Huren und Zitronen - Helmut Beckmann - E-Book

Huren und Zitronen E-Book

Helmut Beckmann

0,0

Beschreibung

Benno Schmidtbauer, der sich nach eigener Einschätzung zu den "Zitronen" zählt, arbeitet im Dunstkreis der Macht eines Unternehmens. Sein Berufsalltag wird ihm zunehmend fremd, als sei das Unternehmen zu einer Parallelwelt mutiert, in der selbst Mitarbeiter die Orientierung verlieren. Auch im Privaten findet sich Benno plötzlich nicht mehr zurecht zwischen gescheiterten Beziehungen, einer schon vergessenen spätpubertären Verfehlung und daraus folgenden unabsehbaren Konsequenzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 222

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Huren und Zitronen

Der Mann auf der Brücke

Heiligabend

Wiedersehen

Peace-Box

Entwurf

Auf immer und ewig?

Claudia und das Ende der Scham

Ende einer Dienstreise

Vergeltung

Huren und Zitronen

Auf dem Heimweg eines ganz normalen Arbeitstages überfiel Benno Schmidtbauer die Erkenntnis, dass seine Arbeit und damit er selbst entbehrlich war.

Vor einer Ampel musste er halten. Die Sekunde Aufmerksamkeit für den Straßenverkehr verdrängte die Begründung, die soeben noch einleuchtend war. Benno überlegte krampfhaft, doch sie blieb ihm entfallen. Unruhe erfasste ihn; er wollte anhalten, aussteigen, durchatmen, aber die Straße war auf dieser Seite dreispurig und er stand ganz links. Als die Autos vor ihm anfuhren, trat er ruckartig auf das Gaspedal. Der Motor reagierte prompt und dröhnte kurz – die Unruhe blieb jedoch und nährte die Sorge, er könnte endgültig an dem Mühlmann-Syndrom erkrankt sein, wie er das Denken nannte, das ihm von ›seinem Direktor‹, wie er Mühlmann bezeichnete, sozusagen implantiert wurde. Spontan verwarf Benno diese Vermutung. Die Blockade im Kopf war ihm Anzeichen genug, die Wahrheit der Aussage nicht in Zweifel zu ziehen: Ich bin entbehrlich.

Eine Frauenstimme im Radio sang von good bye. Mit einer heftigen Bewegung schaltete Benno das Radio aus. Er mochte diese Art von Zufällen nicht, die sich als solche nicht beweisen ließen und deshalb als Tatsachen durchgingen und den Anschein erweckten, alle Welt wüsste Bescheid, nur er selbst nicht. Er war fünfundvierzig und sein Leben so glatt wie der Kemnader See in der Sommerhitze, es gab zwar gefährliche Strömungen, aber die lagen unter der Oberfläche, wo sie nicht für jedermann erkennbar waren und er sie unter Kontrolle hielt.

Benno fädelte sich an einer Baustelle nach links ein. Seit einigen Jahren rissen die Stadtwerke die Straßen auf und reparierten vorsorglich undicht werdende Leitungsverbindungen. Sie gingen nach einem Plan vor: nicht alles auf einmal, sondern reihum durch die Stadtteile, so dass die Baustellen alle Jahre wiederkamen. Er selbst hatte eigentlich gar keinen Plan mehr, er fühlte sich eher als der Teil eines Planes, den er nicht aufgestellt hatte und dessen Ziele er nicht kannte.

Ein Bass dröhnte aus offenem Seitenfenster an ihm vorbei. In zweihundert Metern stand ein Blitzautomat und würde vielleicht ein schönes Foto machen, wünschte sich Benno. Ihn nervte das Gedränge der Stadt, in deren Umkreis von einer Stunde Autofahrt es keinen Fleck gab, wo man wirklich allein war. Schon vor fünfzehn Jahren, erinnerte er sich, fand er im Stadtwald keine Gelegenheit, Marie Luise ein paar Minuten ungestört und entspannt an die Wäsche zu gehen und ihr, zwischen den Bäumen, die Brust zu entblößen, als Einstimmung auf die Ankunft zu Hause. Unbequeme und hastige Verrenkungen im Wald mochte er schon damals nicht. Jetzt gingen sie spazieren und führten den Hund aus, wie alle anderen auch.

Zehn Minuten später fuhr Benno in die Garage. Auch das Haus war ein Plan, den seine Hypothekenbank über siebenundzwanzig Jahre aufgestellt hatte und dem er sich unterordnete in dem Gefühl, ein schönes und angemessenes Zuhause zu haben. Es lag an dieser nicht mehr nachvollziehbaren Erkenntnis über seine Bedeutungslosigkeit, dass er sich plötzlich grau und flau fühlte, ohne jede Spannung.

