

Die antiken Möbel.

Der weit geöffnete Kleiderschrank.

Das zerwühlte Bett.

Die aufgerissene Kommode.

Die fast leeren Bücherregale.

Waren das alles Juans Möbel? Wohl kaum – er hatte sie sicher nicht aus Spanien hierherschaffen lassen. Also hatte er das Zimmer möbliert übernommen. Oder hatte er die Stücke in Rom gekauft? Liebte er alte, mit Intarsien geschmückte Kommoden – oder hatte er sie billig bekommen und deshalb hier aufgestellt? Waren es Fundstücke aus dem Keller des Palazzos, die er entstaubt, repariert und nach oben geschafft hatte?

Petrus stand auf und ging im Raum umher, zum Fenster, zu den Regalen, zum offenen Kamin. Frische Asche häufte sich darin, Papierfetzen lagen außen herum verstreut. Hatte Juan eingeheizt? War er ein Romantiker, der offenes Feuer liebte? War es ihm kalt geworden, hier in dem riesigen Raum? Hatte er etwas verbrannt – und danach das Fenster geöffnet?

Eine schmale Tür führte auf den Dienstbotengang mit knarzenden Holzdielen. Und von dort ging es in ein kleines Badezimmer. Petrus warf nur einen kurzen Blick hinein. Hier war alles in Ordnung. Das Handtuch hing sorgfältig gefaltet über der Stange, auf dem kleinen Brett unter dem Spiegel lagen Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm.

Er kehrte zurück in Juans Zimmer. Gestern noch hatten seine Schwestern ihn lebend gesehen. Sie hatten sich nach ihm erkundigt und ihm Schokoladenkekse gebracht.

Und dann?

Petrus schloss die Augen und versuchte, sich das alles vorzustellen: Juan, wie er hier im Zimmer stand. Die Kekse seiner Schwestern noch in der Hand. Er hatte über Kopfschmerzen geklagt. Hatte er sich auf sein Bett gelegt, sich ausgeruht, damit der Schmerz verschwand? War er unruhig im Zimmer umhergewandert? Hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und gearbeitet?

Dann war etwas passiert. Musste etwas passiert sein.

Noch am selben Abend? In der Nacht? Oder erst heute Morgen?

Ein leises, kaum wahrnehmbares Rascheln ließ ihn die Augen öffnen: Der rote Kater hatte sich zurück ins Zimmer geschlichen. Lautlos hüpfte er auf den Schreibtischstuhl und sah ihn provozierend aus grünen Augen an.

Petrus schob ihn energisch herunter und setzte sich wieder.

Wer bist du, Juan?

Was wolltest du hier in Rom?

Ein junger spanischer Priester. Gut aussehend, wenn man seinen Schwestern glauben durfte. Auf der Fahrt zum Palazzo hatten sie ihm erzählt, dass Juan voller Ideale gewesen sei, ein Schwärmer. Dass er sich eine Auszeit genommen habe vor Antritt seiner Pfarrstelle in Spanien. Dass er nun schon seit vier Monaten bei ihnen wohnte. Und bleiben wollte, bis zum Frühjahr. Um zu lesen – und vor allem zu schreiben. Irgendeinen wichtigen Artikel wolle er zum Abschluss bringen, Nachforschungen in den verschiedenen Bibliotheken betreiben. Und Rom kennenlernen. Freunde habe er nicht gehabt, nie Besuch bekommen. Er sei sehr für sich gewesen, dabei immer freundlich und höflich. Sein Italienisch sei gut gewesen, nur mit diesem kleinen, lispelnden Akzent.

Der Kater war hinter ihm auf das Fensterbrett gesprungen und schien aufmerksam nach unten auf den Platz zu blicken. Sein Schwanz wedelte dabei ruckartig hin und her. Oberflächlich blätterte Petrus in den Unterlagen auf dem Schreibtisch – nur Theologisches, soweit er sehen konnte. Ein kleines rotes Buch, beschrieben in einer feinen und exakten Handschrift. Er steckte es in die Tasche seines Priestermantels.

