HYPOTHESEN - SCIENCE FICTION - WERKAUSGABE, BAND 3 - Peter Schattschneider - E-Book

HYPOTHESEN - SCIENCE FICTION - WERKAUSGABE, BAND 3 E-Book

Peter Schattschneider

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Beschreibung

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die jenseits des großen Teichs gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden. Der Band HYPOTHESEN enthält neun ausgewählte Erzählungen.

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PETER SCHATTSCHNEIDER

 

 

HYPOTHESEN

- Science Fiction -

Werkausgabe, Band 3

 

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Vorwort 

Am Anfang war die Kraft 

Diamantendeal 

Das Whiskysyndrom 

Die Jez’r-Fragmente 

Scotty 

Universum Omega 

Vakuum 

Die Lösung des Vielkörperproblems 

Zwischen sieben und sieben 

Quellen 

Impressum

 

Copyright © by Peter Schattschneider/Der Romankiosk. Mit freundlicher Genehmigung der Edition Bärenklau.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Steve Mayer/Peter Schattschneider/Christian Dörge.

 

Verlag:

Der Romankiosk

Winthirstraße 11

80639 München

www.der-romankiosk.de

[email protected]

Das Buch

 

 

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die jenseits des großen Teichs gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden.

 

Der Band Hypothesen enthält neun ausgewählte Erzählungen. 

  Vorwort

 

 

Im vorliegenden dritten Band sind jene Erzählungen versammelt, für die ich vermutlich berüchtigt bin, da sie alle ziemlich physiklastig sind. Das liegt daran, dass ich einen Universitätsabschluss in Physik habe.

Leider wird Physik (und Mathematik; Chemie etwas weniger, weil es da so schön kracht, zischt und stinkt) in den Schulen so gelehrt, dass den meisten das natürliche Interesse daran vergeht. Jedes Kind ist neugierig: es will wissen, warum etwas so ist wie es ist, und wie etwas funktioniert. Das Kind ist von Physik umgeben. Es will die Natur be-greifen. Dazu ist Fantasie erforderlich, es muss sich Alternativen ausmalen können, Optionen durchspielen, Abläufe ausdenken. Das ist den Heranwachsenden in den Schulen des zwanzigsten Jahrhunderts systematisch abgewöhnt worden. »Den Kindern wird zuerst das Maul und dann das Gehirn verklebt«, so hat es Stanislav Lem einmal formuliert.

Zwar hat sich seither vieles zum Guten gewandelt, wozu die modernen Medien massiv beigetragen haben, aber diese haben pikanterweise einen Hang zur Selbstzerstörung. Die Aufmerksamkeitsspanne ist in zwei Jahrzehnten dramatisch gesunken, laut manchen Beobachtern von dreißig auf drei Minuten. In drei Minuten ist eine Frage an die Natur kaum zu formulieren, geschweige denn ein Lösungsweg aufzuzeigen. Ich glaube auch nicht, dass Lustigkeit und Clownerie das Defizit der modernen Kurzweile ausgleichen können, obwohl Sendungen wie die Science Busters, die dieses Narrativ bedienen, sehr erfolgreich sind. Von Physik, Chemie oder Biologie, im weiteren Sinn von Naturwissenschaft bleibt da nicht viel hängen, auch wenn es zischt und kracht. Das will nicht heißen, dass man sich durch ein Lehrbuch im Alleingang durchbeißen muss, um wirkliches Interesse bestätigt zu bekommen. Meine Bewunderung gilt den vielen Blogs und Vlogs, die auf jedem Niveau klug und elegant ein naturwissenschaftliches Thema behandeln. Und natürlich die wunderbare Wikipedia!

Die Science Fiction greift hier entwicklungsgeschichtlich viel früher ein. Sie führt die Leser gewissermaßen in die Kindheit zurück, sie aktiviert das kindliche Staunen, sie lädt dazu ein, sich Alternativen hinzugeben und Optionen durchzuspielen. Die Frage »Was wäre, wenn...?« ist die logische Form jedes Gedankenexperiments, ja jedes Experiments schlechthin. Im Grunde ist sie sogar die logische Voraussetzung jeder Handlungsentscheidung. Wenn wir planen, setzen wir Hypothesen und stellen uns die Folgen vor. Die Science Fiction tut dies auch, meist mit erfrischender Kühnheit und ohne Rücksicht auf Naturgesetze. Sie durchbricht die engen Bedingungen, welche unsere Realität den denkbaren Optionen aufzwingt. (Wenn es gar zu bunt wird, spricht man von Fantasy). Antigravitation, Warpdrives, Traktorstrahlen, Beamen... Hypothesen also. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber vielleicht sollten die Autoren dazusagen, dass die Einstein’schen Gleichungen Antigravitation ausschließen, dass Warpdrives Zeitreisen ermöglichen, dass das Beamen wegen der Impulserhaltung katastrophale Folgen hätte usw. Die meisten Plots ignorieren solche subtilen Details.

