Hüter der Angst - H.C. Scherf - E-Book

Hüter der Angst E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

„Du bist stärker als deine Angst! Sie spürt es und wird nachgeben“ Die geflüsterten Worte sollen Sarah beruhigen, ihre Höhenangst endgültig besiegen. Ein Psychopath nutzt die Urängste der Menschen, um sie in den Tod zu treiben. Sein perfider Plan geht bei den Schutzbedürftigen einer Selbsthilfegruppe auf, die ihre Phobien bekämpfen möchten. Wird Peter Liebig, Hauptkommissar im Essener Morddezernat, die Pläne des Wahnsinnigen durchkreuzen können? Der Täter hinterlässt keine Spuren. Erst als der erfahrene Beamte in die Hölle des Killers hinabsteigt, entdeckt er dessen Geheimnis. Ein Psychoduell beginnt, das zwei völlig verschiedene Welten aufeinanderprallen lässt.

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- Nachwort -

 

 

HÜTER DER ANGST

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

HÜTER DER ANGST

Band 1 der Liebig/Momsen-Reihe

 

© 2019 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166

45699 Herten

Email: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von: jovannig / clipdealer.com

mrkornflakes / clipdealer.com

 

Dieses Ebook ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

 

HÜTER

DER ANGST

 

 

 

von H.C. Scherf

 

 

 

 

 

Du kannst dir nicht aussuchen wie du stirbst.

Oder wann.

Du kannst nur entscheiden

wie du lebst.

 

JETZT.

 

© Joan Baez

1

Ich habe Angst. Kein Laut durchdrang die Schwärze der Nacht. Selbst die Stimmen der nachtaktiven Tiere waren restlos verstummt. Nur das Pochen ihres Pulses dröhnte in ihren Ohren, als würde jemand darin den Takt auf einer Trommel schlagen. Ein Takt, der anzuschwellen schien. Sie war geneigt, die Hände an den Kopf zu legen, laut zu schreien. Aufhören - lass es bitte aufhören! Doch es war nicht nur die Stille, die Helga Weiser lähmte. Ihr gesamter Körper bebte, während sie mit angstgeweiteten Augen auf die ruhig daliegende Fläche des so fürchterlichen Sees starrte. Das Weiß in den Augen ließ ihre braunen Pupillen fast verschwinden. Teile des nahezu mondlosen Sternenhimmels spiegelten sich in dem Wasser, das ihr die Lockrufe zuzurufen schien.

Komm näher – ich warte auf dich. Tu es – es ist doch nur noch ein einziger Schritt.

Doch ihr bebender Körper ließ keine weitere Bewegung zu, hielt sie von dieser allerletzten, entscheidenden Aktion zurück. Der offenstehende Mund war darum bemüht, einen Satz zu formulieren, zu schreien. Nichts. Kein Laut verließ die zitternden Lippen. Stattdessen durchschnitten die leise gesprochenen, fast sanften Worte hinter ihr die Lautlosigkeit wie ein Schwert. Als der Mann zu sprechen begann, entfuhr Helgas Mund lediglich ein fast stummes Stöhnen. Das Zittern verstärkte sich.

»Du darfst jetzt nicht zurückweichen. Es ist deine letzte Chance, es endgültig zu überwinden. Tust du es jetzt nicht, wirst du es für den Rest deines Lebens mit dir herumtragen. Es wird dir helfen, deine Phobie für immer zu überwinden. Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Hast du das vergessen?«

Helga verkrampfte die Hände zu Fäusten, öffnete und schloss sie wieder, immer schneller werdend. Der Atem kam pfeifend aus ihrem Rachen und verdampfte in kleinen Wolken in der kalten Luft, die über dem See lag.

Niemals werde ich in dieses Wasser springen. Niemals! Ich will hier weg!

Gerne hätte sie es über den See geschrien, doch ihre Stimmbänder versagten. Nur die Gedanken lärmten durch ihren Schädel, wollten ihn sprengen. Aus den Tiefen ihres Bewusstseins drangen wieder seine Worte in sie ein.

