Jubilate! - Johanna Alba - E-Book

Jubilate! E-Book

Johanna Alba

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Beschreibung

Amore mio! Papst Petrus hat ein großes Herz. Nicht nur für Fußball, Pasta und Vino – auch für die Liebe! Doch diesmal gelangt selbst er an seine Grenzen: Contessa Giulia, seine Pressesprecherin aus altem römischen Adel, soll das beträchtliche Familienvermögen erben. Unter einer Bedingung: Sie muss heiraten. Nur ist das Herz der Contessa schon vergeben – ausgerechnet an Franziskanermönch Francesco, den Privatsekretär des Heiligen Vaters. Die Schöne und der Mönch: Es droht ein Skandal, der die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Im Landschloss von Giulias Familie kommt es zu einem Mordanschlag. Und schließlich zum dramatischen Showdown. Papst Petrus, lebensfroh und unerschrocken, muss eine Verschwörung aufdecken, einen Mord verhindern. Und die Liebe retten. Jubilate!

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Seitenzahl: 455

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Johanna Alba • Jan Chorin

Jubilate!

Ein Papst-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Amore mio!

Papst Petrus hat ein großes Herz. Nicht nur für Fußball, Pasta und Vino – auch für die Liebe! Doch diesmal gelangt selbst er an seine Grenzen: Contessa Giulia, seine Pressesprecherin aus altem römischen Adel, soll das beträchtliche Familienvermögen erben. Unter einer Bedingung: Sie muss heiraten. Nur ist das Herz der Contessa schon vergeben – ausgerechnet an Franziskanermönch Francesco, den Privatsekretär des Heiligen Vaters. Die Schöne und der Mönch: Es droht ein Skandal, der die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Im Landschloss von Giulias Familie kommt es zu einem Mordanschlag. Und schließlich zum dramatischen Showdown.

Papst Petrus, lebensfroh und unerschrocken, muss eine Verschwörung aufdecken, einen Mord verhindern. Und die Liebe retten. Jubilate!

Vita

Johanna Alba zog als Studentin nach Rom – in eine Künstler-WG gleich hinter dem Vatikan. An der Sapienza studierte sie Kunstgeschichte, turnte auf Gerüsten an Raffael-Fresken vorbei und überprüfte jeden Abend, ob im Arbeitszimmer des Papstes noch Licht brannte. Ohne starken Espresso kann sie bis heute keinen Tag überstehen. Als Journalistin schreibt sie über Kunst, Literatur und Geschichte. Und natürlich immer wieder über Rom.

 

Jan Chorin reiste zum ersten Mal mit achtzehn Jahren nach Rom – mit Zelt, Rucksack und einem Interrail-Ticket in der Tasche. Mit seiner Frau Johanna Alba lebt (und schreibt) der Historiker mitten in München, der nördlichsten Stadt Italiens. An Rom liebt er besonders das Licht am späten Nachmittag, das die Fassaden der alten Palazzi zum Leuchten bringt.

 

Mehr Informationen unter www.papstkrimi.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Rubo Illustration

ISBN 978-3-644-40469-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

 

Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.

 

Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

 

Erster Brief des Paulus an die Korinther

Prolog 1

Ein Julitag in den Albaner Bergen, Anfang der sechziger Jahre

Rom glitzerte in der Ferne wie ein Juwel. Die Kuppel des Petersdoms – ein ungeschliffener Diamant. Der Tiber – ein silbernes Band, das ihn umfasste.

«So etwas kann auch nur dir einfallen», sagte er. «Ich jedenfalls sehe keine Edelsteine. Nur das Machtzentrum der katholischen Kirche, wie ein Fels im grauen Meer. Darum herum einen schlammigen Fluss. Und eine monströse Stadt, die sich wie ein Ungeheuer immer weiter in die Landschaft frisst.»

«Du bist überhaupt nicht romantisch.»

«Dafür habe ich ja dich», sagte er und trat aufs Gas.

Der himmelblaue Alfa Romeo sauste den Hügel hinauf – und wieder hinunter. Der Fahrtwind zerrte an ihrem seidenen Kopftuch. Sie schloss die Augen und lächelte.

«Wollen wir hier halten?» Er berührte sanft ihren Arm. «Wir können einfach den Hügel zum See hinunterklettern.» Und mit einem spöttischen Blick auf ihre Stöckelschuhe: «Ich trag dich auch.»

Den Picknickkorb hängte er sich über den linken Arm, packte sie liebevoll und trug sie den ganzen Hügel hinunter, bis ans Seeufer. Er breitete ein großes Leinentuch aus und machte eine einladende Handbewegung.

«Voilà, darf ich bitten, Schönste aller Frauen? Ein besserer Platz lässt sich im ganzen Latium nicht finden. Und ein versteckterer auch nicht.»

«Und das ist ja schließlich das Wichtigste, oder? Dass uns keiner sieht und hört …»

«Bellezza, du weißt genau, wie ich das meine. Hier am Nemisee war früher der Rückzugsort der Schönen und Reichen. Schon Cäsar hatte hier seine Villa.»

Sie blickte über den kleinen dunklen See und das hohe Schilfgras und streckte sich dann auf dem Tuch aus.

«Ich weiß nur, dass es hier einmal einen heidnischen Tempel gegeben hat», sagte sie versonnen. «Und einen Fruchtbarkeitskult um die Göttin Diana … Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das der richtige Ort ist, um den Abschied von mir zu feiern …»

Er sah sie schuldbewusst an.

«Nun mach nicht so ein Gesicht, Fede.» Sie musste lachen. «Heute ist heute. Und was kümmert uns das Morgen.»

Sie öffnete den Korb und holte Weißbrot hervor. Ein großes Stück Pecorino. Und ein Porzellanschälchen voller Erdbeeren.

«Außerdem … vielleicht bist du ja in Zukunft öfter hier», sagte sie.

«Wie meinst du das?»

«Na ja, ist da hinten nicht die Sommerresidenz des Papstes?»

«Castel Gandolfo, ja.»

«Vielleicht wirst du demnächst mal eingeladen. Oder du wohnst irgendwann selbst dort, verbringst die Sommermonate in weißen Gewändern, mit Spazierengehen, Schwimmen und gelehrten Gesprächen …»

«Amore, würdest du bitte damit aufhören.»

«Aber hatten nicht die Päpste in früheren Zeiten immer Geliebte? Wie nannte man sie noch mal: Mätressen? Konkubinen?»

«Du quälst mich.»

Sie löste das Kopftuch und schüttelte ihre langen dunklen Locken.

Er nahm ihre Hand. «Du bist noch so jung», sagte er. «Ich war noch nie so verliebt wie in dich. Und vermutlich werde ich es auch nie wieder sein.»

Er streichelte ihre Finger, ihre Haare, ihre Stirn, ihr Gesicht.

«Vielleicht werde ich unsere Trennung auf ewig bereuen. Vielleicht werde ich mich mein ganzes Leben nach dir sehnen. Wer kann schon wissen, was richtig ist. Aber Gott hat mich an diesen Platz gestellt, hat mich mit einer wichtigen Aufgabe betraut. Wer bin ich, dagegen zu rebellieren? Oder mich aufzulehnen, aus sentimentalen Gefühlen? Woher will ich wissen, ob es sich lohnt, für dieses eine Gefühl alles aufzugeben? Aber ich muss mich jetzt entscheiden. Jetzt!»

Er holte tief Luft.

«Ich werde mich immer und immer an diese Zeit erinnern. Ich werde unsere Geschichte als Geheimnis bewahren. Wirst du mich ab und zu sehen? Wirst du mich vergessen? Oder an mich denken, wenn ich alt bin?»

Sie drehte sich auf den Bauch und blickte ihn herausfordernd an. «Mein lieber Fede: Ich werde nie über unseren gemeinsamen Sommer reden. Mit niemandem. Das kann ich dir versprechen. Aber ich schwöre dir: Ich werde dich beobachten.» Sie lächelte eigenartig. «Und wenn sich das alles nicht gelohnt hat, wenn du dein Leben verpatzt, wenn du nicht glücklich wirst oder etwas Unbedachtes tust – dann komme ich dich holen. Egal, ob in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Das ist meine Bedingung.»

Er sah sie beunruhigt an.

«Niemand wird je erfahren, was zwischen uns war», sagte sie mit großem Ernst. «Weil du es so willst. Du wirst deine Chance bekommen – deine Chance auf ein Leben als Priester, der seine Erfüllung bei Gott findet. Aber meine Rache wird fürchterlich sein, wenn du diese Chance nicht nutzt. Ich werde alles zerstören, was dir bis dahin wichtig geworden ist. Ich werde kommen, um dich zu holen. Und du musst mir versprechen, dass du dann mit mir gehst.»