Nur ein kleiner Teil der Science Fiction – die hard SF – dekliniert die Frage »Was wäre, wenn...?« nach der Grammatik der uns bekannten Naturgesetze. Dabei kann man a) sehr ingenieursmäßig vorgehen wie Arthur C. Clarke oder Hal Clement, b) fantasievoll unbekannte Techniken voraussetzen und daraus Folgerungen tatsächlich berechnen (Gregory Benford, Larry Niven, Robert Forward) oder c) technisch-naturwissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch extrapolieren (Kurd Lasswitz, Stanislaw Lem, Poul Anderson, Isaac Asimov, Herbert W. Franke). Es sei betont, dass diese Liste nur stellvertretend für eine Menge hervorragender Autoren steht, und die Grenzen sind fließend.

Die vorliegenden Erzählungen decken das gesamte Spektrum ab, wobei der Schwerpunkt, was die Physik betrifft, irgendwo zwischen b) und c) liegt. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, werden die folgenden Hypothesen mit großer Wahrscheinlichkeit Ihr kindliches Staunen aktivieren.

 

 

- Peter Schattschneider

März 2023

 

 

 

 

 

 

 

 

  Am Anfang war die Kraft

 

 

1

 

Das mächtige Teleskop schwenkte aufs Ziel. Über die Sternennacht huschte der lichtschluckende Tubus, gleichsam ein suchender, ausgestreckter Finger, der das Galaxienfunkeln allenthalben geringschätzig verwarf. Als die Servomotoren stoppten, zeigte das Instrument auf KS 2882 Aquilae.

Die Magnetkupplung, die den Ion-Cassegrain-Spiegel mit dem Mutterschiff verbunden hatte, klinkte aus. Sachte öffneten sich die Klauen; das Rohr schwebte jetzt kräftefrei einige Zentimeter über der Plattform. Gyroskope stabilisierten es und besorgten die Feinbewegung. Die Optik war exakt positioniert. Maximale Abweichung 0.001 Bogensekunden.

»Tausendfach«, murmelte Kinski, und das Objekt wuchs, füllte bald den Bildschirm. Ein orangerotes Flirren hing dort, aus zweihundert Millionen Kilometern in die Astrogationskanzel der Penrose geholt. Ein diffuser, orangeroter Torus, perspektivisch zu einer Ellipse verzerrt, am Innenrand eine blaue Aurora. Im Zentrum war vollkommene Dunkelheit, ein kosmischer Sarg, mit schwarzem Samt bedeckt, beständig kreisend, auf Beute wartend, ruhig und unbeirrt auf seiner Bahn, die es in den Sektor Aquila geführt hatte. Es hatte Atair mit Kurs auf Deneb passiert, würde weiterziehen, die Galaxis verlassen und irgendwann nach Jahrmilliarden eine andere Sterneninsel besuchen. Nichts konnte es aufhalten, es hatte alle Zeit der Welt.

»Schmalbandfilter zehn/zwanzig Nanometer«, wünschte Kinski, und das Schirmbild veränderte sich.

Das orangerote Leuchten erlosch, der innere Strahlenkranz nahm tiefes Purpur an, und näher zum Zentrum schimmerte ein zuvor unsichtbarer Diskus, der links der Mitte helle, knotenförmige Strukturen zeigte.

Kinski holte einen Knoten ins Fadenkreuz, dann ging das Instrument auf fünftausendfache Vergrößerung. Der Knoten blähte sich, ließ gezackte, scharfe Konturen sehen. Das Innere blieb strukturloses, fahles Leuchten. Kinski nickte bestätigend. Kein Hinweis auf irgendwelche Anomalien. Bloß Cerenkov-Strahlung, hervorgerufen durch Elektronen, die mit Überlichtgeschwindigkeit in die rotierenden Plasmawolken eintauchten.

»Röntgenscanner, Filter hart«, ordnete der Physiker nach kurzem Besinnen an.

Die CPU der Beobachtungskanzel aktivierte das Röntgenteleskop. Schwingende metergroße Einkristalle tasteten KS 2882 Aquilae ab, fokussierten dessen Röntgenemission auf einen Detektor, zeilenweise entstand in hartem Röntgenlicht ein Abbild des rätselhaften Objekts auf dem Leuchtschirm. Bloß die rechte Seite der Ellipse war sichtbar, umfing wie ein verzerrter Halbmond das nachtschwarze Zentrum. Die knotigen Plasmawolken links der Mitte waren verschwunden.

Auch dies normal: gerichtete Synchrotron-Strahlung von den zum Zentrum spiralenden Elektronen. KS 2882 Aquilae verhielt sich wie eine normale Kerr-Singularität. Astrometrisch ohne Befund. Und doch: Kinski starrte in das All. In der Abgeschiedenheit der Kanzel, inmitten von Sternenglanz und Galaxien, fühlte er sich wohl. Hier kamen die Gedanken rascher, von dem mächtigen Ohr, dem größten Space Teleskop der Galaxis, aus kosmischen Tiefen herangeholt. Sternsplitter aus der Vergangenheit, die im Bewusstsein des Lauschenden aufblitzten, ihn mit einem kühlen, dunklen Nachthauch labten.

Diesmal aber stellte sich keine Idee ein. Das rotierende Schwarze Loch, dessen Röntgen-Abbild auf dem Bildschirm flackerte, blieb rätselhaft. Es besaß mit Sicherheit keine Planeten. Außerhalb der Akkretionsscheibe kreisten einige tote Basaltbrocken, kaum größer als einen Kilometer. Und jedes auch nur planetoidengroße Objekt innerhalb der heißen Plasmawirbel hätte das große Teleskop entdeckt. Somit fehlte jede Basis für die Entstehung von Leben. In der Gluthitze der rotierenden Scheibe konnte kein Organismus existieren. Geschweige denn Intelligenz. Woher kamen dann aber die Radiosignale?