»Wie war dein Tag?«, fragte Benno von der Diele in die Küche, während er sich von Ricki begrüßen ließ, ihr den Hals tätschelte und spielerisch die Hand um die Schnauze legte. Ricki machte sich frei und tänzelte, die Vorderpfoten auf seiner Brust.

»Ich bin mit Ricki eben zurück.«

Schade. Eine halbe Stunde mit dem Hund an der Ruhr entlang, und die Eingebung über seine Entbehrlichkeit hätte sich vielleicht wieder eingestellt.

»Mach was du willst«, sagte Marie Luise aus der Küche, »ich werde lesen. Dein Abendbrot habe ich dir auf den Esstisch gestellt.«

Marie Luise hatte ihm zwei Scheiben Brot zu Canapés geschnitten, mit Käse, Salami und Forellenfilets belegt und einige Messerspitzen Senf dazu gegeben, den er sich gerne über den Gouda strich. Benno aß den Teller ohne Appetit leer. Sie hatte sich Mühe gemacht und diese Mühe wollte er nicht zurückweisen, in dem er die Hälfte stehen ließ. Damit ersparte er sich auch Antworten, Erklärungen und Rechtfertigungen.

An diesem Abend ging er erst spät ins Bett. Obwohl er beschäftigt schien, hatte er eigentlich nichts getan: Musik angestellt, im Computer seine Mail-Postfächer überprüft und festgestellt, dass sie nur Müll enthielten. Im Internet hatte er aus einem nostalgischen Impuls heraus vergeblich nach einem Buch aus seiner Kindheit gesucht, von dem er den Namen der Autorin und den Titel längst vergessen hatte, und er hatte die erst gestern geprüften Geldanlagen eingesehen und festgestellt, dass er um knapp zwei Euro vermögender geworden war, weil die einzige Aktienanlage – eine Fehlspekulation, von der er sich nur deshalb nicht trennen konnte, um den Verlust nicht zu realisieren – überraschender Weise drei Cent im Kurs gestiegen war. Zwischen dem Lesen und dem Aufruf weiterer Seiten gab es Phasen, in denen er regungslos auf den Bildschirm starrte und scheinbar der Musik zuhörte.

Benno zog sich im Dunkeln aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Er berührte Marie Luises Schulter. Sie reagierte nicht; ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Benno drehte sich auf den Rücken und dachte, wie häufiger in letzter Zeit, an Claudia.

Was Benno an Arbeit noch nicht erledigt hatte, lag griffbereit; Dringendes oben auf dem Schreibtisch und das schlechte Gewissen in den beiden Schubladen auf der rechten Seite. Die Kunst war, die Schubladen im Auge zu behalten, im richtigen Moment zu öffnen und an den Vorgängen weiter zu arbeiten, als seien sie die Vordringlichen. Die Zeiträume, in denen die Stapel stiegen, kehrten ebenso regelmäßig wieder wie sein jährlicher Urlaubsanspruch. Benno arbeitete dann wie gegen Windmühlenflügel und fühlte sich vom Gewicht des Papiers erdrückt.

In dieser Stimmung klingelte das Telefon. Die Frage, ob er in Mühlmanns Büro kommen könne, war rhetorisch. Benno prüfte in Gedanken die aktuellen Vorgänge, fand aber keinen, zu dem er den Rückruf des Direktors erwarten konnte.

Mühlmann telefonierte. Benno setzte sich in den Besuchersessel vor Mühlmann Schreibtisch und hörte zu, wie schon viele Male vorher, und hoffte auf ein schnelles Ende. Während Benno die Finger kribbelten und er den Notizblock auf den Rand des Schreibtischs legte, hatte Mühlmann Zeit, sich um Angelegenheiten eines Vereinsvorstands zu kümmern, privat also, und klaute damit Bennos Arbeitszeit. Benno musste sich seine eigene Bedeutung nicht durch ein regelmäßiges über zwanzig Uhr hinaus geschobenes Arbeitsende beweisen. Marie Luise war in dieser Hinsicht auch nicht so verständnisvoll wie Mühlmanns Gattin in den von ihm mitgehörten Telefonaten; Frau Mühlmanns Vorwürfe waren dieselben, klangen aber nach Lippenbekenntnissen – sie beschwerte sich pro forma und ohne erkennbar an eine Veränderung zu glauben.

