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In einer dystopischen Zukunft, entscheidet gegen Geld in die Köpfe gespeistes Fachwissen über Karriere und Erfolg. Hacker Carlos, genannt "Cooli", fälscht die Daten, um auch Ärmeren Chancen einzuräumen. Doch dann eröffnet sein erfolgreichen Bruder ihm auf einer Familienfeier, dass er Cooli entlarvt hat und bietet ihm einen Deal an: Entweder er verrät ihn oder er gibt seine kriminelle Karriere auf und nimmt eine von ihm verschaffte, legale Stelle in seiner Firma Human Design an, die sich darauf spezialisiert hat, die besten Erinnerungs-Angebote für sämtliche Anlässe bereitzustellen: Urlaube, Paartherapien, Fachwissen für die Karriere - Lebensoptimierung in allen Bereichen. Für den Draufgänger Cooli kommt ein gewöhnliches Arbeitnehmerdasein eigentlich nicht in Frage, aber er nimmt aus Angst vor einer Haftstrafe an. Dann wird er einem Programm zugeteilt, das Jugendliche betreut, die Schlimmes erlebt haben und Freundet sich mit der 13-jährigen Leni an. Doch bald findet er mit Hilfe der Praktikantin Paula heraus, das etwas mit dem Wohltätigkeitsprogramm nicht stimmt und muss endlich Verantwortung übernehmen.
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Intro
Kapitel 1 – Leni
Kapitel 2 - Paula
Kapitel 3 – Cooli
Kapitel 4 – Leni
Kapitel 5 – Paula
Kapitel 6 – Cooli
Kapitel 7 – Leni
Kapitel 9 – Tafty
Kapitel 10 – Cooli
Kapitel 11 – LENI
Kapitel 12 – Cooli
Kapitel 13 – Leni
Kapitel 14 – Cooli
Kapitel 15 – Leni
Kapitel 16 – Carlos
Kapitel 17 – Leni
Kapitel 18 – Paula
Kapitel 19 – Cooli
Kapitel 20 – LENi
Kapitel 21 – LENi
Kapitel 22 – Cooli
Kapitel 23 – Cooli
Kapitel 24 – Leni
Kapitel 25 - Cooli
Kapitel 26 – Leni
Kapitel 27 – Cooli
Kapitel 28 – Tafty
Kapitel 29 – Leni
Kapitel 30 – Paula
Kapitel 31 – Markus
Kapitel 32 – Paula
Kapitel 33 – Leni
Kapitel 34 – Tafty
Kapitel 35 – Cooli
Kapitel 36 – Cooli
Kapitel 37 – Paula
Kapitel 38 – Tafty
Kapitel 39 – Cooli
Kapitel 40 – Paula
Kapitel 41 – Cooli
Kapitel 42 – Tafty
Kapitel 43 – Cooli
Kapitel 44 – Leni
Kapitel 45 – Leni
Kapitel 46 – Leni
Kapitel 47 – Cooli
Kapitel 48 – Leni
Kapitel 49 – Winne
Kapitel 50 – Carlos
Kapitel 51 – Leni
Kapitel 52 – Cooli
Kapitel 53 – Leni
Kapitel 54 – Cooli
Kapitel 55 – Cooli Epilog
3 Jahre später
Impressum
Geraldine Reichard, *01.05.1991
in Bonn, fing 2004 im Alter von 13 mit dem Romanschreiben an, gewann während ihres Studiums mehrere Literaturwettbewerbe, arbeitete ab 2015 mit der Literaturagentur im Verlag der Autoren in Frankfurt zusammen, von der sie sich Ende 2018 trennte und 2020 einen eigenen Verlag für eigene Bücher, sowieso andere Autoren gründete. Parallel arbeitet sie bei einem internationalen IT-Unternehmen.
Geraldine Reichard
Human
design
Die dystopische Firma
ISBN: 978-3-96994-667-1
Die Frau ist blond, um die dreißig und trägt eine geschäftliche Bluse. Sie ist leicht übergewichtig. Ihr Freund ist groß, blond und trägt eine Brille, die ihm ein studentisches, kluges Aussehen verleiht.
„Oh, das ist ja so toll, Sie einmal persönlich zu treffen – wir hatten uns gewünscht, bei Ihnen zu sein“, sagt die Frau.
„Das freut mich sehr“, sagt er. Er ist gewohnt, bei Frauen gut anzukommen, auch wenn die meisten ihn leider nur für seine Expertise schätzen.
„Wir würden gerne das Pärchen Paket nutzen“, sagt Lydia.
„Meinen Sie das Flirt-Wochenende, das Valentins-Erlebnis oder das Paar-Therapie-Pakt?“, fragt Tafty. Die meisten Leute haben Hemmungen über persönliche Angelegenheiten zu reden. Deshalb machen sie es ihnen leichter, indem sie ihnen Pakete mit attraktiven Namen anbieten.
„Also Flirt-Wochenende klingt natürlich gut, aber ich fürchte wir brauchen schon eher das PTP.“
„Also ich weiß nicht, ob wir das brauchen. Ich glaube das können Sie besser beurteilen, Herr Dunshdy. Wir wollten uns erst für das Erste ohnehin nur beraten lassen.“
„Na, ja, das kann ich jetzt natürlich noch nicht beurteilen“, sagt Tafty und lacht – Atmosphäre auflockern. Lydia und Peter lachen auch.
„Worum geht es denn konkret? Haben sie Probleme miteinander oder geht es ihnen um ein romantisches Erlebnis zu zweit?“
„Also wir haben auch Probleme“, sagt Lydia.
„Probleme also. Das ist natürlich ungut. Dann würde ich vorschlagen, dass wir bevor wir an dieser Stelle weiterreden oder Sie sich gegenseitig verletzen von jedem von euch ein Problemprofil anfertigen. Sie sind bereits Kunden bei Human Design, ist das richtig?“
„Ja genau. Wir müssen bereits hier gewesen sein. Jedenfalls habe ich eine Kundenkarte. Aber verraten Sie nicht weswegen wir hier waren.“
„So etwas würde ich nie tun. Das darf ich gar nicht.“ Lachen.
„Wunderbar. Dann nehmen sie doch bitte kurz vor der Tür Platz Peter und ich unterhalte mich kurz mit ihrer bezaubernden Frau.“ – Höflichkeit. Natürlich ist Lydia in Taftys Augen nicht bezaubernd, eher etwas zu pummelig.