HMS Penrose/Doppler-Empfänger von KS 2882

Am Anfang ist [die Gravitation?] Sie treibt den Kosmos durch die Zeit, sein Ziel ist Tod.

Alles zerfällt. Die Ordnung vergeht von Anbeginn. Stets wächst das Chaos, durchdringt [das All? das Sein?] mit unscheinbaren, ewigreichenden Wurzeln, die alles umweben und Stärke vernichten. Die Dinge bleiben, aber sie werden kraftlos.

So zielt der Kosmos, indem er sich entwickelt, auf sein Ende, und das Ende heißt Chaos.

Interlingua-Übertragung lt. Diktionär der späteren Heavensgate-Glyphen. Carra, 7024 n. S. 

 

 

2

 

Girlanden exotischer Blüten, üppig an den Wänden sich bauschend, teilten die zylindrische Projektionswand in sechs Segmente. Dort hingen die Sterne, Gaswolken und Galaxien; so wahrheitsgetreu war die Illusion des weiten Alls, dass eher die Urwaldfauna imitiert wirkte. Jedenfalls fand Kinski die bunten Ranken fehlplatziert in der Messe der Penrose, auch wenn damit erreicht werden sollte, dass sich die Besatzung erholte, Einsamkeit und Heimweh vergaß.

Die Penrose war ein starkes Schiff, aber ihre Flammrohre schwiegen. Seit Wochen lag die Expedition auf ihrem Orbit vor Anker, elf Millionen Kilometer von KS 2882 entfernt. Sie kreiste, beobachtete, lauschte ratlos der Nachricht, die träge aus der Schwerkraft des Zentralgestirns hochstieg – und es war kein Ende abzusehen. Unruhe machte sich bemerkbar.

»Das ist schlimmer als in der Konserve«, sagte Knastrich.

Kinski wandte den Blick. Erich Müller, vulgo Knastrich, war jung. Noch war er flexibel genug, sich an die veränderte Umwelt anzupassen. Wenn er sich bemühte und wenn er Glück hatte, würde er dem Schicksal der vielen Rehabilitierten entgehen, die, nach vielen hundert Jahren aus der Haft entlassen, einer unverstandenen, beängstigenden, bizarren Welt gegenüberstanden. Die meisten scheiterten: glitten ab auf der vergeblichen Suche nach Vertrautem oder wollten die Veränderungen nicht wahrhaben und flohen in eine paranoide Schizophrenie. Dies waren die Mängel des humanen Strafvollzugs, der dem Verurteilten die Haft in wenigen Wochen ablaufen ließ, während draußen Jahrhunderte vergingen. Genau genommen war es keine Haft. Niemand wurde bestraft, vielmehr wurden gewisse Individuen daran gehindert, der Gesellschaft Schaden zuzufügen. Man schob sie ab, verwies sie nicht des Landes, sondern der Zeit – personae non gratae überall und jetzt, ab in den Nullzeit-Isolator. Es war die beste Erfindung seit der Hinrichtung.

Die Gefängnisse kreisten in engen Bahnen um Reissner-Nordström-Singularitäten, wo die Uhren langsam tickten. Aus der Sicht des Nullzeit-Isolierten war es natürlich umgekehrt, die Welt raste wie in Zeitraffer in wenigen Wochen durch Jahrhunderte.

Das System war perfekt. Wärter waren wegen der geringen subjektiven Isolationszeit und wegen der trägen Reaktionen der Inhaftierten überflüssig (jeder Ausbruchsversuch konnte ja im Keim erstickt werden), die Gefangenen waren äußerst genügsam, fanden sie doch mit 0.5 g Fleisch, 4 cm3 Bier und Spuren von Gemüse pro Kopf und Tag das Auslangen. Der Energiebedarf eines mittleren Isolators für fünfhundert Insassen entsprach dem eines Elektrorasierers. Es wurde also weder die Gesellschaft belastet, noch wurden die Inhaftierten jahrelang gequält, wie es vor der Erfindung der selbststeuernden Reissner-Nordström-Satelliten der Fall war.

Nur eines hatten die Politiker seinerzeit nicht bedacht: Die Isolierten fanden sich kaum jemals in einer derart veränderten Umwelt zurecht. Neurosen und Psychosen waren die Folge, manche wählten, in eine zweifelhafte Freiheit entlassen, den letzten Ausweg.

Kinski wusste um die Schwierigkeiten. Auch er hatte die Konserve kennengelernt wegen seiner wissenschaftlichen Neugier (ungern erinnerte er sich des Aufenthalts auf der EPOS und an seine unfreiwilligen Gastgeber, die ihn ausgeliefert hatten, bevor sie ihre lange Reise antraten) – auch er hatte also einen Nullzeit-Isolator von innen gesehen, allerdings war er bloß auf zwanzig Jahre abgeschoben worden. Und dennoch hatte er sich schwer getan nach der Entlassung. Die kontinuierlichen Veränderungen der Normen, Tabus, Präferenzen, der Umgangsformen und Verhaltensweisen, ja selbst der Sprache waren wuchtig auf ihn eingestürzt. Er hatte Monate gebraucht, um einen Bezugspunkt im schwankenden Koordinatensystem der menschlichen Beziehungen zu finden.

