Hüter der verborgenen Bücher - Karin Richner - E-Book

Hüter der verborgenen Bücher E-Book

Karin Richner

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Beschreibung

Die Familie der zwölfjährigen Emily Rubinstern bewahrt ein Geheimnis: Immer wieder reisen einige ihrer Mitglieder nach Arcanastra, eine Stadt in einer verborgenen Welt, wo sie als Buchbinder arbeiten. Die Werke, um die sie sich kümmern, sind allerdings sehr viel mächtiger als normale Bücher - und gefährlicher. Eines Tages macht sich auch Emily auf den Weg dorthin. Kaum angekommen, gerät sie mitten in den Kampf um die Macht der Bücher. Die Gilde der Geister bedroht die Stadt, Irrlichter greifen an, und ein Kind verschwindet… Emily muss viele gefahrvolle Abenteuer bestehen. Glücklicherweise kann sie auf die Hilfe ihrer Freunde und ihrer eigensinnigen Katze zählen.

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Hüter

der verborgenen Bücher

__________________________________  

Band 1

Fantasy-Roman

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-157-9

MOBI ISBN 978-3-95865-158-6

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die Familie der zwölfjährigen Emily Rubinstern bewahrt ein Geheimnis: Immer wieder reisen einige ihrer Mitglieder nach Arcanastra, eine Stadt in einer verborgenen Welt, wo sie als Buchbinder arbeiten. Die Werke, um die sie sich kümmern, sind allerdings sehr viel mächtiger als normale Bücher – und gefährlicher. Eines Tages macht sich auch Emily auf den Weg dorthin. Kaum angekommen, gerät sie mitten in den Kampf um die Macht der Bücher. Die Gilde der Geister bedroht die Stadt, Irrlichter greifen an, und ein Kind verschwindet… Emily muss viele gefahrvolle Abenteuer bestehen. Glücklicherweise

kann sie auf die Hilfe ihrer Freunde und ihrer eigensinnigen Katze zählen.

Prolog

Seine Verfolger waren dicht hinter ihm. Rufe und Befehle drangen durch die Nacht, Hunde bellten und knurrten. Wenn Andri sich im Laufen umsah, konnte er die Fackeln zwischen den Bäumen hindurch schimmern sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Männer ihn eingeholt hatten.

Er musste es schaffen, dachte der Junge und lief keuchend weiter. Der Turm war so nah, und er war noch viel zu jung zum Sterben, kaum dreizehn Jahre alt…

Einer der Hunde hatte sich aus dem Feld der Verfolger gelöst und jagte immer schneller über den Waldboden. Andri konnte bereits sein Hecheln hören, das Trommeln der Pfoten. Mit letzter Kraft rannte er auf die Lichtung zu. Gleich dort vorne musste sie sein, wenn er sich in der Dunkelheit nicht verirrt hatte. Andri sprang über umgestürzte Bäume, wich Büschen und Tümpeln aus, bemerkte kaum, wie ein Ast ihm ins Gesicht peitschte und ihm die Haut an der Wange aufriss. Sein einziger Gedanke galt dem Turm. Er wusste, wie er aussah, wusste, was dort geschehen konnte, doch er wusste nicht, ob es bei ihm funktionieren würde.

Wenn nicht, war er verloren.

Erleichterung durchströmte den Jungen, als er den Turm endlich vor sich erblickte. Auf jeder seiner vier Seiten befand sich ein Tor, so dass man durch ihn hindurchsehen konnte. Andri lief auf das Bauwerk zu, zögerte eine Sekunde lang, drehte sich um…

In diesem Moment hatten seine Verfolger ebenfalls die Lichtung erreicht. Einer der Männer brüllte etwas, die Hunde schossen vorwärts, und Andri wand sich wieder dem Turm zu, doch er war zu langsam. Ein Messer sauste durch die Luft, verfehlte sein Herz und drang ihm dafür tief in die Schulter. Andri stöhnte auf. Er taumelte, klammerte sich am steinernen Turm fest, stolperte durch das Tor…

Im nächsten Augenblick waren die Männer und die Hunde hinter ihm verschwunden, als hätte der Wald sie weggeschluckt. Immer wieder schaute Andri sich um, doch es gab keinen Zweifel, auch wenn die Gegend um ihn herum noch immer genau so aussah wie zuvor: Er war auf der anderen Seite, und seine Verfolger konnten nicht hierher gelangen.

Zitternd sank er auf den Boden. Noch immer steckte das Messer in seiner Schulter, und Andri fühlte, wie er langsam das Bewusstsein verlor. Seine Gedanken verwirrten sich. Er kam sich vor wie im Traum…

Andri dachte daran, was er hier zu finden hoffte, dachte an die Stadt Arcanastra und an ihre Bibliothek, den Aufbewahrungsort der verborgenen Bücher. Er war wohl weiter gereist als je ein Mensch zuvor auf der Suche nach diesem sagenumwobenen Ort voller Geheimnisse, voller fantastischer Dinge.

Als schwarze Flecken vor seinen Augen zu tanzen begannen und die Ohnmacht ihn umhüllte, war sein letzter Gedanke, dass er einen Weg finden würde, die Stadt zu betreten. Er würde einer der ihren werden. Er würde selbst ein Hüter der verborgenen Bücher sein.

Das Familiengeheimnis

Zunächst sah es so aus, als würde dieser Samstag ein ganz normaler Tag werden. Die Sonne war gerade aufgegangen und tauchte Häuser und Gärten in goldenes Licht, eine Amsel zog sich zum Frühstück einen Wurm aus der Erde, und die Straßen lagen friedlich und verlassen da. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag für ein Mädchen namens Emily besonders außergewöhnlich werden würde.

Geweckt wurde sie sehr unsanft. Ihre Katze stieß frühmorgens die Zimmertür auf, sprang erst mitten auf ihr Gesicht, setzte sich dort gemütlich hin und pustete ihr schnurrend in die Ohren.

„Amethyst“, protestierte Emily, „das kitzelt!“

Das war Amethyst - Spitzname Amy - egal. Sie rührte sich nicht vom Fleck und schnurrte absichtlich noch ein bisschen lauter. Verschlafen kraulte Emily ihren weichen Rücken. Schließlich schob sie die Katze neben sich aufs Kopfkissen. Einige Minuten lang blieb sie noch liegen, dann stand sie auf.

„Eigentlich müsste ich ausschlafen und mich von der Schule erholen“, sagte sie vorwurfsvoll. Amy schaute Emily aus zusammengekniffenen lilafarbenen Augen an. Fast ein wenig spöttisch. Manchmal war Emily sicher, dass sie jedes Wort verstand.

Eine Weile suchte sie nach einem Paar frischer Socken, dann gab sie es auf und ging barfuß und im Schlafanzug die Treppe hinunter in die Küche. Ihr Vater stand am Herd und hantierte mit einer riesigen Bratpfanne herum.

„Oh, guten Morgen, bist du schon wach?“, wunderte er sich.

„Amy hat mich geweckt“, erklärte Emily und rutschte gähnend auf die Bank hinter dem Esstisch.

„Wirklich? Dabei habe ich ihr mindestens drei Mal gesagt, sie soll dich heute schlafen lassen.“

Emilys Vater wirbelte den Pfannkuchen durch die Luft und konnte ihn gerade noch mit der Pfanne auffangen, bevor er im Fressnapf der Katze landete.

„Die tut doch nie, was man ihr sagt“, brummte Emily. Amethyst war nun mal eine typische Katze, dickköpfig und eigensinnig. Abwesend blätterte Emily durch die Zeitung, bis ihr Vater einen Teller voll dampfender Pfannkuchen auf den Tisch stellte und bat:

„Sagst du deiner Mutter Bescheid, dass wir essen können?“

Bald darauf saß die kleine Familie am Tisch.

