House of Bane and Blood (Order and Chaos, Band 1) - Alexis L. Menard - E-Book

House of Bane and Blood (Order and Chaos, Band 1) E-Book

Alexis L. Menard

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Beschreibung

Peaky Blinders trifft Six of Crows – Gangs, Crime und „Rivals to Lovers“ in der magischen Unterwelt von Lynchaven


Nach dem Tod meines Vaters schwor ich mir, wenn ich jemals einem Attano begegnete, würde ich ihn töten. Stattdessen hatte ich einen geheiratet.

Einst war Camilla die mächtigste Erbin der Stadt – bis ein Attentat auf ihren Vater das Eisenbahnimperium ihrer Familie in Trümmer legt. Milla ist bereit, alles zu tun, um es zurückzuerlangen – sogar den Meistbietenden heiraten. Als ausgerechnet der Mann, der ihre Welt zerstört hat, anbietet, den Schuldenberg im Tausch gegen ihre Hand zu tilgen, bleibt ihr keine andere Wahl, als einen Deal einzugehen.

Nicolai Attano verkörpert alles, wovor sie immer gewarnt worden war: berechnend, skrupellos und auf gefährliche Weise attraktiv. Als Anführer des Attano-Clans beherrscht er die verbrecherische Unterwelt der Stadt und verfügt über tödliche magische Kräfte.

Camilla weiß, dass sie ihm nicht trauen kann. Doch Nico hat seine eigenen Beweggründe für ihre Verbindung: Ein Serienentführer, bekannt als „der Sammler“, treibt in den dunklen Gassen der Stadt sein Unwesen und schürt das Misstrauen zwischen den Einheimischen und den unterdrückten Reliktern – Menschen mit der Gabe, die Elemente, Licht und Schatten, Zeit und andere Menschen magisch zu beeinflussen. Milla soll ihm helfen, den Täter zu fassen und den drohenden Krieg zwischen den Stadtteilen zu verhindern. Gelingt ihr das, könnte sie mehr Freiheit gewinnen, als sie je zu träumen gewagt hat.

Der Deal führt sie tief in die dunkle Unterwelt der Stadt, wo mächtige Magie und arkane Wissenschaften miteinander konkurrieren. Als verbotene Gefühle für ihren Ehemann aufkeimen und dunkle Familiengeheimnisse ans Licht kommen, muss Milla sich ihrer Vergangenheit stellen – bevor sie und Nikolai in den Fängen des „Sammlers“ landen.

Wird Camilla den Mörder finden und lebend entkommen können – bevor der gefährlichste Mann der Stadt ihr Herz stiehlt?


Die neue Romantasy Obsession für alle, die morally gray love interests, verfeindete Mafiaclans, düstere Magie und spicy rivals-to-lovers-romance lieben. Für Fans von Quicksilver,Metal SlingerundSix of Crows.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 682

Veröffentlichungsjahr: 2025

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HOuse Of BanEAnd BlOOd

Order and Chaos

Alexis L. Menard

Impressum

EIN BUCH DER EDITION MICHAEL FISCHER

1. Auflage 2025

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe bei

© 2025 Edition Michael Fischer GmbH

Titel der Originalausgabe: Order and Chaos 1, House of Bane and Blood

Copyright © 2023 Alexis L. Menard

Coverdesign: © Gretchen Cobaugh, Lichen and Limestone

Karte von Lynchaven: © Andrés Aguirre

Character Art: © Bella Bergolts

Weitere Grafikelemente: © Shutterstock: Sergej Razvodovskij, Artvector_factory

Alle in diesem Buch veröffentlichten Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlags gewerblich genutzt werden. Eine Vervielfältigung oder Verbreitung der Inhalte des Buchs ist untersagt und wird zivil- und strafrechtlich verfolgt. Das gilt insbe­sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover­filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Aus dem Englischen übertragen von Doris Attwood

Cover, Layout und Satz: Carolin Mayer

Projektmanagement und Lektorat: Corinna Scherr

Herstellung: Vivienne Koehn

ISBN 978-3-7459-3083-2

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an

Edition Michael Fischer GmbH

Kistlerhofstr. 70

81379 München

[email protected]

www.emf-verlag.de

Inhalt

Hinweis

Widmung

Karte und Orden der Nachkommen

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

EPILOG

Danksagungen

Content note

Fortsetzung

Hinweis

Liebe*r Leser*in,

dieses Buch enthält potenziell Inhalte, die für manche Leser*innen belastend sein können. Hier findest du daher eine Content Note mit einer ausführlichen Liste, die Spoiler für das gesamte Buch enthält.

Bitte lies diese Geschichte achtsam und lege, falls nötig, eine Pause ein.

Wir wünschen dir viel Spaß beim Eintauchen in die Geschichte von Milla und Nico!

Dein EMF-Team

Widmung

Für alle, die sich bei dem Versuch, anderen zu gefallen, selbst verloren haben. Ihr könnt immer noch alles sein, was ihr sein wollt.

Karte und Orden der Nachkommenn

PROLOG

Beim harschen Schleifen einer der Zellenwände öffnete er blinzelnd die Augen. Er hatte nicht geschlafen. Er konnte hier nicht schlafen. Nicht bei all dem Raunen und Stöhnen, das unablässig durch die sich verschiebenden Wände zu ihm drang. Es gab keine Türen, keine Fenster, kein Licht, abgesehen von einer einsamen Kerze, die mit dem Boden verschmolzen war. Keinen freundlichen Laut jenseits der Schreie seiner Mitgefangenen und des tosenden Windes, der gegen die schwarzen Klippen der Insel peitschte und durch die Risse und Spalten in den Außenmauern der Festung pfiff. Hier gab es nichts als seinen gebrochenen Körper, seine seit Langem schwelende Rache und die beweglichen Wände, verrückbar wie in einem Kartenhaus.

Ein Besucher stand auf der anderen Seite der Öffnung, die nun aus seiner Zelle am Ende des Gangs hinausführte. Er setzte sich auf seiner Pritsche auf, die dünne Matratze mangels irgendeiner Wärmequelle ewig kalt. Der Mann vor ihm war in das typische Wickelgewand eines Wächters gekleidet und gehörte der Garde an, die dem High Overseer diente. Der goldene Gürtel um seine Taille verriet, dass er einen höheren Rang innehatte, der Ansammlung glänzender Medaillen auf der Brusttasche seiner Uniform nach zu urteilen, womöglich den eines Captains.

Es amüsierte ihn immer wieder, dass sie sich militärische Titel verliehen. Schließlich bedurfte es keiner Armee, wenn es keine Königreiche zu erobern und keine Kriege auszufechten gab. Die Wächter waren nichts weiter als Aufpasser, die in den Städten patrouillierten und den Willen der Inneren Kammer und der elitären Blutlinien durchsetzten, unter deren Einfluss sie standen.

»Steh auf!«, befahl der Wächter.

»Wozu?«

Sein Besucher gab ein genervtes Schnauben von sich. Als Gefangenem stand es ihm nicht zu, die Wächter zu hinterfragen. Es spielte keine Rolle, was sie von ihm wollten oder wohin sie ihn brachten, am Ende würde er sich ihren Forderungen ohnehin beugen – freiwillig oder mit Gewalt.

Der Wächter zückte einen Metallknüppel – eine nicht sonderlich subtile Form der Ermunterung. Wäre sein Relikt nicht durch all das Glint unterdrückt, mit dem sie ihn vollgestopft hatten, er hätte diesen Wächter auf den Rücken gelegt und ihm seinen Knüppel ganz tief dort hineingerammt, wo es noch finsterer war als in diesem verfluchten Loch.

Da er jedoch nicht über seine Fähigkeiten verfügte, hievte er sich widerwillig von dem rauen Boden hoch. Der schroffe Stein schnitt sich in seine schwieligen Hände und grub sich in seine nackten Füße. Es war unmöglich, irgendetwas anderes zu spüren als dieses ständige nagende Unbehagen. Ohne einen Blick auf die Striche an der Wand zu werfen – insgesamt 1432 –, mit denen er seine Zeit hier dokumentierte, folgte er dem Mann, der sich noch nicht mal die Mühe machte, die an seinem Gürtel befestigte Kette zu benutzen.

Er fragte sich, wie der Wächter dazu in der Lage war, die Wände entgegen des Zeitplans zu bewegen, denn die Zeit war die Herrin dieses Labyrinths, das die Kriminellen der Insel beherbergte. Keiner der Heiligen hatte seinen Nachkommen die Fähigkeit vermacht, die Mauern auf diese Weise zu bewegen. Sonst hätte er davon gewusst. Bei dem steinernen Schleifen der sich verschiebenden Mauern biss er die Zähne zusammen. Es war ein endloses Lied in diesem Gefängnis, und doch hatte er sich nie an die Melodie gewöhnt – das Kratzen traf ihn noch immer bis ins Mark.

Er trottete dem Wächter hinterher, mehrere Treppen hinauf, die unerwartet hinter einer weichenden Wand auftauchten. Die sich ständig verschiebenden Mauern verwirrten ihn so sehr, dass er vollkommen die Orientierung verlor und ihrem Weg nicht wirklich folgen konnte. Nicht, dass es wirklich eine Rolle gespielt hätte. Aus Hightower gab es kein Entkommen, und im Gegensatz zu dem Mann vor ihm konnte er mit seinem eigenen Relikt ohnehin keinen Stein bewegen.