»Du hast es dir versprochen, Helga. Weißt du das nicht mehr? Du hast verstanden, dass dieses Wasser dich tragen wird. Du wirst nicht ertrinken, wenn du tust, was ich dir gesagt habe. Du bist stärker als dieser See. Er bedeutet keine Gefahr für dich, weil du gegen ihn kämpfen wirst. Vertraue auf deine gewaltige Kraft. Nur noch dieser eine Schritt.«

Es war genau der Augenblick, in dem Helga glaubte, dass der See sein riesiges, zahnbewehrtes Maul weit aufsperrte, um sie zu verschlingen. Sie spürte diese kleine Berührung kaum, die aber ausreichte, um sie in das kalte Wasser stürzen zu lassen. Nun löste sich endlich ihre Starre. Der Schrei, der ihre angestaute Verzweiflung mit einer Urgewalt herausließ, schallte über die Oberfläche des Sees, der den Leib dieser Frau gierig in sich aufnahm. Vorbei war es mit der Lautlosigkeit der Nacht. Die Wasseroberfläche schäumte, als Helga Weiser wild um sich schlug, versuchte, das Gesicht über der Oberfläche zu halten. Mit jedem Atemzug floss gleichzeitig diese dunkle Flüssigkeit in ihre Lungen, brachte sie zum Husten. Die Abstände, in denen sie gurgelnd auftauchte, wurden immer länger.

Ein satanisches Lächeln umspielte den Mund der Person, die einen Schritt näher an das Ufer getreten war. Die Wellen, die sich zuvor noch kreisförmig ausbreiteten, versiegten nun endgültig. Schemenhaft war der absinkende Körper von Helga Weiser unter der Oberfläche zu erkennen. Ihre Hand reckte sich wie mahnend zum Himmel, bevor sie völlig in der Tiefe verschwand. Unschuldig lag der See da. So, als wäre nichts geschehen. Nur das Flüstern blieb zurück, als ein Schatten im Dunkel der Nacht verschwand.

»Du hättest es schaffen können. Ja, es wäre vielleicht möglich gewesen.«

2

Polizeimeisterin Roszek versuchte, das Absperrband so hoch wie eben möglich zu halten, als sie den Weg für Hauptkommissar Peter Liebig freimachte. Es gelang ihr nur ansatzweise, als der großgewachsene Mann sich darunter duckte. Ein tiefes Brummen sollte wohl seinen Dank und einen morgendlichen Gruß vereinen, bevor er die Frage an die aufmerksame Beamtin richtete.

»Wo ist die Leiche?«

Sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm der Polizistin. Mit ausladenden Schritten bewegte er sich auf die Buschreihe zu, hinter der er nun Bewegungen und Personen erkannte. Mindestens ein Dutzend Männer und Frauen der Kriminaltechnik waren damit beschäftigt, den Fundort abzusuchen. Mitten im Gewusel erkannte Liebig den Mann, dessen Meinung ihm schon oft in anderen Fällen die schnelle Lösung eines Falles ermöglicht hatte. Ralf Schiller legte keinen Wert auf seinen Doktortitel, wollte auch nicht, dass man ihn damit ansprach. Er hielt die Forderung nach Nennung des akademischen Titels schlechthin für dekadent, weil es für ihn kein Indiz für Fachkompetenz bedeutete. Als hätte er schon längst bemerkt, dass Hauptkommissar Liebig hinter ihm stand, begann er ohne weitere Aufforderung mit der Analyse. Jeder, der ihn kannte, hatte sich bereits an diese piepsige Stimme gewöhnt, die irgendwo aus den Tiefen des Rauschebartes erklang und beeindruckend exakt die ersten Eindrücke preisgab.

»Das Opfer ist weiblich, schätzungsweise zwischen achtundzwanzig und vierunddreißig. Weiterhin denke ich, dass sie um die hundertsechzig Zentimeter groß ist und etwa fünfundsechzig Kilo wiegt. Der Todeszeitpunkt dürfte vor etwa zwei Tagen liegen, da der Kopf im Bereich der Hypostase schon fast blauviolett verfärbt und angeschwollen ist. Allerdings erkenne ich noch kein Durchschlagen des Venennetzes an der Brusthaut. Die Waschhautausbildung hat bereits die Hohlhand erreicht, was meine Einschätzung untermauern dürfte.«

Schiller erhob sich nun und zerrte die Latexhandschuhe von den Fingern. Erleichtert stellte der nur knapp einhundertsiebzig Zentimeter messende Schiller fest, dass der Hauptkommissar in einer Senke stand, sodass er nicht allzu sehr zu ihm hochsehen musste.