„Haben wir schon irgendwelche Pläne für die Herbstferien?“, fragte Emilys Vater, während er sich Kaffee nachschenkte.

„Nun ja...“, begann seine Frau. Emily und ihr Vater schauten sich an. Sie wussten beide, was jetzt kommen würde.

„Es gibt da ganz in der Nähe eine Burgruine, die wir uns noch nicht angeschaut haben. Mit dem Auto wären wir in sechs oder höchstens sieben Stunden dort“, erzählte Emilys Mutter.

„Sieben Stunden findest du kurz?“, fragte Emily. „Da könnten wir nicht mal am selben Tag wieder zurückfahren.“

„Das wäre doch eine gute Gelegenheit, um mal in einer Burg zu übernachten.“ Die Begeisterung ihrer Mutter war nicht zu bremsen. Nicht einmal durch die Tatsache, dass es bereits September war und die Nächte bald ziemlich kühl sein würden.

„Hast du ein Foto von der Ruine?“, fragte Emily misstrauisch.

„Sicher… Moment... es müsste hier irgendwo sein…“ Ihre Mutter wühlte in dem Stapel von Zeitschriften und Briefen auf dem Tisch. „Ach, da ist es ja.“

Stirnrunzelnd betrachtete Emily die Fotografie, die ihre Mutter ihr hingeschoben hatte. Was darauf zu sehen war, konnte man beim besten Willen nicht mal als Ruine bezeichnen. Steinhaufen traf es eher. Emily schüttelte den Kopf.

Olivia Rubinstern war Archäologin. Für sie gab es nichts Schöneres als uralte Münzen, Scherben, Pfeilspitzen oder Schwerter. Oft war sie monatelang nicht zu Hause, sondern an irgendeiner Grabungsstelle. Emily war deshalb mehr von ihrem Vater aufgezogen worden. Levin Rubinstern arbeitete als Lateinlehrer an einer nahen Schule. Obwohl er sich für das Mittelalter interessierte, sah auch er im Moment nicht überaus begeistert aus.

„Vielleicht können wir den Ausflug zu dieser Ruine noch ein wenig verschieben“, schlug er vorsichtig vor. „Bis zu den Weihnachtsferien.“

„Oder den Frühlingsferien“, murmelte Emily.

„Oder den Sommerferien nächstes Jahr...“

„Wie ihr wollt.“ Emilys Mutter betrachtete glücklich die Fotografie. „Seht ihr? Da war der Burggraben... und hier die Waffenkammer... dort die Ställe... man kann alles ganz deutlich erkennen.“

Emily biss in ihren Pfannkuchen und nickte, obwohl sie eigentlich überhaupt nichts erkennen konnte.

„Übrigens, Emily, kennst du das lateinische Wort für Ruine?“, fragte der Vater.

„Ähm.“ Emily schluckte und stand hastig auf. „Ich glaube, ich habe vorhin den Postboten gehört.“

Wenn Levin Rubinstern mit Latein anfing, hörte er nämlich nicht so schnell wieder damit auf.

Als Emily die Haustür öffnete, blies ihr ein kalter Wind ins Gesicht. Der Herbst hatte in diesem Jahr früh eingesetzt. Amy streckte nur schnell die Schnauzhaare in Richtung des Eingangs und verzog sich dann wieder ins Warme. Den Schlafanzug enger um sich geschmiegt, lief Emily durch herumwirbelnde Blätter und Ästchen zum Briefkasten. Daran befestigt war ein Schildchen aus Messing mit der Inschrift:

Olivia und Levin Rubinstern mit Emily und Amethyst

Emily hatte darauf bestanden, den Namen ihrer Katze ebenfalls hinzuschreiben, auch wenn sie zugeben musste, dass sie noch nie Post gekriegt hatte. Immerhin gehörte Amy zur Familie.

Ein Päckchen lag im Briefkasten. Es war unordentlich in braunes Papier eingeschlagen und mit einer Schnur umwickelt. Außerdem befand sich ein Brief dort. Wie das Päckchen war er an Emilys Eltern adressiert. Als Absender stand Stiftung Charlotte Kaiser darauf. Auf einmal wurde es Emily eiskalt, und diesmal hatte es nichts mit dem herbstlichen Wind zu tun. Der Brief war von ihrer Schule. Emily wusste ganz genau, was darin stand, und in den nächsten drei Sekunden erinnerte sie sich an alles, was vor einigen Wochen passiert war...

Emily war im Korridor ihrer Schule auf einem Fensterbrett gesessen. Draußen prasselte der Regen auf Straßen und Dächer, und die Direktorin versuchte, ihn mit ihrer heiseren Stimme zu übertönen. Sie war Emilys Biologielehrerin.

„Und hier seht ihr einen ornithorhynchus anatinus“, sagte sie gerade voller Begeisterung.

Emily reckte den Hals, doch zwischen ihr und der Direktorin stand die ganze restliche Klasse. Sie fand also nicht heraus, welches Tier sich hinter dem unaussprechlichen und komplizierten Namen verbarg. Nicht allzu schlimm, fand sie. Eigentlich interessierte sie sich im Moment sowieso mehr für das baldige Wochenende.

„Nun gut, dazu später mehr, wenden wir uns jetzt dem nächsten Exemplar zu, ebenfalls ein wunderbares Stück...“

Die Direktorin war in ihrem Element. Erst am Tag zuvor war im Korridor eine Vitrine aufgestellt worden, mit lauter ausgestopften Tieren darin. Seitdem war die Direktorin kaum mehr von dort wegzukriegen, und der Unterricht all ihrer Klassen fand momentan im Korridor statt. Im eiskalten Korridor. Fröstelnd rieb Emily sich die Hände und wünschte sich, sie könnte endlich ins warme Klassenzimmer zurückkehren. Und überhaupt fand sie es nicht sehr nett, die armen Tiere einfach auszustopfen.

Auf einmal stieß jemand sie unsanft in die Seite.

„Hey, Neue, alles klar? Glücklich und zufrieden?“

Emily drehte den Kopf. Vor ihr standen die Zwillinge Tom und Jerry und grinsten hinterhältig. Natürlich waren das nicht ihre wirklichen Namen, doch hier in der Schule nannte sie jeder so.

„Sicher“, sagte sie.

Das stimmte überhaupt nicht, und die Zwillinge wussten das sehr genau. Emily war erst seit einigen Wochen in dieser Klasse. Seit den Sommerferien, um genau zu sein. Schon der erste Schultag war eine Katastrophe gewesen. Kaum jemand hatte überhaupt den Kopf gehoben, als die Direktorin sie vorgestellt hatte, und Emily hatte sich rasch auf einen freien Platz in der hintersten Reihe geschoben. Die ganze Stunde lang hatte sie ungewohnt aufmerksam zugehört, aber höchstens die Hälfte davon verstanden, was die Direktorin erzählte. In den Pausen war sie allein im Klassenzimmer gesessen und hatte deprimiert auf einem Sandwich herum gekaut. Niemand schien sich dafür zu interessieren, dass sie an dieser Schule war. Man konnte nicht behaupten, dass es unterdessen besser geworden wäre. Trotzdem bestanden ihre Eltern darauf, dass sie an der Charlotte Kaiser blieb.

„Dort sind sie spezialisiert auf Schüler, die… nun ja… etwas mehr Unterstützung brauchen“, hatten sie gesagt. Emily musste zugeben, dass ihre Noten an ihrer alten Schule wirklich immer schlechter geworden waren. Trotzdem hasste sie es hier. Wenn sie nur nicht ausgerechnet in der Klasse der Zwillinge gelandet wäre!

Emily seufzte und schaute angestrengt zum Fenster hinaus. Vielleicht würden Tom und Jerry sie dann in Ruhe lassen, hoffte sie. Noch immer fiel strömender Regen, und noch immer erzählte die Direktorin mit heiserer Stimme etwas über ein ausgestopftes Tier.