Aber Knastrich hatte trotz seiner vierhundert Jahre Knast eine Chance. Zwar hatte ihn das Leben in der Konserve geprägt. Er sprach ein über Jahrhunderte gesammeltes Kauderwelsch, das von archaischen Ausdrücken durchzogen war. Seine Umgangsformen waren merkwürdig.

Er rempelte Kinski, der neben ihm saß, mit dem Ellbogen an. »Isses nich’ so, Doc?«, stieß er ungeduldig nach.

Kinski schrak aus seinen Gedanken hoch. »Überhaupt nicht«, erklärte er entschieden. »Diesmal sind wir draußen und die anderen drin.« Er nickte in Richtung Projektionswand, wo der glimmende Akkretionsdiskus von KS 2882 hing.

Knastrich starrte missmutig auf die Projektoren. »Die soll’n sich beeilen bei ihrem Faifoklock Tie da unten – Schweinsfetzen verdammte.«

Kinski entgegnete nichts. Er hatte keine Ahnung, wovon der andere sprach.

»Meinst du nich’, das ganze is’n riesiger Meyro?«

»Was?«

»Na, Meyro eben! Plunder, Quatsch, nich’ astrein. Vielleicht woll’n uns die verschaukeln, für blöd verkaufen, da is’ vielleicht gar nix dran an der Nachricht, was die senden.«

Kinski zuckte die Schultern. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen. Aber sie wussten zu wenig. Wer sandte die Signale? Woher genau kamen sie? Handelte es sich um eine philosophische Betrachtung, um den Beginn eines epischen Werkes oder um die Einleitung zu einer wissenschaftlichen Abhandlung?

Er betrachtete die Projektion der Kerr-Singularität. Die Wachstumsscheibe aus Staub, Asteroiden und leuchtendem Plasma war asymmetrisch verzerrt – Effekt der Lichtablenkung im Schwerefeld des Zentralkörpers. Die äußersten Bereiche wirkten wie das Ringsystem eines Planeten, dann leuchteten blaue und rosarote Plasmawolken, weiter innen lag ein diffuser, dunkelroter Bereich ohne erkennbare Details, wie das Bild einer Kerzenflamme nahe dem Brennpunkt eines Hohlspiegels – dort war die Gravitation stark genug, das Licht über den hinteren, entfernteren Rand der Scheibe hochzukrümmen und um hundertachtzig Grad abzulenken, so dass mitten in dem schräg von oben betrachteten Diskus eine Untersicht zu schweben schien.

Es wartet auf uns, dachte Kinski, und für einen Augenblick hatte er die Empfindung zwingender Gewissheit. Noch bevor er aber nach den Ursachen dieser Vermutung fragen konnte, hatte sich das Gefühl verflüchtigt.

»Da wirste methomanisch, in dem Saffladen tut sich ja nix«, schimpfte der Kanonier Knastrich. Kinski hatte keine Ahnung, was ein Saffladen war, nickte aber. Die Leute waren froh, wenn er mit ihnen sprach.

Schließlich war Kinski ihre einzige Informationsquelle, obwohl er nicht viel mehr wusste als der Rest der Mannschaft. Die Entscheidungen traf Raeloff, und dem fiel es nicht ein, Kinski zuvor zu konsultieren. Sonst wären sie jetzt nicht so nah an dem Schwarzen Loch.

»Wo du hinkommst, ’n Saffladen. Jeder Scheißkerl is’n toller Chef, und das muss sein, und was is’ nich’ noch alles wichtig, und qui qua quo. Da wetzen sie daher und reißen sich den Arsch auf, und es geht nix weiter. Immer hin und her, immer fix, alles aufschieben, ’s halbe Leben flitzen sie durch die Galaxis, und raus kommt bloß’n feuchter Furz. Am Ende wissen sie’s dann. Mir macht niemand was vor, hab’ ich alles gesehen im Eis.«

Er beugte sich vor, fixierte Kinski, der sah, dass er Mut sammelte, um etwas ganz Lästerliches auszustoßen. »Und was die Wichtigtuerei angeht«, fügte er lauter als zuvor hinzu, sodass ihn sogar die Wache an der Tür hören musste, »dieser Raeloff ist das größte gottverdammte Oberarschloch in der Galaxis.«

Das Gemurmel in der Messe war wie abgeschnitten. Sekundenlang hörte man nur das beständige Summen des mächtigen Schiffes. Knastrich schaute um sich, von seiner eigenen Kühnheit überrascht, wohl gewärtig, sofort abgeführt zu werden. Nichts dergleichen geschah. Zustimmende Wortfragmente wurden laut, aber niemals lokalisiert. Zu viel Angst hatten sie, die versprochene Freiheit zu verspielen. Opportunisten allesamt. Bis auf Knastrich. Am Rande der Vernunft imponierte Kinski dieser Bursche.