Während Mühlmann redete und antwortete, machte er Benno Zeichen, wie lästig das Telefonat sei. Benno wusste, dass gleich die langatmigen Erklärungen kommen würden, die das Telefonat als notwendig und unabwendbar darstellten, und die Feststellung, wie beschränkt manche Leute seien – das meinte Mühlmann sogar wohlwollend, wie Benno annahm, weil Mühlmann am Telefon freundlich und geduldig blieb, obwohl sein Gesicht resignierte Grimassen schnitt.

Wenn Mühlmann dann die Stimme senkte, kam er zur Sache. Benno glaubte nicht, dass Mühlmann die Stimmhöhe als bewusstes Mittel einsetzte, die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners zu erzwingen; wenn Mühlmann die Stimme senkte, war er ganz er selbst: Wichtig. Diesmal ging es um eine fest umrissene Zusammenarbeit mit einem Konkurrenten. Jeder für sich hatte keine Freude an dem Geschäft mit dem Kunden, also wollte man kooperieren. Benno solle für diesen Einzelfall einen Vertrag entwerfen.

Benno sparte sich den Einwand, dass er keine Zeit für eine zusätzliche Aufgabe hatte, wenn er die bereits anstehenden mit der gebotenen Sorgfalt erledigen wollte. Die Sitzung vor Mühlmanns Schreibtisch würde sich dadurch nur verlängern, ohne die Chance, etwas zu ändern. Mühlmanns Auftrag würde erledigt werden, notfalls durch einen anderen Kollegen und mit entsprechenden Konsequenzen – nicht sofort, aber doch bald und im täglichen Umgang spürbar, spätestens beim nächsten Gehaltsgespräch.

Der neue Auftrag reizte Benno trotz der Zusatzbelastung. Er bedeutete Abwechslung von der sich wiederholenden Routine der Budgets und Berichte über die von ihm betreute Italien-Kooperation. Die Verhandlungen mit der Konkurrenz versprachen spannend zu werden – man stand nicht auf besonders gutem Fuß zueinander, doch wog die Vorfreude den Druck der sich bereits in seinen Büro befindlichen Papiere nicht auf. Benno flüchtete sich in einen Kaffee.

Der Raum, in dem der Kaffeeautomat stand, war eine Enklave inmitten der Geschäftigkeit des Bürogebäudes. Hier wurde Informelles ausgetauscht und ansonsten geschickt verborgene Gefühle krochen aus dunkelblauen oder anthrazithschwarzen Bürouniformen hervor. Ein Kopierer und ein Reißwolf standen noch mit im Raum und markierten den Anfang und das Ende eines unendlichen Kreislaufs.

»Ich bin eine Zitrone«, sagte Benno zu dem soeben eintretenden Kollegen, Klaus Mertens, während er zwei Zehn-Cent-Stücke in den Blechschlitz einfädelte.

»Bist du sauer? Hat es Ärger mit Mühlmann gegeben wegen der letzten Kalkulation?«

Benno wählte Kaffee mit Milch. »Er ist eine Hure.«

»Drücke dich genauer aus. Schläft er mit seiner Sekretärin?«

Der Automat presste den Kaffee jaulend durch den Filter in den Becher.

»Es gibt zwei Arten von arbeitenden Menschen.« Benno zog den Becher vorsichtig aus der Halterung. »Die einen prostituieren sich. Für Geld oder Macht über eine Abteilung, über andere Menschen. Das sind die Huren. Sie halten sich für die Stützen der Volkswirtschaft und bezeichnen ihr Tun selbst als ›Karriere machen‹. Zu diesem Zweck pressen sie Zitronen aus. Das ist die andere Sorte.«

»Du spinnst«, sagte Klaus.

Benno lächelte gequält. Die Reaktion von Klaus zeigte, dass er bei ihm zwischen der Solidarität unter Gleichgestellten und den persönlichen Interessen unterscheiden musste. Klaus wollte nicht länger Zitrone sein, sondern Hure werden. Nur so ergaben die konsequent ab neunzehn Uhr anberaumten Rücksprachen bei Direktor Mühlmann einen Sinn. Gabriele, die Sekretärin, hatte beiläufig beim Mittagessen in der Kantine aus dem Terminkalender des Chefs geplaudert. Ob wohlmeinend oder schadenfroh, hielt sie zurück.