Er sah sie lange an.

«Das verspreche ich dir.»

Prolog 2

Ein Julitag, mitten in Rom, über fünfzig Jahre später

«Wir müssen reden, mein Freund.»

«Etwas Ernstes?»

«Etwas sehr Ernstes.»

«Oh. Dann sollten wir lieber dabei essen.»

Papst Petrus hatte das kleine Lokal Da Cavaliere vorgeschlagen. In seinem alten Priestermantel, mit Sonnenbrille und Hut, spazierte er ein Stück unter den Bäumen am Tiber entlang. Das Wasser wälzte sich leise glucksend dahin, sonnenbesprenkelt und träge.

Petrus überquerte die Straße und verschwand in den winkeligen Gassen von Trastevere. Hier kannte er sich aus, denn hier war er aufgewachsen: mitten im Arbeiterviertel, als Sohn eines Bäckers. Hier hatte er mit seinen zwei jüngeren Brüdern auf der Piazza Fußball gespielt und sich vor Maria und Marta, seinen zwei älteren Schwestern, versteckt. Er hatte Brote ausgetragen, manchmal ein paar Lire verdient und heimlich in der Backstube genascht. Später hatte er auf den Straßen an den nackten Holztischen gesessen und getrunken, unter den Laternen getanzt und ein, zwei Mal sogar ein Mädchen geküsst. Er war ein Romani di Roma, ein echter Römer, und im Grunde seines Herzens war er das bis heute geblieben.

Touristengruppen hasteten an ihm vorbei. Niemand erkannte in dem etwas fülligen, älteren Herren mit der markanten Römernase den Stellvertreter Christi auf Erden. Petrus liebte es, inkognito durch die Straßen seiner Heimatstadt zu streifen. Auch früher, als junger Gemeindepfarrer, war er viel unterwegs gewesen. Er hatte die Leute beobachtet, hatte sie zu Hause besucht, in ihren Hinterhöfen und engen Kammern, in ihren sorgfältig herausgeputzten Stuben und ihren frisch gescheuerten Küchen. Er hatte ihren Alltag gesehen. Und ihnen zugehört.

So oft wie möglich versuchte er auch heute noch, dem Papstsein zu entfliehen. Auf der Vespa seines Privatsekretärs Francesco. Oder, so wie heute, einfach zu Fuß. Die schiefen, holprigen Pflastersteine fühlten sich unter seinen Schritten vertraut an. Selbst mit verbundenen Augen hätte er den Weg durch die Sträßchen seiner Kindheit und Jugend gefunden. Er streckte eine Hand aus, um eine der ockerfarbenen Häuserwände zu berühren: Sie war rau, und mittagswarm.

Schon lange hatte er sich keine Auszeit mehr genommen. Doch heute war die Gelegenheit: Seine Haushälterin, Schwester Immaculata, hatte sich bereits in der Frühe verabschiedet, um «einige Angelegenheiten» in ihrem Orden zu regeln, wie sie geheimnisvoll kundgetan hatte. Als Mitglied der strengen Bußfertigen Begoninnen kämpfte Immaculata schon seit Jahren gegen alle Sünden dieser Welt. An vorderster Front jedoch vor allem gegen die Laster des aktuellen Papstes: gegen seine Vorliebe für süßes Gebäck, seine Leidenschaft für den Fußball, sein geselliges Beisammensein mit Freunden bei sportlichen Hochämtern wie dem Champions-League-Finale. Auch ein opulentes Essen, wie er es heute mit seinem alten Freund Federico plante, fiel unter normalen Umständen dem Immaculataindex zum Opfer …

Aber jetzt war er frei – und darum glänzender Laune.

Er schwitzte ein wenig, als er die Osteria erreichte – ein wundervolles Gefühl. Drinnen war es zwar kühl unter dem hohen Gewölbe, aber Petrus zog es durch die Hintertür wieder nach draußen, in den Hof. Von wildem Efeu und einem alten Feigenbaum umrahmt, saß man dort prächtig. Alle Tische waren voll besetzt, doch am Rande gab es noch einen kleinen Tisch hinter einer enormen Kübelpalme, die den anderen Gästen die Sicht verdeckte. Hier konnte man ungestört essen und reden.

Und genau das taten sie auch.

Bereits die Antipasti waren großartig: frittierte Zucchiniblüten und Artischocken, dazu verschiedene suppli, gebackene, mit Mozzarella, Tomaten und Gewürzen gefüllte Reisbällchen. Den ersten Gang hatte Federico übersprungen, während sich Petrus an seinem Leib- und Magenessen tonarelli caccio e pepe, cremigen, dicken Nudeln mit Pecorino, gelabt hatte. Zum Hauptgericht teilten sie sich schweigend eine Karaffe Vino Bianco und die scaloppine al limone, kleine Schnitzelchen in Zitronensoße mit viel frischem Pfeffer.

Und dann kam das Beste.

Das Cavaliere eignete sich für schwierige Gespräche nämlich ganz besonders – und genau deshalb hatte Petrus diese Trattoria ausgewählt. Denn Stefano, dem Wirt, gehörte neben seinem Restaurant noch eine kleine Pasticceria, zwei Häuser weiter. Stefano wusste von den heimlichen Leidenschaften des Heiligen Vaters und kam eben von der Straße wieder herein: mit einem Teller voller noch warmer bombole alla crema, kleiner, kringelförmiger Krapfen, mit Vanillecreme gefüllt und in Zucker gewälzt. Als Stefano dazu noch den caffè brachte, lehnte sich Petrus behaglich zurück. Seine Soutane spannte zwar etwas – aber nun war er gewappnet, für alles, was da noch kommen sollte.

«Wir wollten über etwas Ernstes sprechen», sagte Petrus.

«Ja», sagte Kardinal Federico. «Über meine Familienangelegenheiten.»

«Das klingt aber nicht sehr bedrohlich.»

«Du musst wissen, dass sich unsere Familie jeden Sommer auf unserem Landsitz versammelt. Ende Juli, also in wenigen Tagen, feiern wir ein Sommerfest – und damit auch meinen Geburtstag. Meist bleibt die Verwandtschaft gleich da. Schließlich ist Ferragosto nicht mehr weit und die Luft in Rom sowieso unerträglich.»

«Sie bleiben recht lange, vermute ich. Denn dein Landsitz, den ich eher als Schloss bezeichnen würde, ist ja ein kleines Paradies.»

«Man müsste den Bau gelegentlich auffrischen», sagte Federico. «Die letzten Jahrhunderte haben wir nur wenig renoviert.»

«Was mir gut gefällt, mein Freund. Denn du hast – obwohl du ein Mann von klarem Verstand und ein großer Stratege bist – einen Hang zu Nostalgie und Träumerei. Oder irre ich mich?»

«Du kennst mich recht gut. Und genau deshalb möchte ich dich einweihen in meinen Plan.»

Federico sprach jetzt schneller, mit fester Stimme.

Er war deutlich älter als Petrus, aber immer noch ein schöner, stattlicher Mann. Sein volles weißes Haar umrahmte ein braungebranntes Gesicht und wache helle Augen. Im Auswärtigen Dienst des Vatikans und später im kirchlichen Bankwesen hatte er eine steile Karriere gemacht und war jung Kardinal geworden. Kurz darauf war er jedoch aus der Finanzverwaltung des Vatikans ausgeschieden und hatte sich ins Privatleben zurückgezogen. Den Kardinalstitel führte er weiter, verzichtete aber auf alle Rechte und Privilegien eines Kardinals. Über die Gründe hatte es viele Gerüchte gegeben. Seitdem lebte er im Schloss seiner Familie, draußen in den Albaner Bergen, vor den Toren Roms. Manchmal besuchte ihn Petrus dort, ein- oder zweimal im Jahr. Dann saßen sie auf der Schlossterrasse, tranken edle Tropfen aus den immer gut gefüllten Weinkellern und sahen in die Abendsonne.

«In diesem Sommer werde ich fünfundachtzig», fuhr Federico fort.

«Was man dir nicht ansieht.»

«Aber so ist es. Und darum soll mein Sommerfest diesmal ein wenig größer ausfallen. Ich möchte zurückblicken auf mein Leben. Aber vor allem möchte ich mein Erbe ordnen. Denn ich werde sterben, mein Freund.»

«Das werden wir alle.»

«Ich bin krank. Todkrank. Wir haben beide denselben Arzt. Dottore Frascati von der Gemelli-Klinik. Du weißt, dass er sich nicht irrt. Bis zu meinem Geburtstag werde ich es schaffen – und noch einige Tage länger, wenn meine Kräfte reichen.»

Petrus wollte etwas sagen, aber der Kardinal hob abwehrend die Hand.