„Also Lydia. Sie arbeiten zur Zeit als Sekretärin in einem Verlagshaus. Paul arbeitet als Junior Consultant bei einer Unternehmensberatung. Fühlen Sie sich gegenüber Paul benachteiligt. Weniger gebildet?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Auf eine Skala von eins bis zehn. Wir würden sie sich selber einschätzen?“
„So sechs.“
„Sie bezeichnen sich also selber als leicht überdurchschnittlich. Lydia. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?“
„Ähm. Ich weiß nicht. Wie meinen Sie das jetzt?“
„Ja was Sie können. Was Sie an sich mögen. Sie brauchen sich nicht zu schämen. Glauben Sie mir, ich habe schon alles gehört. Nur wenn wir Sie wirklich kennen, können wir wissen, wie wir Ihnen helfen können. Das ist das erste Gebot in unserer Unternehmensphilosophie.“
„Na schön. Also ich schätze es ist wegen Peter. Die Selbsteinschätzung meine ich. Ich habe einen tollen Mann. Das ist auch eine Leistung.“
„Natürlich ist es das. Das will Ihnen bestimmt niemand absprechen.“
Tafty steht auf: „Wissen Sie was ich glaube. Sie machen ihren Selbstwert ausschließlich von Peter abhängig. Ich sehe es ihnen an und ich sehe es ihrem Persönlichkeitsprofil an. Sie sind sehr gewissenhaft, können allerdings schlecht mit Stresssituationen und sonstigen psychischen Belastungen umgehen. Sie glauben Peter vermutlich nicht, dass er einen Grund hätte, Ihnen treu zu sein, aber irgendeinen Anreiz muss er gehabt haben. Sonst wäre er nicht mit Ihnen hier. Wie auch immer. Die Machtstruktur in der Beziehung ist erschüttert, war höchstwahrscheinlich schon immer instabil, weil ihre Profile nicht besonders gut harmonieren.“
„Wie bitte.“
„Das ist nicht als persönliche Kritik zu verstehen. Viele Paare haben Profile, die nicht harmonieren und wenn wir ihnen sagen würden, dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer Trennung bei über 99% liegt, sondern wir auch den genauen Zeitpunkt voraussagen können. Sie würden mir einen Vogel zeigen. Lydia“, er beugt sich zu Lydia herab, „soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten: Alle dieser Paare trennen sich früher oder später, aber keines der Paare, die unsere Partneragentur „Human Love“ zusammengeführt hat haben sich bisher getrennt und wissen Sie warum: Ihre Profile waren aufeinander abgestimmt wie zwei Bausteine eines Puzzles.“
„Aber ich will keinen anderen Partner“, sagt Lydia und klingt dabei wie ein bockiges kleines Kind.
„Dann sehe ich nur eine Möglichkeit, eine sehr wirksame und sehr gängige Methode wohlgemerkt. Wir gleichen euch aneinander an. Natürlich geht das nur wenn ihr beide zu hundert Prozent einverstanden seid und billig wird das wohlgemerkt auch nicht werden, aber sie sind gewiss privat versichert oder?“
„Natürlich über den Arbeitgeber.“
„Wir könnten die Bezahlung über die Krankenkasse Ihres Partners laufen lassen. Unternehmen sind immer sehr daran interessiert, alle Lebensbereiche ihrer Mitarbeiter zu optimieren. Work-Life-Balance – aber das ist ja allgemein bekannt.“
„Das wäre super. Wirklich.“
„Dann wird es in erster Linie darum gehen ihr Selbstwertgefühl aufzubauen und Ihnen allen Grund zu geben mit ihrem Leben zufrieden zu sein. In Ordnung. Dann gebe ich ihnen als Vorübung die Aufgabe den Online-Fragebogen auszufüllen, den ich ihnen zuschicken werde und diese kleine Kamera in ihrem Wohnbereich zu installieren. Im Wohnzimmer wohlgemerkt“, sagt Tafty mit einem schiefen Grinsen.
„Das ist mir aber schon etwas unangenehm.“
„Kein Grund zur Sorge. Ihre Privatsphäre wird natürlich nicht angetastet. Wir benutzen das Material nur zu Analysezwecken.“ – Was nur teilweise stimmt. Zwar beteiligt sich Tafty nie an solchen Aktionen aber viele der anderen Controller und Ärzte versammeln sich manchmal nach Feierabend in einem der Präsentationsräume und beobachten das Privatleben anderer Menschen.
„Natürlich beziehen wir auch Daten aus euren Internet-Profilen, aber dafür bedarf es keiner datenrechtlichen Erklärungen.“
Tafty holt Peter herein.
„Peter. Sie haben Probleme in ihrer Partnerschaft?“
„Na, ja. Wir streiten uns ab und zu, aber nichts, was man nicht durch Gespräche lösen könnte.“
„Das glaube ich nicht. Gespräche können Auswirkungen beseitigen, aber zumeist beseitigen Gespräche nicht den eigentlichen Kern eines Problems – die unterschiedliche Persönlichkeit, unterschiedliche Erfahrungen, Ziele, Motivationen, Lebensvorstellungen. Sie sind doch Unternehmensberater.“
„Noch nicht lange.“
„Aber Sie glauben an den klassischen Determinismus. Sie glauben jedenfalls nicht an Zufälle. Ich sehe es ihnen an. Ursache und Wirkung.“
Peter nickt.
„Sie glauben also wenn man genügend Informationen hätte und genügend Speicherkapazität für jegliche Informationsmenge, dann kann man das Verhalten eines Systems genau vorhersagen.“
„Sofern es ein abgeschlossenes System ist.“
„Wenn ich ihnen sagen würde, dass ihr Leben besser sein könnte und mit besser meine ich nicht nur, dass ihr Wert steigen wird, dass sie im Beruf erfolgreicher sein werden. Ich meine damit insbesondere, dass sie glücklicher sein könnten. Dass Lydia glücklicher sein könnte. Wir vertreten insbesondere die Philosophie, dass jeder Mensch glücklicher sein könnte, nachdem wir sein Leben optimiert haben. Sie können mir nicht sagen, dass sie das nicht wollen.“
„Ich will nichts aus meinem Kopf entfernen lassen.“
„Glauben Sie, dass Sie sich in ihren Job mit dieser Einstellung lange halten werden? In einer Zeit in der Eltern ihre Kinder optimieren, Firmen ihr Humankapital und Ehemänner ihre Ehefrauen und umgekehrt? Wer sich nicht an der neuen Technik bedient, wer nicht mit der Zeit schwimmt, fällt zurück. Das ist Kapitalismus. Willkommen im 21. Jahrhundert. Und ich prophezeie ihnen, dass ihr Arbeitgeber ihnen binnen dreißig Tagen sowieso einen Urlaub in unsere Kuranlage schenkt oder zumindest einen Kurztrip in unser Wartezimmer. Das Human Design hat nämlich eine Kooperation mit diversen Schulen, Kindergärten, Firmen und insbesondere mit Ihrer Unternehmensberatung.“
Er steht auf. Jetzt wirkt er fast drohend. „Es ist so. Ich weiß genau, dass sie ihre Frau nicht lieben. Sie sind in diese Partnerschaft hineingerutscht, weil sie es irgendwann Leid waren, Lydia abzuweisen, und jetzt fühlen Sie sich ihr gegenüber auch noch verpflichtet, weil Sie ja so an Ihnen hängt und nichts anderes hat, worüber Sie ihr Selbstwertgefühl definieren kann. Sie würden sich das niemals eingestehen, weil Sie glauben, ihr Umfeld würde sie für solche pragmatischen Gedanken verurteilen.“
Peter starrt Tafty an. Die letzten Wörter quetscht Tafty eindringlich zwischen seinen Lippen hervor.