Schließlich erreichten sie das oberste Stockwerk des Gefängnisses und befanden sich wieder über der Erde. Er wusste dies, weil er durch das Rundfenster über ihnen zum ersten Mal seit 1432 Tagen den Himmel sehen konnte. Grau und düster rann der Regen über das Glas, wie Tränen angesichts seines Schicksals. Als gäbe es doch eine göttliche Macht, der die Ungerechtigkeit in diesem Käfig nicht egal war. Alles war genau wie damals, vor all diesen Jahren. Er fragte sich, ob er die Sonne je wiedersehen würde. Ob er je wieder Wärme spüren würde. Unwahrscheinlich, schließlich saß er hier eine lebenslange Haftstrafe ab.

An diesem verrottenden Ort, tief im Inneren der Erde und fernab der Sonne und eines einzigen freundlichen Lächelns, hatte sich seine Hoffnung zu einem feinen Staub des Bedauerns zerrieben.

Das Erdgeschoss bestand aus einem runden leeren Raum. Er konnte sich noch vage daran erinnern, wie er an seinem ersten Tag durch diesen Raum geschleppt worden war. Der Gefängniseingang lag direkt vor ihm. Blendendes Licht umrahmte die Türflügel, das letzte Paar von unzähligen und das einzige hier, das in die stürmische Welt hinausführte. Er konnte das Salz in der Meeresbrise riechen – endlich etwas anderes als den Gestank seines eigenen Körpers und die Fäulnis seiner Zelle. Acht Korridore erstreckten sich rings um den Raum, wie die Beine eines Spinnentiers. Der Wächter gestikulierte mit seinem Knüppel in Richtung eines der Gänge.

»Dritte Tür rechts. Wenn du es wagst, in dem Zimmer auch nur die Hand zu heben, hacke ich sie dir ab, bevor du dem Inspektor irgendwelchen Schaden zufügen kannst«, warnte er ihn.

Der Gefangene schnaubte höhnisch. »Ich hab vor drei Tagen zum letzten Mal was zu essen gekriegt. Ein Zehnjähriger könnte mich in einem Kampf besiegen. Steck deinen Stock lieber wieder weg, bevor du dir damit noch selbst wehtust.«

Der Wächter funkelte ihn im Vorbeigehen wütend an, und er erwiderte den Blick mit ebenso tief empfundener Gleichgültigkeit. Doch irgendwo in seinem Körper fand er eine letzte Kraftreserve. Neugierig, warum ein Inspektor, der allein dem High Overseer unterstellt war, von allen Gefangenen ausgerechnet ihm einen Besuch abstattete, leistete er dem Befehl des Wächters folge und betrat das Zimmer in dem angewiesenen Korridor.

In dem Raum standen sechs Mitglieder der Garde, und er folgte ihren starren Blicken zu einem der Ledersessel und ließ sich darauf nieder. Ein Mann – der Inspektor, wie er annahm – saß ihm auf der anderen Seites des Teppichs in einem identischen Sessel gegenüber. Sein Rang war eindeutig an seinem schwarzen maßgeschneiderten Anzug erkennbar, der ihn wie eine zweite Haut umgab. An seinem Revers pinnte das Signum des Ordens der Inneren Kammer: ein goldener Adler, umrahmt von vier Edelsteinen in unterschiedlichen Farben zu Ehren der verschiedenen Heiligen.

Wenn man bedachte, wie erpicht das Regierungsgremium darauf war, seine heiligen Ursprünge zu achten, behandelte es seine Nachkommen wie den letzten Abschaum.

»Ihr könnt uns allein lassen«, wandte sich der Inspektor an seinen Wachtrupp. Die Männer schauten einander an, gehorchten jedoch und schlossen im Hinausgehen die Tür hinter sich. Der Inspektor schwenkte das bernsteinfarbene Getränk in seinem Glas und nippte daran, die Stille nur von einer Uhr irgendwo in der Nähe durchbrochen. Allem Anschein nach befanden sie sich in einem Verhörraum, mit kargen Mauern und einer gläsernen Decke. Spinde säumten die Wand hinter einem Tisch, um den keine Stühle standen. Der Raum war nicht auf Treffen wie dieses ausgelegt, das eindeutig vom Protokoll abwich.

Schließlich ergriff der Inspektor das Wort. »Na, sieh dich nur an. Beinahe hätte ich dich nicht erkannt. Du bist fast einen Kopf größer.«

»Ich war praktisch noch ein Kind, als Ihr Vorgänger mich hier eingesperrt hat«, spuckte er aus. »Ein Gefängnis wie dieses ist keine gesunde Umgebung für einen jungen Mann. Es verändert uns. Es hat mich verändert.«

Der Mann nickte, doch das Lächeln, das er zur Begrüßung aufgesetzt hatte, verblasste allmählich. »Wie dem auch sei, ich habe nicht viel Zeit, um mich mit dir zu unterhalten. Gewiss fragst du dich, warum du hier bist – und mit ›hier‹ meine ich diesen Raum. Du weißt, warum du nach Hightower geschickt wurdest.«

»Geht es meiner Familie gut? Ist irgendwas passiert?«

Der Inspektor winkte mit einer Hand ab. »Deiner Familie fehlt nichts. Ich will dir einen Deal vorschlagen – einen, der deine Strafe verkürzen würde.«

»Um wie viel?«

Das Lächeln des Mannes kehrte zurück – ein grausamer Anblick. »Um einmal lebenslänglich.«

Lebenslänglich. Diese Strafe hatte der Richter gegen einen Jungen von gerade mal sechzehn Jahren verhängt – wegen einer falschen Anschuldigung. »Wollen Sie damit sagen …«

»Ja.« Der Inspektor zog ein Blatt Papier hervor. »Ich habe einige Dinge zu erledigen, und ich brauche jemanden wie dich, dem ich diese Aufgaben übertragen kann.«

Er nahm dem Inspektor das Papier aus der Hand und las es aufmerksam durch, auch das Kleingedruckte. Es war ein Freispruch. Sein Freispruch. Sein vollständiger Name stand in schwarzer Tinte auf das frische Pergament geschrieben. »Was für Aufgaben?«, wollte er wissen. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Der Inspektor wusste, er würde sich auf diesen Deal einlassen. Es war, als würde er einen Knochen vor der Nase eines halb verhungerten Hundes baumeln lassen.

»Wir können hier nicht darüber sprechen. Aber ich will ganz offen sein: Die Sache ist gefährlich – mörderisch –, und falls du erwischt wirst, werde ich dir nicht dabei helfen, einer Anklage zu entgehen. Das Ganze darf unter gar keinen Umständen zu mir zurückverfolgt werden. Hast du das verstanden?«

»Sie wollen, dass ich jemanden umbringe.« Er selbst hatte so etwas noch nie getan, auch wenn die Männer in seiner Familie auf diesem Gebiet sehr versiert waren. Es war eine Art Initiationsritus, ein fester Bestandteil ihrer Lebensweise, geprägt vom ständigen Wetteifern rivalisierender Sippen.

Der Inspektor nickte, beobachtete die Reaktion des Gefangenen genau, vermutlich, um kein noch so winziges Anzeichen eines Zögerns zu versäumen. »Es ist zum Besten der Insel. Du würdest deinem Land einen großen Dienst erweisen.«

Doch dies war nicht sein Land. Seinesgleichen war hier nie willkommen gewesen, trotz allem, was sie für die Insel getan hatten. »Mein Cousin sitzt auch hier ein. Ich will, dass er ebenfalls freikommt. Dann haben wir einen Deal, Inspektor.«

Irritiert rümpfte der Inspektor die Nase, nickte dann jedoch. »In Ordnung. Er kommt ebenfalls frei. Aber solltest du diesen Vertrag brechen, werdet ihr beide die Konsequenzen dafür tragen. Ist das klar?«

Der Gefangene nickte.

Der Inspektor unterzeichnete den Freispruch, und die Wachen brachten dem Gefangenen die Kleider, die er bei seiner Ankunft hier getragen hatte. Inzwischen waren sie ihm mindestens vier Nummern zu klein. Dann überreichten sie ihm eine Uniform, und er folgte dem Mann, der ihm die Freiheit versprochen hatte, zur Eingangstür hinaus.

»Und vergiss nicht, mein Sohn«, warnte der Inspektor ihn, bevor sie an Bord des Schiffes gingen, das sie aufs Festland zurückbringen würde. »Solltest du es wagen, auch nur einen einzigen Befehl zu verweigern, werde ich dafür sorgen, dass du ohne Umschweife wieder genau hier landest.« Er wandte sich ab, ging an Bord und ließ ihn für einen Moment allein am grasbewachsenen Ufer stehen, wo der Ostwind seine Lunge mit frischer Luft füllte.

Noch war er nicht frei. Nicht wirklich. Er war bloß in einem neuen Gefängnis eingesperrt, das sich in die Farben der Freiheit hüllte. Doch als seine Füße auf die kahle Erde traten statt auf kalten Obsidian, sich die Wolken am grauen Himmel teilten und ihm die Sonne endlich wieder freigiebig ins Gesicht strahlte, spürte er in einem schattigen Fleck tief in seiner Seele neue Hoffnung keimen.

Die Ketten dieses Deals saßen nicht allzu straff. Er konnte wieder alles haben, auch wenn er die Drecksarbeit für den Inspektor erledigen musste. Alles, was er wollte, befand sich außerhalb von Hightower. Sein altes Leben, seine Familie, seine Rache.

Und – am allerwichtigsten – Camilla Marchese.

KAPITEL 1

CAMILLA

Zwei Jahre später

Mein Fahrer kam zu spät.