»Wir könnten ’n Spielchen machen«, schlug Knastrich vor. Kinski blickte auf, wusste nicht, was gemeint war. »Na, von wegen dem Roman. Wenn der aus is’.«

Kinski schüttelte den Kopf. »Vielleicht nie. Und kein Mensch weiß, wie lange uns Raeloff hier braten lässt.«

»Eben. Das is’ es ja, was ich sag’! Jeder kann wetten, wann wir hier loskommen. Und Knastrich hält die Bank. Das gibt Piepen, Mann. Spür ich im Hintern.« Er kicherte. Kinski zuckte die Schultern.

»Na los, gib mir’n Tip, Doc. Wann isses soweit?«, drängte der Kanonier.

»Die senden aus der Konserve. Das kann Jahre dauern«, meinte Kinski.

»Wa?«

»Das ist eine Millionenkonserve. In sowas warst du noch nie drin. Da kannst du nicht drauf warten.«

»Höre immer Million.« Knastrich bohrte im Ohr.

»Wir empfangen bloß ein Signal für viele hunderttausend, die sie senden. Das ist ganz einfach: Wenn die Wellen hochsteigen aus dem Eis, dehnen sie sich mit dem Raum. Wir sehen hier oben lange Radiowellen, und die schwingen viel langsamer als das, was die dort unten gesendet haben – wer immer sie auch sein mögen.«

»Hör mal, Doc, das hat mir schon die Oma erzählt. Aber eins kannste mir noch beibringen, da is’ der alte Knastrich ganz Ohrloch. Wer hat recht: Die da unten im Eis oder wir da oben? Wie schnell vergeht die Zeit nun wirklich?« 

Kinski seufzte.

»Nanana, isses zu blöd für deinen Eierkopf, aber ich will dir was verraten: zu mir kannste reden wie zu’n Mikrozephalus, brauchst dich nich’ genieren. Also, wir sehen doch bloß einen Zeitlupenfilm von denen, in Wirklichkeit senden die ja schneller. Hab’ ich’s gegneißt?«

»In Wirklichkeit bist du auch ein Film«, beendete Kinski unwirsch die Diskussion. »Ein Trauerspiel.«

Sie starrten missmutig auf das Panorama.

»Dann isses wohl nix mit’n Spielchen. Is’ nich’ so lustig bei der Aussicht«, resignierte Knastrich. Und forsch fügte er hinzu: »Einmal will ich’s erleben, dass der Doc’n Scheiß quatscht.« Es klang beinahe zärtlich. Kinski grinste.

Knastrich sah ihn lauernd von der Seite an. »Und wenn er nich’ so viel Zeit hat und trotzdem alles hör’n will, dann...«, sagte er langsam.

Richtig, dann hatte Raeloff nur eine Möglichkeit. Eine verdammt unangenehme.

»...dann geht er ran an das Eis?«

Kinski nickte. Ran an das Eis. So hieß es im Jargon. Näher an die langsam fließende Zeit, näher an das Schwarze Loch, in die Zone stärkerer Raum-Zeit-Krümmung. Dorthin, von wo die Nachricht kam. Raeloff würde die Schiffszeit angleichen wollen. Sich selbst einfrieren, um die Nachricht rascher zu bekommen. Das Vermächtnis der Technokraten, von denen er sich wunder was erwartete. Raeloff, der große Entdecker. Der Retter der Föderation.

Aber zwei Dinge hatte er nicht bedacht: Wenn sie dann nach fünfzig oder zweihundert Jahren aus dem Eis auf tauchten – während für die Penrose bloß einige Tage vergangen sein mochten – gab es vielleicht keine Föderation mehr. Niemand würde Raeloff feiern. Die Galaxis hätte ihn vergessen. Wichtigeres gab es zu tun als die Errungenschaften einer verschollenen Kultur wiederzuentdecken.

Zum Zweiten würden die Männer nicht mitmachen. Sie kamen aus dem Eis. Erhofften die Freiheit. Sie würden nicht wieder in die Konserve tauchen wollen. Eine Meuterei auf der Penrose war das letzte, was er sich wünschte. Für ihn zahlte sich das nicht aus. Sie hatten ihm bloß zwanzig Jahre geschenkt dafür, dass er mitmachte bei diesem Himmelfahrtskommando – Meuterei würde ihm mindestens hundert bringen.

HMS Penrose/Doppler-Empfänger von KS 2882

Am Anfang gab es viel [von fürstlicher Art?]. Sie füllte den heißen Kosmos in Form von [Existonen? Elementarteilchen mit ungebrochener Symmetrie in allen Wechselwirkungen?]. Diese differenzierten sich, als das Chaos eindrang in die Superordnung und die Vielfalt entstand aus dem Einen. Siehe also: Vielfalt bedarf eines Chaos, dem sie zueilt, und einer Ordnung, aus der sie geboren wird.

In der Epoche [des Faktischen? der Materie?] entstanden die Sterne aus eben jenem Gefälle. Denn Ordnung war in den Atomen, und rundum war die Finsternis. Als die Sterne brannten, floss Ordnung heraus und strömte in das Chaos der Nacht. Alles Geschehen braucht also zwei Quellen: Ordnung und Nichtordnung, zwischen denen es vermittelt.

Interlingua-Übertragung lt. Diktionär der späteren Heavensgate-Glyphen. Carra, 7024 n. S. 