„Die Wahrheit ist. Ihre Krankenkasse würde sich dumm und dämlich zahlen, um ihnen alles zu geben, was sie wollen, weil Sie für ihre Firma von hohem Wert sind. Die haben ein Interesse daran, dass es ihnen gut geht. Nicht nur gut, sondern optimal. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Aus der offiziellen Definition von Gesundheit der WHO. Ihre Zufriedenheit in der Partnerschaft liegt denen also ebenso am Herzen wie ihr körperlicher Zustand. Sie bekommen eine Traumfrau und Lydia wird Sie vergessen.“
„Bullshit. Was sie reden ist ein verdammter Bullshit“, brüllt Peter und springt auf. Er will eigentlich gehen, aber irgendetwas hält ihn zurück, „Sie wissen doch überhaupt nichts über mich.“
„Sie denken ich will mich über sie hinwegsetzen, indem ich Ihnen wie sie glaube vorschreibe wie Sie ihre Partnerschaft zu führen haben, aber das ist nicht der Fall. Ich respektiere Sie, weil sie von Bedeutung sind. Deshalb würden wir nie wagen, ihre Individualität anzutasten. Lydia und Sie können nicht beide bekommen, was ihr wollt, weil eure Interessen divergieren und deshalb „funktioniert es nicht“. Aber unser Grundsatz ist folgender: Der bedeutsamere Partner bekommt, was er will und der andere Teil der geschädigten Partnerschaft lernt zu wollen, was er oder sie bekommt. Auf diese Weise werden die gesamtwirtschaftlichen Verluste durch unsere Intervention miniert und die Gewinne für die Menschen maximiert.“
„Und Sie meinen Lydia wäre ohne mich glücklicher als mit mir?“
„Zweifellos. Sie weiß es bloß noch nicht. Denken Sie darüber nach. Ich schicke ihnen eine PN über ihr Profil. Das ist ein Link zu unserer Partneragentur. Sie können uns ausprobieren, bevor Sie Ihre Entscheidung treffen. Melden Sie sich einfach bei mir.“
„Wie wird es jetzt weitergehen?“, fragt Leni. Der Polizeibeamte scheint nicht mit dieser Frage gerechnet zu haben.
„Werden meine Erinnerungen gelöscht?“
„An diesen Vorfall. Mit großer Wahrscheinlichkeit. Solche posttraumatischen Schädigungen sind nicht gerade förderlich für die Entwicklung.“
Leni kann nicht leugnen, dass sie sich durch diese Antwort wichtiger vorkommt. Stolz ist. Ein Teil von ihr hat immer gehofft, dass die Ärzte eine Injektion bei ihr für nötig erklären und der Staat diese finanziert, damit ihre Mutter nichts mehr dagegen einwenden kann. Damit sie auch endlich weiß „wie das ist“. Aber jetzt ist sie nicht mehr da und es ist sowieso alles egal.
„Und wie wird das sein?“, fragt sie.
„Wie wird was sein?“, fragt der Beamte.
„Ich meine. Wie fühlt sich das an etwas zu vergessen. Tut das weh.“
Jetzt lacht der Beamte schallend auf.
„Sag nicht du hattest noch nie einen Eingriff. Du bist doch schon mindestens elf.“
„Dreizehn“, korrigiert Leni.
Jakob schüttelt den Kopf, „was für Eltern. Es ist doch wichtig seine Kinder möglichst früh daran zu gewöhnen, damit sie ihre Angst davor verlieren und von Schwierigkeiten in der Schule mal ganz abgesehen. Und was Berufsaussichten angeht. An so etwas muss man doch denken.“
„Man kann Halluzinationen davon bekommen und Panikattacken.“ Das hat ihre Mutter gesagt, aber jetzt ist sie nicht mehr da, um das zu sagen und deswegen wird ihr schon schlecht, wenn sie das Thema anspricht. Jetzt muss sie ihren Standpunkt erst recht verteidigen, weil sie sie verteidigen muss.
„Schwachsinn“, sagt Jakob, macht eine abwinkende Handbewegung und nimmt einen Schluck MC Donalds Kaffee aus dem Becher in dem Getränkehalter, „klar gibt es Fälle in denen das passiert sein mag. Ein, zwei von tausend und auf diese Geschichten stürzen sich die Medien wie die Geier. Ich meine klar – es ist ein Risiko, aber der Straßenverkehr ist auch ein Risiko und trotzdem ist den ganzen Tag in der Bude sitzen keine Lösung. Ich meine. Die Wahrscheinlichkeit, dass zu viel oder zu wenig entfernt wird, besteht natürlich, aber meistens lässt sich so etwas nachbessern.“
„Ach so“, sagt Leni und starrt aus dem Fenster. Ein dreidimensionaler Teppich aus grellen Lichtern erhebt sich vor ihren Augen. Ihre Mutter hat gesagt, dass das hier gefährlich wäre, aber andererseits hatten alle ihre Freunde aus der Schule schon Eingriffe – was soll daran so schlimm sein? Leni presst ihren Nacken in das Sitzpolster.