Zwischen den Fenstern hingen zwei kleine Bilder: eine Kathedrale, offensichtlich ein Postkartenmotiv. Und das Foto einer älteren, grauhaarigen Frau in strenger Spitzenbluse – womöglich Juans Mutter. Er drehte die Bilder um. Auf der Aufnahme mit der Kirche war handschriftlich notiert: Catedral de Valencia. Auf dem Bild mit der alten Frau stand nichts.

Er konnte sich gerade noch zurücklehnen, als der Kater mit einem riesigen Satz auf ihn zuschnellte – und vor ihm auf dem Schreibtisch landete. Mit den Pfoten auf einem zierlichen Tellerchen, von dem aus die restlichen Krümel eines Schokoladenkekses nach allen Seiten wegsprangen. Petrus zog dem Monsignore den Teller weg, doch der hatte schon etwas Neues entdeckt und kratzte aufgeregt eine angebrochene Schachtel Zigaretten unter den Papieren hervor. Petrus riss sie dem Kater unsanft aus den Krallen. Eine Nikotinvergiftung ihres Hätscheltieres würden ihm seine Schwestern nie verzeihen. Die Packung war blau und trug den Schriftzug «Fortuna» – offensichtlich eine spanische Marke. Hatte Juan selbst geraucht – oder ein Besucher? Einen Aschenbecher jedenfalls konnte Petrus nirgends entdecken. Nur ein leerer Bilderrahmen stand noch auf dem Schreibtisch; das Glas in tausend Scherben zersprungen. Petrus hatte kurz den Kater in Verdacht. Aber er konnte das Bild nirgends entdecken.

Das Bild, das eigentlich in dem Rahmen stecken musste. Es fehlte.

War es ein Bild seiner Familie? Seiner Schwester? Seines Elternhauses? Seines geistlichen Mentors? Es musste besonders wichtig für Juan sein, wenn er es so prominent vor sich aufgebaut hatte.

Ein scharfes Ratschen ließ ihn zusammenzucken. Der unerträgliche Monsignore. Schon wieder! Er spürte, wie er unwirsch wurde. Langsam ging er auf den roten Tiger zu, um ihn im richtigen Augenblick zu packen. Ein mächtiges Tier, groß und dick, das Fell gesträubt. Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob er mit ihm fertig werden würde. Doch der Monsignore ignorierte ihn. Er schärfte seine Krallen hochkonzentriert und mit lautem Kratz-kratz an Juans zerknülltem, weißem Bettüberwurf. Petrus entschied sich für die Radikallösung, zog die Decke mit einem Ruck nach oben und beförderte den verdutzten Kater auf den Boden.

Das Laken darunter war rot, rostrot. Ein riesiger Fleck breitete sich von der Mitte her aus und schien seitwärts nach unten zu verlaufen. Feine rote Spritzer zierten die Wand dahinter.

Der Teppich vor dem Bett wies Flecken auf, die sich strahlenförmig nach außen verdünnten. Schleifspuren, dachte Petrus. Wie sie entstehen, wenn man einen schweren Körper quer durch das Zimmer zerrt. Der Kater schnüffelte über den Boden. Auch Petrus meinte, einen süßlichen Geruch wahrzunehmen. Ihm wurde übel.

Und nun sah er es plötzlich überall. All diese dunklen Stellen, Flecken, Spritzer, all das war Blut. Überall klebte es, breitete sich im Zimmer aus.

Viel Blut.

Zu viel für einen harmlosen Unfall.

Er sah die Scherben und dachte daran, was man mit ihnen tun konnte. Er sah den Schürhaken, der neben dem Kamin hing: ein riesiges, geschmiedetes Monstrum mit einer scharfen Spitze. Er blickte zu dem Brieföffner auf dem Schreibtisch, geformt wie ein antiker Dolch.

Er ging ans Fenster und atmete tief ein. Der Kater sprang neben ihn, rieb seinen Kopf an dem Ärmel seines Priestermantels. Und war dann mit einem raschen Satz verschwunden.

Gegenüber sah Petrus wieder die kleine Bar. Genau dorthin würde er jetzt gehen, einen Caffè trinken und Ordnung schaffen in seinem Kopf. Bevor er zur Tür ging, drehte er sich noch einmal um, sah den blutbeschmierten Teppich, den zerbrochenen Bilderrahmen, die Asche im Kamin. Er ging zurück zum Schreibtisch, nahm den Brieföffner und bohrte ihn mit einer schnellen Bewegung in das Bett. Mit einem Ratsch trennte er ein ordentliches Stück des Lakens ab, faltete es vorsichtig zusammen und steckte es in seine Tasche. Zu dem kleinen, roten Buch.