„Hey, Neue...“, flüsterte Tom. Dabei drehte er einen Tennisball in den Händen herum.

„Ich habe einen Namen“, fauchte Emily zurück.

Tom grinste und warf seinem Bruder einen Blick zu. „Hast du gehört? Die Neue wird frech.“

„Hab’s gehört.“ Jerry trat drohend einen Schritt näher. „Pass mal auf, Neue. Du solltest besser ein bisschen höflich sein. Wir könnten sonst nämlich...“

Was sie könnten, erfuhr Emily jedoch nicht. Glücklicherweise klatschte die Direktorin in diesem Moment in die Hände und rief:

„Gut, jetzt kennt ihr alle Tiere in dieser Vitrine. Zurück ins Klassenzimmer!“

Tom und Jerry starrten Emily finster an, dann drehten sie sich um und schlurften hinter den anderen her Richtung Klassenzimmer. Emily seufzte wieder. Obwohl es regnete, schaute sie sehnsüchtig aus dem Fenster. Wie viel lieber wäre sie jetzt draußen gewesen, trotz Nässe, anstatt in dieser Schule. Erfreulicherweise würde die Stunde bald zu Ende sein, dann hatte Emily nur noch Mathe vor sich. Gerade war sie vom Fensterbrett gerutscht, da traf etwas sie mit voller Wucht am Kopf. Emily taumelte. Einige Augenblicke lang tanzten Funken vor ihren Augen. Toms und Jerrys hämisches Gelächter hallte durch den Korridor.

Als Emily wieder deutlicher sehen konnte, bemerkte sie den Tennisball auf dem Boden. Einer der Zwillinge hatte damit auf sie gezielt. Emily rieb sich den schmerzenden Kopf. Später konnte sie nicht mehr sagen, warum genau sie es getan hatte, aber all der Ärger über die neue Schule brach plötzlich aus ihr heraus. Sie bückte sich, hob den kleinen Ball auf, holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft Richtung Vitrine.

KLIRRRR!

Mit ohrenbetäubendem Splittern und Krachen zerbarsten die Glaswände der Vitrine. Scherben rieselten auf den Steinboden und in die Felle der ausgestopften Tiere. Tom und Jerry starrten Emily mit offenen Mündern an, Emily starrte die Überreste der Vitrine an, und die Direktorin, die in der Tür des Klassenzimmers erschienen war, starrte den Tennisball an, der langsam den Korridor hinunter bis zu Emilys Füssen rollte...

Unbehaglich drehte Emily den Brief in den Händen herum. Nach der Sache mit der Vitrine hatte sie der Direktorin einen endlosen Nachmittag lang dabei helfen müssen, mit einer Pinzette die Glasscherben aus den Fellen der ausgestopften Tiere zu zupfen. Ihren Eltern hatte sie davon nichts erzählt, sondern behauptet, sie ginge wegen eines Erdkundeprojekts in die Schule. Aber jetzt war dieser Brief gekommen, und bestimmt stand ganz genau darin, was Emily getan hatte. Vielleicht – und bei diesem Gedanken kam ihr der Wind noch eisiger vor – würde sie deswegen sogar von der Schule fliegen.

Langsam ging Emily zum Haus zurück. Und wenn sie den Brief einfach versteckte, anstatt ihren Eltern zu geben? Sie konnte ihn in winzige Schnipsel zerreißen und im Klo hinunterspülen. Oder ihn verbrennen. Emily kniff die Augen zusammen, als eine besonders starke Windbö ihr die Haare ins Gesicht wirbelte. Aber wahrscheinlich war das eine schlechte Idee. Früher oder später würden ihre Eltern ohnehin erfahren, was sie getan hatte.

Emily schloss die Haustür hinter sich. Eine Weile blieb sie im Flur stehen und lauschte. Die Stimmen ihrer Eltern drangen noch immer aus der Küche. Dann gab Emily sich einen Ruck und schob die Tür auf. Ihre Eltern waren dabei, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

„Post für euch“, murmelte Emily, legte Päckchen und Brief auf den Tisch und verließ die Küche schnell wieder. Sie beschloss, einen Ausflug auf den Dachboden zu unternehmen, bevor die Welt über ihr zusammenstürzte.

Natürlich war Amy auch dabei. Sie zwängte sich zwischen alten Truhen und fleckigen Spiegeln hindurch, beschnupperte all den Gerümpel, der in dunklen Ecken lag, und hopste auf Emilys kaputtem Trampolin herum.

Emily selbst setzte sich auf ein abgewetztes Sofa unter dem staubigen Dachfenster. Sie kam oft her. Hier konnte sie ihren Gedanken nachhängen, ohne dass sie von jemandem gestört wurde.

Sie zog die Schublade der alten Kommode auf, die neben dem Sofa stand. Darin lag das Familienalbum der Rubinsterns. Emily hatte es schon vor Jahren entdeckt. Sie mochte es, durch die Seiten zu blättern und die gemalten Porträts all ihrer Vorfahren zu betrachten. Irgendwann gab es natürlich Fotografien anstelle der Gemälde. Diese waren teilweise so stark vergilbt, dass man die Person darauf kaum mehr erkennen konnte.

Und wie immer, wenn Emily das Album in den Händen hielt, dachte sie an das Familiengeheimnis der Rubinsterns.

Das Familiengeheimnis war eine, nun ja, geheimnisvolle Sache. Es wurde von den Rubinsterns sehr gut gehütet, und das bereits seit langer Zeit. Die Eltern erzählten es einzig ihren Kindern weiter. Es gab jedoch auch Rubinsterns, die nicht daran glaubten, dass an der ganzen Geschichte auch nur irgendetwas stimmte.

„Verrückt seid ihr“, murmelten sie, wenn ein anderer Rubinstern davon anfing.

Emily wusste noch genau, wie ihre Eltern ihr davon erzählt hatten. Es war an dem Tag gewesen, als Emily das Album auf dem Dachboden entdeckt hatte. Jedes einzelne Wort der Geschichte konnte sie wiederholen.

Andri war der erste von uns, der eines Tages einfach verschwand. Er war damals noch sehr jung, kaum dreizehn Jahre alt. Seine Verwandten suchten ausgiebig nach ihm, doch vergeblich. Irgendwann fanden sie sich damit ab, dass sie ihn wohl nie wieder sehen würden. Vielleicht hatte er ja eines dieser Schiffe bestiegen, die über das Meer zu dem neu entdeckten Kontinent fuhren. Doch dann, Jahre später, kehrte Andri zurück. Mittlerweile war er ein stattlicher junger Mann geworden. Er erzählte unglaubliche Geschichten von einem verborgenen Ort voller magischer Dinge.

„Dort gibt es eine Stadt“, flüsterte er, während seine Familie gebannt lauschte. „Nur wenigen Menschen ist es möglich, sie zu betreten. Sie ist voller Geheimnisse, und ihre Gründung liegt zu lange zurück, als dass heute noch eine genaue Überlieferung davon existieren würde. Arcanastra ist uralt. An jeden Stein, jeden Baum knüpft eine Geschichte an, die so fantastisch und unglaublich ist wie ein Märchen. Und die Bücher und Mechaniken, die es dort gibt… sie sind mächtiger und geheimnisvoller, als ihr es euch jemals vorstellen könntet.“

„Eindeutig verrückt geworden“, nickten einige Rubinsterns. Doch andere glaubten ihm.

Andri blieb nicht der letzte Rubinstern, der verschwand. Und alle Rückkehrer erzählten dieselben Geschichten: Von einem verborgenen Ort, von Arcanastra, den Büchern. So geht das nun schon seit Jahrhunderten. Keiner weiß, ob dieser Ort wirklich existiert – keiner außer denen, die angeblich dort gewesen sind.

„Und ihr?“, hatte Emily ihre Eltern damals gefragt. „Glaubt ihr daran?“

Sie hatten beide den Kopf geschüttelt.