„Es tut mir echt leid wegen deiner Mutter“, sagt Jakob, „nicht schön, wirklich – schrecklicher Unfall, aber… es hat auch sein Gutes – jetzt bekommst du eine bessere Zukunft…“
„Das glaube ich nicht, ich… weiß nicht, ob ich…“ Sie schluckt, „hatten Sie schon mal ein Eingriff?“
„Ich?“, sagt Jakob und lacht, „aber natürlich. Tausende. Eine Liste von bestimmten Injektionen ist im theoretischen Teil der Polizeiausbildung vorausgesetzt.“
„Ich habe Bücher gelesen, meine Noten waren… immer gut“, sagt sie. Natürlich nicht so gut, wie die Noten der Kinder, die mit ihren Eltern jedes Wochenende im Gedankencenter waren. Daraufhin lacht Jakob nur müde. Er muss sie für dumm halten.
„Tja, aber das genügt heutzutage nicht mehr. Wenn du ein Buch liest oder einen Test darüber absolviert, dann kann man nur bis zu einem gewissen Grad nachprüfen in wie weit er den Stoff wirklich verstanden hat oder nur starr auswendig gelernt hat. Vielleicht hat er nur schlampig und lückenhaft gelernt, hat aber Glück mit den Testfragen. Das Wissen ist nicht dauerhaft, die Verbindungen im Gehirn möglicherweise nur sehr schwach. Wenn aber auf einem Profil eine bestimmte Gedanken-Injektion vermerkt ist, weiß jede Schule und jeder Arbeitgeber sofort, was der Mensch weiß, wie viel er weiß.“
„Das bedeutet, dass es nichts mehr wert ist, ein Buch zu lesen?“, fragt sie. Sie kennt diese Erklärungen und sie mag es nicht, wie sie auf Leute wie sie herabsehen.
„Weniger“, sagt Jakob, „man kann es nun mal schlechter bis gar nicht nachweisen und bei so großer Konkurrenz sind die Unternehmen gezwungen auf Fakten und Beweise setzen.“
„Ja das verstehe ich“, sagt Leni beschämt, weil sie weiß, dass ihr Profil für ihr Alter trotz guter Noten sehr mager ausfällt und ihre Lehrer ihr deswegen keine hohen Chancen prophezeien. Ihr ist klar, dass kein Lesen mit einer Injektion mithalten kann, aber dass ihre Mitschüler für ihre Schummeleien im weiteren Leben noch zusätzlich belohnt werden, ärgert sie. Sie will nicht länger darüber nachdenken.
„Und wie ist es nun. Das Löschen?“, fragt sie stattdessen.
„Ach Kind. Du fragst mich Dinge“, sagt Jakob, „es ist wie eine Narkose. Aber so etwas hattest du schon mal oder?“
Leni nickt und ist froh darüber, dass sie wenigstens aus dieser Norm nicht herausfällt. Einmal. Nachdem sie sich beim Schulsport verletzt hatte und der gebrochene Knochen in ihrem Oberschenkel gerichtet werden musste.
„Man erinnert sich noch an den Raum und die Vorbereitungen. Kalibrieren der Geräte. Was die Schwestern gesagt haben. Mir wurde oft schwindelig und übel. Dein Kopf ist eine Art Haube. Man spürt ein Stromkribbeln an der Haut, was ein bisschen unangenehm sein kann. Dann ist es wie ein sehr schneller, sehr klarer Traum. Man schläft ein und wacht an einem anderen Ort wieder auf. Aber so viele Gedanken darf man sich darüber nicht machen. Nach dem ersten Mal ist es keine große Sache mehr wie fast alles im Leben.“ Das glaubt sie nicht. So viel hat sich verändert. Das mit ihrer Mutter ist erst vor zwei Wochen passiert. Sie erinnert sich kaum noch daran, wie der Anruf kam, aber es war sehr schlimm. Jetzt ändert sich schon wieder alles.
Paula steht in dem Besprechungsraum von dem Verlag ihrer Zeitung und hat schon wieder dieses miese Gefühl.
„Haben wir schon etwas Neues?“, fragt Lennard und sieht dabei nicht so aus, als wäre er von ihren Recherchen begeistert.
„Das Opfer war Journalistin für ein wenig bekanntes Online-Nachrichtenportal, was vor allem die neuen Bildungsreformen kritisiert. Ich glaube nicht, dass sie von ihrem Mann umgebracht wurde, wie die Polizei es vermutete. Außerdem hatte ihr Mann sich in letzter Zeit ständig über Kopfschmerzen beklagt – und er war öfter als sonst im HD Gedankencenter – er sagt man habe ihm ein Abo-Packet angeboten.“
„Sie glauben also, dass das Gedankencenter etwas damit zu tun hat“, sagt ihr Chef und lacht, „wohl kaum – das ist Verschwörungsmist. Diese Einrichtungen sind staatliche geprüft.“
„Das glaube ich nicht“, sagt sie, „Riemer hat Nachforschungen angestellt und listet Fälle auf, in denen Entscheidungen oder sogar Charakterzüge in Kooperation mit den Gedankencentern manipuliert wurden. Da geht es zum Beispiel um einen Schüler, der Schriftsteller oder Journalist werden wollte. Leider versprach dieser Beruf keine guten Marktaussichten. Von einem auf den anderen Tag änderte der Junge seine Meinung auf einmal, nachdem er für eine Routineinjektion im Gedankencenter war. Dass eine Manipulation stattgefunden hat schien wahrscheinlich, war allerdings nicht nachzuweisen.“
„Na gut, aber das könnte ja erstmal jeder behaupten. Wenn sich jemand komisch verhält oder einem sein oder ihr Verhalten nicht in den Kram passt, könnte man immer das Gedankencenter anprangern. Ich kenne solche Horrorgeschichten zu Hauf und halte sie für Märchen. Diese Anstalten sind staatlich geprüft. Das sind Dienstleister. Denen ist doch scheißegal, was die Menschen wollen und machen.“
„Das sehe ich anders. Gedankencenter kooperieren mit Unternehmen, die wiederum mit Hochschulen kooperieren. Wenn jemand, den sie ausgestattet haben“- Paula setzt das Wort ausgestattet in Anführungszeichen, „kassieren sie eine satte Vermittlungsgebühr.“
„Möglicherweise gäbe es ein Motiv. Trotzdem – aber wenn so eine medizinische Sensation gelänge, würde es wohl öffentlich gemacht. Klingt mir eher nach Zauberei.“
„Lebst du hinter dem Mond? Von solchen Fällen hört man doch andauernd.“ Sie versteht nicht, wie ihr Chef schon wieder so ignorant sein kann.