Ich hatte ihm auf die Minute genaue Anweisungen erteilt, wann er mich am Tor in unserer Einfahrt abholen sollte, und mit jeder über die vereinbarte Uhrzeit hinaus dahintickenden Sekunde raste mein Herz schneller. Falls mich irgendjemand erwischte und meine Brüder informierte, würde ich mich in einen noch dunkleren Fleck auf dem Stammbaum unserer Familie verwandeln. Glücklicherweise kam die Kutsche jedoch ein paar Minuten später in Sicht. Ich stieß erleichtert eine neblige Atemwolke aus und sprang hinein, noch bevor der Wagen richtig angehalten hatte.

»Wohin, Miss Marchese?«, fragte der Fahrer durch das Gitter.

»In den Ersten Sektor. Lass mich an der Ecke Burnwick und Dellany raus.«

»Aber Ma’am, das ist –«

»Ich weiß. Darum bezahle ich dich ja so gut«, erinnerte ich ihn. Er musste neu in unseren Diensten sein, wenn er es wagte, meine Anweisungen infrage zu stellen.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mich hinausschlich oder mich auf die andere Seite der Ada wagte. Giles hatte mir vor einiger Zeit von der Kneipe nahe der Kreuzung der beiden Straßen erzählt, in der der Met direkt vom Fass ausgeschenkt wurde. Seither riskierte ich an jedem dritten Samstag im Monat eine der endlosen Strafpredigten meines ältesten Bruders Aramis, während dieser die Nacht im Vasilli Hotel in der Innenstadt verbrachte und beim Kartenspielen das bisschen Geld riskierte, das wir noch hatten.

Heute Nacht würde jedoch vermutlich meine letzte Gelegenheit sein, mich davonzustehlen. Was für ein Mensch mein Verlobter auch sein mochte, ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht erfreut darüber wäre, wenn seine Frau sich auf die andere Seite des Flusses schlich, wo unsere Rivalen dank ihrer mächtigen Relikte herrschten. Doch es war das Risiko wert, um noch ein letztes Mal die Freiheit kosten zu können – oder, wie in diesem Fall, den letzten Schluck des herrlich kühlen Mets, der einem so wunderbar den Kopf frei machte.

Es war fast Mitternacht, als der Fahrer mich schließlich absetzte. Mir blieben nur ein oder zwei Stunden, wenn ich vor Aramis wieder zu Hause sein wollte, aber eine Stunde war alles, was ich brauchte. Nebelschwaden schlängelten sich um meine Knöchel, als ich mich der Eckkneipe näherte, so als wollten sie mich packen und von der Spelunke wegzerren, aus der das einzige Licht in die dunkle, verschlafene Straße drang.

House of Bane.

Die Kneipe war brechend voll, wie üblich. Ich zog die Kapuze von meiner Lockenmähne, hielt jedoch den Kopf unten, bis ich die Theke erreichte, die – abgesehen von zwei Männern, die auf den Barhockern ganz rechts saßen – aus irgendeinem Grund praktisch leer war. Auf dieser Seite des Flusses kannte mich niemand. Mein Nachame mochte hier vielleicht berüchtigt sein, aber mein Gesicht war genauso unauffällig wie das aller anderen in diesem Schankraum.

Der Barmann zögerte, meine Bestellung aufzunehmen, und warf den beiden Männern zu meiner Rechten einen fragenden Blick zu. »Stimmt was nicht?«, wollte ich wissen. Diese Dynamik war neu. Bei meinen letzten Besuchen hatte es nie Probleme gegeben.

»Natürlich nicht«, antwortete der Typ ein paar Plätze weiter für den Barmann. Er hatte das Kinn gesenkt und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, um seine Augen zu verdecken, die, wie sein leicht mir zugedrehtes Kinn vermuten ließ, auf mich gerichtet waren, während ich meinen Mantel über die Lehne meines Hockers hängte. Seine Züge waren durch den weißen Qualm verhüllt, der von einem in einem Aschenbecher steckenden Zigarillo aufstieg.

Er nickte dem Barmann zu. »Gib ihr einen Krug Met, Dom.«

Ich schnaubte verächtlich und funkelte den Mann an, der sich erdreistete, für mich zu bestellen. Auch wenn er damit nicht falschlag. »Was, wenn ich gar keinen Met will?«

»Das wollen alle Archaischen, die sich auf diese Seite der Stadt wagen.«

Ich runzelte die Stirn. »Woher willst du wissen, dass ich eine Archaische bin? Du kennst mich doch überhaupt nicht.« Es gab keine äußerlichen Merkmale, um Menschen mit Relikten von jenen zu unterscheiden, die keine besaßen – abgesehen davon, in welchem Teil der Stadt sie lebten. Er konnte also nicht wissen, dass ich als Reliktlose zu den Archaischen zählte. Es sei denn, er wusste doch, wer ich war. Ich ließ unauffällig die rechte Hand über den dünnen Stoff meines Kleids wandern, unter dem ein mit Glint präparierter Dolch in einer Scheide steckte, direkt oberhalb des Saums.

»Eben. Ich kenne dich nicht«, erwiderte er, während er seine Kippe ausdrückte. »Und ich kenne alle Nachkommen in Lynchaven, die hier verkehren. Was bedeutet, dass du von der anderen Seite des Flusses stammen musst.«

»Stammkunde?«, fragte ich, als Dom den Met auf dem polierten golden glänzenden Holz vor mir abstellte.

Er neigte den Kopf. »Könnte man so sagen.«

Ich trank einen Schluck. Kalt und frisch, mit einem Hauch süßen Honigs, rann das Getränk meine Kehle hinunter und schmeckte so köstlich, dass es mir nicht gelang, ein Stöhnen zu unterdrücken. Der Mann an der Theke drehte mir langsam wieder den Kopf zu, als hätte ich ihn mit dem Geräusch gerufen.

»Schmeckt’s?«, fragte er, ein Anflug von Erheiterung in seiner tiefen Stimme.

»Und wie.« Ich lächelte. Zum ersten Mal in dieser Woche, wenn mich nicht alles täuschte.

Mein Blick huschte in seine Richtung, und ich stellte fest, dass er mich immer noch ansah. Er hatte die Mütze abgenommen und seine Augen enthüllt. Im ersten Moment erinnerten sie mich an das allgegenwärtige Grau dieser Stadt, so als sei es in seinen durchdringenden Blick gesickert. Beim zweiten Hinsehen fiel es mir schwer, meine eigenen Augen wieder abzuwenden. Er sah auffallend gut aus und hatte ein beinahe unnatürlich süffisantes Grinsen im Gesicht.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, wollte ich wissen, als mir seine offensichtlichen Seitenblicke zu aufdringlich wurden.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Ich spielte nervös an dem perlenbesetzten Saum meines Kleids herum. Die Vorstellung, ihm näher zu sein, jagte ein Kribbeln durch meine Nervenbahnen. »Es wäre ziemlich unhöflich von dir, deinen Freund einfach allein hier sitzen zu lassen, findest du nicht auch?«, entgegnete ich, um auszuloten, wie weit er sich vorwagen würde.

Er winkte ab. »Ach, er wollte sowieso grade gehen. Hab ich recht, Cousin?« Ein alles andere als subtiler Knuff in die Rippen ließ den andern Mann von seinem Hocker aufspringen.

Er seufzte, leerte den Rest seines Brandys und schob das Glas dem Barmann auf der anderen Seite des Tresens zu. »Richtig, mir ist eben wieder eingefallen, dass ich ja noch was vorhab. Wir sehen uns morgen früh, Boss.« Er wandte sich mir zu und tippte sich zum Abschied an die Mütze. »Gute Nacht, Miss.«

Und dann saßen nur noch wir beide an der Theke, mit viel zu vielen Hockern zwischen uns.

Er schuf Abhilfe, indem er sich auf den Platz direkt neben mir setzte. Dom hatte sich zum anderen Ende des Tresens entfernt, um die restlichen Gäste von uns wegzulotsen und ihre Bestellungen dort aufzunehmen.

»Wie heißt du?«, wollte mein neuer Sitznachbar wissen, bevor er einen Schluck trank.

»Milla.« Es gab nur zwei Menschen auf der ganzen Welt, die mich so nannten, und einer von ihnen war tot. Es kam mir wie die sicherste Option vor – und war nicht wirklich eine Lüge.

»Milla«, wiederholte er langsam, als wollte er testen, wie es sich auf seiner Zunge anfühlte.

»Und du?«

»Nico.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Nur Nico?«

Seine perfekten Lippen verzogen sich zu einem neuerlichen Grinsen. »Für heute Nacht: nur Nico. Aber vielleicht kann ich dich ja überreden, noch mal herzukommen, um auch den Rest zu erfahren.«

Das schlechte Gewissen bohrte sich in mein Herz. Nicht wegen Felix, meinem Verlobten, sondern weil ich diesen Mann hatte glauben lassen, ich sei noch zu haben. Ich trank einen Schluck Met, um den bitteren Geschmack in meinem Mund hinunterzuspülen. »Leider ist das heute mein letzter Besuch hier.«

Er neigte den Kopf zur Seite. »Warum das?«

»Ich heirate morgen.« Ich hasste, wie viel realer es sich anfühlte, wenn ich die Worte laut aussprach. Noch realer als der Vertrag, der zu Hause auf meinem Schreibtisch lag.

Nico gab ein nachdenkliches Brummen von sich. »Ich sehe gar keinen Ring.«

»Das liegt daran, dass ich ihn um den Hals trage.« An der sprichwörtlichen Kette, an der mein Bruder Aramis mich gefangen hielt.