„Es ist einfach nur eine gute Geschichte“, kam als geflüsterte Antwort.

Doch Emily war überzeugt davon, dass Andri die Wahrheit gesagt hatte. Tief in ihrem Innern fühlte sie, dass es mehr gab als die Welt, die sie kannte. Und dann war da ja noch diese seltsame Mechanik.

Sie war damals gleich neben dem Familienalbum gelegen. Die Mechanik bestand aus zwei runden Glasscheiben, zwischen denen Zahnrädchen, kleine Bolzen und Drähtchen zu sehen waren. Am silbernen Rand gab es verschiedene Rädchen und Knöpfe. Allerdings hatte die Mechanik eine schlimme Delle, als wäre sie von einem wuchtigen Stoß getroffen worden.

„Was ist das für ein Gerät?“, hatte Emily von ihren Eltern wissen wollen. Die hatten es stirnrunzelnd hin und her gedreht und ratlos die Schultern gehoben.

Emily trug die Mechanik seither ständig an einer Kette um den Hals bei sich und schob sie jeweils so unter ihre Kleidung, dass niemand sie sehen konnte. Das kühle Glas und Metall auf der Haut erinnerten sie immer daran, dass sie etwas ganz Besonderes besaß.

Nachdenklich zog sie die Mechanik unter dem Schlafanzug hervor. Die meisten der Rädchen und Knöpfchen ließen sich wegen der Delle nicht mehr bewegen, doch den kleinsten Knopf konnte Emily mühelos drücken. Auch jetzt tat sie das wieder…

Und im nächsten Moment begann die Glühbirne in der Lampe über ihr heller und heller zu leuchten, bis sie den letzten Winkel des Dachbodens mit gleißendem Licht ausfüllte.

Als Emily das Licht nicht mehr aushielt, weil es sie in den Augen schmerzte, drückte sie den Knopf erneut. Gleich darauf dämpfte das Licht ab, bis die Glühbirne wieder in normaler Helligkeit leuchtete.

Von dem Moment an, in dem Emily entdeckt hatte, was die Mechanik tun konnte, hatte es für sie keinen Zweifel mehr gegeben: Andri hatte die reine Wahrheit gesagt, und dies war eine der Mechaniken, von denen er erzählt hatte.

Ihren Eltern hatte Emily nichts von ihrer Entdeckung gesagt. Doch an diesem Tag hatte sie sich vorgenommen, dass sie den verborgenen Ort suchen würde. Irgendwann würde sie denselben Weg gehen wie ihr Vorfahre Andri.

Emily schob die Mechanik unter den Schlafanzug zurück und blätterte wieder durch das Familienalbum. Auf einem der Porträts war Andri zu sehen, ein Junge mit abenteuerlustig blitzenden Augen. Auf den folgenden Porträts der Familie fehlte er jedoch. Eine Weile betrachtete Emily ihren Vorfahren, dann legte sie das Album weg, stand auf und schlenderte zur gegenüberliegenden Ecke des Raumes.

Dort befanden sich einige Regale mit antiken Büchern und ein Sekretär. Levin Rubinstern verbrachte ebenfalls viel Zeit auf dem Dachboden. Hier ging er seinem Hobby nach: Dem Restaurieren alter Bücher, die er auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden aufstöberte. Emily half ihm oft dabei, ein Werk neu zu binden. Ihr Vater hatte ihr sogar beigebracht, wie man Papier schöpfte – die Presse, die man dazu brauchte, stand gleich neben dem Sekretär – und wie man mit altmodischen Federkielen schrieb. Emily erinnerte sich noch an ihre ersten Versuche darin. Kaum hatte man einige Buchstaben geschrieben, musste man die Feder schon wieder in die flüssige Tinte tauchen, und Emilys Blatt hatte schlussendlich mehr Tintenkleckse als Buchstaben aufgewiesen. Es hatte lange gedauert, bis sie im Schreiben besser geworden war.

Emily blieb vor den Regalen stehen und schaute sich die neusten Bücher an, die ihr Vater aufgetrieben hatte. Endlich aber beschloss sie, sich ihrem Schicksal zu stellen, und ging mit Amethyst im Arm die Treppe hinunter.

Von ihren Eltern war nichts zu hören.

„Was glaubst du, haben sie den Brief schon gelesen?“, fragte Emily leise.

Die Katze schnurrte als Antwort unergründlich.

Das war ungewöhnlich, dachte Emily. Normalerweise öffneten ihre Eltern die Post, sobald sie gekommen war. Vielleicht hatten sie den Brief übersehen? Aber Emily hatte ihn mitten auf den Küchentisch gelegt...

Es wurde elf Uhr, zwölf Uhr, und noch immer ging Emily unruhig in ihrem Zimmer umher und lauschte. Im Haus war es totenstill. Sie hatte Durst, aber sie wollte nicht in die Küche hinunter gehen, um sich Saft zu holen. Vielleicht saßen ihre Eltern jetzt gerade dort und lasen den Brief. Irgendwann dachte sie, dass es eine gute Idee wäre, ihr Zimmer etwas aufzuräumen. Das würde sie wenigstens ablenken, und es könnte ihre Eltern etwas besänftigen.

Eine weitere Stunde später war das Zimmer kaum wiederzuerkennen. Schulsachen und Comic-Hefte lagen ordentlich im Schrank, die schmutzige Wäsche war verschwunden, und der Abfallkorb quoll über vor gräulichen Brötchen, Apfelresten und Papierschnipseln. Emily hatte sogar die Socke von der Lampe geangelt. Amethyst lag eingerollt auf dem frisch bezogenen Bett und schlief seelenruhig. Erschöpft schaute Emily sich um. Wenn sie jetzt noch den Abfallkorb leerte und Staub saugte, war an ihrem Zimmer kaum mehr etwas auszusetzen. Sie war gerade in den Flur getreten, als ihre Mutter von unten rief:

„Emily, Essen ist fertig!“

Emilys Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Dann aber beruhigte sie sich. Ihre Mutter hatte nicht wütend geklungen. Zudem zog der Duft nach Hackbraten durchs Haus und ließ Emilys Magen schmerzhaft knurren. Mittlerweile war sie auch fast verdurstet. Also entschloss sie sich, nach unten zu gehen.

An der Küchentür blieb sie stehen und schaute sich verwirrt um. Auf dem Tisch lagen kunstvoll gefaltete Servietten, eine Kerze brannte, und sogar Girlanden waren um die Blumentöpfe und das Radio geschlungen. Irgendetwas Entscheidendes musste sie verpasst haben, überlegte Emily angestrengt. Heute war doch nicht etwa der Geburtstag ihrer Mutter oder ihres Vaters? Nein, die waren beide im Frühling, und auch ihr eigener war nicht heute, das wusste sie ziemlich sicher... Amys ebenfalls nicht… vielleicht war ihr Vater zum Direktor seiner Schule befördert worden? Oder ihre Mutter hatte einen längst verschollenen Etruskerschatz gefunden?

„Was ist denn los?“, fragte sie und suchte mit den Augen unauffällig nach dem Brief.

„Wieso?“, fragte ihr Vater unschuldig zurück, während er Schokoladenherzen rund um Emilys Teller streute.

„Na ja, deswegen!“ Sie zeigte auf die Girlanden und den geschmückten Tisch. Levin Rubinstern räusperte sich und behauptete:

„Das ist doch nichts Außergewöhnliches.“

Sprachlos starrte Emily ihn an. Dann schaute sie zu ihrer Mutter, aber die wich ihrem Blick aus, guckte rasch in den Ofen und rief übertrieben:

„Oh, der Hackbraten brennt an, ich sollte mal eben...“ Der Rest war nur undeutliches Gemurmel.