„Ich will diese Diskussion jetzt beenden. Es liegt nicht in unserem Zuständigkeitsbereich, uns über Politik zu unterhalten. Ich lehne diese Story ab…“
„Doch, genau das ist unserer Aufgabe – unsere Aufgabe ist es, Dinge aufzudecken.“
„Tun Sie, was Sie wollen, aber Herr Dunshdy hat leider ein Interview mit uns abgelehnt – er ist ein vielbeschäftigter Mann.“
„Das ist egal, ich finde einen Weg.“
„Ich würde Ihnen raten, uns lieber etwas anderes zu liefern – würden Sie Leute über die fünf besten Gedankencenter- Sommer- und Urlaubs-Injektionen berichten, dann würde es die Auflage wohl eher steigern.“ Er lacht, „und ja, ich gebe zu – das wäre ein Wahnsinns-Leak, aber sicherlich ist einfach nichts dran an dem Mist, das hören wir immer wieder. Diese
Ariana war keine einflussreiche Person war. Sie hat nicht gerade ein Vorzeigeprofil, hat nichts an sich vornehmen lassen. Wahrscheinlich fehlte das Geld und jetzt ist sie bloß wütend, dass sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt wurde.“ Ja, das kann man ja immer sagen, aber Paula glaubt nicht, dass es irgendwie daran liegt.
„Wie auch immer. Ihre Nachforschungen richten sich vor allem gegen das Human Design. Das sollte ein Anhaltspunkt für uns sein.“
„Tun Sie, was Sie wollen, aber ich schätze Ihre Erfolgsaussichten nicht hoch ein.“ Das sind sie nicht. Auf dem klassischen Weg wird sie nicht an dieses Unternehmen drankommen. Sie brauchen einen Job, aber wie soll sie den bekommen, wenn sie bisher nur Erfahrungen im journalistischen Bereich gesammelt hat?
Das Licht ist gedimmt. Carlos „Cooli“ Dunshdy sitzt in seiner abgedunkelten Kellerwohnung. Gerade bekommt er einen Anruf – das ist normal – die Nummer ist unterdrückt. Das ist nichts Ungewöhnliches.
„Ich brauche eine andere Identität – ein attraktives Bewerbungsprofil – Psychologie, VWL und Neurowissenschaft.“ Die Stimme ist unterdrückt – das ist normal.
„Hm – ambitioniert. Und – welche Injektionen wollen sie gehabt haben?“ Diese Zeitform hat er selber erfunden, aber sie passt.
„Alles, was ich brauche, um einen Job bei einem angesagten Gedanken-Unternehmen zu bekommen.“
„Und wie… angesagt?“
„Human Design wäre schon gut…“ Das Google unter den Modifikationsunternehmen – ausgerechnet das Unternehmen, bei dem sein Bruder eine verdammt hohe Position hat – war ja klar, dass alle dahin wollen und schon wieder wird er an diese Sache erinnert.
„Na schön – das lässt sich machen, aber das kostet ordentlich Bitcoins…“
„Bitte, ich habe nicht so viel – es ist für einen Artikel – er soll die Technologien in diesen Einrichtungen in Frage stellen – Sie sind doch auch ein Rebell – ich kann es mir vorstellen.“ Das klingt schon anders. Cooli glaubt zwar nicht, dass es viel bringen würde, aber sein Angeber-Bruder hat es durchaus verdient, dass man ihm mal eins rein würgt.
„Na guht – dann der Normalpreis. Sie schicken mir die Daten über die verschlüsselte Verbindung und ich sehe, was ich tun kann – aber… Sie kennen mich nicht.“
„Klar.“ Cooli tut sein Bestes. Er lässt aus dem Nichts Eintragungen in den Datenbanken der Gedankencenter entstehen, bei denen angeblich Eingriffe für bestimmte Studiengänge vorgenommen wurden und erzeugt so eine künstliche Vergangenheit für die Person. Trotzdem kommt ihm der Auftrag komisch vor.
Es ist ungewöhnlich, dass sich jemals irgendwo einschleichen will, ohne sich selber zu profilieren, aber womöglich ist das nur ein Vorwand der Person die Leistungen günstiger zu bekommen. Was auch völlig okay ist. Ihn hat es immer schon genervt, dass Menschen, deren Geld nicht für die teuren Injektionen reicht, nie besondere Chancen haben werden. Gerade seit es diese standardisierten Pakete und Module für bestimmte Ausbildungen in verschiedenen Güteklassen gibt, determiniert das Einkommen der Eltern zu 99,9% welche Chancen die Kinder haben werden. Reicht das Geld nicht für ein teures und hochwertiges Paket, stellt dich auch niemand ein oder du verdienst eben auch nicht besonders gut. Carlos selber hatte immer die Chance auf die besten Pakete, aber ihm hat es nie vorgeschwebt, ein fremdbestimmtes Leben als Arbeitssklave zu führen und hat schon immer lieber rebelliert. Mit dem Profil für die Person, die sich einschleichen will, ist er fertig. Er hofft, dass man Tafty mal ordentlich eins reinwürgt. Er nimmt noch einen Schluck Bier und begutachtet sein Profil, während er noch das Profil eines Informatik-Studenten bearbeitet, der während seiner Studienzeit zu wenig Praktika abgeleistet hat und sich zu wenig Erinnerungen injizieren ließ, um bei der Jobsuche mit anderen Kommilitonen mitzuhalten. Aufgrund von seinem eigenen Profil ist er mehrfach ausgezeichnet, hat zwei Studiengänge belegt, und arbeitet bei der Scheinfirma „Fun Thoughts“. Mit seinem Profil kann natürlich kaum jemand mithalten.
Leni blickt an der Fassade empor. Es ist früher Abend und eine tintige Dunkelheit legt sich um die Außenwand des Gebäudes. Der Eingangsbereich ist mit einer grellen Lampe beleuchtet, die Fliegen umschwirren. Im Inneren des Gebäudes ist das Licht noch greller, sodass es ihr in den Augen brennt und sie auf einen Schlag aufweckt.
„Ich bringe Sie von der Polizeiwache. Wir haben gesprochen.“
„Leni, nicht wahr. Dann komm mal mit“, sagt die Frau am Schalter. „Du warst also noch nie in einem Gedankencenter?“ Leni schüttelt den Kopf.
„Deine Mutter hat das Gesetz gebrochen. Sie hätte dich wenigstens zu den Routinekontrollen bringen sollen. Ist dir das klar?“ Leni nickt stumm. Sie hat wieder wegen ihrer Mutter geheult, ist müde und will nur noch schlafen.