»Guten Morgen Liebig. Ihnen war doch bestimmt schon langweilig, so ganz ohne Leiche, oder? Der letzte Mord dürfte doch schon vierzehn Tage zurückliegen, wenn ich mich recht erinnere. Nun ja, sei´s drum. Übrigens – der neue Kurzhaarschnitt steht Ihnen gut. Viel besser als der gegelte Haarschopf vorher. Nun zur Sache. Die Dame dürfte meiner Einschätzung nach ertrunken sein. Genau kann ich das aber erst nach der Obduktion sagen. Der Mageninhalt und die Lunge werden mir Gewissheit verschaffen. Bisher wage ich jedoch die Behauptung, dass diese Frau nicht hier den Tod fand, sondern weiter oberhalb der Ruhr. Am linken Teil des Gesichtes weisen Schürfwunden darauf hin, dass sie, während die Strömung sie weitertrieb, irgendwo angestoßen sein müsste. Ein Ast eines Baumes oder etwa ein Stein an der Uferbefestigung. Wer weiß?«

Liebig nutzte die kurze Pause, um dem Mediziner die Hand zu reichen.

»Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Morgen. Sie werden wohl magisch vom Tod angezogen, wenn ich mir Ihr frühes Erscheinen am Fundort erklären sollte. Eigentlich haben Sie schon sämtliche Fragen beantwortet, die ich Ihnen gestellt hätte. Gibt es sonst noch verwertbare Hinweise?«

Peter Liebig beugte sich nun ebenfalls hinunter zur Leiche, der er eine lange Strähne des immer noch nassen Haares vorsichtig zur Seite strich.

»Das muss einmal eine sehr attraktive Frau gewesen sein. Sie trägt auch verdammt teure Klamotten. Ein Schuh fehlt. Vielleicht haben wir Glück und finden den anderen, den sie eventuell da verloren hat, wo sie ins Wasser geraten ist. Wir werden also das Ufer stromaufwärts absuchen müssen. Was glauben Sie, Schiller? Sieht das nach einem Suizid aus oder ist sie ertränkt worden? Man fällt doch nicht so ohne Weiteres in den See mit voller Montur, ohne dass es jemand bemerkt und meldet. Irgendwelche Verletzungen?«

»Da will ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen, bevor ich die Frau auf dem Tisch habe. Bisher konnte ich zumindest keine Wunden feststellen, die auf einen Kampf hinweisen. Aber vielleicht finde ich ja noch Hautpartikel unter den Fingernägeln. Allerdings ist kein Nagel abgebrochen. Es deutet doch viel auf Suizid hin.«

Schiller fuhr sich mit den schmalen Händen über den kahlen Schädel, was er immer dann tat, wenn er sich über etwas ärgerte oder wenn er begann, zu philosophieren.

»Verdammt. Warum tut man sich so was Schreckliches an. Es gibt bestimmt bessere Methoden, sich umzubringen. Die meisten Menschen wissen vorher gar nicht, dass dieser Todeskampf im Wasser zwischen drei und fünf Minuten dauern kann. Du tauchst ja immer wieder auf, weil dich dein aufkeimender Selbsterhaltungstrieb zum Schwimmen zwingt. Du möchtest plötzlich nicht mehr sterben, willst weiteratmen. Der Organismus nimmt damit immer wieder neuen Sauerstoff auf, der dein Leiden verlängert. Das kann für einen geübten Schwimmer eine langwierige Angelegenheit werden. Scheiße, das wäre das Letzte, was ich mir zum Sterben aussuchen würde.«

Die umstehenden, ansonsten abgebrühten Beamten hingen fasziniert, aber mit zusammengezogenen Schultern, an Schillers Lippen. Sie kannten bereits die bissigen Kommentare dieses begnadeten Gerichtsmediziners. Der eine oder andere wandte sich ab, als sie sich diesen Todeskampf bildhaft vorstellten.