 

 

3

 

Die Penrose hatte Kurs auf KS 2882, und mit ihr die Männer, die gehofft hatten, dem Eis zu entkommen. Mit jeder Minute des freien Falls näherten sie sich dem Ungeheuer, durcheilten Zonen zunehmender Zeitkürzung, und die Uhren reagierten auf das verzerrte Kontinuum. Gleichsam verzögert unter der Gewalt der Gravitation vertickten die Sekunden.

Die Männer der Penrose merkten nichts von der Zeitdehnung, während sie stürzten, da die Milliarden atomkleiner Uhren, aus denen ihre Körper bestanden, ebenso verlangsamt waren.

Aber sie wussten es. Wussten aus bitterer Erfahrung, dass sie auf Eis lagen, dass das Leben rundum mit rasender Schnelligkeit ablief, nicht auf sie wartete, Stunden dort draußen zu Minuten machte. Ein verdichtetes, intensives Leben lief vor ihren Augen ab, ohne dass sie teilhatten. Sie alle kamen aus dem Eis, wie man die Gefängnisse in einem Anflug von Leichthingesagtsein nannte.

Die Sendungen der Basis Atair, ein halbes Lichtjahr fort, waren um einen Faktor zwanzig beschleunigt. Nachrichten, die eine Stunde währten, empfing die Penrose während dreier Minuten, die Stimme aus dem All hätte wie ein zu rasch laufendes Tonband geklungen, ein Film wäre wie in Zeitraffer erschienen, hätten nicht die Verzögerungsschaltungen die gewohnte Form wieder hergestellt.

Der Konjunktiv war falsch, korrigierte Kinski seine Gedanken. Die Welt draußen erschien nicht nur beschleunigt, sie war es. Wenn die Penrose zurückfand, war die versäumte Zeit unwiederbringlich dahin. So real ihnen die Zeit draußen davonlief, so real war sie an Bord verlangsamt.

Auf Raeloffs Befehl. Jetzt kamen die rätselhaften Sendungen rascher, sie hatten eine gute Chance, in absehbarer Zeit mehr zu erfahren.

Während Kinski im Zuge der routinemäßigen Systemkontrolle Daten auf den Bildschirm holte, wanderten seine Gedanken wie in einer großen dunklen Höhle. Dort suchten sie nach dem Sinn der Sendungen, um derentwillen er hier war, um derentwillen Raeloff diesen verlorenen Haufen aufgestellt hatte, den er bereit war, zusammen mit dem Schiff zu opfern.

Vor fünf Jahren waren die ersten Signale identifiziert worden, obwohl KS 2882 schon vor Jahrhunderten entdeckt worden war. Zwei Jahre hatte es dann noch gedauert, bis der Code zum Teil entschlüsselt war. Es handelte sich um eine zweidimensionale, bildhafte Darstellung der Heavensgate-Glyphen, die von den verschollenen Technokraten vor zigtausend Jahren verwendet worden waren. Von deren Kultur, vernichtet durch eine atomare Katastrophe galaktischen Ausmaßes, war nicht viel erhalten. Das Wenige, das man verstand, deutete auf hohes technologisches Niveau, und nun, brandheiß sozusagen, Sendungen in jener alten Schrift. Dies war eine Chance, die man nutzen musste, die Föderation versprach sich Erhebliches von der Wiederauffindung verschollener Methoden. Dies war der Grund für das lebhafte Interesse an KS 2882 und für die Expedition der Penrose. 

Nachdem der Code geknackt war, hatte man nämlich versucht, Kontakt mit den Technokraten aufzunehmen, die wie durch ein Wunder die einstige Katastrophe in der Nähe des Schwarzen Loches überlebt haben mussten. Nie kam Antwort. In stetem Gleichmaß empfing man eine Glyphe nach der anderen, dazwischen kamen wieder gänzlich unbekannte Schriftzeichen, und andere Teile der Sendungen waren überhaupt nicht dechiffrierbar. Da die Trägerfrequenz obendrein im Bereich der langen Meterwellen lag, floss die Information sehr langsam. Man decodierte zehn Glyphen pro Tag. Aneinandergereiht schien das Ganze ein fortlaufender Kursus aus Elementarer Physik zu sein. Wollte man warten, so waren die ersten interessanten, neuen Informationen vermutlich erst in hundert Jahren zu erwarten.

Mit der Hypothese, dass die Signale in unmittelbarer Nähe des Schwarzen Loches abgestrahlt wurden, verstand man deren Langsamkeit. Die gravitationelle Rotverschiebung dehnte die elektromagnetischen Wellen im selben Maß, wie sie die Frequenz verzögerte, sodass deren Produkt wieder c ergab. Verlangsamte Sendungen, verlängerte Wellen.

Man dachte an einen relativistisch vereisten Planeten, auch an ein archaisches Gefängnis, und man glaubte zu wissen, warum nie Antwort kam.

Alle Sendungen von außen waren für die hypothetischen Technokraten natürlich im selben Maß beschleunigt, wie deren Signale für die Außenwelt verzögert abliefen. Und da es sich hierbei, wie man einigermaßen sicher schloss, um einen Faktor hunderttausend handelte, mochte es sein, dass die Technokraten die komprimierte, in Form extrem harter Röntgenstrahlung einstürzende Information gar nicht verarbeiten konnten.