«Nein, mein Lieber. Ich brauche keinen Trost und auch kein Mitleid. Ich habe mein Leben gelebt, und es war ein gutes Leben. Als ich jung war, habe ich die Welt gesehen. Asien, Amerika. Und dann hatte ich eine lange Zeit der Muße, in der ich nachdenken konnte. In einem wunderbaren Schloss, in einem herrlichen Park. Vita activa et vita contemplativa.»

«Falls du dich sorgst, dass man dich nicht einlässt, oben an der Himmelspforte …»

«… wirst du ein gutes Wort für mich einlegen. Ich weiß. Aber viel wichtiger ist, dass du mir jetzt hilfst – solange ich noch auf Erden wandle.»

«Du möchtest dein Erbe regeln, sagtest du?»

«Vor allem möchte ich mein Erbe zusammenhalten. Es soll nicht in alle Winde zerstreut werden. Die Familie Santini gehört zum römischen Uradel. Sie hat immer eine gewichtige Rolle gespielt in dieser Stadt. Und das wird nur so bleiben, wenn es ein Familienoberhaupt gibt. Jemanden, der respektiert wird. Jemanden, der das Vermögen bewahrt.»

«Ich kenne deine Familie recht gut», sagte Petrus. Er versuchte, sich zu fassen und einen normalen Tonfall anzuschlagen. «Ich habe sie immer als sehr angenehm erlebt. Es wird sich schon jemand finden, oder?»

«Du kennst eine Frau aus meiner Familie sehr gut», antwortete Federico. «Contessa Giulia Santini, deine Pressesprecherin. Eine der schönsten Frauen Roms. Gebildet und warmherzig. Und ja, ich verstehe sehr gut, dass du sie als angenehm erlebst. Aber es gibt auch ganz andere Charaktere. Ihnen geht es weniger um Tradition und Familienehre, sondern vor allem um Geld.»

«Ich verstehe», sagte Petrus langsam. «Aber ich verstehe noch nicht, warum das alles so schwierig sein soll. Zugegeben: Gier ist ein weit verbreiteter Zug im römischen Hochadel. Und die Gier hat viele liebe Geschwister; ich erinnere nur an Neid und Eifersucht. Darum wurde ja auch immer viel gemordet in den alten römischen Familien. Aber bei den Borgias – um nur ein Beispiel zu nennen – ging es um den Papstthron, um ganze Staaten, um unendlich viel Geld. Und gerade Letzteres ist bei der Familie Santini schon lange nicht mehr vorhanden. Nimm es mir nicht übel, mein Freund, aber ich gehe davon aus, dass es außer deinem wunderbaren Schloss nicht viel zu vererben gibt. Oder irre ich mich?»

«Ich habe einen Plan», sagte Federico. «Und dieser Plan betrifft auch dich. Darum möchte ich um dein Einverständnis bitten. Und vor allem um deine Unterstützung.»

Dann erzählte er.

Zwischendurch lachte Petrus laut und bestellte einen Grappa.

Und noch einen Grappa.

Dann runzelte er sorgenvoll die Stirn und bestellte noch einen caffè.

«Ich gebe zu», sagte Petrus schließlich, als Federico geendet hatte, «dass dein Plan … sehr charmant klingt. Allerdings auch etwas schräg und voller Risiken.»

«So ist es. Deshalb benötige ich deine Hilfe. Ich möchte dich bitten, ein Auge auf uns alle zu haben. Auf die Familienmitglieder. Vor allem auf ein Familienmitglied. Der Plan ist ein wenig … riskant. Vielleicht sogar gefährlich.»

«Aber was hätte ich auf deinem Familienfest zu suchen?»

«In diesem Jahr werde ich nicht nur die Familie einladen, sondern auch ein paar alte Freunde. Dann fällst du nicht auf. Vielleicht könntest du versuchen, etwas … diskret anzureisen? Meine Familie ist den Umgang mit Päpsten gewohnt. Seit Jahrhunderten. Doch die Medien sollten nichts davon erfahren.»

«Kein Hubschrauber. Keine Autokolonne. Vielleicht kann mich ja Giulia mitnehmen, in ihrem Wagen.»

«Eine hervorragende Idee.»

«Und nach dem Fest könnte ich gleich draußen bleiben. Nicht bei dir natürlich, sondern in Castel Gandolfo.»

«Du warst schon lange nicht mehr auf dem päpstlichen Sommersitz – oder irre ich mich?»

«Schon viel zu lange nicht mehr.» Petrus schwieg und schloss kurz die Augen. «Jedenfalls sehne ich mich nach all dem Großstadtlärm und dem Smog nach der frischen Luft in den Albaner Bergen. Und nach dem Meer, das man immerhin von weitem sieht.»

«Dann wäre ja alles geklärt. Ich werde dir eine Einladung schicken.»

«Mit welcher Reaktion rechnest du?»

«Die Familie Santini ist eine Familie», sagte Federico nachdenklich. «Eine ganz normale italienische Familie.»

Petrus lachte. «Also rechnest du mit dem Schlimmsten.»

Freitag

Noch acht Tage bis zur Hochzeit

Ein Spiel.

Es war nur ein Spiel.

Aber langsam ging Giulia die Luft aus.

Edoardo hatte die Wette im Geheimen Wald gewonnen. Er hatte sich so versteckt, dass sie ihn bis zur Dämmerung nicht mehr gefunden hatten.

Paolo hatte den Punkt im Teepavillon geholt und die Schokolade im Puppenhaus gefunden, die Rebecca dort versteckt hatte.

Aber jetzt war sie am Zug. Niemand von den anderen konnte so lange die Luft anhalten wie sie. Das war ihre Chance. 23 … 24 … 25 …

Rebecca hatte nicht mitgemacht, vermutlich war sie im Schloss geblieben. Typisch. Aber Edoardo und Paolo waren noch irgendwo hier unten, sie spürte sie neben sich … 26 … 27 … 28 … 29 … Sie musste einfach gewinnen, sonst war sie raus … 30 … 31 …

Sie konnte nicht mehr.

Giulia versuchte, etwas zu erkennen im grünlich trüben Wasser, und stieß sich vom Boden ab. Der Schlamm quoll ihr durch die Zehen … 32 … 33 …

Nur noch ein Stück. Da war schon die Wasseroberfläche mit der schmierigen Entengrütze und den Seerosenblättern.

Auf einmal spürte sie einen harten Schlag auf den Kopf.

Sie strampelte. Schluckte Wasser.

Dann wurde alles schwarz.

Dunkel.

Dunkel überall um sie herum.

Sie musste hoch, musste ans Licht! Mit den Armen schlug sie um sich, stieß mit dem Handgelenk an etwas Hartes – und wachte von einem lauten Rums endlich auf.

Der Bücherstapel auf ihrem Nachttisch war ins Rutschen geraten, die sorgfältig gestapelten Bände zur Philosophiegeschichte der Antike mit Schwung auf den Boden geknallt und zum Teil unter ihr Bett gerutscht.

Sie fuhr sich über die Augen.

Sie zitterte.

Wieder einmal war sie untergegangen. Wieder gab es keine Rettung. Schon lange hatte sie diesen Traum nicht mehr geträumt. Viele Jahre war das jetzt her. Sie war dreizehn oder vierzehn gewesen, damals. Sie konnte wirklich gut tauchen. Besser als Edoardo und Rebecca. Und fast so gut wie Paolo. Aber irgendetwas war schiefgegangen.

Warum holte sie diese Erinnerung jetzt wieder ein? Lag es daran, dass sie heute zurückfuhr? Zurück zu Federico, in das alte Schloss, zu ihrer Familie, zu den Freunden von damals?

Sie schloss noch einmal die Augen. Dann stand sie auf. Es war nur ein Traum.

Ein Albtraum.

Und eine ferne Erinnerung an ein Kinderspiel.

*

Schwungvoll bog der rote Fiat Cinquecento in den Innenhof des Vatikanischen Palastes ein und bremste so scharf ab, dass die Kieselsteinchen spritzten. Die Farbe bildete einen knalligen Kontrast zu der gleißend hellen Renaissancefassade.

Giulia öffnete die Tür und winkte Petrus zu, der im Schatten des Torbogens wartete. Neben einem Schweizergardisten in vollem Ornat.

Sie stieg aus dem Wagen. Und der Schweizergardist – Petrus spürte es genau – atmete tief ein und versuchte, bella figura zu machen.

Die meisten Männer im Vatikan atmeten tief ein und bemühten sich um bella figura, wenn Contessa Giulia, Pressesprecherin des Heiligen Stuhls, erschien. Heute hatte sie ihre langen schwarzen Locken zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gebändigt und ein Seidentuch darum geschlungen. Sie trug ein kurzes, sehr kurzes roséfarbenes Etuikleid, dazu hochhackige Sandalen, mit denen sie jetzt energisch auf Petrus zuklapperte.