Ohne Vorwarnung streckte Nico eine Hand danach aus. Lederumhüllte Finger drückten sich auf meine Haut und strichen an meiner Kehle hinunter. Mir stockte der Atem, als sie ein paar Sekunden zu lange verharrten.

»Ich sehe aber kein Halsband. Für mich sieht es ganz so aus, als wärst du noch ungebunden.«

»Nicht alle Käfige werden mit Gitterstäben erbaut.« Einige, wie meiner, bestanden aus den Fesseln der Verantwortung und den Ketten familiärer Pflichten.

Die behandschuhten Fingerspitzen wanderten unter meinen Kiefer und drehten mein Kinn mit hauchzartem Druck in Nicos Richtung, bis ich ihn ansehen musste. »Diese Ehe wurde arrangiert, hab ich recht? Du willst diese Person eigentlich gar nicht heiraten.« Es war nicht direkt eine Frage, eher eine Feststellung. Und eine überaus akkurate noch dazu.

»Nein«, gestand ich schließlich, »aber das muss ich.«

Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich auf seinem Hocker zurück. »Niemand hält dir eine Pistole an den Kopf. Du könntest dem Ganzen auch einfach entfliehen.«

Ich lachte bei der Vorstellung. »Schön wär’s, aber leider ist meine Familie auf diese Heirat angewiesen, und ich bin es auch, wenn ich dafür sorgen will, dass es ihr gut geht.«

Er schaute mich weiter neugierig an. »Willst du trotzdem entfliehen, nur für heute Nacht?«

Mein Lächeln erstarb. »Was fragst du mich hier genau, Nico?«

Er nickte mit dem Kinn in Richtung der Band, die in der Ecke der Kneipe eine lässige Melodie spielte. »Willst du tanzen?«

Ja. Ja, verdammt. Auf jeden Fall. Nichts, was ich lieber täte. Schier endlose Möglichkeiten, sein Angebot anzunehmen, lagen mir auf der Zungenspitze und warteten nur darauf, ausgesprochen zu werden. Aber es war schon spät, und meine Kutsche würde bald zurückkehren. So reizvoll Nico auch war, er war den Ärger nicht wert, den ich mir mit meiner Familie einhandeln würde, wenn ich nicht rechtzeitig wieder zu Hause war.

Oder doch?

Ich ließ den Blick über den vollgepackten Kneipenraum zwischen uns und der Band schweifen. »Ich glaube, die Tanzfläche ist sowieso voll.«

»In der Tat.« Er winkte Dom herbei, und der Barmann lehnte sich über den Tresen, um hören zu können, was Nico ihm zuraunte. Obwohl er leise sprach, konnte ich drei Worte von seinen perfekten Lippen ablesen: Schmeiß sie raus.

Mit ehrfürchtigem Entsetzen sah ich zu, wie Dom sich von einem harmlosen Barmann in einen wahren Rowdy verwandelte, seine um die Taille gebundene Schürze abnahm und eine an seiner Seite steckende Pistole enthüllte. Er begann, Befehle zu bellen und die Leute anzubrüllen, sie sollten sich sofort verziehen, weil er Feierabend machte. Es dauerte keine drei Minuten, bis die verdutzte Gästeschar von den anderen Kneipenangestellten zur Tür hinausbefördert worden war.

Die Band hörte währenddessen keinen Takt lang auf zu spielen. Anschließend wandte Nico seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Und wie wär’s jetzt?«

Ich stieß ein nervöses Lachen aus, das mir ohne den üblichen Kneipenlärm viel zu laut vorkam. »Wer bistdu?«, fragte ich, faszinierter denn je.

Er erhob sich von seinem Hocker und bot mir seine Hand an, die noch immer in dem Handschuh steckte. »Nur ein einfacher Geschäftsmann.«

Doch bevor ich seine wartende Hand ergriff, forderte ich ihn heraus: »Dann zeig mir mal deine beste Verkaufsmasche.«

Er schob die Zunge zwischen seinen Lippen hervor und ließ sie über seine Zähne gleiten. »Ich habe vor, dich zu verführen, ganz einfach.«

Ich zuckte zusammen. »Das ist eine wirklich erbärmliche Masche!«

»Sie muss ja auch nur einmal funktionieren.« Erneut hielt er mir seine Hand hin.

Ich fädelte die Finger zwischen seine, vom Charme seines Lächelns überzeugt. Jegliche Bedenken, was mein Bruder davon halten würde, waren durch die Berührung seiner Hand wie weggefegt. »Also, nur mal so von einem Boss zum anderen«, sagte ich und folgte ihm in die Mitte des Raumes. »Du solltest eigentlich wissen, dass es schlecht fürs Geschäft ist, seine Kunden rauszuschmeißen.«

Er zog mich ganz nah zu sich heran, während er die andere Hand um meine Taille schlang. Und auch wenn er sich wie ein wahrer Gentleman verhielt, hatte die Art, wie sich diese Hand auf meinen Körper legte, etwas beinahe Verruchtes an sich und verführte meine Fantasie dazu, verbotene Bilder heraufzubeschwören.

»Verteilst du beim Flirten immer unaufgefordert geschäftliche Ratschläge?«

»Ungefähr genauso oft, wie du deine Kneipe für irgendwelche Frauen räumen lässt.« Ich ließ meine gespreizten Finger über die sanfte Wölbung seiner Brustmuskeln bis zu seinem Hals hinaufgleiten. Spürte seinen Atem, als er ein Seufzen ausstieß und mich ganz sanft mit der Hand auf meiner Hüfte näher zu sich heranschob, bis meine Brust nur noch einen Hauch von seiner entfernt war.

Er räusperte sich, sein leises Lächeln unerschütterlich. »Und wer ist dein Verlobter?«

Schon bei Felix’ bloßer Erwähnung erlosch sämtliche Hitze in meinem Körper wieder. »Warum willst du das wissen?«

»Damit ich weiß, wen ich heute Nacht in meinen Gebeten verfluchen muss.«

»Na, wenn das so ist«, erwiderte ich. »Sein Name ist Felix Firenze.«

Für einen flüchtigen Moment wirkte Nico komplett erstarrt, bevor er sich wieder fasste. »Der Alchemist, ja?«

»Du kennst ihn?«

»Ich hab ihn ein paarmal getroffen.« Seinem verbitterten Unterton nach zu urteilen, waren es keine angenehmen Erinnerungen.

»Dann hast du mir ein paarmal voraus.« Ich seufzte, spürte, wie mich das Gewicht meiner Fesseln und Ketten erneut niederdrückte, Glied für Glied, und meine Schultern sich senkten. Ich nahm die Hand von seinem Hals und ließ sie abwärtsgleiten, über sein Hemd und seine Weste, schwarz auf schwarz mit einer silbernen Krawatte. Für einen Kneipenbesitzer war er gut gekleidet. Die Band ging unterdessen nahtlos zum nächsten Song über und behielt den langsamen, sinnlichen Rhythmus bei.

»Lass uns nicht über diesen Mistkerl reden«, sagte er, seine Stimme wieder heller. »Heute Nacht gehört dir, Milla. Erzähl mir mehr von dir.«

Er ließ die Hand auf meinem Rücken ein wenig tiefer rutschen, drückte mich an sich, bis sich unsere Hüften im Einklang bewegten. »Was willst du wissen?«

Sein Grinsen kehrte zurück und drohte, mir sämtliche schmutzigen Geheimnisse zu entlocken. »Alles.«

Ich erzählte ihm nichtalles, aus offensichtlichen Gründen. Uns blieben schlicht nicht mehr genügend Stunden im Licht des Mondes, um ihm auseinanderzusetzen, dass ich die Alleinerbin eines seit mehreren Generationen bestehenden Eisenbahnunternehmens war und meine Brüder mir dies nur allzu spürbar verübelten. Genauso wenig konnte ich ihm erzählen, dass das Familienvermögen meinetwegen in Gefahr war, dass wir dem Orden der Inneren Kammer mehr als einhunderttausend Reoles schuldeten und dass die Firenzes nicht nur meine Hand, sondern auch einen Teil der Firma kaufen würden.

Ebenso unmöglich war es mir, ihm zu verraten, dass mein vollständiger Name Camilla Marchese war, weil dem Namen auf dieser Seite der Stadt ein Ruf vorauseilte, der mir den Tod hätte bescheren können – oder noch schlimmer: eine Erpressung.

Stattdessen plauderten wir über meine Kindheit, darüber, wo ich aufgewachsen war und was ich mit meinem Leben anstellen würde, wäre ich nicht einem Alchemisten versprochen. Und irgendwie führte uns unsere Unterhaltung schließlich zu der langen Liste meiner Allergien.