»Vergiss es«, sagte Benno. Auf dem Weg zurück ins Büro begegnete er einem anderen Kollegen. Werner Ungscheid wedelte mit einem dünnen Hefter und rief ununterbrochen: »Scheiße!«

»Warum habe ich ihn darauf hingewiesen?«, fragte Ungscheid aufgebracht. »Ich hätte es wissen müssen!« Es sei nur eine theoretische Alternative gewesen, die er Mühlmann gegenüber der Vollständigkeit halber erwähnt hatte, berichtete Ungscheid, und prompt habe er den Auftrag bekommen, die Studie um diese Alternative zu erweitern – das volle Programm: Beschreibung, Wirtschaftlichkeitsuntersuchung, Vor- und Nachteile darstellen, Empfehlung.

Benno täuschte Verständnis und Mitgefühl mit einer banalen Floskel vor: Mühlmann verteile das Leiden gleichmäßig, denn auch er habe einen zusätzlichen Auftrag von ihm bekommen. In Bennos Augen war Ungscheid eine Quasi-Hure, die von Mühlmann immer wieder als Zitrone gebraucht wurde und dem die frühabendlichen Audienzen bei Mühlmann nicht die erhoffte Beförderung eingebracht hatten – noch nicht, wie Benno befürchtete. In dieser Hinsicht war Mühlmann ein Meister; er verstand es, Hoffnungen über lange Zeiträume lebendig zu halten und war nie verlegen, das nicht Erreichte plausibel zu begründen und den jeweiligen Umständen einem zwingenden und zugleich unglücklichen Einfluss zuzuschreiben, gegen den er selbstverständlich machtlos war.

Ungscheid sah Benno verständnisvoll an. Auch Ungscheid simulierte, wie er selbst, vermutete Benno. Wirkliche Solidarität erwartete er nicht von ihm, dafür war die Beziehung zu dünn. Ungscheid blieb ihm gegenüber von Anfang an auf gesiezter Distanz. Vor Jahren hatte Benno ihm auf Gabrieles Polterabend das Du angeboten, was Ungscheid nicht angenommen hatte. Benno war ihm letztlich nicht böse, aber das Verhältnis zu Ungscheid war für ihn ein für alle Mal geklärt.

Als Benno abends das Büro verließ, traf er auf Klaus Mertens.

»Ungscheid ist durch«, sagte Klaus und nahm den Schritt zu Benno auf. »Durch den Bewertungsausschuss.«

Benno blieb stehen. »Heißt das …«

Klaus nickte.

Marie Luise beklagte sich nach dem Abendessen über seine Schweigsamkeit. Zum Erzählen gehört Erlebtes, hatte er früher gerne eingewandt. Wovon sollte er reden, möglichst ohne langatmige Erklärungen der Sachverhalte, wenn nichts Mitteilenswertes passiert war? Die Diskussion hierüber ersetzte dann das eigentliche Gespräch. Heute war nichts zu erklären.

»Ungscheid ist befördert worden«, sagte er.

»Vermutlich hat er es verdient.«

»Er redet Mühlmann nach dem Mund.«

»Das ist die übliche Ausrede«, entgegnete Marie Luise.

»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte ständig die abendlichen Sprechstunden bei Mühlmann in Anspruch genommen?«

»Ich werde nie verstehen, warum sich die Qualität einer Arbeit nicht bereits tagsüber herausstellt.«

»Tagsüber? Da ist Mühlmann auf Dienstreisen oder in Besprechungen und Konferenzen. Er liest unsere Berichte und Entwürfe zwischendurch und kritzelt Anmerkungen und Fragen aufs Papier.«

»Die sich dann nur abends klären lassen?«

»Ich gebe die Antworten wenn möglich ebenso schriftlich«, sagte Benno. »Und erspare mir deine mündlichen Vorwürfe, es sei wieder einmal spät geworden und du könntest unter diesen Umständen besser allein leben.«

»Ich sehe meine Lebensaufgabe nicht darin, dir den Rücken frei zu halten.«

»Wir haben keine festgelegten Öffnungszeiten wie bei dir im Amt«, sagte Benno heftig.

An diesem Punkt der Argumentation war die Diskussion regelmäßig beendet, als hätten sie sich an ihren jeweiligen Standpunkten eingegraben und beobachteten argwöhnisch, ob sich der andere bewegen würde. Benno fühlte sich ungerecht behandelt. Er verzichtete wegen Marie Luise – eines nicht allzu späten Feierabends – auf die abendlichen Rücksprachen bei Mühlmann, hemmte damit seine Karriere und handelte sich gleichzeitig den Vorwurf von ihr ein, er sei für eine Beförderung anscheinend nicht gut genug.