«Wir planen eine kleine Landpartie», sagte Petrus. Er näherte sich und warf einen Blick auf die Koffer und Reisetaschen, die sich auf der schmalen Rückbank des Wagens türmten. «Eine kurze Sommerfrische in den Albaner Bergen. Aber du hast dich ausgerüstet wie für eine sechswöchige Kreuzfahrt auf einem Luxusliner.»

«Warum nehmen Frauen viele Koffer mit in den Urlaub? Weil sie Unmengen von Kleidern und Kosmetik mit sich führen. Genau das denken Sie jetzt doch, nicht wahr, Heiliger Vater? Sie und der junge Gardist am Tor, der gerade seine Pflicht vergessen hat und zu uns schaut – anstatt streng geradeaus.»

«Er schaut nicht zu uns, sondern zu dir. Und das liegt an deinem Kleidungsstil, liebe Giulia.»

«Bei Pressekonferenzen halte ich mich zurück. Aber heute bin ich privat hier. Und um auf die Koffer zurückzukommen: Es befinden sich vor allem Bücher darin. Bei Onkel Federico pflege ich in der Sonne zu liegen und zu lesen. Das Schloss ist traumhaft verwunschen, das regt die Phantasie an. Ich habe unter anderem Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mitgenommen, das passt wunderbar dorthin. Und nicht nur diese sieben Bände benötigen eben Platz.»

«Sieben Bände Weltliteratur», sagte Petrus seufzend. «Die meisten Menschen bleiben schon beim ersten Band von Proust stecken, habe ich gehört. Und du wirst wahrscheinlich am Ende dieses Wochenendes sagen können, dass du sie alle geschafft hast.

«Ich habe sie schon drei Mal gelesen», sagte Giulia nachsichtig. «Man entdeckt immer etwas Neues. Wollen wir losfahren?»

«Einen Moment noch.»

Hinter Petrus erschien ein weiterer Wachposten, der einen sperrigen, altmodischen Koffer auf den Armen trug.

«Das ist wohl nicht Ihr Ernst?», sagte Giulia. «Wo ist das elegante Kofferset, das ich Ihnen kürzlich für Ihre Pastoralreise nach Lateinamerika gekauft habe?»

«Immaculata hat alles weggeräumt. Wahrscheinlich vermutet sie Luxus und Dekadenz. Und ich wollte es jetzt nicht auf Diskussionen wegen unseres kleinen Ausflugs ankommen lassen.» Er schnaufte kurz. «Außerdem weiß ich gar nicht, was du hast: Den Koffer hier habe ich auf dem Dachboden gefunden. Damit bin ich schon in meiner Studentenzeit gereist.»

«Das sieht man ihm leider auch an», sagte Giulia.

«Für das Wochenende bei Federico wird er reichen. Und danach fahre ich ja nach Castel Gandolfo. Immaculata wird mit dem restlichen Gepäck direkt dorthin kommen.»

Giulia klappte den Beifahrersitz nach vorne und versuchte, das Ungetüm mit Hilfe des verlegenen Schweizergardisten auf die Rückbank zu wuchten. Vergeblich.

«Wissen Sie was: Wir machen ihn einfach auf.»

«Meinen Koffer?», fragte Petrus entsetzt.

«Nein, mein Auto.»

Giulia drückte auf einen Knopf hinter der Windschutzscheibe, und das Verdeck schob sich langsam surrend nach hinten. Sie grinste Petrus schadenfroh an.

«Jetzt müssen Sie allerdings Ihr Käppchen im Fahrtwind etwas festhalten».

*

Die Fahrt begann, wie zu erwarten, im freitäglichen Stau. Sie schoben sich auf der Via Aurelia entlang und passierten im Schneckentempo den Palazzo Doria-Pamphili. Erst auf der Circonvallazione wurde es besser.

Das kleine rote Cabrio nahm Fahrt auf.

Und Petrus musste tatsächlich mit seinem Käppchen kämpfen.

«Für mich beginnt der Sommer immer erst mit Federicos Fest», rief Giulia in den Fahrtwind hinein. «Das Schloss ist mein Kindheitsparadies. Die großen Räume mit den verschlissenen Seidentapeten, jahrhundertealt. Es gibt eine stattliche Bibliothek mit dicken Folianten, in Leder gebunden. Eines meiner Lieblingsbücher war früher, als ich noch ein Kind war, ein Band über Naturkunde, mit vielen farbigen Vögeln, auf Pergamentpapier gemalt. Später habe ich mich dann eher für die detaillierte, illustrierte Ausgabe von Ovids Liebeskunst interessiert …»

«In der Bibliothek bin ich auch schon gewesen. Aber mir hat Federico nur seine alte Bibel aus dem 17. Jahrhundert gezeigt …»

Giulia überholte einen Kleinlaster, der über und über mit Rosen und Rittersporn beladen war. Für einen Moment hatte Petrus den Eindruck, er könne die Blumen sogar riechen.

«Dann kennen Sie ja auch den großen Ballsaal, oder? Der war für mich wie ein gigantisches Spiegelkabinett. Und in der Galerie mit den Alten Meistern habe ich meine Liebe zur Kunst entdeckt. Hat Federico Ihnen auch den frühen Caravaggio gezeigt? Maria mit Kind am Wegesrand? Oder die Raffael-Madonna, die gar nicht mal so schlecht ist. Ich bete jedes Mal, das sie noch nicht verkauft ist, um das Schloss zu sanieren. Im Park liebe ich den Najadenbrunnen. Hat Federico Sie schon einmal ganz herumgeführt?»

«Ich muss zugeben, ich kenne vor allem das Innere. Und natürlich die Terrasse, direkt hinter dem Schloss, auf der man am Abend ganz prächtig mit einer Flasche Wein sitzen kann und …»

«Sie müssen sich unbedingt von Federico einmal den ganzen Park zeigen lassen. Toll sind die Wasserspiele, ach, was sage ich, es ist ein ganzes Wassertheater mit Grotten und Nymphen und gemalten Kulissen. Die verschlungenen Kieswege. Die Rosenhecken mit dem Labyrinth. Und, ganz fürchterlich: der Geheime Wald mit all seinen gruseligen Ecken. Vor dem habe ich mich immer wahnsinnig gefürchtet.»

Sie schüttelte sich kurz.

«Aber am allerschönsten ist wahrscheinlich der kleine Teepavillon.»

«Ein Teepavillon? In einem italienischen Garten?»

«Er heißt nur so. Und das ist eigentlich auch ein ziemlich hochtrabender Name. In Wirklichkeit handelt es sich nur um ein kleines Gartenhäuschen. Ziemlich weit hinten im Park. Früher, vor über hundert Jahren, hat man Spaziergänge dorthin unternommen. Mit Reifrock, Sonnenschirm und Hofdame. Das Dienstpersonal ist vorausgeeilt und hat für den Tee eingedeckt.»

«Und später hat Onkel Federico dort Damen empfangen, vermute ich.»

«Das könnte erklären, warum dort ein antikes Samtsofa steht.» Giulia lachte. «Nein, das glaube ich nicht. Zumindest nicht, als ich klein war, denn da gehörte der Teepavillon uns Kindern.»

«Du warst also nicht das einzige Kind dort?»

«Nein, wo denken Sie hin. Zu dem großen Familienfest Ende Juli kam immer die ganze Familie. Einige reisten wieder ab, wenn das Fest vorbei war, viele blieben auch den ganzen Sommer. Am Anreisetag herrschte immer ein unglaubliches Chaos. Überall Kisten und Koffer, einige der älteren Tanten pflegten damals noch ihr Dienstpersonal mitzubringen. Dann Versammlung zum abendlichen aperitivo, wir Mädchen im keuschen Kleidchen. Wir wurden noch einmal gekämmt und ermahnt. Und ab da hat sich niemand mehr um uns gekümmert. An diesem Abend nicht – und eigentlich den ganzen Sommer nicht. Wir waren eine kleine Clique: mein Cousin, der sportliche Paolo. Seine Schwester, die perfekte Rebecca. Der fromme Edoardo, unser Großcousin. Und natürlich ich.»

«Sportlich, perfekt und fromm», sagte Petrus. «Und wer warst du? Die schöne Giulia?»

«Nein, überhaupt nicht. Ich trug eine Brille, war etwas … verwirrt und habe meistens gelesen. Falls Sie nach einem Adjektiv suchen: Ich war die verträumte Giulia. Mein Job war es, Geschichten zu erfinden und verrückte Spiele. Und beim Einschlafen Gruselgeschichten zu erzählen.»