»Was glauben Sie, Schiller? Kann ich morgen früh schon ...?«

»Jetzt mal langsam, junger Mann. Ein alter Mann ist doch kein Rennpferd mehr. Sorgen Sie erst einmal dafür, dass mir die Frau auf den Tisch kommt, dann sehen wir weiter. Ich rufe Sie selbstverständlich sofort und als Ersten an, wenn ich mit der Beschauung durch bin. In der Zeit könnten Sie ja Ihren Job machen und herausfinden, welches Schätzchen ich aufschneide. Die Frau wird doch sicher schon vermisst, vor allem wenn man dermaßen gut aussah. Lassen wir uns also die Sache angehen, Herr Hauptkommissar.«

Es gab ein kurioses Bild ab, als die beiden Männer gemeinsam den Fundort verließen und auf die Fahrzeuge zuliefen. Peter Liebig, der den Mediziner um mindestens einer Haupteslänge überragte, hatte seinen Arm freundschaftlich um die Schulter Schillers gelegt. Dieses Duo war eingespielt und hatte sich in der Vergangenheit bereits zur absoluten Nummer eins in der Aufklärungsstatistik des Morddezernates emporgearbeitet.

3

»Chef, da will Sie jemand sprechen – ein gewisser Roland Weiser. Er bezieht sich auf die Berichterstattung über die Frau aus dem See. Er behauptet, dass es seine Schwester sein könnte. Soll ich ihn ...?«

Peter Liebig studierte weiter die Listen der vermissten Frauen der letzten Wochen. Hin und wieder überfuhr er bestimmte Stellen mit dem Marker. Nur kurz sah er hoch und deutete ein Nicken an, was Rita Momsen, seine jugendliche Praktikantin, als Zustimmung wertete. Es dauerte nur wenige Minuten bis sie in Begleitung eines elegant gekleideten Mannes wieder vor Liebigs Schreibtisch stand. Stumm wies sie auf den Holzstuhl, der vor dem Schreibtisch stand, verschwand schließlich wieder in ihrem kleinen Nebenraum, der ihr als Büro diente. Durch einen freien Streifen der Milchglasscheibe beobachtete sie das weitere Geschehen. Gerne verglich sie andere Männer mit ihrem Chef, in den sie sich ein klein wenig verguckt hatte. Nein, er war nicht als schön zu bezeichnen, aber trotzdem auf eine besondere Art anziehend. Aus Gesprächen heraus wusste sie, dass es in seinem Leben nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau vor zehn Jahren nie wieder eine andere Beziehung gegeben haben soll. So zumindest die Gerüchte. Erst als Liebig aufsah und den Besucher begrüßte, widmete sie sich wieder dem Computer, der ihr Tabellen zeigte, die sie überprüfen sollte.

»Ich hörte, dass Sie Ihre Schwester vermissen und vermuten, dass sie möglicherweise die Tote vom See sein könnte. Die Beschreibung der Frau haben Sie, so denke ich, schon aus den Pressenachrichten entnommen? Ich werde Ihnen natürlich gleich ein Bild zeigen. Doch zuvor würde mich interessieren, wie Sie darauf kommen, dass ausgerechnet Ihre Schwester ...«

Liebig stockte, als er in die traurig dreinblickenden Augen seines Gegenübers blickte. Niemals hätte er diesem Mann, der beim Eintreten einen ungemein selbstsicheren Eindruck machte, diese deutlich sichtbaren Emotionen zugetraut. Seine Erscheinung verband Liebig eher mit dem kalten Bild, das man sich von einem Banker machte. Etwas irritiert tastete Liebig nach der Fotomappe und wartete auf eine Antwort.

»Sie ... sie machte schon seit längerer Zeit solche seltsamen Andeutungen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Sie hatte ihren Lebensmut einfach verloren. Ihr Mann, ich meine ihr Freund, hat sie schon wegen dieser Depressionen verlassen.«

»Was denn nun? Mann oder Freund? Da müssen wir schon Klarheit haben. Wie lange vermissen Sie Ihre Schwester schon? Und wann haben Sie sie denn zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

Immer noch ruhte Liebigs Hand auf der Mappe, in der sich die unschönen Fotos der Wasserleiche befanden. Sein forschender Blick fixierte gleichzeitig den Mann, der, aus welchen Gründen auch immer, vermutete, dass seine Schwester den Tod im See gefunden hatte. Spontan entschied er sich dazu, Weiser das schockierende Bild der Toten vorzulegen. Einen Augenblick meinte er, eine kaum wahrnehmbare Veränderung im Gesicht Weisers erkannt zu haben, was jedoch vom jähen Schock abgelöst wurde. Das konnte nicht vorgespielt sein. Der Mann war sichtlich betroffen und schlug beide Hände vor das Gesicht. Liebig ließ ihm ausreichend Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, bevor er mit dem Finger auf das Foto tippte.