„In Ordnung, Leni“, sagt die Krankenschwester. Sie beugt sich zu ihr herab und streicht ihr eine nassgewordene Locke aus dem Haar. Ihre Hände sind kalt und ihre Nägel scharf und gleichzeitig so geometrisch geformt, dass Leni sie mit einer Schaufensterpuppe verwechselt hätte, wenn sie aufhören würde, sich zu bewegen.
„Ich heiße Victoria“, sagt sie, „wenn du etwas brauchst, kannst du mich jederzeit fragen.“
„Wir werden versuchen neue Eltern für dich zu finden“, sagt sie vorsichtig.
„Sie meinen Ersatzeltern“, sagt Leni.
Die Krankenschwester schüttelt den Kopf, „nein. Neue Eltern.“ Leni atmet durch den Mund. Sie merkt wie das Heulen salzig und klebrig wiederkommt. Als könnte irgendein Mensch auf dieser Erde ihre Mutter ersetzen.
„Das wird ein Weilchen dauern. Du wirst solange in unserem Kurbereich für Jugendliche wohnen. Dort ist es sehr schön. Es gibt sogar ein Erlebnisbad und diverse Sporthallen. Gibt es irgendetwas, was du gerne machst in deiner Freizeit?“
Leni denkt an enge Gruppenschlafräume und fade Kantinenküche. Mit Freizeiteinrichtungen sind wahrscheinlich ein Spielplatz und ein Leerschwimmbecken gemeint und Victoria lässt es nur aufregender klingen.
„Nehmen sie die Erinnerung bald raus“, fragt Leni, „die an meine Mutter meine ich.“
„Erst wenn du bereit bist“, sagt Victoria und legt beide Hände auf Lenis Schulter. Sie nimmt einen Prospekt von einem Tisch, wo viele bunte Papiere draufliegen und reicht ihn Leni, „sieh dir an was dir gefällt. Ach und noch etwas. Hier ist deine universelle Eintrittskarte.“
Sie präsentiert Leni ein gelbes Armband und bedeutet ihr, ihr ein Handgelenk zu reichen. Leni zögert. Dann reicht sie ihr das linke Handgelenk. Es ist ein sehr blasses Handgelenk. Blaue, dicke Adern ragen aus elfenbeinfarbener Haut hervor. Das Armband, was Victoria hält macht den Eindruck einer fetten gelben Sportuhr aus Plastik und Silikon nur ohne Display. Stattdessen ist ein kreisrunder, silberner Chip in das ebenso runde Mittelstück eingelassen.
„Die Rechte bitte, Schätzchen“, sagt Victoria, „wir wollen ja nicht, dass es dich beim Schreiben behindert.“
„Du weißt, dass ich Linkshänderin bin?“, sagt Leni. Ihre Stimme ist noch viel zu trocken und der Schock ist noch viel zu frisch, als dass sie irgendetwas überraschen könnte, aber skeptisch macht sie das schon.
„Das ist aber auch so ziemlich das Einzige, was wir wissen“, sagt Victoria und lächelt, während sie Leni das Armband um das Rechte Handgelenk bindet. Der Verschluss schließt automatisch und sitzt bombenfest. Das ganze Material schlingt sich unangenehm fest um die Haut wie ein Blutdruckmessgerät.
„Das Material ist wasserfest. Damit kann man auch Duschen und Schwimmen“, sagt Victoria
„Kann man es auch abnehmen?“, fragt Leni.
Victoria schüttelt den Kopf, „leider nein, aber das hat auch Vorteile – es hilft gegen das Verlieren. Außerdem erinnert es dich an deine Termine. Es kann nämlich sprechen, aber das wirst du schon noch herausfinden. Zuerst bringe ich dich in deinen Block und zeige dir dein Zimmer.“
In Lenis Block ist alles Gelb. Die Türschilder zitronengelb, die Wände teilweise weiß oder sandfarben. Die Gänge sind breit und mit tropisch aussehenden Zimmerpflanzen in regelmäßigen Abständen dekoriert. An den Wänden hängen Bilder von karibischen Inseln, amerikanischen National-Park-Wäldern und dünnen, tiefen Wasserfällen, von denen Leni nicht weiß aus welchem Teil der Welt sie kommen. Jedenfalls gibt es kein einziges Bild, was eine deutsche Stadt oder überhaupt ein Haus zeigt, geschweige denn ein mehrstöckiges Hochhaus. Der Gang macht stattdessen eher den Eindruck eines südlichen Urlaubshotelkorridors. Ovale Lampen aus milchigem Glas verströmen Licht, was die Farbe einer untergehenden Sonne hat. Fenster gibt es keine. Stattdessen versorgt eine Lüftungsanlage die Räume mit Luft. Vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt. Eine eigene kleine Welt. Als könnte man überall sein und gleichzeitig nirgendwo.
Es ist mitten in der Nacht, deshalb sind Leni und Victoria die einzigen Menschen auf dem Gang. Sie kommen an mehreren Zimmertüren vorbei. Alle sind aus knallgelb eingefärbtem Metall und scheinen verschlossen zu sein. Neben jeder Tür hängt eine kastenförmige Konsole und darüber ein elektronisches Türschild, auf denen in goldener Computerschrift die Namen der Bewohner stehen. Anhand der Namen erkennt Leni, dass immer abwechselnd ein Mädchen- und ein Jungenzimmer kommt.
„Da vorne geht es in die Haupthalle. Schwimmbad und Außenanlagen sind im Erdgeschoss. Die Gruppenräume und Behandlungszimmer weiter oben. Hier da sind wir. Die 103 ist dein Zimmer. Du musst dein Armband gegen die quadratische Fläche halten.“
Leni entdeckt die 103. Die Tür sieht aus wie alle anderen Türen auch. Ihr Name leuchtet bereits golden zwischen zwei anderen Mädchennamen auf. Lenis Handgelenk muss nur in die Nähe der Tür kommen, damit sie piept und klickt, um ihr zu signalisieren, dass die Tür jetzt offen ist. Die anderen Mädchen haben sich in ihre Decken gemummt und scheinen zu schlafen. Ein Einzelbett steht links von der Tür. Rechts von der Tür steht ein Hochbett.
„Das obere Bett ist frei“, flüstert Victoria. Als Leni mit ihrem Armband in die Nähe der Leiter kommt, beginnen goldene LED-Lampen, die an den Sprossen befestigt sind, zu leuchten. Außerdem leuchtet eine Spur gleichfarbiger Lampen den Weg an den Betten vorbei wie auf einer Flugzeuglandebahn.
„Im Badezimmer ist alles für dich vorbereitet“, flüstert Victoria weiter, „du kannst deinen Teil des Schrankes mit deinem Armband öffnen. Kommst du alleine klar?“
Leni nickt.