Unbehaglich setzte Emily sich auf ihren Platz. Etwas sehr Merkwürdiges ging hier vor sich. Sie wickelte eines der Schokoladenherzen aus dem roten Knisterpapier und schob es sich in den Mund. Dann ein zweites Herz, ein drittes, und noch eines... normalerweise hätte das bei ihren Eltern einstimmigen Protest ausgelöst.

„Doch keine Schokolade vor dem Essen, Emily“, hätten sie gerufen. Heute aber sagte ihr Vater:

„Lass es dir schmecken, Lieblingstochter.“

Und ihre Mutter meinte:

„Im Schrank liegen noch welche, falls du mehr willst.“

Das war der endgültige Beweis dafür, dass irgendetwas überhaupt nicht so war, wie es sein sollte. Langsam begann Emily sich wirklich Sorgen zu machen. Sogar der Appetit auf Schokoladenherzen war ihr vergangen.

Es wurde das seltsamste Mittagessen, das sie jemals erlebt hatte. Ihre Mutter häufte riesige Stücke des Hackbratens auf ihren Teller, bis Emily stöhnend protestierte und „Ich kann nicht mehr!“ rief. Ihr Vater musterte sie aufmerksam, wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte, und schob ihr immer wieder Schokoladenherzen zu.

„Iss, Emily, ich weiß ja nicht, ob dort...“, begann er einmal, dann biss er sich auf die Lippe und schwieg. Olivia Rubinstern seufzte darauf abgrundtief und stocherte in ihrem Essen, von dem sie keinen Bissen angerührt hatte. Nur Amethyst verhielt sich normal. Mit einem Stück Girlande, das ihr aus dem Maul hing, stolzierte sie durch die Küche, strich um die Stuhlbeine und maunzte, bis Emily ihr heimlich etwas Hackbraten vor die Nase hielt und nur noch zufriedenes Schmatzen unter dem Tisch hervordrang.

„Hättest du nicht Lust auf einen gemütlichen Spaziergang?“, schlug Emilys Mutter unerwartet vor. Emily warf einen Blick aus dem Fenster. Mittlerweile waren bedrohliche Wolken aufgezogen, die Bäume bogen sich im Wind, und es sah nach Regen aus.

„Ich weiß nicht...“, begann sie.

Ihre Mutter spitzte die Lippen und sagte:

„Vielleicht können wir irgendwo ein Eis essen.“

„Eis? Aber dafür ist es schon viel zu kalt“, protestierte Emily. „Ich würde viel lieber...“

„Dann ist das also abgemacht“, sagte Olivia Rubinstern strahlend, als hätte sie ihre Tochter gar nicht gehört. „In zehn Minuten geht’s los. Ich sage Levin Bescheid.“

Emily schaute ihr mit offenem Mund nach.

Und so machten sie sich wenig später auf den Weg, dick eingepackt in wollene Pullover und Regenmäntel. Kaum jemand begegnete ihnen. Sehnsüchtig starrte Emily durch die hell erleuchteten Fenster der Häuser, an denen sie vorübergingen. Überall saßen die Leute im Warmen und Trockenen. Keiner kam auf die Idee, einen gemütlichen Spaziergang zu unternehmen. Emily zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Der feine Nieselregen war allmählich in eine wahre Sintflut übergegangen, und sie fühlte sich, als würden ihr nächstens Schwimmhäute zwischen den Fingern wachsen. Als ein Regenschirm an ihnen vorüber wirbelte, den der Wind jemandem aus der Hand gerissen hatte, und Emily vor lauter Wasser kaum mehr etwas sah, rief ihre Mutter endlich:

„Seht mal, hier könnten wir reingehen.“

Emily hob den Kopf, was sie sofort bereute, denn riesige Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Hastig drängte sie zum Eingang des Cafés, öffnete die Tür und blieb erschöpft stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie all das Wasser aus ihren Augen gewischt hatte und wieder deutlich sah. Von ihrem Regenmantel tropfte es beharrlich. Schon hatte sich eine Wasserpfütze um ihre Gummistiefel gebildet.

„Dort drüben ist ein Tisch frei“, sagte Levin Rubinstern und schob Emily zu einer Nische.

„Aber wir sind klatschnass! Wir überschwemmen das halbe Café“, flüsterte Emily und schaute besorgt zum Kellner, der ihre tropfende Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte.

„Ach was“, entgegnete ihre Mutter, und wenig später saßen sie um den kleinen Holztisch, während ihre nassen Mäntel auf dem Fensterbrett vor sich hin tröpfelten.

„Sie hätten gerne?“, fragte der Kellner nach einem misstrauischen Blick auf die Regenmäntel. Emilys Eltern bestellten tatsächlich Eisbecher, und Emily konnte sie nur mit Mühe davon überzeugen, dass sie viel lieber eine heiße Schokolade wollte. Zum Aufwärmen.

Mindestens zwei Stunden lang blieben sie in dem Café. Durchs Fenster schaute Emily in den Regen und dachte über diesen Ausflug nach. Weshalb waren sie hergekommen? Sie hätten gemütlich zu Hause sein können, Emily hätte in einem Buch gelesen, und ihre Eltern wären mit Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer gesessen. Stattdessen waren sie hier und bestellten nach den Eisbechern noch Tee, dann Orangensaft und Apfelkuchen mit Zimt, als wäre das Café der behaglichste Ort der Welt.

Irgendwann hatte Emily endgültig genug. Im Wollpullover war ihr im überheizten Café nun viel zu warm, ihre Füße hingegen fühlten sich nass und kalt an wie zwei Eisklumpen. Ihre Eltern schoben ihr Orangensaft hin, drängten ihr ein Stück Kuchen auf, strichen immer wieder wie zufällig über ihren Arm und warfen sich dazwischen stumme Blicke zu. Olivia Rubinstern übertrieb es, indem sie ihrer Tochter minutenlang Amyhaare vom Pullover zupfte, dann tatsächlich ein Taschentuch hervorholte und raufspuckte, um einen Schokoladenfleck von Emilys Wange zu reiben. Emily verzog das Gesicht, wich dem Taschentuch aus und stieß den Stuhl zurück.

„Ich will endlich nach Hause“, sagte sie verärgert.

„Oh“, antwortete ihre Mutter. Die Hand mit dem Taschentuch verharrte in der Luft.

„In Ordnung.“ Levin Rubinstern räusperte sich und winkte dem Kellner, der gleich zu ihrem Tisch kam. Er zog einen Notizblock hervor und zählte murmelnd die lange Liste von Getränken und Süßigkeiten zusammen. Schlussendlich nannte er eine ziemlich hohe Summe. Gedankenverloren streckte Emilys Mutter ihm das zerknüllte Taschentuch hin.

„Ich fürchte, das kann ich als Bezahlung nicht akzeptieren“, sagte der Kellner und musterte das Taschentuch irritiert.

„Wie? Ach, natürlich, warten Sie...“ Emilys Mutter holte den Geldbeutel hervor, schob das Taschentuch hinein und streckte dem Kellner dafür eine Banknote hin. Mit spitzen Fingern nahm er sie entgegen.

Als sie zu Hause waren, verzog Emily sich in ihr Zimmer und versuchte, in einem Buch zu lesen, doch bald gab sie seufzend auf. Sie konnte sich unmöglich konzentrieren. Vor den Fenstern wurde es immer düsterer. Über der Heizung lagen die vor Nässe dampfenden Kleider und verströmten einen muffeligen Geruch nach alten Socken und feuchten Putzlappen.

Großtante Sophia

Erst spät am Abend erfuhr sie endlich, was los war. Jedenfalls dachte sie das.

„Emily?“, rief ihre Mutter.

Emily schreckte hoch und öffnete die Zimmertür. Mittlerweile war es draußen stockfinster geworden.

„Ja?“, rief sie zurück. Ihre Stimme klang etwas piepsig dabei.