»Ist sie das? Ist das Ihre Schwester, Herr Weiser? Es tut mir leid, dass ich Sie damit quälen muss, aber wir müssen in diesem Punkt absolut sicher sein. Wir müssten Sie eventuell sogar später darum bitten, Ihre Schwester zu identifizieren. Dazu müssten wir ins Klinikum, zur Gerichtsmedizin. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, das per DNA-Vergleich zu bewerkstelligen.

Ach, wie ich sehe, bekommen wir Besuch, der wie gerufen auf der Bildfläche erscheint. Darf ich die Herren bekannt machen. Das ist unser Gerichtsmediziner Ralf Schiller. Hier vor mir sitzt Herr Weiser, der glaubt, seine Schwester auf dem Bild erkannt zu haben. Setzen Sie sich zu uns, Herr Schiller.«

Die beiden Männer nickten sich zu, ohne weitere Begrüßung. Schiller zog sich vom Nebentisch einen Stuhl heran und beobachtete Weiser, der allmählich wieder seine Fassung zurückgewann. Nun war es Schiller, der die Frage an Weiser wiederholte.

»Sind Sie sich ganz sicher, Herr Weiser? Gibt es irgendetwas an Ihrer Schwester, mit dem man sie unverkennbar identifizieren könnte. Ich meine, irgendein Merkmal vielleicht?«

»Dieses große Muttermal wäre da möglicherweise zu nennen.«

»Ein Muttermal? Wo würden wir das denn finden? Wissen Sie das noch?«

Die beiden Kriminalisten wechselten einen Blick, während Weiser nach einer Antwort suchte. Sie warteten geduldig.

»Es ist ... sie hat dieses Muttermal direkt neben ihrer ... neben der Scheide eben.«

Roland Weiser beeilte sich, eine Erklärung nachzuschieben, als er das Erstaunen bei den Beamten feststellte.

»Unsere Mutter erzählte einmal am Tisch davon. Helga rastete beinahe aus, da sie das als großes Geheimnis bewahren wollte. Sie sah es als Makel ... sozusagen als Zeichen des Satans. Verstehen Sie? Darin lag auch der Grund, warum sie nie einen Badeanzug anzog, nie schwimmen lernen wollte. Es war schon verrückt, wie sie mit diesem harmlosen Muttermal umging. Sicher, es war schon daumennagelgroß, aber das war doch keine Schande.«

Wieder tauschten Liebig und Schiller stumme Blicke aus, bevor sich Liebig mit einer erneuten Frage an Weiser wandte.

»Sehen Sie eventuell darin einen Grund, dass sie, ich meine Helga, ins Wasser ging?«

Mit großem Erstaunen sahen die Männer, wie Weiser hochfuhr und fast überlaut reagierte.

»Niemals ... niemals wäre Helga auch nur wenige Meter an den Rand eines Gewässers getreten. Sie wäre eher durch ein Feuer gegangen, aber auf keinen Fall ins Wasser. Sie besaß eine panische Angst vor tiefen Gewässern. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie reagierte, wenn wir als Kinder mit den Eltern in den Urlaub fuhren und sie mitbekam, dass sich ein See in der Nähe befand. Helga vermied sogar, jetzt lachen Sie bitte nicht, meine Herren, in eine hochgefüllte Wanne zu steigen. Sie duschte immer nur. Ich hasste sie manchmal dafür, denn dadurch machten wir niemals richtigen Badeurlaub am Meer.«

»Das ist in der Tat ungewöhnlich, aber wir wissen, dass es solche Phobien gibt. Im Fall Ihrer Schwester nennt man das eine Aquaphobie oder Hydrophobie. Doch so extrem wie bei Ihrer Schwester ist es zumindest mir noch nicht untergekommen.«

Peter Liebig stoppte den Mediziner, da er wusste, wie gerne dieser sympathische Glatzkopf seine medizinischen Monologe in die Welt hinaustrug.