»Wie kannst du gegen so viele Dinge allergisch sein? Was kannst du überhaupt essen?« Er verzog das Gesicht, als fände er meine kleinen Abweichungen von der biologischen Norm geradezu lächerlich.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich ernähre mich sehr ausgewogen von Brot, Wild und Whisky. Und Met vertrage ich offenbar auch. Ich hatte bereits drei Krüge von dem Zeug, und bisher ist noch nichts angeschwollen.«

Er schüttelte skeptisch den Kopf. »Das klingt unglaublich mühsam.«

»Ungefähr so mühsam wie deine Frisur für denjenigen, der dir die Haare schneidet.«

»Was stimmt denn nicht mit meinen Haaren?«

Ich lächelte. »Gar nichts. Ich habe nur noch nie einen Mann mit Händen wie deinen getroffen, der so piekfein aussah. Du musst doch mindestens einmal in der Woche zum Friseur gehen, damit der Undercut so perfekt bleibt.«

»Piekfein«, schnaubte er verächtlich. »Du stolzierst in deinem Livetan-Seidenfummel und deinen Romani-Hacken hier rein und besitzt die Stirn, mich als piekfein zu bezeichnen.« Als ich endlich aufhörte zu kichern, fragte er: »Und was meinst du bitte mit ›Hände wie meine‹?«

Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. »Gar nichts.«

»Milla«, hauchte er mir zu, »du wirst schon bald für immer aus meinem Leben verschwinden. Du kannst mir alles sagen, weil es keine Rolle mehr spielen wird, sobald die Sonne in ein paar Stunden aufgeht.«

In ein paar Stunden? Heilige, ich müsste schon längst wieder zu Hause sein. Aber er hatte recht: Nach heute Nacht würde ich ihn nie wiedersehen. Und selbst wenn wir uns wie durch ein Wunder noch einmal begegnen würden, könnte ich niemals seine Milla sein. Am Morgen wären wir beide nur noch eine Erinnerung füreinander. Ich umschloss seine behandschuhte Hand mit meinen eigenen und verflocht unsere Finger miteinander.

»Ich werde nicht so tun, als hätte ich eine Menge Erfahrung damit, von einem Mann berührt zu werden«, begann ich, »aber in deinen Händen liegt eine Kraft, die selbst in ihrer sanftesten Form etwas Besitzergreifendes an sich hat. So als wüsstest du genau, was du wolltest – und hättest keine Angst, es dir zu nehmen. So etwas habe ich noch nie zuvor in einer einzigen Berührung gespürt.«

»Kraft?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Begierde.«

Seine Augen loderten, und sein Blick glitt zu meinen Lippen. »Dom?«

»Ja, Sir?«

»Verschwinde.«

Dom verzog sich anstandslos, ohne zumindest das Glas aufzuräumen, das er gerade abgetrocknet hatte.

Nico hob unsere miteinander verwobenen Hände an seine Brust und legte sie auf sein Herz. »Du glaubst, ich würde dich begehren, Prinzessin?«

Ich war vielleicht unerfahren, aber nicht naiv. Der Met war die Hauptquelle dieses neuen Selbstbewusstseins, an dem es mir noch Stunden zuvor gemangelt hatte. Ich lehnte mich ein winziges Stück vor und lenkte schamlos seinen Blick auf den aufklaffenden Ausschnitt meines Kleids, der eine Ahnung meiner Brüste erkennen ließ.

»Tust du das denn nicht, Nico?«

Seine Antwort kam ihm zu langsam über die Lippen. »Doch.«

Oh Heilige.

Er führte meine Hand an seinen Mund und drückte einen federzarten Kuss auf meinen Handrücken, den ich überall spürte. »Würdest du gern nach oben gehen? Dort hätten wir ein bisschen mehr Privatsphäre. Ich habe in meinem Leben so viel Scheiß durchgemacht, den ich am liebsten vergessen würde, aber nicht vergessen kann. Vielleicht können wir einander heute Nacht ja gegenseitig helfen.«

»Ich hab noch nie …« Ich schaute auf meinen leeren Krug hinunter. Was versuchte ich, ihm zu gestehen? »Ich steig mit niemandem ins Bett.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wir können tun, was immer du willst. Reden. Küssen. Schlafen. Nicht schlafen. Ich will nur nicht, dass du schon nach Hause gehst. Und davon abgesehen komme ich, falls du mich für den Rest der Nacht allein lässt, womöglich auf die Idee, deinen Verlobten ausfindig zu machen und ihn zu töten.«

Giver und Greed. Ich hatte das ungute Gefühl, er könnte es absolut ernst damit meinen.

Er war wirklich überzeugend – und mal ehrlich: Was hatte ich schon zu verlieren? Morgen würde ich den Rest meines Lebens aufgeben, um meine Familie zu retten, also durfte ich mir doch sicher ein paar Stunden lang die Freiheit erlauben, meinen eigenen Bedürfnissen nachzukommen. So wie ich die Sache sah, bot sich mir hier eine einmalige Gelegenheit.

Ich musste irgendetwas Leichtsinniges tun, bevor ich mich für immer an diesen obsessiven Chemiker band. Für mich selbst. Und für die Neugier, die sich irgendwann in Bedauern verwandeln würde, wenn ich Nico abwies. Davon abgesehen wollte ich nicht Felix’ Blut an meinen Händen kleben haben.

Noch nicht.

Ich brauchte sein Geld.

Also nickte ich schließlich und griff nach dem Geldbeutel in meiner Manteltasche. »Lass mich nur noch schnell bezahlen. Wir treffen uns dann an der Treppe.«

Nicos Grinsen kehrte zurück, süffisanter denn je. »Geht aufs Haus, Prinzessin.«

Dann schnappte er sich meine Hand und zog mich voller Schwung von meinem Hocker.

Über der Kneipe befand sich eine Wohnung. Nico murmelte irgendetwas davon, dass sie ihm gehörte, aber ich hörte gar nicht richtig hin, und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht. In der Sekunde, in der ich meinen Mantel auf das Sofa warf, packte er mich mit beiden Händen an den Hüften, während ich meine eigenen Finger um seinen Hals schloss und von dort in seine zu einem perfekten Fade Cut geschorenen Haare hinaufkrabbeln ließ.

»Ich muss dich warnen«, flüsterte ich in seinen Mund, als er sein Gesicht ganz dicht zu meinem herabsenkte. Edler Brandy färbte seinen Atem, begleitet von einem Parfümduft aus Sandelholz und Vanille. »Ich hab überall an meinem Körper glintbeschichtete Klingen versteckt, die du niemals entdecken wirst.«

»Soll das eine Herausforderung sein?«

»Wenn du eine brauchst.«

»Sieben Höllen«, hauchte er. »Ich will dich küssen.«

Mein Mund wurde ganz trocken. Sämtliches Selbstbewusstsein, mit dem ich hier heraufstolziert war, war komplett verpufft. Ich nickte trotzdem. »Warum tust du es dann nicht?«

»Weil du mich nicht darum gebeten hast.« Er senkte den Kopf noch tiefer, an meinen Lippen vorbei. Seine Nasenspitze glitt an meiner Kehle entlang, neckte meine Haut mit der noch intensiver kribbelnden Berührung. Aus dem Augenwinkel nahm ich ein ungemachtes Bett vor der Wand wahr, dank des einzigen Fensters darüber in Mondlicht getaucht. Die weit geöffneten Vorhänge gaben den Blick auf die halbe Straße und den von Sternen umgebenen Vollmond frei.

»Wollen wir es uns nicht ein wenig gemütlicher machen?«

Ein zustimmender kehliger Laut ließ seinen Körper unter meinen Handflächen beben. Er löste die Hände von meiner Taille und legte sie um meine Finger, bevor er mich zum Bett führte, sich auf der Bettkante niederließ und mich sanft auf seinen Schoß hinunterzog. Als er mein Zögern bemerkte, raunte er mir zu: »Wir können aufhören, wann immer du willst, Milla. Aber ich flehe dich an, bleib noch für eine Weile bei mir.«

Ich lächelte, weidete mich an dem Bitten in seinen Augen und genoss die Macht, gewollt zu werden. Nachdem ich ein Leben lang nie wirklich die Kontrolle besessen hatte, war es ein gutes Gefühl, sie endlich zu spüren. Vor allem, wenn sie mit dem netten kleinen Bonus von Nicos Berührungen verbunden war.

Auf seinem Schoß sitzend schlang ich die Beine um seine Taille, während sich meine Hände auf seinen breiten Schulterblättern sofort wie zu Hause fühlten. Wie von selbst presste sich meine Mitte gegen die mächtige Wölbung in seiner maßgeschneiderten Hose, die nur allzu deutlich machte, wie sehr er mich begehrte. Ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um nicht gegen seine Hüften zu schaukeln und meinem eigenen Verlangen nachzugeben.

»Milla?«, wisperte er, sein Blick auf meinem Arm. »Hat sich deine Tätowierung gerade bewegt?«

Mein ganzer Körper versteifte sich, und ich starrte auf meine Schulter. Tatsächlich: Das tintenschwarze Tier schlängelte sich an meinem Arm hinunter und kroch ganz langsam auf den Mann am Ende meiner Fingerspitzen zu. Ich gab der Schlange einen Klaps auf ihren rautenförmigen Kopf, und sie kroch wieder an meinem Arm hinauf und über meine Schulter, bevor sie sich unter dem Stoff meines Kleids versteckte.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich mit einem gehauchten Lachen. »Das ist nur meine Vertraute. Sie kann dich nicht beißen oder so.«

»Ein Jammer«, murmelte er, und Grübchen bohrten sich in seine Wangen. »Wozu hast du sie?«

»Zu meinem Schutz«, erwiderte ich und schmiegte mich noch enger an seine Hüften. Vertraute wie meine Schlange waren eine Seltenheit, selbst in der Row, in der Magie zum alltäglichen Leben gehörte.

»Schutz?«, wiederholte er. »Ich dachte, du steigst mit niemandem ins Bett.«

Ich schlug ihm sanft auf die Schulter. »Nicht die Art von Schutz.«

Er lachte und strich mit den Fingern an der Außenseite meiner Oberschenkel entlang. Dankbar, dass er das Thema auf sich beruhen ließ, legte ich beide Hände an sein Gesicht. Ich wusste selbst nicht, was in mich gefahren war – so etwas tat ich normalerweise nicht. Ich küsste keine Fremden oder ging mit irgendwelchen Männern in ihre Wohnungen über ihrer Kneipe. Todsicher würde ich die ganze Sache am nächsten Morgen bitter bereuen, aber ich wollte lieber seinetwegen Reue empfinden, als niemals zu wissen, wie es gewesen wäre.