„Kommst du bitte mal ins Wohnzimmer? Ich und dein Vater… ähm… dein Vater und ich… wir… also… hm… müssen mit dir reden.“

Mit einem unbehaglichen Gefühl im Bauch schlich Emily die Treppe hinunter und trat ins Wohnzimmer. Ihre Mutter lächelte ihr zu, führte sie zu einem Sessel und drückte sie in die Kissen. Dann setzte sie sich neben Emilys Vater auf die Couch. Der zupfte unruhig an den Blättern einer Topfpflanze herum.

„Wir müssen mit dir reden“, begann ihre Mutter und lächelte dabei. Ein bisschen verkrampft allerdings.

„Hast du schon gesagt“, murmelte Emily.

„Ja. Also. Levin, willst du nicht beginnen?“ Hilfesuchend wendete sie sich an Emilys Vater. Der zuckte zusammen und riss dabei aus Versehen das Blatt von der Pflanze.

„Levin, bitte, das ist eine besonders wertvolle…“, zischte Olivia Rubinstern und holte tief Luft. Sie versuchte ein Lächeln, doch es wirkte schief.

„Dein Vater und ich haben uns unterhalten.“ Sie machte eine Pause und räusperte sich. Nervös schaute Emily sie an.

„Worüber denn?“, fragte sie, als sie es nicht mehr aushielt.

„Nun ja, darüber, dass du… die Schule verlassen musst“, meinte sie.

„Oh“, sagte Emily.

Sie fühlte sich, als hätte Tom oder Jerry sie in den Magen geboxt. Also doch: Sie war von der Charlotte Kaiser geflogen. Die Geschichte mit der Vitrine war zu viel gewesen. Emily rieb sich die Stirn.

„Und wo soll ich jetzt zur Schule gehen?“, fragte sie. Vielleicht war eine neue Schule ja gar nicht schlecht. Wenigstens wäre sie dann Tom und Jerry los. Vielleicht durfte sie sogar auf ihre alte Schule zurück, wo all ihre Freunde von früher waren!

Ihre Eltern schauten sich an.

„Nun ja.“ Levin Rubinstern drehte das abgerissene Pflanzenblatt zwischen den Fingern herum. „Du sollst zu Sophia ziehen.“

Emily schaute ihn verständnislos an. „Wer ist Sophia?“

Ihr Vater seufzte und warf seiner Frau einen Blick zu. Dann sagte er:

„Deine Großtante.“

In diesem Moment wurde Emily einiges klar. Deshalb hatten sich ihre Eltern heute so seltsam verhalten… weil sie beschlossen hatten, dass sie Emily wegschicken würden. Zu einer Verwandten, die sie noch nie im Leben getroffen hatte.

„Aber ich will nicht dahin. Ich bleibe hier“, sagte sie.

Der Vater schüttelte nur den Kopf.

„Das wird bestimmt aufregend für dich“, kam ihm seine Frau zu Hilfe.

„Aufregend?“, schnaubte Emily. „Ich habe Sophia noch nie gesehen. Ich ziehe bestimmt nicht zu jemandem, den ich gar nicht kenne.“

Ihre Eltern schauten sie wortlos an.

„Ich gehe da nicht hin!“, rief Emily so laut, dass Amethyst erschrocken in die Luft sprang und in einem der Pflanzenkörbe landete, die von der Decke baumelten.

„Das könnt ihr nicht machen. Ihr könnt mich nicht einfach zu ihr schicken!“ Emily verschränkte die Arme und guckte ihre Eltern so wütend wie möglich an. Leider wirkte es nicht.

„Es muss sein, Emily“, erwiderte Olivia Rubinstern und klang auf einmal sehr müde. „Es geht nicht anders.“

„Aber…“ Emily drehte sich zu ihrem Vater um. Der zuckte die Schultern und sagte:

„Sie hat leider recht. Es geht nicht anders.“

Dann war es still im Wohnzimmer. Nur Amethysts beleidigtes Maunzen drang zwischen den Pflanzen hervor.

„Und wann soll ich zu Sophia ziehen?“, fragte Emily.

Ihre Eltern schwiegen sehr lange, bis Emilys Mutter die unangenehme Stille unterbrach:

„Sofort.“

„Du meinst… jetzt gleich?“, fragte Emily ungläubig.

„Na ja, morgen“, beschwichtigte ihr Vater. „Wir fahren dich hin. Nach dem Mittagessen geht’s los, dann sollten wir gegen Abend dort sein.“

„Du gehst also am besten gleich nach oben und packst“, fügte seine Frau hinzu.

Emily wusste kaum, wie sie die Treppe hoch und in ihr Zimmer kam. Sie konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Alles ging auf einmal so schrecklich schnell. Sie würde also schon morgen weggehen. Von einem Tag auf den anderen würde sie an einem völlig fremden Ort leben, an dem sie keine Menschenseele kannte. Nicht einmal ihre Großtante Sophia. Und die Schule dort war bestimmt noch schrecklicher als die Charlotte Kaiser.

Irgendwann ging sie zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Dachboden und holte ihren Koffer. Ziemlich wahllos stopfte sie Hosen, Röcke, einzelne Socken, einige T-Shirts und Pullover in den Koffer. Weil sie am Morgen aufgeräumt hatte, ging das sehr schnell. Aus dem Bad holte sie Zahnbürste, Zahnpasta und Waschzeug. Danach war der Koffer beinahe voll.

Etwas später klopfte es an die Tür, und Emilys Mutter trat ins Zimmer. Sie setzte sich neben Emily aufs Bett.

„Du hast also gepackt?“, bemerkte sie und musterte den Koffer. „Brauchst du noch etwas?“

Emily zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie es dort ist.“

Mittlerweile konnte sie wieder etwas klarer denken. Und sie war wütend auf ihre Eltern. Wie konnte man sein Kind einfach wegschicken? So schlimm war das mit der Vitrine doch auch nicht, fand Emily.

Die Mutter betrachtete sie stumm. Auf einmal schloss sie ihre Tochter in die Arme.

„Meine Kleine“, murmelte sie. „Es tut mir so leid, dass du gehen musst. Glaub mir, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe… aber du musst zu Sophia. Wir können nichts dagegen tun.“

Sie schluchzte ein bisschen.

Nun ja, dachte Emily. Sie war zwar von der Charlotte Kaiser geflogen, aber es gab bestimmt noch andere Schulen, die sie aufnehmen würden.

„Ihr könnt doch einfach hier eine andere Schule für mich finden“, sagte sie. „Ich würde mich anstrengen, ehrlich. Und jeden Tag drei Stunden Hausaufgaben machen.“

Energisch wischte sich Olivia Rubinstern über die Augen.

„Nein, Emily. Morgen fahren wir dich zu Sophia. Es geht nicht anders.“

Eine fahle Mondsichel stand am Himmel, umgeben von tausenden von Sternpunkten. Das Laub der Bäume raschelte leise, und manchmal flatterte eine Fledermaus vorüber. Emily saß auf dem Fensterbrett und schaute hinaus. Schlafen konnte sie nicht, auch wenn die Uhr auf ihrem Nachttisch bereits nach Mitternacht anzeigte. Ihr Blick fiel auf den fertig gepackten Koffer. Noch zwölf Stunden, rechnete Emily. Nur noch zwölf Stunden lang würde sie hier sein, danach fing für sie ein völlig neues Leben an.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf, öffnete leise die Tür und schlich die Treppe hinunter. Es war still im Haus. Ihre Eltern waren bereits schlafen gegangen.

Die Straßenlampen tauchten das Wohnzimmer in gelbliches Licht und warfen Schatten an die Wände. Emily setzte sich auf die Couch. Gedankenverloren ließ sie ihren Blick durchs Wohnzimmer wandern. Auf dem Couchtisch lag der Brief der Stiftung Charlotte Kaiser, der am Morgen angekommen war. Emily schaute ihn grübelnd an. Wenn ihre Schule nicht geschrieben hätte, wären ihre Eltern bestimmt nicht auf die Idee gekommen, sie zu ihrer Großtante zu schicken. Sie beugte sich vor, nahm den Umschlag und drehte ihn hin und her. Dann zog sie den Brief heraus, faltete ihn auseinander und begann zu lesen.