«Mit Gruselgeschichten schafft man es also auf die Pressestelle im Vatikan», brummte Petrus. «Seid ihr immer noch befreundet?»

«Ich weiß gar nicht, ob wir wirklich befreundet waren. In Rom haben wir uns nie gesehen, nur immer auf dem Schloss, im Sommer. Wir waren schon sehr verschieden, genau betrachtet. Aber wir waren aufeinander angewiesen, es gab sonst niemanden in unserem Alter. Die Erwachsenen schliefen endlos lang oder saßen auf der Schlossterrasse. Oder machten langweilige Ausflüge. Wir haben uns abgesetzt, und niemand hat nach uns gefragt.»

«Und der Teepavillon war euer Hauptquartier, vermute ich.»

«Genau. Als wir Kinder waren, hat Federico mit uns den Dachboden nach altem Spielzeug durchstöbert. Es gab dort wundervolle Dinge. Er hat sie in den Teepavillon bringen lassen. Wir haben dort gespielt, stundenlang, tagelang. Wir hatten sogar ein Puppenhaus, es sah beinahe aus wie Federicos Schloss. Das war eine wunderbare Märchenbühne, mit Prinzen und Prinzessinnen, Hofdamen, Köchen, Stallburschen …»

«Und du warst die Prinzessin.»

Giulia lachte. «Nein. Prinzessinnen mochte ich nie, sie waren mir immer zu glatt. Diese Rolle ging natürlich an Rebecca. Ich habe, ehrlich gesagt, am liebsten den Prinzen gespielt. Ich wollte lieber ein Mann sein. Mitreden. Mitbestimmen.»

«Kein Wunder, dass du päpstliche Pressesprecherin geworden bist», stellte Petrus fest. «Und keine High-Society-Lady in Rom.»

«Später, als wir vierzehn, fünfzehn, sechzehn waren, hatten wir dort eine Art … Club. Wir haben Poster aufgehängt und Musik gehört. Oasis, in Endlosschleife. Es waren die neunziger Jahre. Edoardo und ich haben moderne Gedichte verfasst und uns gegenseitig vorgelesen. Rebecca war dann immer beleidigt. Sie war ein nüchterner, praktischer Typ, ohne Sinn für Poesie.»

«Mochtest du Rebecca?»

«Wir waren eine Clique. Natürlich, wir mochten uns … irgendwie. Aber wir waren auch sehr unterschiedlich. Völlig auf einer Wellenlänge waren wir nie. Während der Sommermonate hat es jedenfalls gut funktioniert. Nun, mit siebzehn war dann sowieso alles vorbei. Ich bin für ein Jahr in die USA gegangen, und die anderen sind auch nicht mehr hingefahren. Und in unseren Zwanzigern waren wir eh in alle Winde zerstreut. Studium und Beruf, Rebecca hat inzwischen sogar Familie. Aber seit einigen Jahren sind auch wir Jungen wieder dabei. Es fühlt sich seltsam an, alle wiederzusehen. Ein wenig geht es mir wie mit einem alten Film, den man früher immer zu Weihnachten gesehen hat und mit dem man all die wohligen Erinnerungen verbindet.»

«Und inmitten des ganzen Trubels war Kardinal Federico», sagte Petrus nachdenklich. «Mochtet ihr ihn – als Kinder?»

«Ja. Und wir hatten großen Respekt vor ihm. Immerhin ist er unser Großonkel, ein bisschen vielleicht wie der Großvater, den wir nicht hatten. Sein älterer Bruder Filippo war der Vater meines Vaters, aber der ist schon sehr früh gestorben.»

Giulia dachte nach.

«Federico war vielleicht ein wenig … distanziert, trotzdem kümmerte er sich um uns. Er hat immer darauf geachtet, dass es uns gut ging. Bei schönem Wetter hat er ab und zu einen Ausflug mit uns in der Gegend gemacht. Er hat uns viel erzählt: über die alten Mythen und Sagen der Gegend. Angeblich ist ja sogar Romulus hier zur Welt gekommen. Und Cäsar besaß am Nemisee einen opulenten Sommersitz, ebenso wie der grausame Kaiser Caligula. Vor allem die Jungs waren ganz verrückt nach diesen Geschichten und haben stundenlang im Gestrüpp nach alten Mosaikresten und Marmorsäulen gesucht. Wenn es langweilig wurde, an Regentagen, dachte sich Federico eine Überraschung im Schloss aus oder zeigte uns die versteckten Türen. Doch, wir mochten Federico sehr. Und trotzdem …»

«Trotzdem?», fragte Petrus.

«… trotzdem war immer so etwas wie Melancholie um ihn. Eigentlich ist er ja ein zupackender Typ. Er hat viele Freunde. Er liebt seinen Weinkeller, die Kunstwerke im Schloss, den Park. Und er ist – auf seine Art – ein frommer Mann. Aber es war immer so, als ob er nicht ganz anwesend war. Er war zwar mittendrin – und zugleich stand er daneben und sah zu. Auch sich selbst, glaube ich. Als lauschte er auf irgendetwas. Auf etwas, das vorbei war. Oder nie dagewesen war. Oder erst kommen würde. Ich kann es nicht richtig erklären.»

«Ich weiß, was du meinst.»

Giulia warf Petrus einen kurzen Blick zu. «Gibt es denn ein Geheimnis in seinem Leben?

«Ja.»

«Aber Sie dürfen nicht darüber sprechen.»

«Richtig.

«Als junger Mann soll er … ein etwas wildes Leben geführt haben.»

«Er hat ein aufregendes Leben geführt. Bevor er Priester wurde – und auch danach. Vielleicht erzählt er uns davon. Es ist ja sein Geburtstag …» Petrus klang plötzlich angespannt.

Giulia schien das nicht zu hören. Begeistert rief sie: «Ach, sehen Sie, Heiliger Vater. Da, hinter der Kurve, sieht man zum ersten Mal das Schloss! Früher haben wir immer gespielt: Wer sieht es zuerst? Und meistens haben alle zugleich losgerufen …»

Der knallrote Cinquecento legte sich in die enge Kurve. Vor ihnen öffnete sich plötzlich der Blick. Auf dem Hügel gegenüber thronte, mitten im Grünen, Federicos Schloss mit dem hohen Giebel und den langgestreckten Seitenflügeln. Golden im Morgenlicht, wie ein Traum aus einer anderen Zeit.

Und Giulia jubelte so laut, wie Petrus sie noch nie gehört hatte.

*

Die Lichterketten schaukelten sanft über ihren Köpfen, das Porzellan glänzte, das Silber funkelte. Die Tafel war, wie in jedem Jahr, auf der Terrasse direkt hinter dem Schloss gedeckt. In der Dämmerung sah man weder die Rostflecken an den Gartenstühlen noch die abgeschlagenen Ecken der Teller oder die gestopften Löcher der Damasttischdecken.

Giulia blieb einen Augenblick stehen, als sie die Terrasse betrat, und blickte hinunter in den dunklen Park, der sich stufenförmig den Hügel hinunterzog. Weit in der Ferne, im Dunkeln nicht zu sehen, lagen die Wasserspiele. Und dahinter, als prachtvolle Kulisse, schimmerten die Lichter der Stadt Rom. Die alten Stallungen verbargen sich hinter großen Laubbäumen, gleich links vom Schloss. Gesäumt wurde die Anlage von Wäldern, in denen früher, vor Jahrhunderten, gejagt wurde. Sie zogen sich den ganzen Hügel hinunter bis ins Tal.

«Herrlich, nicht wahr? Ein magischer Ort!» Giulias Mutter liebte Plattitüden. Sie trug ein flatterndes rotes Seidenkleid, mehrere Reihen ihrer besten Perlen und enorme Kreolenohrringe, die leise klirrten, wenn sie den Kopf hin und her bewegte. Außerdem war sie in eine intensive Duftwolke gehüllt, die ihre ganze Umgebung in Trance versetzte. «Übrigens eignet sich der Park auch sehr für romantische Spaziergänge. An der Seite eines netten jungen Mannes.»

Sie betrachtete ihre Tochter mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid. «Natürlich bist du wieder alleine gekommen.»

«Cara mamma! Schönen guten Abend, wie wunderbar, dich zu sehen, und ja, ich freue mich auch.» Giulia merkte, wie sie sofort wieder in Rage geriet, wie immer, wenn ihre Mutter dieses Thema ansprach. Trotzdem versuchte sie, sich zusammenzureißen. «Und nein, ich habe keine männliche Begleitung bei mir, woher sollte ich sie so schnell auch hernehmen? Seit wir uns letzten Sonntag gesehen haben, sind noch keine neuen Anträge bei mir eingegangen …»

Giulia warf sich in die Arme ihres Vaters, der sie liebevoll drückte und ihr beruhigend über den Rücken strich.