Er war ein Fehler – der schönste, den ich jemals begehen würde.

»Zieh deine Handschuhe aus«, befahl ich ihm. Ich wollte seine Haut auf meiner spüren, die Wärme seiner Hände durch den dünnen Stoff meines Kleids.

»Na schön, aber … verfall nicht in Panik«, erwiderte er brummend, bevor er gehorchte.

»Warum sollte ich – oh.«

Als ich den Blick auf seine linke Hand richtete, musste ich feststellen, dass sie komplett aus Metall bestand. Die Prothese verfügte über vergoldete Röhrenfinger, die am Handgelenk mit einem Geflecht aus soliden Metallzylindern verbunden waren, die seinen Unterarm bildeten. »Oh, wow. Wie kannst du … Wie funktioniert sie?«

Er wackelte mit den Metallfingern, während ich sie, vollkommen fasziniert, genauer betrachtete. »Die Röhren sind hohl, und ich kann die Luft darin mithilfe meines Relikts manipulieren, um sie zu bewegen. Anfangs war es gar nicht so einfach, es richtig zu lernen, aber inzwischen kann ich die Hand genauso mühelos benutzen wie meine echte.

»Das ist unglaublich. Du bist ein Bender?« Es ergab Sinn. Der Heilige Bane war aus den Händen des Schöpfers geformt worden. Mit seinem Relikt konnte man die natürlichen Elemente beherrschen, sogar Schall und Zeit, falls ein Nachkomme das Glück hatte, diese seltene Gabe zu erben.

Nicos stolzes Grinsen verblasste langsam. »Ja.«

Falls er glaubte, es würde mich nervös machen, dann irrte er sich. Nachkommen schüchterten mich nicht ein, ebenso wenig wie ihre Fähigkeiten. Beide ließen sich ganz leicht mit den an meinen Oberschenkel geschnallten Klingen ausschalten, über die er gerade mit der Spitze seines Zeigefingers strich.

»Wo hast du die her?«, wollte er wissen.

»Meine Messer?«

»Nicht deine Waffen, Prinzessin.« Sein Lächeln blitzte wieder auf. »Diese Narben.«

Mit einer sanften Berührung folgte er der wulstigen, blassrosa Spur auf meiner Haut, die sich von der Rückseite meiner Oberschenkel meinen ganzen Rücken hinauf und bis zu meiner linken Schulter erstreckte. Ich zuckte ebenso gleichgültig mit den Achseln, wie er es vorhin getan hatte. »Ein Feuer. Ich habe vor einigen Jahren ein Zugunglück überlebt. Eine tapfere Seele hat mich aus dem Wrack gezogen, sonst wäre ich heute nicht mehr hier.«

Seine Hand verharrte, und er blinzelte ein paarmal, bevor er sagte: »Ein Zugunglück? Das … das muss wirklich traumatisch gewesen sein.«

Ich nickte. Das elektrische Knistern zwischen uns flaute ein wenig ab. Nico schien es ebenfalls zu spüren, denn er packte meine Schenkel nur umso energischer, bevor er nach hinten kippte und mich zur Seite rollte, bis wir nebeneinander lagen, unsere Körper ineinander verflochten. Meine Schuhe waren mir irgendwo zwischen der Tür und dem Bett abhandengekommen.

»Wirst du mich jemals küssen, Nico?«, fragte ich ihn.

Er zeigte mir sein typisches Grinsen, eine Faust nachdenklich unter seinem Kinn. Dann, endlich, stützte er sich über mir auf und beugte sich zu mir herab, immer tiefer, bis unsere Lippen einander hauchzart berührten. Nicht mehr als ein sanftes Streicheln, gefolgt von einem sanften Knabbern seiner Lippen an meinen, und dennoch raubte es mir den Atem und machte mich ganz schwindlig.

»Warum hast du mich nach hier oben eingeladen?« Ich blinzelte die vor meinen Augen tanzenden Sterne weg.

»Weil ich finde«, antwortete er, strich mir das Haar aus dem Gesicht und erforschte mit dem Finger die Linie meines Kiefers, »dass du das Allerschönste in dieser ganzen Stadt bist, Milla. Und ich bin ein großer Bewunderer schöner Dinge.«

So, wie er es sagte, glaubte ich ihm jedes Wort. Meine Brust hob und senkte sich wie Meereswellen in einem Sturm, und doch hatte ich das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen. Wenn ich noch länger hierblieb … tja, dann wäre ich zumindest nicht mehr so unerfahren.

Ich schluckte. »Ich sollte jetzt gehen, Nico.«

Er nickte langsam. »Ich fahre dich.«

»Ich kann mir eine Kutsche rufen –«

»So spät fährt niemand mehr in die Row. Lass mich dich nach Hause bringen.« Er führte meine Hand an seine Lippen und drückte einen sehr überzeugenden Kuss auf die Innenseite meines Handgelenks. »Ich würde den Verstand verlieren, wenn dir auf dem Nachhauseweg irgendetwas passieren würde, nachdem ich dich die ganze Nacht hierbehalten habe. Gewähre mir noch etwas mehr Zeit mit dir. Bitte.«

Er schien nicht der Typ Mann zu sein, der oft um etwas bat. In der Annahme, dass er inzwischen tatsächlich meine einzige Option war, willigte ich schließlich mit einem Schulterzucken und einem zögerlichen Lächeln ein. Und überhaupt: Wenn er sich als Nachkomme sicher genug fühlte, den Fluss zu überqueren und sich in die Distrikte zu wagen, dann würde ich seine Bitte nicht ablehnen.

Nicos Wagen stand in der Gasse hinter der Kneipe. Es saß kein Fahrer auf dem Kutschbock, aber das war nicht ungewöhnlich. Als Kneipenbesitzer war er vermutlich darauf bedacht, die Personalkosten so niedrig wie möglich zu halten.

»Du hast deinen Mantel vergessen«, bemerkte ich, als ich mich neben ihn auf den Fahrersitz setzte.

Er zog sich die Mütze tief in die Stirn. »Ich schätze, dann musst du wohl dafür sorgen, dass mir schön warm wird, Milla. Wohin?«

»Bellagio Street. Das ist –«

»Auf der Ostseite der Stadt. Wusste ich doch, dass du ein reiches Mädchen bist.« Er zwinkerte mir zu.

Wir hörten auf, einander zu necken, als er die Pferde über die Brücke lenkte, doch unsere Körper schienen nahtlos dort anzuknüpfen, wo wir in seiner Wohnung aufgehört hatten. Ausnahmsweise war ich dankbar für die beißende Kälte der frühen Winterwochen – sie dämpfte die Hitze ein wenig, die dieser Mann unter meiner Haut entfachte.

»Ich sehe hier kein Haus«, bemerkte er, als ich ihn schließlich bat, anzuhalten.

Ich lächelte über seine Verwirrung. »Von hier aus gehe ich zu Fuß.«

Die Hauptstation der Iron Saint Railway war nur ein paar Blocks von zu Hause entfernt. Nachts allein war dies der sicherste Weg – und die beste Möglichkeit, zu verhindern, dass er mir folgte. Ich hatte heute Nacht ein gefährliches Spiel gespielt, indem ich diesem Relikter so nahegekommen war. Wenn er jetzt auch noch meinen Nachnamen erfuhr, steckte ich in ernsten Schwierigkeiten. Als Bane-Relikter könnte er mich den größten Rivalen meiner Familie ausliefern: den Attano-Bendern. Und, bei allen Heiligen, sie verfügten definitiv über das nötige Kleingeld, um ihn für meine Entführung großzügig zu belohnen.

Bei dem Gedanken daran unterdrückte ich ein Schaudern.

Er brachte die Pferde zum Stehen, und ich wandte mich ihm zu, um mich gebührend für seine Chauffeurdienste zu bedanken. »Es war mir ein Vergnügen, Nico. Danke für den bezaubernden Abend und die Fahrt nach Hause. Ich hoffe, dies ist nicht das letzte Mal, dass sich unsere Wege kreuzen.«

Er hob meine Hand an seine Lippen und drückte einen langen Kuss auf meinen Handrücken, bevor er sie durch seine Finger wieder in meinen Schoß gleiten ließ. »Irgendetwas sagt mir, dass wir einander schon bald wiederbegegnen werden, Milla.«

Beinahe hätte ich ihn gefragt, wie er sich da so sicher sein konnte, doch im selben Moment schlug die Turmuhr viermal und erinnerte mich daran, dass ich Wichtigeres zu tun hatte. Also warf ich ihm einen letzten verstohlenen Blick zu, um mir diese stählernen Augen, die mir ein solches Gefühl der Sicherheit gaben, gut einzuprägen, bevor ich ihn schließlich davonwinkte. Erst als seine Kutsche im Zwielicht verschwunden war, setzte ich meinen Nachhauseweg fort und betete zu allen in der Leere verlorenen Heiligen, dass Nicos Gefühl ihn nicht trog.

KAPITEL 2

CAMILLA

Eine lange Schwade aus weißem Rauch trennte die Stadt und den Himmel, als die Dampflok mit einem Pfeifen die Abfahrt des Zuges verkündete. Ich sah ihm durch den Regen nach, der an der Fensterscheibe hinabrann, lauschte dem fordernden Rattern und Zischen meiner ererbten Bürde. Das Zusammenspiel aus verbrannter Kohle, kochendem Wasser und pumpenden Kolben hatte sich zur wichtigsten Waffe meiner Familie auf diesem Fleckchen Land entwickelt. Relikter besaßen Magie, aber wir hatten etwas noch Besseres: Wissenschaft. Wir hatten Dampf.