Sehr geehrte Familie Rubinstern

Wie verabredet schicke ich Ihnen hier einen kurzen Zwischenbericht über die Fortschritte Ihrer Tochter Emily an unserer Schule.

Die Lehrkräfte sind sich einig, dass Emily sich den Umständen entsprechend gut eingelebt hat. Schulisch ist sie auf einem akzeptablen Niveau, ihre Noten haben sich dank der Unterstützung ihrer Lehrkräfte deutlich gesteigert, wie Sie Ende Januar in Emilys Zwischenzeugnis sehen werden. Ihre soziale Eingewöhnung lässt noch etwas zu wünschen übrig. Wir sind jedoch überzeugt, dass Emily in ihrer Klasse bald stärkeren Anschluss finden wird.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass Emilys Wechsel an unsere Schule sicher der richtige Schritt gewesen ist. Ihre Tochter wird bei uns in einigen Jahren erfolgreich zu einem guten schulischen Abschluss kommen.

Für Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Nun verbleibe ich mit freundlichen Grüssen

S. Richter, Direktorin, Schule der Stiftung Charlotte Kaiser

Verwirrt ließ Emily den Brief sinken. Da stand nichts über die zerbrochene Vitrine, und erst recht nichts über einen Schulverweis. Sie war gar nicht rausgeworfen worden! Dieser Brief konnte nicht der Grund dafür sein, weshalb ihre Eltern sie wegschickten.

Aber was war es dann?

Nachdenklich kaute Emily auf ihrer Lippe herum. Vielleicht hatte es mit dem Päckchen zu tun, das ebenfalls im Briefkasten gelegen hatte…

In diesem Moment hörte sie die Klappe der Katzentür aufgehen. Gleich darauf strich Amy um ihre Beine. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, fiel Emily ein. Was würde aus ihrer Katze werden, wenn sie morgen abreiste?

Emily überlegte keine Sekunde länger.

„Amy“, lockte sie die Katze. Amethyst drehte den Kopf. Ihre lilafarbenen Augen leuchteten.

„Amy“, schmeichelte Emily noch einmal. „Du magst doch Abenteuer, nicht wahr?“

Ein Bahnhof im Moor

Eintönig prasselte der Regen auf das Dach des schwarzen Oldtimers, der schon seit Stunden über verlassenen Landstraßen und durch öde Gegenden fuhr. Einsame Schafherden waren über die Hügel verteilt, und nur selten tauchten die Umrisse einer fernen Stadt zwischen den Regenfäden auf. Bereits dämmerte es. Das Grau des Tages ging allmählich in Schwarz über, und irgendwann entdeckte Emily den ersten Stern zwischen den aufreißenden Wolken. Der Regen ließ etwas nach und trommelte nur noch leise auf das Autodach.

Emily fühlte sich nicht sehr gut. Sie hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Immer wieder war sie aus wirren Träumen hochgeschreckt und hatte kaum geschlafen. Beim Frühstück hatte sie keinen Bissen hinunter gebracht. Sie war einfach viel zu aufgeregt.

Ihre Eltern redeten nur das Nötigste. Meist saßen sie stumm da, nicht einmal das Radio lief. Es war ein bisschen wie damals, als sie zur Beerdigung eines Verwandten gefahren waren. Wenn Emily nicht ab und zu die Hand in ihren Rucksack geschoben und dort nach Amethyst getastet hätte, wäre alles schon längst unerträglich geworden.

Auf einmal bremste ihr Vater scharf. Die Rubinsterns wurden kräftig durchgeschüttelt, und Amy protestierte miauend.

„Was war das?“ Emilys Mutter sah nach hinten.

„Gar nichts“, murmelte Emily, aber Amy hatte bereits die Schnauzhaare aus dem Rucksack gestreckt und versuchte, auf Emilys Schoß zu klettern.

„Was macht denn die Katze hier?“ Olivia Rubinstern schaute entgeistert von Amethyst zu Emily.

„Ihr könnt mir nicht auch noch Amy wegnehmen“, erklärte Emily kämpferisch. „Ich nehme sie mit.“

Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob Sophia davon begeistert sein wird. Sie hat schon ein Haustier, glaube ich…“

Emily zuckte die Schultern, kraulte das weiche Fell der Katze und schaute aus dem Fenster. Umso besser, dachte sie bei sich. Vielleicht weigerte sich ihre Großtante dann, Emily bei sich zu behalten, und sie konnte wieder zu ihren Eltern zurück.

Levin Rubinstern fuhr den Oldtimer ein Stück zurück und starrte auf ein morsches Schild, das an einer Abzweigung stand. In der Dunkelheit konnte man die Schrift darauf kaum entziffern.

„Hier ist es“, murmelte er und bog in die Straße ein.

„Pack schon mal die Katze in den Rucksack zurück, wir sind bald da“, bat Olivia Rubinstern ihre Tochter.

Amethyst war zwar entschieden dagegen, aber Emily lockte und streichelte sie so lange, bis sie endlich nachgab und in den Rucksack stolzierte.

„Braves Tier“, lobte Emily. Die Katze drehte ihr den Rücken zu und rollte sich beleidigt ein.

Die Straße führte in eine kleine Stadt. Herr Rubinstern steuerte den Oldtimer durch ein Viertel voller Leuchtreklamen, Kinos und Cafés, in dem viele Leute unterwegs waren. Bald allerdings kamen sie in einen ruhigeren Stadtteil. Vor einem Parkeingang brachte Emilys Vater den Wagen zum Stehen.

„Du musst hier umsteigen“, sagte er.

Emily nickte. Sie zerrte Rucksack und Koffer in den Regen hinaus und folgte ihren Eltern. Zielstrebig gingen sie auf das schmiedeeiserne Parktor zu.

Die Wiesen und Gehwege dort schienen ziemlich verlassen zu sein. Nur auf wenigen Bänken saßen Gestalten, an denen Emily so rasch wie möglich vorüber ging. Sie wunderte sich, weshalb ihre Eltern immer tiefer in den Park hinein gingen. Sollte sie nicht umsteigen?

Schließlich folgten sie einem schmalen Weg, der in ein Wäldchen mitten im Park führte. Die Bäume standen nicht sehr dicht beieinander. Noch immer konnte Emily den bewölkten Himmel über sich sehen, und manchmal blitzte zwischen den Zweigen ein Licht auf. Als ein Käuzchen schrie, zuckte Emily zusammen. Ihre Mutter legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Es ist nicht mehr weit“, sagte sie. Ihre Stimme klang im stillen Wäldchen seltsam laut.

Der Weg führte auf eine Lichtung, die von jungen Birken umstanden war. In der Mitte befand sich ein kleines steinernes Gebäude. Es war nicht viel höher als ein erwachsener Mensch und sah aus wie ein quadratischer Turm. Auf jeder der vier Seiten gab es ein Tor, so dass man durch den Turm hindurch schauen konnte. Obwohl er alt aussah und mit Moos bewachsen war, bröckelten die Steine nicht und wirkten, als wären sie noch immer fest zusammengefügt.

Emilys Mutter blinzelte nervös und begann zu sprechen:

„Du erinnerst dich vielleicht an die Geschichten über Andri Rubinstern, die wir dir erzählt haben…“

Sie brach ab und warf einen hilfesuchenden Blick zu ihrem Mann. Der schien allerdings genau so nervös zu sein wie sie selbst. Jedenfalls rieb er seine Brillengläser derart kräftig trocken, dass sie Sprünge bekamen davon.