So entschloss man sich zur Expedition, um Näheres zu erfahren, und Raeloff stellte eine Mannschaft aus Inhaftierten auf, die sich durch freiwillige Teilnahme einiges an restlicher Strafe ersparten. Schließlich sollte es ihnen gleich sein, ob sie das Eis im Gefängnis erlebten oder in der Penrose. 

Also saßen sie jetzt hier und warteten, während sie weiterhin der Nachricht lauschten. Sie war bereits zwanzigfach beschleunigt, die täglichen Textpassagen hatten die Länge von Absätzen erreicht. Aber das brachte sie nicht weiter. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, wenn auch poetisch formuliert, war keine Neuigkeit. Auch die Erwähnung der Existonen brachte keine Erkenntnis, zeigte höchstens, dass die Technokraten die theoretische Physik weit vorangetrieben hatten. Von Eichtheorien der vier Wechselwirkungen und ungebrochenen Symmetrien hörte man üblicherweise frühestens als Student im zweiten Semester. Hier kamen diese Begriffe bereits in einem Elementarkurs für Physik vor, der wahrscheinlich für Grundschüler gedacht war – wenn die Sendung überhaupt einen Kursus darstellte, wenn sie von den Technokraten stammte – zu vieles war noch ungewiss, man musste abwarten. Langsam kehrten Kinskis Gedanken zu Handfesterem zurück: Gefechtsübung. Alle Mann auf Station, seine Aufgabe war es, den Zustand des Schiffes zu überwachen. Genaugenommen tat das der Rechner, der alle Systemparameter in seinem Memory parat hatte. Kinski überwachte den Rechner, der etwaige Störungen eigenständig beheben konnte. Falls er dazu nicht in der Lage war, würde die Emergency-Meldung am Schirm erscheinen. Aber das war so gut wie ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit betrug 1:100000 oder weniger.

Denn zu jedem Minichip in dem komplexen System Penrose gab es einen Ersatz, der innerhalb der Zugriffszeit des Rechners online geschaltet werden konnte. Überdies arbeiteten ständig zwei CPUs im Parallelbetrieb am gleichen Problem. Sollten sie einmal zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wurde ein dritter Rechner aktiviert...

Aus den Augenwinkeln driftete ein beharrliches Blinken auf den Bildschirm. Der Physiker brauchte ein paar Sekunden, bevor er es richtig einordnen konnte. Das Notsignal flackerte und darunter sogleich die Fehlerdiagnose. Das Boliden-Abwehrsystem war ausgefallen, eine Aktiv-Radar-Überwachung, die mittelgroße Partikel auf Kollisionskurs erkannte und mit Laserkanonen unschädlich machte. Kinski holte hastig die fehlerhaften Sektoren des Computers auf den Bildschirm, und in Kürze hatte er, unterstützt durch eine Fehlersuchroutine, die schadhaften Josephson-Synapsen gefunden. Auch die Ersatzplatine war schadhaft. Also musste er, bis eine mechanische Reparatur möglich war, die Platinenfunktion als Software programmieren, wozu er wohl eine halbe Stunde benötigte. In der Zwischenzeit würde der diensthabende Laser-Kanonier visuell überwachen.

Kinski rief die Laserkanzel. Es kam keine Antwort. Er versuchte es wiederholt, aber die Leitung blieb tot. Irgendetwas war da nicht in Ordnung. Kinski fühlte Gefahr. Erst ein unwahrscheinlicher Fehler im Rechner, dann menschliches Versagen. Aller Voraussicht nach würde nichts geschehen, alles schien andererseits eine fatale Richtung zu nehmen, als wäre Absicht hinter dieser Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten zu erkennen. Wenn nun ein Bolide...

Eilig wies er den Rechner an, eine Ersatzroutine für das Schutz-Radar zu schreiben, bevor er seinen Posten verließ. Der Weg zur Laserkanzel führte ihn durch Korridore, die der Krümmung des torusförmigen Schiffes folgten, und über Fallrutschen in die äußeren Sektoren. Panoramaschirme an den Wänden zeigten den träge vorbeidriftenden Sternenhimmel.

Auf halbem Weg – Minuten nach der Fehlermeldung – lief ein schwacher Stoß durch den Schiffsrumpf, gefolgt von einer ausklingenden Vibration, als wäre eine große, stumpfe Glocke angeschlagen worden. Dann schrillte das Alarmsignal. Die Penrose erwachte aus dem Halbschlaf der Gefechtsübung. Die Schirme erloschen, das satte Orange der Notbeleuchtung füllte die Kabinen, Hallen und Korridore. Menschen hasteten, man hörte das Zischen entweichender Luft, das dumpfe Schließen von Schotten, das Stampfen der Pumpen.

Kinski war nicht überrascht. Fast hatte er die Kollision erwartet. Er lief weiter, achtete nicht auf Entgegenkommende. Die Laserkanzel war besetzt, wie er am Kontrollsignal erkannte, die Türe geschlossen. Als niemand öffnete, tastete er den entsprechenden Code in das Schloss, die Tür schwang auf.

Im Inneren hing der Sternenglanz, der durch die Klarglas-Kanzel floss. In dem allseitig schwenkbaren Sessel vor dem Peilgerät schlummerte Knastrich. Am Boden lag eine halbleere Schnapsflasche.

Kinski trat an den Betrunkenen heran, rüttelte ihn grob, bis er wie aus tiefer Bewusstlosigkeit aufwachte.