Benno ging in den Keller und holte eine Flasche Cabernet Sauvignon. In der Diele, auf dem Treppenabsatz, stand Marie Luise, als habe sie auf ihn gewartet. Benno wurde mit der Flasche unwohl, konnte sie aber nicht unbemerkt wegstellen.

»Ich will nicht ungerecht sein«, sagte sie. »Ich stecke nicht so drin in euren Zwängen.«

Benno suchte in Marie Luises Gesicht nach dem Grund für den Sinneswandel. Erst als Marie Luise ihren Kopf auf seine Schulter lehnte und ihr Atem an seinem Hals vorbei strich, war die Weinflasche so hinderlich, dass er sich aus Marie Luises Umarmung lösen musste, um sie abzustellen.

»Gute Nacht«, sagte sie und ging, ohne sich umzusehen, ins Schlafzimmer. Benno eilte ihr nach.

Kröger sei ein Idiot, sagte Mühlmann. Benno schloss aus dieser Feststellung, dass alle Passagen seiner Ausarbeitung, die sich auf Krögers Aussagen stützten, hinfällig waren. Wenn alles gut lief, würde Mühlmann ihn wohlwollend als gutgläubig ansehen, als jemanden, der Kröger nicht durchschaut hatte.

Benno schwitzte. Es gab keinen Grund, Kröger zu misstrauen, er hatte bereitwillig auf alle Fragen geantwortet. Kröger war der Fachmann und Benno maßte sich nicht an, es besser zu wissen. Mühlmann war in dieser Hinsicht unbefangener. Als Jurist sah er sich befähigt, auch Sachverhalte außerhalb von Gesetzen und Verordnungen zu beurteilen. Seine Methode war, die Konzepte so lange zu hinterfragen, bis alle Gestaltungsmöglichkeiten auf dem Tisch lagen und er die einzelnen Elemente nach seinen Vorstellungen neu zusammensetzen konnte. Dafür war Mühlmann gefürchtet und genoss uneingeschränkten Respekt.

Mühlmann diktierte Benno seine Ansichten. Selbstverständlich erwartete er, dass Benno diese bei Kröger durchsetzen würde. Für Benno war das eine unangenehme Situation – Krögers Fachmeinung nicht in Frage zu stellen und trotzdem Mühlmanns Vorstellungen zu entsprechen. Benno hatte für solche Fälle ein bewährtes Rezept: bedingte Offenheit. Entweder bezog er sich auf übergeordnete Gründe, die ein bestimmtes Ergebnis wünschenswert erscheinen ließen, auch wenn diese Gründe im Nebel des Vorstands verborgen blieben, oder er verhielt sich konspirativ und sagte klar an, was Mühlmann wünschte. Welche Methode er im Einzelfall wählte, hing von dem betroffenen Kollegen ab.

Auf dem Weg zum Büro ging Benno in Gedanken schon das Telefonat mit Kröger durch. Konspirative Methode, entschied er, Kröger konnte er die Wahrheit sagen, dass Mühlmann ein anderes Ergebnis wollte.

Benno schlug Krögers Nummer im Telefonverzeichnis nach, als das Telefon klingelte.

Wann er mit der Entscheidungsvorlage für die Vorstandssitzung am Montag rechnen könne, fragte Hochstätter. Die Tagesordnung sei diesmal sehr lang, betonte Hochstätter, und wenn dann alle Unterlagen erst zum Abgabetermin eintreffen würden…

Donnerstag, 14 Uhr, also morgen. Benno verkrampfte sich. Hochstätter schlug man keine Bitte ab, er war als Leiter des Vorstandsbüros für das Überleben wichtig. Von Hochstätter erfuhr man notwendige Einzelheiten aus den Terminkalendern der Vorstände. Es war gut zu wissen, was der handschriftliche Vermerk ›Eilt sehr‹ tatsächlich bedeutete. Hochstätter war kooperativ und berichtete auch über Stimmungslagen und Trends. Das war das Schlimmste überhaupt, wenn man nicht wusste, ob und welches Ziel der Vorstand im Auge hatte.

»Eine Entscheidungsvorlage? Zu welchem Thema?«, fragte Benno.

»Kauf der KPL.«

Benno sagten weder der Vorgang noch die Abkürzung etwas. »Ich kümmere mich darum«, sagte er und packte Zuversicht in seine Stimme. Dies ist nicht die erste Krisensituation, beschwichtigte er seine aufkommende Panik, bisher hast du es immer noch geschafft. Warum hatte er den Auftrag betreffend KPL nicht erhalten? Ohne Auftrag konnte er nicht tätig werden und wäre damit von aller Verantwortung für eine fehlende Entscheidungsvorlage freigesprochen.