„Nur weiter, nur weiter“, murmelte er auffordernd.

Emilys Mutter holte tief Luft.

„Also… du erinnerst dich?“, fragte sie.

„Natürlich erinnere ich mich“, sagte Emily. Schließlich dachte sie jedes Mal daran, wenn sie ihre Mechanik sah oder das Familienalbum betrachtete.

„Und du erinnerst dich… vielleicht… auch, dass wir dir gesagt haben… ich meine, Levin und ich… dass nichts davon stimmt?“, fuhr Frau Rubinstern zögernd fort.

Emily nickte und überlegte, dass ihre Mutter in letzter Zeit ungewöhnlich oft stotterte.

„Nun“, sagte diese, „wir haben… ähm… vielleicht nicht ganz die Wahrheit gesagt.“

Emily holte tief Luft, als sie begriff, worauf ihre Mutter hinaus wollte.

„Es stimmt also?“, fragte sie aufgeregt. „Es stimmt alles, was Andri und die anderen Rubinsterns erzählt haben? Ich wusste es! Ich wusste es die ganze Zeit!“

In diesem Moment zerbrachen die Brillengläser unter den Händen ihres Vaters endgültig.

„Ja“, murmelte er und betrachtete traurig die Überreste seiner Sehhilfe. „Ja, es stimmt alles.“

Die Gedanken in Emilys Kopf schlugen Purzelbäume, und ihr Herz klopfte vor Aufregung. Sie schaute zum Turm. Ihre Mutter nickte, als sie ihren Blick bemerkte.

„Dort sind sie durchgegangen“, sagte sie. „All die Rubinsterns, die verschwunden sind. Auch Sophia. Sie lebt… auf der anderen Seite.“ Sie seufzte, als könne sie das selbst nicht wirklich glauben.

„Aber… habt ihr schon immer gewusst, dass die Geschichten wahr sind?“, wollte Emily wissen.

„Nein.“ Olivia Rubinstern rieb sich über die Stirn. „Sophia hat es uns erst vor einiger Zeit erzählt. Bis dahin waren wir überzeugt gewesen, dass die Sache mit dem Familiengeheimnis eine Spinnerei ist.“

„Und ihr wart noch nie dort drüben?“, fragte Emily weiter.

Ihre Eltern schüttelten den Kopf.

„Dieser Turm führt nur sehr wenige Menschen dorthin“, erklärte ihr Vater. „Uns nicht.“

„Aber mich schon“, vermutete Emily. Der Vater nickte.

In diesem Moment gingen Emily sehr viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Sie dachte an ihr Zuhause, an ihre Eltern, die sie sehr vermissen würde, an die Gegend, in der sie aufgewachsen war, an ihre alten Freunde… aber sie dachte auch daran, dass das Abenteuer zum Greifen nah war. Sie hatte sich so oft ausgemalt, wie es wäre, diesen verborgenen Ort zu entdecken, genau so mutig zu sein wie Andri, ihr Vorfahre. Und jetzt sollte sie wirklich auf die andere Seite gehen, dorthin, wo es all die magischen und geheimnisvollen Dinge gab, von denen Andri gesprochen hatte…

Emily kniff die Augen zusammen und spähte zum Turm.

„Na dann“, sagte sie entschlossen.

Mit traurigem Blick schaute Olivia Rubinstern zu ihrem Mann.

„Siehst du“, murmelte sie. „Ich habe dir doch gesagt, dass sie es toll finden wird.“

Schwermütig erklärte er seiner Tochter:

„Du brauchst nur durch diesen Turm zu gehen, dort drüben wirst du abgeholt. Durch den Turm hindurch, verstehst du?“

„Ja, klar“, nickte Emily.

„Gib das bitte Sophia.“ Ihre Mutter drückte ihr ein kleines Paket in die Hand. Es sah aus wie das Päckchen, das am Tag zuvor im Briefkasten gelegen hatte. Jetzt war es allerdings etwas ordentlicher eingepackt. „Und falls jemand dich fragen sollte, woher du kommst, erzählst du nicht die Wahrheit, hörst du? Sophia hat gesagt, du sollst behaupten, dass du aus der Mondstadt stammst. Dann wird niemand weiter nachfragen.“

„Glaubst du, du kommst zurecht?“, fragte Herr Rubinstein.

„Sicher“, murmelte Emily, auch wenn ihr etwas flau im Magen war.

„Bestimmt?“, hakte ihre Mutter nach.

Emily nickte. Sie wollte den Abschied nicht länger hinauszögern. Sonst wurde er nur schlimmer.

„Na dann…“ Der Vater hustete verlegen umarmte Emily und sagte:

„Du wirst das schon schaffen.“

Auch die Mutter drückte ihr Kind an sich, und das so überschwänglich, dass Emily kaum mehr Luft bekam.

„Du erwürgst mich“, keuchte sie.

„Oh, entschuldige.“ Olivia Rubinstern lockerte die Umarmung ein bisschen. Dafür begann sie zu schluchzen und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

„Wenn irgendwas ist…“, sagte sie.

„Oder du etwas brauchst…“, fuhr ihr Mann fort.

„Ja, ja, schon gut“, sagte Emily und versuchte, ein unbeschwertes Lächeln aufzusetzen. „Ich kann ja einfach zurückkommen, wenn es mir drüben nicht gefällt. Oder wenn ich euch besuchen möchte.“

„Ja.“ Olivia Rubinstern nickte heftig. „Ja, das kannst du. Jederzeit!“

„Also… dann… gehe ich jetzt.“ Emily drehte sich um. Sie machte einige Schritte auf das Bauwerk zu und blieb direkt davor stehen.

Der Wind brachte die Blätter des Waldes zum Rascheln, ein Ästchen zerbrach knackend, und wieder schrie das Käuzchen. Noch immer regnete es.

Emily konnte sich nicht recht dazu entschließen, durch den Turm zu gehen. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie dort drüben erwartete. Doch dann tastete sie nach der Mechanik, die sie wie immer um den Hals trug, warf einen letzten Blick zurück auf ihre Eltern, packte den Koffer fester und durchschritt den Turm.

Emily fühlte gleich, dass sich etwas verändert hatte, ohne dass sie sagen konnte, was genau. Noch immer fiel strömender Regen, noch immer schrie ein Käuzchen, und noch immer schüttelte der Wind Tropfen aus den Blättern. Aber als sie sich umdrehte und zurück zum Turm schaute… waren ihre Eltern verschwunden. Emily hatte das Gefühl, dass sie sich mit wenigen Schritten unendlich weit von ihnen entfernt hatte.

„Ich glaube, ich bin tatsächlich drüben“, murmelte Emily. Amy miaute als Antwort aus dem Rucksack.

Weit und breit war niemand zu sehen. Also beschloss Emily, erst einmal nachzuschauen, was in dem Päckchen war, das ihr die Mutter mitgegeben hatte. Ohne schlechtes Gewissen riss sie das Papier auf. Ein kleines gebundenes Buch lag darin. Emily blätterte es durch. Auf jeder Seite befand sich die Fotografie oder das gemalte Porträt eines Rubinsterns samt Namen… all der Rubinsterns, die jemals verschwunden waren. Auf der ersten Seite entdeckte Emily das Bild von Andri. Die letzte Fotografie zeigte sie selbst, und darunter stand ihr Name.

Ein Zettel war ins Buch gelegt, den Emily auseinander faltete. In der Handschrift ihrer Mutter stand dort:

Liebe Sophia

Es ist also so weit. Levin und ich haben schon seit einiger Zeit darauf gewartet, dass es passiert.

Wir wissen, dass die Bücher ihre eigenen Gesetze haben. Wenn sie Emily zu ihrem Hüter gewählt haben, müssen wir das wohl akzeptieren. Als Zeichen dafür haben wir eine Fotografie und ihren Namen ins Familienbuch der Rubinsterns eingefügt.