Doch uns stand auch ein Krieg bevor.

Mein ältester Bruder, Aramis, stand neben Inspektor Gavriel Hawthorn, der einen Räumungsbefehl in der Hand hielt. Sieben Generationen von Marcheses hatten in diesem Büro gesessen und durch dieselben Milchglasfenster auf die Stadt hinausgeblickt, die uns einst gehört hatte. Doch nun begann das Imperium, das sie einst mit Blut, Schweiß und Tränen erbaut hatten, langsam, aber sicher zu bröckeln. Und das meinetwegen.

Doch dann hatte sich uns, in allerletzter Sekunde, ein Ausweg aus diesem Desaster eröffnet. Ich musste dafür nur alles verlieren.

»Es ist also alles unterzeichnet?«, fragte der Inspektor.

»Fast.« Ich zwang mich mit zusammengebissenen Zähnen zu einem Lächeln, rollte den Vertrag wie eine Zigarre auf und wünschte mir, ich könnte ihn mit meinem Feuerzeug an einem Ende in Brand stecken. Ich tippte auf den Schreibtisch und dachte noch einmal über das am Tag zuvor eingetroffene Angebot nach.

Felix Firenze.

Vater würde sich im Grabe umdrehen, könnten die Toten durch die dichten Nebel von Oblivion blicken. Die Firenzes regierten im Wasserdistrikt, einem der vier Territorien, in die die Stadt inoffiziell unterteilt war. Die Alchemistenfamilie verband Magie mit Wissenschaft und sorgte dafür, dass in der Stadt nie das Licht ausging. Von viel größerer Bedeutung war jedoch, dass ihr Glint Archaische vor den Reliktkräften der Heiligen und deren Nachkommen schützte. Mit dem Zeug ließen sich Klingen und Munition beschichten, man konnte es aber auch wie eine Pille schlucken, um vor sämtlichen Formen von Magie sicher zu sein.

Mit seinen großen Händen strich Aramis die maßgeschneiderte Hose seines Dreiteilers glatt. Er war komplett in Schwarz gekleidet, bis auf die Silberkette in seiner Westentasche und das platinblonde Haar, das alle meine Geschwister teilten.

Er gestikulierte in Hawthorns Richtung. »Camilla muss nur noch die Heiratspapiere unterschreiben, dann ist alles erledigt, Inspektor. Wir können dem OIK eine vollständige Bezahlung vor Quartalsende garantieren. Einhunderttausend Reoles, um genau zu sein.«

Der Inspektor lächelte, wirkte jedoch nicht überzeugt.

»Also, was passiert als Nächstes? Der OIK bekommt sein Geld, und ich verliere sowohl meinen Sitz in der Firma als auch meinen Platz in diesem Syndikat.« Ich schüttelte den Kopf. »Mit dieser Vereinbarung bin ich nicht einverstanden. Vater hat dieses Unternehmen aus gutem Grund mir hinterlassen. Er hat mir vertraut, und ich habe nicht vor, ihn zu enttäuschen.«

Ein Muskel zuckte im Kiefer meines Bruders. Diese ganze Sache war ein sensibles Thema und eine Tortur für uns alle. »Du wirst deinen Platz hier niemals verlieren, ebenso wenig wie deine Erträge als Hauptaktionärin«, erwiderte er. »Du kannst dich vielleicht nicht mehr an unseren Krieg mit den Attanos vor einigen Jahren erinnern, aber Vater musste unsere Kassen komplett leeren, um wiederaufzubauen, was wir dabei verloren hatten. Heirate diesen Jungen, Milla, dann gewinnen wir wieder die Oberhand. Denn wenn wir kein Geld haben, um unsere Schlachten zu finanzieren, dann lassen sie uns mit Blut dafür bezahlen.«

Mir entging die subtile Drohung nicht, die in seinen Worten mitschwang, in der Erinnerung daran, was der letzte Krieg uns gekostet hatte. Es war an der Zeit, die Schulden mit dem OIK und meiner Familie zu begleichen.

Der Inspektor räusperte sich. Beinahe hatte ich vergessen, dass er auch noch da war. Er fungierte als Mittelsmann der Firenzes, für die er praktisch arbeitete. Die Familie gehörte zu den wichtigsten Förderern der Society – einer Sonderabteilung der Wächter, die sich um die Einhaltung der Reliktgesetze kümmerte – und zeigte sich überaus großzügig mit ihren Geld- und Glintspenden an die Spezialkräfte.

»Es ist kein Geheimnis, dass Sie die alleinige Eigentümerin der Eisenbahn sein werden, sobald Sie einundzwanzig sind, Camilla. Alles, was Sie nach Ihrer Heirat erben, wird Ihnen und Ihrem Mann gemeinsam gehören. Wenn Sie Felix also vor Ihrem Geburtstag heiraten, werden die Firenzes auch die Eisenbahn erben. Selbst wenn Ihnen irgendein … Unglück widerfahren sollte.«

»Sie meinen, falls ich sterbe«, sprach ich aus, was er nicht direkt sagte.

Mein Bruder ging dazwischen. »Es gibt eine Klausel, die es euch beiden verbietet, euch gegenseitig umzubringen, falls du darauf anspielst.«

Ich rollte mit den Augen. »Wie überaus praktisch.«

Aramis zuckte mit den Schultern. »Ich habe diese Lösung nicht allein herbeigeführt, ebenso wenig wie ich als Einziger der Ansicht bin, dass du ihr zustimmen solltest. Dieses Geld wird uns helfen, unser Imperium wiederzubeleben. Natürlich gefällt auch mir die Vorstellung nicht, dass ihnen dadurch ein Teil des Unternehmens gehört, aber das ist nur ein unwesentlicher Punkt verglichen mit dem, was uns droht, sollten wir uns weigern. Entweder machen wir uns dieses eine Mal klein wie eine Maus, oder wir ruinieren den Namen unserer Familie für immer.«

»Ich bin aber keine Maus.« Ich streifte meinen linken Handschuh ab und wackelte mit den Fingern. Die Tintenschlange wickelte sich um meinen Unterarm, gab ein demonstratives Zischen von sich und zeigte ein Paar scharfer Giftzähne auf meinem Handrücken. »Ich bin eine Marchese.«

»Es behauptet auch niemand etwas anderes, Milla«, versicherte Giles mir, um Beschwichtigung bemüht. Er hatte ein weicheres Herz als die anderen, nachgiebiger als Aramis’ steinerne Seele. »Du wirst immer unsere Schwester bleiben, ganz gleich, welchen Nachnamen du trägst.«

»Was wollen sie überhaupt mit unserer Eisenbahn?«, wollte ich wissen und ignorierte seinen Besänftigungsversuch.

»Wissen Sie das wirklich nicht?«, fragte der Inspektor. Ich sah ihn an und ließ argwöhnisch eine Augenbraue nach oben wandern. Er erklärte: »In der Row gab es mehrere Entführungsfälle. Tagtäglich kommt es zu Bürgerunruhen, ereignen sich Verbrechen wie Mord und illegale Straßenkämpfe. Die rivalisierenden Familien und ihre Relikte sorgen Tag und Nacht für Aufruhr. Die Firenzes stehen dem OIK näher als irgendeine andere Familie auf der Insel. Hätten sie auch die Eisenbahn unter sich, würde dies der Regierung zu mehr Macht verhelfen und dem High Overseer und den Gouverneuren nicht nur Zugang zu den Schifffahrtsrouten bieten, sondern sie auch mit der Möglichkeit ausstatten, in die Wildnis und zu den Minen im Norden zu reisen – ganz davon zu schweigen, dass sie Relikter mit härterer Hand regulieren könnten.«

»Und was haben die Firenzes damit zu tun? Warum kauft der OIK unsere Firma nicht einfach selbst?«, fragte ich.

Er hielt den Umschlag in seiner Hand hoch. »Wollten wir ja. Bis Felix mit einem Vorschlag an uns herantrat, der für alle Seiten von Vorteil wäre. Die Firenzes brauchen Ihre Eisenbahn für ihre Glintgeschäfte, unterstützen den OIK jedoch weiter, der damit ebenfalls Einfluss auf die Iron Saint gewinnt, während Ihre eigene Familie ihr Vermächtnis bewahren kann.«

Der Inspektor erhob sich und verschränkte die Arme. Sein Profil war vom grellen Nachmittagslicht umrahmt, während ein Schatten über die andere Seite seines Gesichts fiel. »Sie haben das Überleben der Insel in der Hand, Camilla. Dies ist der richtige Schritt für uns alle.«

Ich ging an der abgenutzten Kante des einst prachtvollen Teppichs auf und ab, dessen Farben nach zahlreichen ähnlichen Situationen in der Vergangenheit inzwischen verblasst waren. Irgendetwas an diesem Deal stank zum Himmel. Ich musste nur meiner Spürnase folgen, um die verrottete Wahrheit aufzudecken. Dann kam mir plötzlich eine Idee und ließ mich innehalten. »Sechs Wochen.«

Aramis seufzte. »Milla …«

»Sechs Wochen!«, beharrte ich. »Gib mir sechs Wochen – bis einen Tag vor meinem Geburtstag –, bevor du dem Standesbeamten die Heiratspapiere übergibst. Lass mir ein wenig Zeit, um nach einer Alternative zu suchen. Vielleicht können Felix und ich ja eine andere Vereinbarung treffen.«