»Gab es noch Kontakt zu dem ehemaligen Freund? Hat sich Ihre Schwester zwischenzeitlich jemand anderem zugewandt? Kurz gesagt, gab es derzeit Kontakte zu Freunden, zur Familie? Ich brauche Namen.«

»Moni hat sich in den letzten Monaten komplett zurückgezogen, gab sogar ihren Job auf. Es ist möglich, dass sie genau deswegen gefeuert wurde. Sie sprach nicht darüber. Selbst der Kontakt zur Familie fand nicht mehr statt. Wir telefonierten zuletzt ... warten Sie ... ich glaube in der letzten Woche. Kann ich aber in meiner Anrufliste nachsehen. Wir haben uns sogar dabei gestritten, weil sie ihre, ich meine, unsere Mutter beschimpfte. Sie meinte, dass sie die Schuld mit daran trüge, dass sie diese Phobie besäße. Total bescheuert, weil Mutter immer mit ihr zum Schwimmunterricht wollte. Moni war es, die das wegen ihrer Verunstaltung, wie sie es nannte, nicht annahm.«

Roland Weiser knetete seine Hände ohne Unterlass, was dem gewieften Kriminalisten nicht entging.

»Besteht für Sie die Möglichkeit, die Wohnung Ihrer Schwester zu öffnen, damit wir uns dort umsehen können? Wir dürfen in solchen Fällen die Möglichkeit einer Straftat nicht außer acht lassen. Schließlich klingt das Ganze etwas mysteriös, zumal Ihre Schwester keinen Kontakt zum Wasser suchte. Wir gehen bei Suizid in der Regel davon aus, dass der oder die Verstorbene einen Abschiedsbrief hinterließ. Das würde vielleicht vieles erklären. Vorher möchten wir Sie aber bitten, Ihre Schwester in der Gerichtsmedizin zu identifizieren. Ich erwähnte ja schon, dass Sie das nicht müssen, aber es würde uns den Vorgang bis zum DNA-Abgleich verkürzen.«

»Ich habe einen Schlüssel, von dem Moni allerdings nichts wusste. Können wir das schnell hinter uns bringen? Ich spüre, dass ich unbedingt Ruhe und etwas Abstand brauche, jetzt, wo ich Gewissheit habe, was mit ihr passiert ist.«

4

Das Licht der untergehenden Sonne warf einen rotschimmernden Mantel über den Grugapark, der von hier oben besonders attraktiv und einladend wirkte. Die gewaltigen Blumenfelder breiteten sich in voller Pracht vor den Augen der Besucher aus. Dafür zeigte Sarah Monk in diesem Augenblick jedoch keinerlei Interesse. Ihr Blick war ausschließlich auf die übergroße, stilisierte Tulpe über ihr gerichtet, die dem Parkturm, schon seit der zweiten Gartenbau-Ausstellung 1952 ein unverkennbares Wiedererkennungsmerkmal verlieh. Sie vermied es krampfhaft, von der Aussichtsplattform auf den Park hinunterzusehen, der immerhin etwa neunundzwanzig Meter unter ihr lag.

Die letzten Besucher hatten die obere Plattform längst verlassen, da die Öffnungszeit zumindest für den Turm in wenigen Minuten ablief. Im Grugaturm und auf den Flächen drumherum ebbte der Besucherstrom mittlerweile ab und es wurde still um die beiden Menschen, die sich wie Verliebte an den Händen hielten.

Ich will hier weg. Ich schaffe das nicht. Mein Gott, was tue ich nur hier oben?

Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor, dermaßen verkrampfte sie ihre Hand um die der Begleitung. Dessen Blick war starr auf Sarahs Nacken gerichtet. Die kaum verständlichen Worte drangen tief in Sarahs Bewusstsein, lösten weitere Panik aus, verstärkten diese sogar.

»Du wirst es so niemals schaffen. Natürlich hilft es dir, eine Weile den Blick nach oben zu richten. Das hast du bis jetzt sehr gut gemacht. Ich bin so unendlich stolz auf dich. Du musst allerdings jetzt auch den nächsten, den wichtigsten Schritt tun. Die Tiefe tut dir nichts, sie greift dich nicht an, ignoriere sie einfach. Es ist nur eine Dimension, die ohne jedes Leben ist. Wir haben doch gelernt, wie wir uns entspannen. Du erinnerst dich sicher daran. Tue es jetzt und hier. Lass die Angst einfach auf dich einwirken, sie wird kurze Zeit später verschwinden. Lache sie aus. Sie bedroht dich nicht auf Dauer. Nur dein Kopf sagt dir, dass es so ist. Mach die Augen auf und lass es zu, dass sie dich überfällt. Du bist stärker als diese Angst, das merkt sie und gibt immer mehr nach.«

Sarahs Lider schlossen sich für einen Moment, in dem sie versuchte, ihre Muskeln zu entspannen. Leise summte sie einen ihrer Lieblingssongs. Das Zittern in den Gliedern ebbte unendlich langsam ab, verschwand schließlich. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich um ihren Mund, als sie den Erfolg der Übung verspürte. Durch ihre flatternden Lider tauchte ein Teil des blutroten Himmels auf, der erstaunlicherweise sogar beruhigend auf sie wirkte. Selbst die Tulpe, von der sie wusste, dass sie die Spitze eines Turmes begrenzte, flößte ihr keine Angst mehr ein.