«Ciao bellina, großartig siehst du aus in diesem unglaublichen Kleid!», sagte er. Und flüsterte ihr ins Ohr: «Reg dich nicht schon wieder über deine Mutter auf, sie meint es ja nur gut.»

«Glaube nicht, dass ich dich nicht hören würde, Odoardo», sagte ihre Mutter. «Und es ist bei Gott nichts Ungewöhnliches, dass ich mich um meine einzige Tochter sorge. Im Übrigen ist das alles nur deine Schuld. Du hast sie verdorben mit deinen Büchern und dem ganzen Wissenschaftskram. Das hat sie nun von ihrer doppelten Promotion: Welcher Mann will sich schon die ganze Nacht mit einer Frau über die Relativitätstheorie unterhalten? Oder über antike Philosophen … wie diesen … Herakles …»

«Heraklit», sagten Giulia und ihr Vater automatisch.

Aber eigentlich, dachte Giulia, eigentlich hat sie ausnahmsweise einmal recht. Wer würde sich mit mir schon gerne über Heraklit unterhalten? Über Thales von Milet oder Sokrates? Da gäbe es wahrscheinlich nur einen Einzigen. Einen einzigen Mann auf dieser großen weiten Welt. Nur, dass dieser eben nicht zu haben war …

Ein Arm schlang sich um ihre Schulter und ein herzhafter Kuss landete auf ihrer Wange.

«Salve, Cousinchen, wie schnell doch ein Jahr vergeht.» Paolo strahlte sie an.

Giulia fiel ihrem Cousin um den Hals. Paolo schien einfach nicht zu altern. Er war wie immer unglaublich attraktiv mit seinem markanten Gesicht und den dunklen Haaren, in die sich lässig erste graue Strähnen mischten. Sein schlichtes weißes Hemd musste sündhaft teuer gewesen sein.

«Paolo, tesoro, lass dich drücken». Ihre Mutter ließ sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen und rauschte ihrem Neffen klirrend und klingelnd entgegen. «Wo ist denn deine Schwester mit ihrer entzückenden Familie? Die Kinder müssen doch jetzt schon riesig sein. Bei Giulia dauert es wohl noch ein Weilchen, bis sie …»

«Rebecca ist da hinten.» Paolo wies vage ins Dunkle. «Wenn du erlaubst, Tantchen, entführe ich dir jetzt erst einmal dein holdes Töchterchen.»

«Aber natürlich, mein Bester, macht euch einen schönen Abend, ihr Turteltäubchen …»

«Uff», sagte Giulia, als sie außer Hörweite waren. «Jetzt bräuchte ich erst mal was zu trinken.»

«Das sollte sich machen lassen.» Paolo zog sie zur aufgebauten Bar und schenkte ihr ein Glas Frizzante ein.

«Salute!» Er hob sein Glas. «Da wären wir also wieder, der ganze Clan.»

«Ich mag unsere Familie ja trotz aller Querelen irgendwie», sagte sie. «Sicher, die meisten sind ein wenig schräg. Aber diesen Luxus können wir uns erlauben – nach einigen Jahrhunderten im Umkreis der Kurie.»

«Du findest sie schräg?» Paolo trank einen Schluck Frizzante. «Die meisten sind doch eher etwas fade.»

«Was soll denn bitte an Tante Eugenia fade sein?»

«Tante Eugenia ist eine Ausnahme. Schillernder geht es wirklich nicht. Wie oft war sie verheiratet?»

«Fünfmal.»

«Ach ja, all die wechselnden Onkel im Laufe der Jahre. Wie hießen sie noch mal? Antonio oder Ottavio, glaube ich. Dann kam Pedro. Oder Giulio? Ah, und natürlich Onkel Riccardo. Die vielen Affären mal nicht mitgerechnet. Man munkelt, sie wäre als junges Mädchen sogar mal mit Richard Burton ausgerissen und musste von ihrem Vater wieder zurückgeholt werden …»

Giulia schwieg vielsagend.

«Doch wenn wir von Eugenia mal absehen: Was soll zum Beispiel an Tante Sophia schräg sein? Sie ist in erster Linie … langweilig.»

«Tante Sophia sammelt heimlich Teddybären. Sie hat einen ganzen Saal voll in ihrem Palast.»

«Das wusste ich nicht!» Paolo lachte. «Dann nehmen wir … Onkel Leonardo. Vornehme Ödnis und ein ungewöhnlicher Schnurrbart. Aber schräg?»

«Diesen albernen Bart trägt er nur, weil er seinen Friseur liebt. Einen sehr netten, älteren Herrn. Der kommt jeden Morgen in Leonardos Wohnung und bringt ihn in Form – den Bart, meine ich.»

Paolo verschluckte sich fast. «Du kennst sie wirklich gut, die Familiengeheimnisse. Mich würde mal interessieren, welche Geheimnisse dir bei mir einfallen.»

«Damit könnte ich ganze Bücher füllen.» Giulia lachte. «Und die meisten dieser Bücher hätten Mädchennamen als Titel: Letizia, Gloria, Aurelia …»

«An Aurelia kann ich mich gar nicht mehr erinnern, also können es keine wirklich aufregenden Geheimnisse gewesen sein. Außerdem zählen pubertäre Flirts nicht zu den wirklichen Geheimnissen.»

«Dann denke mal an den Caligulasommer. Die Ausflüge mit deinen Jungs. Euer Römer- und Cäsarenspleen.

«Das war doch nur eine Art … Kostümparty.» Paolo wirkte plötzlich verstimmt. «Nur, dass sie eben etwas länger dauerte. Was soll denn daran geheimnisvoll gewesen sein? Übrigens, gleich geht es los.» Paolo deutete auf Federico, der sich erhoben hatte. «Wohin wollen wir uns setzen?»

«In die Nähe der Alkoholvorräte. Und möglichst weit weg von meiner Mutter. Die erste Begegnung reicht mir für den heutigen Abend. Ich kann mir nämlich schon ungefähr vorstellen, wie es weitergeht. Nach dem Gejammere über den fehlenden Schwiegersohn kommt dann das Lamento über die undankbare Tochter. Sie hat mich am vergangenen Wochenende schon mit Vorwürfen überhäuft, weil ich zu ihrem Namenstag nicht zu Hause erschienen bin.»

«Was hast du stattdessen getan?»

«Ich habe den Papst auf seiner Pastoralreise nach Südamerika begleitet. Aber meine Mutter findet, das sei eine lächerliche Ausrede.»

In diesem Augenblick schlug Federico zwei Gläser gegeneinander.

Und die Familie nahm Platz.

*

Der Heilige Vater war außer Haus. Und Schwester Immaculata, Haushälterin seiner Heiligkeit, war entschlossen, diese Chance zu nutzen.

Rasch schritt sie den päpstlichen Flur entlang, den Wischmob in der rechten, den Eimer mit dem Putzzeug in der linken Hand. Am hinteren Ende lag ihr Ziel, die Privatkapelle des Heiligen Vaters. Befriedigt stellte sie unterwegs fest, dass alle Teppichfransen gerade ausgerichtet waren und alle Bilder exakt im rechten Winkel hingen.

Während der Abwesenheit des Heiligen Vaters hatte sie in der Wohnung einige Umgestaltungen vorgenommen. Die Fotografien italienischer Landschaften, die Petrus so liebte, waren durch traditionelle Papstporträts ersetzt worden. Wie sich das gehörte. Jetzt lockte nicht mehr das sündige Capri im Sonnenuntergang, sondern Papst Clemens XIII. sorgte mit erhobener Hand für Recht und Ordnung. Eigenhändig hatte sie die Gemälde in ihren schweren Goldrahmen vom Dachboden geholt, entstaubt und aufgehängt. Sie hatte eine kleine Schwäche für den mittelalterlichen Papst Innozenz III. mit seiner hohen Tiara, der den vierten Kreuzzug ausgerufen hatte und außerdem als Vorreiter der Inquisition galt. Würdig, streng und gerecht. Er hing jetzt auf dem Ehrenplatz in der Flurmitte.

Direkt neben dem großen Spiegel.

Ob sie sich die kleine Freude gönnen sollte? Sie würde es ja nicht aus Eitelkeit tun, sondern nur, um zu üben und Gott dem Herrn einen erfreulichen Anblick zu bieten.

Immaculata blieb stehen und stellte ihren Eimer ab.