Er seufzte und verdrehte die Augen. »Dem werden sie nicht zustimmen. Und das müssen sie auch nicht. Wenn wir unsere Schulden bei der Bank nächsten Monat nicht begleichen, wird es keine Rolle mehr spielen, wer Vater beerbt. Weil wir alles verlieren werden.«

»Dann lass dir das Geld in Raten auszahlen und biete ihnen im Austausch dafür einen unserer Männer, der ihre Warenhäuser bewacht. Sie mögen vielleicht Geld haben, aber wir haben Loyalität. Wir haben die nötigen Waffen, um ihr Kapital zu schützen. So etwas kann man mit Geld nicht kaufen.« Ich ging auf meinen Bruder zu, ein Flehen in meinen Augen. »Das hier ist mein Zuhause, Aramis. Hier gehöre ich her. Was hat es für einen Sinn, eine Familie zu sein, wenn wir uns gegenseitig nur darauf reduzieren, welchen Nutzen wir haben?«

»Unterzeichne die Vereinbarung, Camilla«, forderte er mich erneut auf, »bevor die Firenzes es sich anders überlegen. Wir wussten immer, dass es dazu kommen könnte. Und ehrlich gesagt solltest du dankbar sein, dass sie uns ihre Hilfe überhaupt angeboten haben nach allem, was passiert ist.« Es sprach keine Freundlichkeit mehr aus seiner Stimme, nicht das geringste Anzeichen dafür, dass ihn interessierte, wie ich mich bei der ganzen Sache fühlte. Wie sehr er in diesem Moment doch unserem Vater glich, und dessen Tonfall.

Ich las die bindende Vereinbarung noch einmal durch und konnte nur darüber staunen, wie mein Bruder es fertiggebracht hatte, eine solche Summe für sein eigen Fleisch und Blut auszuhandeln. Einhunderttausend Reoles waren ein kleines Vermögen – und nur umso schwindelerregender, wenn man das Geld jemandem schuldete. Aramis hätte so oder so zugeschlagen, ganz gleich, mit wie viel sie vor seinen gierigen Augen herumgewedelt hätten.

Ich strich den Vertrag auf meinem Schreibtisch glatt und blickte auf das Tintenfass. Mein Name war das Einzige, was noch zwischen uns und unserer Erlösung stand. Eine einfache Unterschrift konnte uns alle retten und vor dem sicheren Ruin bewahren, die Freiheit meiner Familie auf Kosten meiner eigenen erkaufen. »Warum kann nicht einer von euch diesen Idioten heiraten?«

Aramis betrachtete mich von Kopf bis Fuß. »Abgesehen vom Offensichtlichen? Aber tatsächlich hat Giles angeboten, deinen Platz einzunehmen. Sie haben abgelehnt. Der Junge will eine Braut, und du bist die Einzige, die wir ihm geben können.«

»Tut mir leid, Milla. Ich hab’s wirklich versucht.« Giles’ Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.

»Sein Verlust«, erwiderte ich mit einem Achselzucken. »Du wärst der bessere Hausmann gewesen.« Ich starrte auf den freien Platz für die Unterschrift. Der Kampf war trotz all meiner Entschlossenheit verloren.

Es gefiel mir ganz und gar nicht, als Bauernopfer benutzt zu werden, aber dennoch verstand ich die langfristigen Ziele meines Bruders. Unser Vater hatte in seinem Testament mich als Erbin benannt und die Verantwortung für das Unternehmen in meine Hände gelegt, weil er darauf vertraut hatte, dass ich tun würde, was immer das Richtige für unsere Firma war – für unsere Familie.

Ich biss die Zähne zusammen, griff nach einer Feder und unterschrieb das verfluchte Papier. Es war reine Zeitverschwendung gewesen, mich in letzter Minute doch noch aus diesem Deal herauswinden zu wollen, aber ich hatte es wenigstens versuchen müssen. »Wann werden sie eintreffen?«

»Sie sind gerade im Anmarsch«, vermeldete Jasper, der gegen den Ofen gelehnt stand, leise. Sein Zwillingsbruder Jeremiah war zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, wie lange er seine Finger über eine offene Flamme halten konnte, um sich Sorgen um seine einzige Schwester zu machen.

»Sie sind bereits hier?« Ich stürzte zum Fenster, weil ich vor der Zeremonie wenigstens noch einen Blick auf meinen zukünftigen Ehemann erhaschen wollte. Jasper schob den halb offenen Vorhang zur Seite, damit ich auf die Straße hinunterschauen konnte, wo vier Kutschen in der Nähe der Seiteneinfahrt der Marchese-Villa parkten.

Schwerer Nebel waberte am Himmel, verdüsterte den frühen Nachmittag. Das wenige Licht, das die Wolken durchbrach, verbreitete nur einen matten Glanz und tauchte alles in Grautöne. Auf unserem Hof tummelten sich Gestalten und Gesichter, die ich nicht erkannte, alle in marineblaue Mäntel gehüllt, die bis zu ihren Schnürstiefeln hinabreichten.

»Welcher ist Felix?«

»Keine Ahnung. Angeblich kommt er nicht viel raus, aber hoffentlich ist es nicht der da«, erwiderte Jasper und zeigte auf einen älteren Mann mit Kugelbauch, der gerade in ein Taschentuch hustete.

»Giver und Greed«, verfluchte ich die Heiligen. Ich wusste noch nicht mal, an welchen von diesen Typen ich mich gebunden hatte – nicht, dass es wirklich eine Rolle spielte. Ich wollte keinen von ihnen.

Wie zur Antwort richtete einer der Männer in dem Meer aus Tweedmützen sein Gesicht gen Himmel, dem leichten Nieselregen zum Trotz, der seinen blassen Teint benetzte. Seine Augen schienen mich inmitten der zahlreichen Fenster in der Nordwand des Gebäudes auch im dritten Stock sofort zu finden, während mir durch den Schatten, den seine Mütze warf, ein genauerer Blick auf seine Züge verwehrt war. Der Mann griff in seine Manteltasche und zog eine goldene Uhr hervor.

»Was hast du gesagt, wann wir uns mit ihnen treffen würden?«, fragte ich Aramis und konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Mein Bruder gab einen gleichgültigen Laut von sich. »Wir waren um dreizehn Uhr auf dem Hof mit ihnen verabredet.«

Ich wandte mich von dem nebligen Fenster ab und warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. »Es ist schon zwanzig nach.«

»So konnte ich die hier wenigstens in Ruhe genießen.« Er hielt die Zigarre hoch, die er seit einer halben Stunde paffte. Meine Brüder und der Inspektor belagerten mich schon den ganzen Morgen in meinem Büro, als hätten sie Angst, ich könnte abhauen. Nun stand jedoch mein Name unter diesem Vertrag, und auch wenn man vielleicht einiges über mich sagen konnte, war ich zumindest eine Frau, die zu ihrem Wort stand.

»Ich finde selbst hinaus«, sagte der Inspektor. »Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Tag – und viel Glück. Der OIK ist sehr zuversichtlich, was die Zukunft dieser Stadt betrifft, nun da wir unsere Einflussmöglichkeiten bündeln konnten.«

Während meine Brüder ihm zum Abschied etwas zumurmelten, schnappte ich mir meinen Mantel, der auf einem der Ledersessel lag, schlüpfte hinein und zog die Kapuze über meine Locken. »Wie sehe ich aus?«, fragte ich und vollführte eine Drehung.

»Wie eine Braut«, antwortete Jeremiah trocken und klappte sein Feuerzeug zu.

»Wie unsere große Schwester. Richtig erwachsen und kurz vor ihrer Hochzeit«, fügte Giles hinzu und wischte sich unsichtbare Tränen von den Wangen. »Wenn nur Daddy dich jetzt sehen könnte.«

»Wenn Daddy mich jetzt sehen könnte, würden wir gar nicht in diesem Schlamassel stecken«, grummelte ich leise. Ich streckte eine Hand nach Giles aus, und als er sich zu mir gesellte, hakte ich mich bei ihm unter, um mich von ihm nach unten eskortieren zu lassen, wo mein Verlobter im Regen wartete. Aramis hatte den Firenzes zwar Zutritt zu unserem Anwesen gewährt, aber niemand außer den Marcheses und ihren Angestellten setzte auch nur einen Fuß über die Türschwelle. Der Inspektor hatte eine unerwünschte Ausnahme dargestellt, da wir ihm den Zutritt nicht hatten verweigern können.

»Sera wird dich begleiten. Das hat Aramis der Vereinbarung gestern Abend noch hinzugefügt«, eröffnete Giles mir.

»Sera, unsere Schneiderin?«

Giles nickte. »Die Firenzes glauben, sie sei dein Mädchen für alles –«

»Ich habe keine persönlichen Bediensteten«, unterbrach ich ihn tonlos.

Er atmete tief durch, um Ruhe zu bewahren. »Das wissen die Firenzes aber nicht. Sie fungiert als deine Vermittlerin. Falls du irgendetwas brauchst oder falls die Firenzes beschließen, die Regeln zu ändern, wird sie es uns wissen lassen.«

»Können wir einer Schneiderin wirklich vertrauen, Giles?«

»Wir können ihr vertrauen. Vor allem, weil wir ihre hübsche kleine Boutique ganz leicht in ein Häuflein Asche verwandeln könnten.«

Ich schnalzte mit der Zunge, während ich die letzten Treppenstufen hinunterstieg. Am Seiteneingang stand ein Diener mit unseren Regenschirmen bereit. »Angst ist eine schlechte Motivation für Loyalität.«