VI

Un caffè!

Petrus häufte Zucker in seine Tasse und erfreute sich an dem hellen Klang, mit dem der Löffel gegen das Porzellan schlug. Er schloss die Augen und trank den Espresso in einem Zug aus. Ein wohliges Gefühl verbreitete sich in seinem Körper – Energie und Lebenskraft kehrten sofort zurück.

Über der Theke der kleinen Bar hingen goldene Engelchen und rote Kugeln an einer tannenzweigähnlichen Plastikgirlande, kleine bunte Lämpchen blinkten dazwischen. Es roch nach frisch gepressten Orangen und bitterem Schokoladenkuchen.

Es weihnachtete sehr.

«Perfekt.» Er stellte die Tasse ab. «Nicht in allen römischen Bars bekommt man Kaffee in dieser Qualität.»

«Nicht in allen römischen Bars hat man die Ehre, dem Heiligen Vater einen Caffè zuzubereiten», sagte der Barista zufrieden. «Ich vermute, Sie besuchen Ihre Schwestern?»

«Wie kommen Sie denn darauf?»

«Jeder im Haus weiß, dass Ihre Schwestern bei uns wohnen, Heiliger Vater.»

«Ich sehe nach dem Rechten. Die beiden sind sehr besorgt – wegen des merkwürdigen Vorfalls.»

Ein kurzes Nicken – doch keine Antwort. Petrus trank das Glas Leitungswasser aus und beobachtete, wie der Barista routiniert, aber mit großer Sorgfalt den Siebträger aus der Maschine klinkte und ausschlug. Er war noch jung, Mitte zwanzig vielleicht, lang und schlaksig, ernsthafte Augen hinter rechteckig gerahmten Brillengläsern. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er aufgerollt, sodass man an seinem rechten Arm einen dicken Mullverband erkennen konnte. Obwohl er seine dunklen Haare offensichtlich mit einer ganze Menge Gel gebändigt hatte, stand ihm am Hinterkopf eine kleine Strähne senkrecht nach oben.

«Wir sind alle etwas besorgt», sagte er schließlich. «Juan ist so plötzlich verschwunden …»

«Und Sie haben auch keine Erklärung?»

«Nein. Genauso wenig wie Ihre Schwestern, vermute ich. Es gibt einen sehr guten nachbarschaftlichen Zusammenhalt in unserem Palazzo. Auch wenn wir alle ziemlich verschieden sind.»

«Sie wohnen also auch da drüben?»

«Ja, seit mehr als zwei Jahren schon. Als ich die Bar hier eröffnet habe, musste ich mir etwas in der Nähe suchen. Schließlich bin ich immer schon ab fünf Uhr in der Frühe da.»

«Meine Schwestern hängen sehr an dem alten Gemäuer.»

«Wir alle lieben unseren Palazzo», sagte der Barista heftig. «Es ist eine Gnade, hier zu wohnen. Vor allem in dieser Zeit.»

«Wie meinen Sie das: in dieser Zeit?»

«Die Mieten explodieren. Weil die Immobilienpreise explodieren. Wie viele Römer leben denn noch im alten Stadtzentrum? Einige reiche Familien, sicherlich. Aber ansonsten nur Amerikaner, Russen, Araber. Sie kaufen die alten Häuser auf, machen Luxuswohnungen daraus mit Penthäusern und Dachterrassen und vertreiben die ursprünglichen Bewohner an den Stadtrand.»

«Wem gehört denn der Palazzo?»

«Niemand weiß es genau. Der Eigentümer lässt sich seit Jahren nicht blicken.»

«Und wenn etwas kaputtgeht?»