„Wenn du mich brauchst kannst du mir über den Organizer über deinem Bett eine Nachricht schicken. Ich bin unter „Betreuerin“ einprogrammiert.“
Leni weiß nicht, was der Organizer ist, und wie er funktioniert, aber sie glaubt nicht, dass sie heute noch mit irgendjemandem reden möchte, mit dem sie nicht unbedingt reden muss. Sie glaubt auch, dass sie nie wieder mit irgendeinem Menschen reden wollen wird, aber sie will trotzdem nicht unhöflich sein.
„Dann schlaf gut, Schätzchen“, sagt Victoria, gibt Leni einen Kuss auf die Stirn und schließt die Tür hinter ihr. Leni zuckt zusammen, als die Metalltür mit einem elektronischen Klick zufällt. Ist sie jetzt eingeschlossen?
Im Badezimmer ist der Spiegel eingeschlagen. Dafür ist es ein schönes Badezimmer und nichts daran ist gelb wie der Rest des Komplexes. Wände und Boden sind mit türkisen Fliesen ausgekleidet. Es gibt eine größere Badewanne mit einem riesigen, luxuriösen Duschkopf. An der Wand hängt ein Regal mit drei Türen. In jede davon ist ein leuchtendes Namensschild eingeprägt wie an der Zimmertür. Ihr Schrank liegt zwischen den Schränken von Sheila Dreher und Alexandra Küster. In ihrem Schrank findet Leni ein paar Garnituren Wäsche, einen Kulturbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta und mehreren Tablettenschachteln. Die Tablettenschachteln hält sie einzeln unter das Licht. Es geht von normalen Kopfschmerztabletten über Schlaftabletten bis zu Mitteln gegen Nervosität und Psychopharmaka gegen Halluzinationen. Als sie das letzte Etikett liest, krampft ihr Magen zusammen. Wird sie diese Mittel wirklich alle brauchen oder sind sie nur für Extremfälle gedacht und finden fast nie Anwendung? Leni beschließt, dass es nichts bringt groß darüber nachzudenken und macht sich an das Zähneputzen. Der Spiegel ist eingeschlagen und im Waschbecken kleben einige getrocknete, hellbraune Blutflecke. Sie fragt sich, ob sie deswegen Victoria verständigen muss, entscheidet sich aber dagegen. Sie will sich nicht in die Angelegenheiten ihrer bisher unbekannten Mitbewohnerinnen einmischen. Die Zahnpasta schmeckt intensiv minzig und ungewohnt. Als Leni fertig ist, zieht sie sich ein Nachthemd aus Baumwolle an, was extra obenauf liegt, verschließt ihren Schrank und klettert in ihr Bett. Sie hat keine Ahnung, wie sie schlafen soll. In den letzten Wochen hat sie kaum geschlafen und jetzt ist sie auch noch an einem völlig fremden Ort.
„Sie können durchkommen“, sagt die Frau am Schalter. Paulas Herz rast. Ihre Bewerbungsunterlagen sind gut frisiert, aber wird das reichen? Kann man diesem „Cooli“ vertrauen, dessen Namen so unprofessionell klingt, wie aus einem Kinderbuch?
Paula betrachtet das große wie mit Glas übergossene typische Logo, das den Marmorboden der Eingangshalle ziert. Die Buchstaben H und D scheinen aus einem menschlichen DNA-Strang zu bestehen und sind clever miteinander verschmolzen und ergeben einen scheinbar Neuen, Komplexeren, der nach außen hin abgeschlossen ist und zwei Innenflächen besitzt.
Die Halle ist klimatisiert. Durch weiter oben liegende Fenster, zu denen man nicht nach draußen sehen kann, flutet staubiges Tageslicht ein. Die restliche Fläche der Wände ist von Bildschirmen ausgefüllt. Paula war hin und wieder Mal hier, wie alle Mädchen und Jungen, die gerne Journalisten und Journalistinnen werden wollten – sie hatte Glück – ihre Eltern haben es ihr immer bezahlt. Oft mussten sie auch lange warten, aber diesmal führt man sie einfach durch – scheinbar haben sie die falschen Unterlagen gekauft. Sie ist froh, dass sie nie in dem HD waren, weil das Geld dafür nie gereicht hat, sonst würde sie vielleicht jemand erkennen.
Sie fahren mit einem Glasaufzug nach oben.
„Es sind schon einige andere hier, keine Angst“, sagt die Frau, „die On-Sight- Bewerbungsrunde zieht sich den ganzen Tag über.“ Na wunderbar. Sie muss also einen ganzen Tag durchhalten. Sie gelangt in einen Gang vor einem Hörsaal, in dem sich mindestens hundert Bewerber befinden – hundert fein gekleidete Frauen und Männer in tollen Business-Outfits mit erstklassigen Lebensläufen. Eine Frau kommt in den Hörsaal und alle klatschen.
„Ich bin Frau Dr. Mandy Dreher“, sagt sie, „ich begrüße Sie herzlich zur Endrunde des Human Designs, dem attraktivsten Arbeitgeber in ganz Deutschland, noch vor Facebook und Google in Berlin. In den folgenden Stunden durchlaufen Sie Assessment Center, Leistungstest und ein On-Sight Interview mit Mr. Tafty Dunshdy persönlich und den zuständigen Abteilungs- und Bereichsleitern.“ Klatschen. Paula kennt die ganzen Berichte über diesen Visionär. Sie müssen ihn für Gott halten. Den Steve Jobs der Gedankenmodifikation.
„Das Human Design ist eine der größten Gedankeneinrichtungen der Welt – unser Angebot reicht von kleineren Eingriffen zur Steigerung des Wohlbefindens über Ausbildungs- und Studienangebote, bis hin zu Unterstützung prominenter Personen und Politikern in ihrer Selbstsicherheit und Ihrem Auftritt…“ Und so weiter und sofort. Paula kennt die Lobreden auf das HD.
„Ihr seid in verschiedene Gruppen aufgeteilt – die Einteilung ist an den elektronischen Tafeln im Warteraum zu lesen. Ich wünsche euch viel Erfolg…“ Oh man – wie soll sie das denn schaffen?
Bei dem Assessment Center sollen sie sie einen Koffer für eine Urlaubsreise packen und evaluieren, was sie auf die einsame Insel mitnehmen würden. Paula hat sich auf so einen Test vorbereitet und verhält sich, wie es ihrer Recherche nach am günstigsten wäre. Die Wissenstests hat sie dank ihrem Fälscher-Freund vorab bekommen – es gibt nur ein Problem – das On-Sight Interview.