Er ging zu Gabriele, um nachzufragen. Sie konnte sich erinnern, weil Mühlmann sein ›Eilt sehr‹ sogar mit zwei Ausrufezeichen versehen hatte und darunter den Auftrag ›Bitte Kaufpreis-Vorschlag‹ und zusätzlich das Kürzel ›b. R.‹, als ob ein Vorschlag je ohne Rücksprache und ohne die Zustimmung von Mühlmann an den Vorstand gegeben worden wäre.

»Ich habe dir die Kopie in dein Büro gebracht und in den Posteingang gelegt.« Gabriele stand auf und Benno folgte ihr.

»Da ist nichts», sagte er. »Du brauchst nicht im Eingangskörbchen nachzusehen.«

»Soll das heißen, ich hätte die Unterlagen verschlampt?«

Benno hob die Arme.

»Hier!«, sagte Gabriele mit deutlicher Genugtuung in der Stimme, als sie den Posteingangskorb in Benno Büro durchwühlt hatte. Sie klatschte das Papier auf Bennos Schreibtisch und ging.

Benno setzte für Sekunden aus zu leben.

Der Posteingang war von heute. Gestern Abend hatte er alle Eingänge bearbeitet, das Fach war danach leer gewesen. Was Gabriele gefunden hatte, musste also erst heute hinein und zuunterst gelegt worden sein. Nur, von wem? Benno verdrängte die Frage. Der Auftrag war da und er in der Pflicht. Mit Gabriele würde er später reden.

Benno rief Fischer an. Ein Kaufpreis für den möglichen Erwerb von KPL sei zu ermitteln, formulierte er den Auftrag. Fischer lachte freundlich. Seine Mitarbeiter hätten mit den aktuellen Marktanalysen genug zu tun. KPL? Nächste Woche – vielleicht.

Mit Fischers Absage war die rechtzeitige Abgabe der Vorlage unmöglich. Ohne Aussagen, bis zu welcher Höhe ein Kaufpreis noch wirtschaftlich war – und dafür war nun mal Fischer zuständig –, würde der Vorstand keine Entscheidung treffen können. Einer würde dann aufgehängt werden, und das wäre Benno, der den Auftrag vier Tage lang in seinem Posteingangsfach hatte liegen lassen. Gabriele würde das notfalls bezeugen.

»Alex«, sagte Benno und legte den Telefonhörer in die andere Hand, um am Computer weiter arbeiten zu können, »ich brauche für die Abschätzung eines Kaufpreises für die KPL deine Hilfe. Herr Fischer sagte mir eben, ihr seid mit Marktanalysen voll beschäftigt. Und jetzt ich und ausgerechnet heute noch.«

»Kein Problem«, sagte Alex.

»Wie bitte?«

»Ich habe meinen Teil vorgestern abgeliefert.«

»Aber Herr Fischer hat mir gesagt…»

»Der hat doch längst den Überblick verloren«. Alex erging sich in Details, wie Fischer die Arbeit auf die Willigen verteilte, wenn die Unwilligen Überlastung vorschützten. Über die KPL habe Fischer auch schon gesprochen, aber nur so zwischen Tür und Angel.

Benno lenkte das Gespräch auf seinen Auftrag zurück und las Alex Daten aus den Unterlagen vor, von denen er glaubte, dass Alex sie für seine Berechnung benötigen würde. »KPL berät unsere Kunden», stellte Benno fest, »warum kaufen wir sie dann?«

»Damit die Konkurrenz sie nicht kauft und unsere Kunden zur Konkurrenz berät«, antwortete Alex. »Du bist doch sonst nicht so begriffsstutzig.«

Benno senkte den Kopf und schloss die Augen. In seinem Kopf war die lähmende Leere, ein Nebel, der keine konkreten Gedanken zuließ.

»Ich komme nach dem Essen in dein Büro«, sagte Alex. »Oder besser: Wir treffen uns schon in der Kantine.«

Marie Luise wachte auf, als Benno kurz vor Mitternacht ins Bett ging. Er begann mit einer Erklärung für sein spätes Kommen, aber sie bemerkte lediglich, sie habe bereits geschlafen und drehte sich auf die Seite.