Dann blickte sie in den Spiegel. Aber dort sah sie nicht Schwester Immaculata mit den gestrafften Haaren unter ihrer Nonnenhaube, mit dem schmalen Mund, der scharfen Falte auf der Stirn und dem durchdringenden Blick. Nein, sie sah die künftige Äbtissin des Ordens der Bußfertigen Begoninnen, wie sie voller Weisheit, vor allem aber mit unbeugsamer Strenge, die Geschicke ihrer Schar lenken würde.

Immaculata hob den Wischmob empor und stellte sich vor, es sei der Äbtissinenstab. Die Vorsteherinnen der Nonnenklöster trugen dieselben Insignien wie ein Bischof, das erschien ihr mehr als angemessen.

«Liebe Schwestern», begann sie, «ich danke euch für die Wahl.»

Nun, die Wahl würde sie erst noch gewinnen müssen. Aber das war eine reine Formalie. Wen sollten ihre Mitschwestern denn sonst zur Äbtissin erheben? Als Haushälterin seiner Heiligkeit verfügte sie über Erfahrungen, die keine Nonne aufweisen konnte. Und vor allem hatte sich keine Begonin so entschlossen gezeigt wie sie, das allgegenwärtige Böse zu bekämpfen: oberflächliche Heiterkeit, die modischen Ablenkungen des modernen Lebens, Freude an geistlosen körperlichen Verrichtungen wie der Nahrungsaufnahme. All diesen und noch vielen weiteren Versuchungen hatte sie abgeschworen.

Die Begoninnen benötigten eine Einpeitscherin auf ihrem Weg zum Heil. Und Immaculata war entschlossen, diese Aufgabe anzunehmen.

Aber bevor sie unter ihren Mitschwestern für Ordnung sorgen konnte, musste sie im päpstlichen Haushalt durchgreifen. Immaculata wollte sich gerade in Bewegung setzen, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten wahrnahm. Eine schnelle Bewegung. Und noch bevor sie sich rühren konnte, tauchte neben ihr im Spiegel ein großer, runder Schädel auf: Monsignore!

Wütend drehte sich Immaculata um. Der dicke rote Kater des Papstes war direkt hinter ihr auf die Kommode gesprungen und glotzte sie nun herausfordernd an. Sie hatte noch nicht herausgefunden, wie er es machte, aber Monsignore konnte sich zur doppelten Größe aufpumpen und wirkte dann durchaus furchteinflößend. Seine Haare standen ihm stachelförmig vom Körper ab.

Und für einen Moment meinte Immaculata, ein leises Fauchen zu hören.

*

«Meine Lieben!», begann Federico. «Es ist schön, euch wieder einmal hier versammelt zu sehen. Unbeschwerte Sommerwochen warten auf uns. Wir wollen sie genießen. Besonders freue ich mich, dass der Heilige Vater unter uns weilt. Petrus, mein alter Freund, wie schön, dich hier zu sehen!»

Er hob sein Glas und prostete allen zu. Trotz seines Alters hielt er sich immer noch aufrecht, sein volles weißes Haar stand in merkwürdigem Gegensatz zu seiner gebräunten, fast jugendlich wirkenden Haut und den stechend blauen Augen.

«Zum Glück neigt Federico ja zu kurzen Ansprachen», flüsterte Paolo zu Giulia. «Eine äußerst angenehme Eigenschaft. Mit etwas Glück essen wir in fünf Minuten die Vorspeise.»

«Wie ihr wisst, neige ich zu kurzen Ansprachen», sagte Federico und blickte in viele dankbare Gesichter. «Aber: Heute muss ich eine Ausnahme machen. Aus besonderem Anlass. Ich möchte mit euch über mein Erbe sprechen.»

«Dann kann es keine lange Rede werden.» Paolo grinste. «Das Erbe ist ja ziemlich überschaubar.»

«Bitte schenkt nach und lehnt euch zurück. Ich habe einige Platten mit Antipasti vorbereiten lassen. Wir müssen uns etwas Zeit nehmen. Es ist wichtig, dass ihr meine Pläne versteht.»

«Gleich wird er uns mitteilen, dass seine Briefmarkensammlung an die Samariter geht», sagte Paolo und schenkte ihnen beiden nach. «Und die kläglichen Reste seines Weinkellers an den Heiligen Vater.»

«Immerhin hat er ein Schloss zu vererben», wandte Giulia leise ein.

«Eine romantische Ruine», präzisierte Paolo. «Und die ist vermutlich mit Hypotheken belastet. Der glückliche Erbe erbt vor allem Schulden.»

«Jeder hier am Tisch glaubt, über unsere Familie Bescheid zu wissen», begann Federico. «Und darum wird es euch überraschen, was ich jetzt sage: Jeder hier am Tisch irrt sich.»

Der Kardinal wartete ab, bis sich das Gemurmel gelegt hatte. Dann lächelte er freundlich und fuhr fort.

«Wie denkt ihr über die Familie Santini, meine Lieben? Ungefähr so, vermute ich: Was sind wir doch für ein ehrwürdiges Geschlecht aus dem römischen Hochadel! Das hat zwar immer wieder Männer hervorgebracht, die für das Papstamt in Frage kamen und einmal sogar mit Erfolg. Zudem waren Tradition und Frömmigkeit die Werte, die die Familie pflegte, jahrhundertelang. Aber: Bedauerlicherweise ist dabei das Geld abhandengekommen. Wir sind also verarmt, wenn auch stolz und voller Würde … So ungefähr sehen wir uns, nicht wahr?»

Niemand widersprach. Alle warteten gespannt und etwas beunruhigt auf die große Neuigkeit, die er angekündigt hatte.

«Aber so sind wir nicht», sagte Federico. «Mag sein, dass wir ein würdiges Geschlecht sind – auch wenn mir immer wieder Geschichten zu Ohren kommen, über einige Anwesende, die nur wenig mit Würde zu tun haben. Doch eines sind wir ganz bestimmt nicht: arm.»

«Es wird doch jetzt nicht über den Reichtum des Glaubens predigen?», flüsterte Giulia. «Nach dem Motto: Die Santinis sind zwar arm, aber fromm.»

«Das wäre nicht seine Art», sagte Paolo. «Sentimental und verlogen war er eigentlich nie. Ich gebe zu, dass ich gespannt bin!»

«Lasst uns eine Zeitreise unternehmen, ihr Lieben. Zurück in unsere Vergangenheit. Im 16. Jahrhundert hat unser Geschlecht einen Tunichtgut hervorgebracht, einen Hasardeur. Er suchte sein Glück in den vielen Feldzügen dieser Jahre, kämpfte auf allen Seiten, wo auch immer man ihn benötigte. Dann schwängerte er eine Nichte, wurde aus dem Haus geworfen und zog wieder in den Krieg. Als Condottiere erwarb er große Ländereien. Und Schätze. Gold und Silber aus dem Orient, das er gut zu verstecken wusste, in einer Höhle an der neapolitanischen Küste. Bevor er starb, kehrte er zurück. Angeblich, um sich zu versöhnen. In Wirklichkeit hielt er Ausschau nach einem schwarzen Schaf, wie er es gewesen war, einem jungen, begabten Querkopf. Er fand diesen Mann – und vererbte ihm alles. Unter einer Bedingung: Der Rest der Familie dürfe nichts erfahren.»

Er sah in die Runde.

«Und tatsächlich: Der junge Erbe war begabt und klug, genau wie der Condottiere, von dem er seine Schätze bekommen hatte. Er beließ das Geld nicht in der Höhle, er investierte es. Und genauso taten es alle seine Nachfahren. Einer von ihnen gründete zum Beispiel eine Bank in Paris, finanzierte die Kriege Napoleons und zugleich die Kriege seiner Gegner. Der Schatz vermehrte sich. Die Familie hielt sich immer fern von diesen jungen Männern. Und so erfuhr sie nie, wie unermesslich reich sie geworden waren.»

Federico machte eine Pause, trank einen Schluck und blickte über die Tafel und alle Köpfe hinweg in die Ferne, zu dem großen Lichtermeer der Stadt Rom.

«So ging es weiter von Generation zu Generation. Einige bewahrten das Vermögen nur, die meisten vermehrten es. Einer von ihnen finanzierte sogar den Aufstieg der Agnellis. Während der Industriellen Revolution wurde er unermesslich reich, und während der beiden Weltkriege wurde alles in die Schweiz gebracht. Und dann, es ist nun einige Jahrzehnte her, wurde ich als Erbe eingesetzt.»

Federico wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war.

«Ich war schon zum Priester geweiht, aber viel zu unruhig, um Pfarrer zu werden. Es zog mich in den diplomatischen Dienst des Vatikans. Ich war im Ausland tätig, in verschiedenen Nuntiaturen, und längere Zeit in den Vereinigten Staaten. Ich interessierte mich für alle Länder, in denen ich tätig war. Ich erforschte sie geradezu.»