«Reparieren wir es selbst. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der zufällig Handwerker ist … Sie verstehen? Es gibt einen Hausverwalter, der sich aber nicht die Hände schmutzig macht. Dabei wäre es nicht verkehrt, wenn sich der Eigentümer um den alten Kasten kümmern würde. Er könnte viel mehr Wohnungen vermieten, wenn das Gebäude besser in Schuss wäre. Viele Zimmer sind in schlechtem Zustand. Einige Flure können Sie kaum betreten. Wohnkomfort – Fehlanzeige. Aber ich will nicht jammern: So preiswert komme ich sonst nirgends unter in der Innenstadt. Und ich brauche ja auch Platz für meine Maschinen.»

«Ihre Maschinen?»

«Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen.» Er winkte seinem Kollegen, der erstarrte, als er Petrus erkannte. «Du übernimmst. Ich bin kurz drüben.»

Sie überquerten den Platz, der immer noch feiertäglich still dalag. Vor dem Portal hantierte der Barista umständlich mit einem großen Schlüsselbund.

«Unser Palazzo ist besser gesichert als Ihre Vatikanischen Museen. Das Schloss dürfte seit der Erbauung hier drin sein und kostet mich jedes Mal eine Menge Zeit, wenn ich nur etwas holen will. Aber Ihre Schwestern fühlen sich sicherer damit.»

Mit Kraft schob sein Begleiter die schweren Türflügel auf, führte den Papst aber nicht die breiten Treppen hinauf, sondern gleich durch einen schmalen gemauerten Gang ins Gebäude hinein. Der fensterlose Flur endete vor einer abgewetzten Holztür.

«Da sind wir», sagte der Barista. «Früher, in der Renaissance, waren hier Lagerräume, direkt neben der Küche. Ich wollte im Erdgeschoss wohnen. Wegen der Maschinen. Sonst hätte ich sie alle die Treppen hinauftragen müssen.»

Überall, auf Tischen und Podesten und Fensterrahmen, standen silberne Espressomaschinen. Auf einem Tresen, der sich die Wand entlangzog, thronten einige besonders große Prachtexemplare. Es gab mächtige Caffettieras im eleganten Design der fünfziger Jahre, verschnörkelte Vorkriegsgeräte mit Art-déco-Schmuck, altertümliche Hebelmaschinen und kleine Geräte für den Haushalt. Fast alle waren auf Hochglanz poliert und sahen so aus, als könnten sie jederzeit in Betrieb gesetzt werden; bei einigen fehlte die Vorderfront, sodass man das Innenleben, ein Gewirr von Röhren und Kabeln, erkennen konnte.

Petrus musterte verblüfft die eigentümliche Sammlung in dem riesigen Gewölbe. Eines der Geräte – eine Faema, mit dem roten Schriftzug auf der Rückseite – erinnerte ihn an die Bar seiner Kindheit, gleich neben dem Elternhaus. Eines Tages war die Kaffeemaschine angeliefert worden und sofort zum Stolz des ganzen Viertels avanciert. Mit ihrem eigentümlichen Dampfen und Zischen hatte sie ihn durch seine ganze Jugend begleitet.

«Das ist ja ein richtiges Kaffeemaschinen-Museum», stellte Petrus fest. «Mitten in Rom – und niemand weiß davon?»

«Der Kaffee ist das Getränk unserer Nation, Heiliger Vater. Er belebt uns, er beseelt uns, er begleitet uns durch das ganze Leben. Und wem verdanken wir diese tägliche Inspiration? Den Kaffeemaschinen! Sie geben den Takt vor, nach dem das Herz des Italieners schlägt! Mit dieser Sammlung setze ich den Maschinen ein Denkmal. Ich reise im Sommer durch die abgelegenen Gegenden, in denen die Dörfer sterben – und mit ihnen die Bars. Dort kaufe ich die Geräte auf, bringe sie hierher und renoviere sie. Und sehen Sie: Hier im Palazzo stört sich niemand daran. Nicht an dem Lärm, den ich manchmal mit meinen Kaffeemühlen veranstalte, nicht an meinem Gehämmer und Geschraube und auch nicht daran, dass ich stundenlang den Eingang mit meinem Lieferwagen blockiere, um die Caffettieras auszuladen. Schließlich bin ich nicht der Einzige, der hier seinem exzentrischen Hobby nachgeht.»

«Ach ja? Dachten Sie dabei an meine Schwestern?»

Der Barista lachte.