Benno lag noch eine ganze Weile wach und grübelte über den verzögerten Posteingang nach. Gabriele war zu einer solchen Hinterhältigkeit nicht fähig, zumal sie auch nicht wissen konnte, ab wann er nach den Unterlagen suchen würde. Theoretisch könnte es jeder aus der Abteilung gewesen sein, die neue Kollegin, Anna, ausgenommen, weil sie nach vier Wochen in der Abteilung weder die Kontakte für eine Intrige haben konnte, noch um sich die notwendigen Feindbilder geschaffen zu haben. Es musste jemand sein, der einen Vorteil aus der Sache ziehen konnte. Ungscheid hatte das nicht mehr nötig – jetzt nicht mehr, aber vor vier Tagen vielleicht, als der Bewertungsausschuss noch nicht über seine Eingruppierung in eine höhere Gehaltsstufe entschieden hatte? Klaus Mertens, Christian Becker, Ulli Hoffmann oder Andreas Ludwig, allesamt Zitronen wie er selbst? Bis auf Christian nahmen sie alle die frühabendlichen Sprechstunden bei Direktor Mühlmann wahr.

Benno legte sich auf Ungscheid fest, die Quasi-Hure, ohne konkrete Anhaltspunkte zu haben, sozusagen aus Mangel an Beweisen.

Irgendwann im Sinnieren schlief er ein.

Am Montag klingelte bereits das Telefon, als Benno sein Büro betrat. Gabriele bestellte ihn zu Mühlmann ein.

Er sah Mühlmann den Grund der eiligen Rücksprache nicht an.

»Am Samstag war das jährliche Treffen der Führungskräfte mit dem Vorstand«, eröffnete ihm Mühlmann.

Benno nickte mechanisch. Unter den Mitarbeitern wurde wie ein Geheimnis behandelt, dass Brockstädt, der Vorsitzende des Vorstands, jedes Jahr ein Gartenfest veranstaltete. Die Eingeladenen behielten diese Ehre gewöhnlich für sich.

»Herr Brockstädt hat in seiner Ansprache seinen Eindruck über nachlassende Qualität der Entscheidungsvorlagen erwähnt, erst am Freitag habe er in Sachen KPL eine Empfehlung bekommen, die am Thema vorbei gegangen sei. Er hat keinen Namen genannt.«

Auch ohne die Erwähnung eines Namens fühlte sich Benno schlagartig vernichtet. Das Gefühl, klein, unbedeutend und unwissend zu sein, füllte ihn aus, diesmal mit einer ganz anderen Heftigkeit als sonst, wenn er Mühlmanns Büro nach einer Rücksprache verließ.

»Ich habe versucht, Sie in Zürich zu erreichen«, sagte Benno. »Gabriele – Frau Maibach – hat keine Verbindung bekommen. Sie hatten ihr Mobiltelefon ausgeschaltet.«

»Der Kaufpreisvorschlag – 450 Millionen – war der mit Herrn Fischer besprochen?«

»Ich gehe davon aus«, sagte Benno. »Herr Pohlberg hat den Betrag kalkuliert. Er hat gemeinsam mit mir die Ansätze für die Kalkulation festgelegt.«

»Und warum haben sie die Empfehlung nicht wie üblich mit mir abgestimmt?«

Benno schwitzte. Wie der Zeitdruck entstanden war, konnte er unmöglich erwähnen. »Es ging diesmal – ausnahmsweise – alles sehr schnell. Herr Hochstätter rief an und machte Druck, er wollte die Vorlage für die heutige Vorstandssitzung bereits am Donnerstag, obwohl – es gab eigentlich keine ausdrückliche Terminvorgabe. Und sie waren nicht erreichbar.«

»Ich habe Verhandlungen geführt«, sagte Mühlmann und senkte die Stimme, »um den schweizerischen Markt zu erschließen. Den wollen wir nicht den Italienern überlassen. Da muss es doch möglich sein, ein paar Stunden ungestört zu bleiben.«

»Was hatte Herr Brockstädt denn auszusetzen?«

»Das Ganze steht und fällt mit dem Konkurrenzangebot. Man spricht von 500 Millionen.«

Benno schluckte. »Das wusste ich nicht«, sagte er mit belegter Stimme. »Das wirft die Überlegungen von Herrn Pohlberg und mir zum Einspareffekt bei Eingliederung der KPL in unseren Beratungsservice über den Haufen. Dann bekäme der Kauf eine rein strategische Bedeutung.«

»Das sah Herr Brockstädt genauso«, sagte Mühlmann.

»Woher sollte ich denn von dem Konkurrenzangebot wissen?«

»Ich hätte es Ihnen sagen können«, antwortete Mühlmann.