Als würde ihr Kopf an einer Schnur gezogen, drehte sie sich Richtung Geländer, das sie nun mit beiden Händen fest umfasste. Immer noch erfasste ihr Blick nur den Himmel, an dem in diesem Augenblick zwei Krähen den Kampf um Futter ausfochten. Das Krächzen störte Sarah zwar in ihrer Konzentration, doch ihr Wille, das Unmögliche zu schaffen war ungebrochen. Ihre Pupillen suchten nun den Horizont, weit hinter den sich auftürmenden Wolken. Den einsetzenden Schwindel versuchte sie dadurch zu reduzieren, dass sie mehrfach tief ein- und ausatmete. Das Beben in den Beinen zog sich unendlich langsam aus den Waden in die Oberschenkel. Sie spürte den Druck der Hand ihrer Begleitung auf der ihren. Es wurde besser.

Ich schaffe das! Angst, ich werde dich besiegen und dort hinunterschauen. Nie wieder sollst du von mir Besitz ergreifen!

In dem Augenblick, als sie die Augen vollends öffnete und den Blick nach unten richtete, stockte ihr der Atem. Ihre Füße verloren den Halt auf dem stumpfen Boden und wurden nach hinten weggerissen. Ihr Kopf neigte sich über das Geländer, ihre Hände versuchten, den Griff am Geländer zu verstärken. Doch konnte sie nicht verhindern, dass sie kopfüber von der Plattform in die Tiefe stürzte. Der fast lautlose Schrei, den sie im Fallen ausstieß, verhallte im Gezeter der kämpfenden Krähen. Ein kurzes Geländer, auf dem sie aufschlug, stoppte ihren Fall, spaltete jedoch auch ihren Schädel. Das austretende, einst lebensspendende Blut versickerte im Rasen. Den Aufprall des restlichen Körpers hatte ein Sterndoldenstrauch gedämpft. Sarahs Begleitung lächelte zufrieden und schlug die Kapuze der Joggingjacke über den Kopf. Der Parkwächter, der die Eingangstür des Turms abschloss, sah nur noch den langen Schatten einer Person, die sich mit ruhigen Schritten und mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen zum Parkausgang bewegte.

5

»Ich möchte Sie darum bitten, nichts anzufassen, Herr Weiser. Die Leute werden Zimmer für Zimmer durchsuchen und eventuell Dinge, die wir als wichtig erachten, sicherstellen. Setzen Sie sich einfach dort in den Sessel und warten Sie ab.«

Schon wollte sich Peter Liebig abwenden, als er sich ein weiteres Mal an Weiser wandte, der es sich schon in dem Sessel gemütlich gemacht hatte.

»Sie sagten uns, dass Sie schon lange nicht mehr in dieser Wohnung waren. Trotzdem die Frage an Sie: Fällt Ihnen spontan etwas Ungewöhnliches auf, das gegenüber Ihrem letzten Aufenthalt vielleicht verändert wurde? Entdecken Sie noch irgendwelche Bilder mit dem ehemaligen Freund? Haben Sie übrigens den Namen und womöglich die Adresse des Mannes? Es gehört in solchen Fällen zur Routine, auch frühere Bekannte zu befragen. Oft erfahren wir dadurch mehr über die Beweggründe der Suizidopfer.«

Weiser zog die Stirn in Falten, schien angestrengt nachzudenken. Dabei sah er sich im Zimmer um, betrachtete jeden Gegenstand genau.