«Vor allem erforschte er die Damenwelt dieser Länder», flüsterte Paolo. «Sagt die Familienlegende.»

«Dabei eckte ich gelegentlich an und erwarb mir so den Ruf eines schwarzen Schafs. Eines Tages, ich war bereits Kardinal, rief mich Großonkel Antonio zu sich. Einige von euch werden sich noch an ihn erinnern. Er erzählte mir die Geschichte, die ich euch gerade erzählt habe. Dann diktierte er sein Testament, in meiner Anwesenheit. Er setzte mich als alleinigen Erben ein. Bald darauf starb er.»

«Dieser Halunke!» Paolo starrte fasziniert zu Federico, dann wandte er sich leise an Giulia: «Sein Leben lang hat er so getan, als sei er ein armer Schlucker.»

«Mir war bald klar, dass ich mein Leben ändern musste. Das Vermögen war bereits sehr groß, ich musste mich darum kümmern. Also zog ich mich zurück aus der Kurie, wurde Privatier. Viele von euch hat diese Entscheidung erstaunt. Es gab Gerüchte. Aber es waren nicht die Frauen, die mich veranlassten, meine Laufbahn aufzugeben.»

«Mag sein, dass es nicht nur Frauen waren. Aber es waren auch Frauen.» Frech grinste Paolo seine Cousine an.

Das sagt ja gerade der Richtige, dachte Giulia, verkniff sich aber die Bemerkung.

«Ich habe meine Karriere in der Kirche beendet, um das Familienvermögen zu bewahren. In aller Stille. In meiner Zeit an der amerikanischen Nuntiatur hatte ich die USA kennengelernt. Ich hatte kluge junge Männer getroffen. In New York. In San Francisco. Sie waren begeistert von Computern, wollten eine neue Welt gestalten und suchten jemanden, der sie finanzierte. Ich gab ihnen Geld, mit dem sie Firmen gründeten. In Garagen, Kellern, Hinterhöfen. Nicht alle Deals führten zum Erfolg, einige schon. Jedenfalls hat sich unser Familienvermögen beträchtlich vermehrt, meine Lieben.»

«Wenn das stimmt», murmelte Giulia, «dann war er einer der ersten Investoren im Silicon Valley. Und wenn er tatsächlich Anteile hält an den Blue Chips, dann …»

«Ich bin der Tradition gefolgt», sagte Federico. «Ich habe das Vermögen unserer Familie vermehrt und habe zugleich verschwiegen, dass es dieses Vermögen gibt. Der Tradition folgend.»

Er machte eine wirkungsvolle Pause.

«Sicherlich fragt ihr euch, weshalb ich nun mit dieser Tradition breche. Nun, der Grund ist sehr einfach: Über Jahrhunderte hinweg hatte der offizielle Teil unserer Familie immer genug Geld, um über die Runde zu kommen. Daneben gab es das schwarze Schaf, das heimlich den Schatz vermehrte. Jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, an dem ihr – jedenfalls die meisten von euch – restlos bankrott seid.»

Er sah freundlich in die Runde.

«Darum möchte ich die Familie und das heimliche Vermögen wieder vereinen. Aber nicht, indem ich das Geld einfach verteile – mit der Gießkanne, wie man so schön sagt. Denn was würdet ihr tun? Ihr würdet es verprassen, jeder auf seine Weise. Und in zehn Jahren stünden wir genau dort, wo wir heute stehen. Nein, meine Lieben. Ich habe einen anderen Plan. Einen Plan, den bislang nur der Heilige Vater kennt. Und diesen Plan möchte ich euch heute Abend mitteilen.»

*

Vorsichtig öffnete Immaculata die Tür zu Petrus’ Privatkapelle. Jetzt war ihre Stunde gekommen. Sie würde auch Kapelle und Sakristei, wie es ihre Pflicht war, einer gründlichen Reinigung unterziehen.

Und sie würde alle Hilfsmittel des Bösen finden.

War es nicht schon schlimm genug, dass Petrus die Abendstunden nicht für die Lektüre frommer Schriften nutzte, sondern bei seinen Saufkumpanen verbrachte? Weitaus schlimmer war es jedoch, dass er auch am heiligen Sonntag seinem Laster frönte. Immaculata hatte es zunächst sehr begrüßt, dass Petrus sich sonntags häufiger in seine Privatkapelle zurückzog, wo er für knapp zwei Stunden nicht gestört werden wollte. Ja, sie hatte den plötzlichen Sinneswandel sogar auf ihren guten Einfluss zurückgeführt. Wenn er die Kapelle verließ, wirkte er zuweilen ernst und bedrückt («Heute habe ich den Weg zu Gott nicht gefunden, liebe Immaculata.»), an anderen Tagen heiter und beschwingt («Heute stand der Himmel offen!»).

Das hatte sie irgendwie misstrauisch gemacht. Schließlich hatte sie angefangen, über die päpstlichen Befindlichkeiten Buch zu führen und festgestellt, dass Petrus immer dann spirituell gekräftigt wirkte, wenn seine Lieblingsmannschaft im Fußball gewonnen hatte.

Heute galt es, dieses Übel an der Wurzel auszurotten!

Die Kapelle hatte sie rasch überprüft. Sie bot kaum Versteckmöglichkeiten für einen Fernseher oder ähnliche Technik. Altar, Bibel, Gebetsbank – nichts.

Also die Sakristei.

Sie öffnete die Tür und bemerkte nicht den Kater, der ihr hinterherschlich und es sich zwischen den Altardecken und Paramenten bequem machte. Während Immaculata sich über einer Stunde lang vom Schrank mit den Priestergewändern über Kommoden mit Gerätschaften zur Heiligen Messe bis zu einem Regal mit alten Mess- und Gesangbüchern vorarbeitete, beschäftigte sich Monsignore intensiv mit den Spitzenborten und Troddeln an den verschiedenen Leinentüchern. Nachdem er seine Krallen geschärft und die einzelnen Fäden verteilt hatte, machte er sich an den besonderen Stolz der päpstlichen Haushälterin: die Kelchwäsche aus reinweißem Damast.

Währenddessen nahm Immaculata die vergilbten Bücher in die Hand und wischte mit angeekelter Miene die verstaubten Ledereinbände ab. Wie sollte man hier ein TV-Gerät verstecken? Bei einem dicken Band – dem Jahrbuch der Heiligen 1957 – stutzte sie. Er war zu leicht für seinen Umfang, und irgendetwas klapperte. Als sie das Buch aufschlagen wollte, stellte sie fest, dass es gar keine Seiten gab, nur einen kleinen Verschluss an der Seite, den sie nervös aufhakte: Das angebliche Buch erwies sich als Kästchen, in dem ein schwarz schimmerndes, flaches Gerät lag, wie es auch Contessa Giulia benutzte. Bezeichnete sie es nicht als … Tablett? Daneben lag, sorgsam zusammengerollt, ein Kabel.

Immaculata suchte nach einem Anschaltknopf, fand ihn und drückte ihn beherzt. Der Bildschirm flammte auf. Und zeigte kleine, beschriftete Symbole unter denen Gazzetta dello Sport, AS Roma und andere Begriffe standen, die ganz offensichtlich aus der Sphäre dieses rohen, geistlosen und dem Mammon verpflichteten Kampfspiels stammten. Dem Fußball!

Für einen kurzen Augenblick dachte sie daran, das Gerät einfach verschwinden zu lassen. Doch dann ging sie damit in die Küche und zog eine große Bratpfanne aus dem Schrank. Sie legte das schwarze Ding hinein, nahm einen Fleischklopfer zur Hand und ließ ihn so oft herniedersausen, bis nur noch winzige Stückchen aus Plastik und Glas in der Pfanne lagen.

In ihrem heiligen Zorn bemerkte sie nicht, dass Monsignore den Moment abpasste und sich durch den Türspalt in die sonst streng verbotene Küche quetschte. Er duckte sich unter dem großen Tisch, bis die Haushälterin den Raum wieder verließ. Die Tür zur Speisekammer würde er alleine schaffen.

Gewissenhaft trug Immaculata die Pfanne zurück in die Sakristei und füllte die Splitter in die Buchhülle. Kurz darauf kam sie noch einmal und legte einen Bogen des päpstlichen Briefpapiers dazu, auf dem sie in ihrer akkuraten Handschrift notierte: Du sollst keine Götter haben neben mir.

Das leise Knurpsen aus der Küche überhörte sie.

Jetzt konnte sie in Ruhe schlafen.

Samstag

Noch sieben Tage bis zur Hochzeit

Es war früh am Morgen, als Giulia hinunter in den Park ging.



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