Benno verkniff sich die Frage, aus welchem Grund Mühlmann ihn über das Konkurrenzangebot nicht unterrichtet hatte. Schließlich lag das Versäumnis nicht bei Mühlmann, Benno hatte nachweislich drei Tage lang Zeit gehabt, mit Mühlmann die Details der Vorstandsvorlage abzusprechen. Wer hatte ihm diese drei Tage gestohlen?

Benno verabredete sich mit Christian Becker zum Essen in der Kantine. Nicht, dass er erwartet hätte, von Christian einen Hinweis zu bekommen, wer ihm übel mitgespielt hatte; Benno brauchte jemanden, um sich den Frust von der Seele zu reden. Er vertraute Christian, zumindest so lange, bis der gegenteilige Beweis erbracht war. Benno hatte auch das Verhältnis zu Gabriele immer gepflegt, denn sie verwaltete den Zugang zu Mühlmann und kannte nützliche Informationen. Einmal hatte sich Gabriele allerdings nicht kollegial verhalten, als er eine vergessene Kopie der vertraulichen Neuorganisation auf dem Kopierer fand und, als er Gabriele die Kopie ins Büro brachte, ein noch leeres Abteilungskästchen mit einem Namen füllte – ein Vorschlag, den Benno nur deswegen aus dem Stegreif erfand, weil er absurd war. Einen Tag später musste er sich bei Mühlmann für den spontanen Scherz rechtfertigen. Gabriele hatte getratscht. Warum sich Mühlmann mit der Sache überhaupt beschäftigte, wurde Benno erst klar, als er hörte, dass der von Benno gebrauchte Name ein Corpsbruder von Mühlmann aus Studententagen war.

Das Mittagessen mit Christian beruhigte Benno, wie er sich das erhofft hatte. Tatsache war, dass Mühlmann Ideen hatte, auf die sie ohne die angeordneten Rücksprachen mit ihm nicht gekommen wären, ebenso wie seine häufig angewandte Methode, seinen Mitarbeitern die Gehirne zu verbiegen, um sie auf seine Gedankengänge einzuschwören, als säßen sie beim Friseur unter der Haube. Mühlmann wüsste nun einmal durch seinen unmittelbaren Kontakt zum Vorstand mehr, meinte Benno, und diesen Informationsvorsprung würde er weidlich ausnutzen, ganz abgesehen davon, dass Mühlmann intelligent und darum nicht zu unterschätzen sei. Mühlmann sei eben eine Hure.

Benno erklärte Christian, was er unter einer Hure und was unter einer Zitrone verstand. Nicht jeder Vorgesetzte sei automatisch eine Hure, und Zitronen würden nur dort gedeihen, wo eine Hure herrsche. Nach diesem Lehrsatz seien Mühlmanns Mitarbeiter allesamt Zitronen. Während Zitronen mit der Erledigung der Aufgaben überlastet seien und kaum zum Nachdenken kämen, würden Huren bei allem, was sie täten, den Einfluss auf ihre Karriere abwägen.

Mühlmann habe doch bereits Karriere gemacht, wandte Christian ein, über ihm gebe es nur noch den Vorstand, und den könne Mühlmann nicht erschlagen, um ganz nach oben zu rücken.

»Nimm meine Theorie nicht wörtlich«, sagte Benno. »Nach fünfzehn Jahren in diesem Unternehmen bildet sich womöglich eine Schizophrenie heraus.«

»Und du – warum suchst du dir keinen neuen Job?«, wollte Christian wissen.

»Ich soll mich nach etwas anderem umschauen?« Benno hob abwehrend die Hände.

Die Italien-Kooperation – zwei Kraftwerke – war in den letzten Jahren zu einem Selbstläufer geworden, die Strompreise schluckten auch ohne besondere Anstrengungen zu Einsparungen die Kosten und machten Bennos regelmäßige Kalkulationen, die Budgets, das Analysieren und Berichten nach oben zur Routine. Entbehrlich, dachte Benno, und erinnerte sich wieder.

»Ich bin eben der Spezialist für Italien«, antwortete er Christian.

Marie Luise arbeitete in einer Behörde, führte morgens und nachmittags den Hund aus und besorgte den Haushalt. Das war ihre Routine. Es überraschte Benno, dass Marie Luise schon nach wenigen Tagen auffiel, dass er noch schweigsamer als gewöhnlich sei. Sie behauptete, es müsse etwas vorliegen und erwähnte die Beförderung von Ungscheid, über die sie zuletzt gesprochen hatten.