»Nein, ich glaube nicht, dass ich Ihnen hier in der Wohnung Hinweise liefern kann. Aber geben Sie mir etwas Zeit, ich werde weiter nach dem Namen suchen. Mir schwebt da ein Bild des Freundes vor, der Name will mir aber spontan nicht einfallen. Ich überlege noch, während Sie sich umsehen, Herr Liebig.«

Aus den Räumen der Drei-Raum-Wohnung erreichten die Männer Geräusche der suchenden Kriminaltechniker. Peter Liebig nickte zustimmend und zog die oberste Schublade eines weißen Sideboards auf. Erst in der dritten wurde er fündig und zog eine Mappe heraus, die mit Fotos angefüllt war. Seine mit Handschuhen geschützten Finger wühlten durch etliche Aufnahmen, bis er bei einem Urlaubsbild länger hinsah. Es zeigte definitiv Helga Weiser in Begleitung eines etwa gleichaltrigen Mannes, der ihr freundschaftlich mit der Hand durch die langen, blonden Locken fuhr. Beide standen am Rande eines Bergabhangs, schienen ihren Ausflug sichtlich zu genießen. Liebig drehte sich um und hielt das Foto Weiser vor das Gesicht.

»Ja, ich glaube, das ist ihr ehemaliger Freund. Helga erzählte mir damals davon, dass sie mit ihm eine Tour durch die Pyrenäen machen wollte. Ich glaube, das war ...«

»... 2016 war das. Steht hinten drauf. Warten Sie, da hat jemand noch mehr geschrieben. Hier lese ich noch: Als Erinnerung an Piau-Engaly, dein David. Sagt Ihnen das was?«

Weisers Gesicht hellte sich auf. Immer wieder tippte er mit dem Zeigefinger auf das Bild, das Liebig vor ihm auf den Tisch gelegt hatte. Die Erleuchtung kam dann plötzlich.

»David ... David Parterre. Nein, warten Sie, es war ein Getränk, ein französisches ...«

»Vielleicht Pastis? Könnte es Pastis gewesen sein?«

»Ja, genau. Er hieß David Pastise. Ich weiß nun wieder, dass sie sich darüber lustig machte. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden Wodka heißen? Wäre doch auch nicht unbedingt angenehm, oder?«

Peter Liebig deutete ein Lächeln an und setzte sich Weiser gegenüber auf das Sofa.

»Können Sie mir mehr zu deren Beziehung erzählen? War das was Ernstes oder würden Sie das als flüchtige Bekanntschaft bezeichnen? Schließlich fährt man ja nicht mit Irgendwem in Urlaub. Wie standen die beiden zueinander?«

»Ich muss zugeben, dass Helga diesbezüglich sehr zurückhaltend war, also wenig erzählte. Doch nach meinem Gefühl war da schon mehr als bei sonstigen Abenteuern. Da stand immer ein besonderer Glanz in den Augen, wenn sie mal über David sprach. Ich weiß noch, als sie ihn zum ersten Mal präsentierte. Sie kam mit ihm zu Besuch, direkt, nachdem sie aus der Gruppe kam.«

»Gruppe? Sie sprachen gerade von einer Gruppe. War sie sportlich aktiv oder welcher Art war das?«

Weiser lehnte sich zurück und öffnete den Schlips, der bis jetzt den Kragen exakt verschloss.

»Sie besuchte monatelang eine Selbsthilfegruppe. Sie wollte endlich selbst etwas unternehmen, um diese quälende Angst vor dem Wasser loszuwerden. Sie sprach mal davon, dass sie gute Fortschritte machte und sie dabei tolle Menschen kennenlernen durfte. Unter anderem diesen David. Kurz danach kam es dann zum Bruch mit der Familie.«

Hauptkommissar Liebig war nun hellwach und kramte nach einem Stift.

»Wissen Sie zufällig, wo wir diese Selbsthilfegruppe finden können?«

»Nein, Herr Liebig. Aber ich weiß genau, dass sich dort ein bekannter Psychotherapeut einbrachte. Er ist meistens in den Sitzungen dabei und gibt Hilfestellung. Ich habe sogar den Namen, wenn Sie möchten. Ich wollte selbst mal seine Hilfe in Anspruch nehmen, da ich eine Zeit lang Probleme hatte, Vorträge ohne Lampenfieber zu halten. Ein guter Mann, kann ich Ihnen versichern.«

Liebig nickte zufrieden und schrieb die Neuigkeiten in sein Notizbuch. Er wollte gerade eine weitere Frage loswerden, als ihn das Klingeln seines Telefons unterbrach.

---ENDE DER LESEPROBE---