Paula wartet auf die finale Runde. Ein Interview mit dem berühmten Tafty, etwas, das ihre Zeitung nie bekommen hat. Der Warteraum ist klimatisiert. An den Wänden erkennt sie Bildschirme, die Werbespots oder Werbetafeln anzeigen, die neuste saisonbezogene Angebote vorstellen – Wissens-Combo Pakete vorgestellt von gutaussehenden Schülern verschiedener Nationalitäten – viele davon tragen Brillen, weil diese oft mit Klugheit assoziiert werden. Darunter der Spruch, „Büffeln war Gestern – spielend durchs Abitur mit dem neuen Wissens-Combo für individuelle Kurse.“
Daneben hängt ein Plakat, das einen unattraktiven, spießig gekleideten Mann zeigt, der alleine auf einer Bettkante sitzt. Ein Plakat direkt daneben zeigt den gleichen Mann im gleichen Bett, was aus der gleichen Perspektive fotografiert ist. Diesmal hält er eine attraktive, brünette Frau im Arm. Die Überschrift: Kein Sex? Erfolg in der Liebe will gelernt sein. Coaching durch Erfahrungen. In zwei Wochen zur Traumfrau. Was sie alles anbieten, aber Paula hat nie darüber nachgedacht, so etwas in Anspruch zu übernehmen. Ist doch gruselig, wer weiß, was sie mit einen machen oder wer daran wirklich ein Interesse hat.
„Hey“, sagt eine Frau ihres Alters, die neben ihr sitzt, vielleicht ist sie etwas jünger, „ich bin ja so aufgeregt, dass ich so weit gekommen bin – ich bin Claire.“
„Paula“, sagt sie.
„Ich wollte schon immer hier arbeiten – ich versuche es schon im zweiten Anlauf – letztes Mal war ich auch schon in der Endrunde, aber es hat nicht ganz gereicht.“
„Dann hoffe ich, es reicht für dich…“ Aber sie fühlt sich nur noch mies – sie wollte keinem den begehrten Platz wegnehmen, nur weil sie recherchieren will. Und überhaupt. Tafty ist ein Psychologe. Wenn ihre Fälschung auffliegt, dann landet sie sofort bei der Polizei. Der Eintrag in die Akte wird vermerkt und selbst wenn sie mit einer Bewährungs- oder Geldstrafe davonkommen würde, würde sich ihr Arbeitgeber von ihr trennen müssen und wenn sie Arbeitslosenhilfe beziehen würde, dann müsste sie sich updaten lassen müssen und dann könnte man ihr je nach Bedarf sämtliche Eingriffe aufbrummen, die ihren Qualifikationen nicht entsprechen.
Dann wird Paula aufgerufen. Tafty schüttelt ihr die Hand und bringt sie in einen geräumigen Büroraum. Es gibt Glasfenster mit Aussicht über die gesamte Stadt und den Rhein, der sich durch das Tal schlängelt mit den beiden Brücken. Tafty hat einen großen Schreibtisch aus Mahagoni und diverse an der Wand hängende Auszeichnungen und Pokalen auf den Regalen. Sie schüttelt Tafty die Hand. In echt sieht er etwas verklemmter aus, als im Fernsehen, findet sie zumindest.
„Sie sind Paula Resean – vierundzwanzig.“ Wohl eher siebenundzwanzig. „Beeindruckend, dass Sie bereits zwei Studiengänge abgeschlossen haben.“
„Vielen Dank“, sagt sie. Es ist gelogen. Sie hat sich noch nie so mies gefühlt, „Sie haben es bereits weit gebracht im Bewerbungsprozess, wie Sie sehen sind Stellen bei uns äußerst beliebt, aber trotzdem interessiert mich, warum Sie sich genau für uns entschieden haben?“ Sie atmet tief durch. Immerhin hat sie sich auf diese Frage vorbereitet.
„Sie sind das renommierteste Unternehmen auf dem Gebiet der Gedächtnismodifikation – darüber hinaus bietet nur das HD die Kombination aus Hilfestellungen im alltäglichen Leben, und beruflicher Entwicklung – das HD deckt das gesamte Spektrum ab, betreibt Forschung, steht im engen Austausch mit der Politik, während sich Reseller nur auf Teilbereiche des Lebens beziehen, wie zum Beispiel Urlaubserlebnisse oder die Optimierung bestimmter musischer oder sportlicher Fähigkeiten. Ich wollte mich breiter aufstellen.“
„Und das sieht man an ihrem vielschichtigen, aber doch stringenten Lebenslauf – roter Faden vorhanden. Beeindruckend. Nur eine Frage stellt sich mir – wenn das HD ihr Ziel gewesen wäre, warum haben Sie nicht bereits früher ein Praktikum bei uns absolviert? Schon während der Studienzeit beispielsweise.“
„Ich wollte zunächst ins Ausland – Berkeley fand ich schön, hat einen guten Ruf in Sachen Mathematik und Volkswirtschaftslehre und das HD ist ja eher an der Ostküste vertreten.“
„Ja natürlich, das ist eine gute Antwort“, gibt Tafty vor. Eine gute Antwort, aber glaubt er ihr auch?
„Können Sie mir kurz erklären, worum es in ihrer Masterarbeit ging? Hier steht – Optimierungsanalyse neuronaler Verbindungen in Hinblick auf Modifikationsverfahren – was darf ich mir darunter vorstellen?“ Mist – anders als Tafty hat sie keine Ahnung von Medizin. Sollte sie aber haben. Verdammt… Jetzt fliegt sie auf.
„Es ging um ein neues Verfahren, das beschreibt wie… sich… Neuronen durch Gedankeneingriffe anders anordnen, um bestimmten Einfluss auf das Verhalten von Menschen zu haben.“
„Und welchen Einfluss haben Sie… im Genauen untersucht…?“
„Ähm… ob bestimmte Probanden… mit dem Trinken aufhören. Genau… wir haben Alkoholabhängige zu uns ins Labor eingeladen.“ Oh man – das wird er nie glauben. Aber dann lacht er.
„Oh, das ist gut, dann könnten Sie mal meinen Bruder Carlos einladen. Er trinkt ein Bier nach dem anderen – meine Mutter weiß nicht mehr, was sie machen soll.“ Sie lacht auch.
„Sehr schön, wirklich schön“, sagt er, „Sie fallen mir sehr positiv auf – nur noch eine Sache“, sagt Tafty, „ich will Ihnen etwas zeigen.“