»Was is’n«, murmelte er schlaftrunken.

In plötzlichem Zorn schlug ihm Kinski ins Gesicht. »Idiot! Ein Bolide – schwerer Treffer. Das is’ los!«

Im Nu war Knastrich hellwach. Seine Augen klarten auf, die Stimme normalisierte sich. »Aber – die Automatik...«, stotterte er.

»Ist ausgefallen. Und Sie waren nicht auf Kampfstation. Es ist Ihnen hoffentlich klar, was das bedeutet.« Es bedeutete Kriegsgericht. Wahrscheinlich weitere 500 Jahre Konserve.

»Doc, ich weiß auch nich’...«,  er schluckte, die Angst schoss in sein Gesicht, »weiß auch nich’. War plötzlich nihil, von ein’ Augenblick zum anderen.«

Kinskis Blick suchte die am Boden liegende Flasche.

Knastrich schüttelte entschieden den Kopf. »Das war’s nich! Hab schon mehr runter gestoßen, war ja nur’n Tropfen auf’n Stein. Glaub’ mir, Doc, bin geeicht.«

»Das erzählen Sie besser der Kommission«, sagte Kinski eisig. Der andere sackte zusammen. Jetzt erst erfasste er die Tragweite seines Versagens. Hilflos starrte er den Physiker an. Sein Blick hungerte nach Verständnis. Immer wieder schüttelte er den Kopf, suchte nach Worten, und schließlich sagte er aus der Armseligkeit seiner Existenz in das fühllose Sternenfunkeln, als fände er dort Verständnis: »Da ist was nich’ in Ordnung.« Und kleinlaut fügte er hinzu: »Spür’ ich im Hintern.«

Mit diesem Satz sprang die Hilflosigkeit auf Kinski über. Er empfand unaussprechlich die erdrückende Gleichgültigkeit des Kosmos, das Geworfensein in eine unbegreifliche Existenz, und er konnte nicht anders, als dem Kanonier Erich Müller zu glauben, der stets, ohne zu wissen, das Falsche getan hatte. Da war was nicht in Ordnung.

»Hören Sie, Knastrich«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ich habe Sie gerufen und angewiesen, auf visuelle Überwachung zu gehen. Sie haben den Laser aktiviert – jetzt passen Sie gut auf – Sie haben den Laser aktiviert und den Radar auf den Schirm geholt. Bevor das System online ging, kam der Treffer. Genau in dieser Reihenfolge. Haben Sie verstanden?«

Knastrich hing an den Lippen des Physikers, hatte zu jedem Wort genickt. Jetzt wiederholte er Wort für Wort. Kinski bestätigte und deutete wortlos auf die Konsole. Endlich verstand der Kanonier. Mit fahrigen Bewegungen aktivierte er den Laser und holte das Radarbild auf den Schirm.

Kinski holte tief Luft. »So, jetzt drücken Sie mir die Daumen«, murmelte er, wandte sich ab und trat den langen Rückweg an. Wenn er ohne Aufenthalt seine Station erreichte, würde er versuchen, das interne Logbuch auszutricksen. Einige Zeiten ändern, um den Ablauf des Unglücks so darzustellen wie es hätte sein können. Wenn es nicht klappte, würden zwei Angeklagte vor der Kommission stehen.

Er wusste selbst nicht, warum er so handelte. Vielleicht, um einem ungreifbaren, beunruhigenden Plan hinter all den Zufällen entgegenzutreten.

HMS Penrose/Doppler-Empfänger von KS 2882

Wenn auch im Werden schon das Vergehen liegt, entsteht neue Vielfalt. Wenn auch das Chaos nach [dem Gesetz des Unvermeidlichen? dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik?] wächst, entsteht neue Struktur an Orten [der Gnade? Begünstigung?].

Was offen ist, was nimmt und gibt, das wächst. So wurden die Kristalle und die Nukleinsäuren, die [Einfachen? Einzeller?] und alle Pflanzen und Tiere. So entstanden die [hier folgt eine Reihe unbekannter Glyphen] und die [Erhellten? Technokraten?] Aber siehe, sie bedurften beider Quellen, um zu bestehen. Denn die Kristalle wachsen aus der [hochenergetischen? heißen?] Schmelze, welche sie nährt, und brauchen Kühlung, um [das Fluidum? die Energie?] wieder abzugeben.

Die Nukleinsäuren erhalten statistischen Zustrom angeregter Moleküle und nähren das kalte Gerüst der Zelle. Die Einfachen, die Pflanzen wie die Tiere, verzehren heiße Sternenstrahlung und Proteine, dies ist hohe Ordnung. Und gäbe es nicht das Chaos der Nacht, in welches sie [ihr Fluidum? ihre Energie? dissipieren? verschwenden?] könnten, so existierten sie nicht.

Alle Kulturen schließlich ebenso wie [die Künstlichen? die Computer? die Androiden?] leben von hoher Ordnung und benötigen ein Chaos, in welches sie Strukturen bauen können.

So entsteht aus dem unablässigen Vorströmen des kosmischen Regelmaßes an Stellen der [Gnade? Begünstigung?] hohe und immer höhere Ordnung, je älter die Zeit wird.

Interlingua-Übertragung lt. Diktionär der späteren Heavensgate-Glyphen. Carra, 7024 n. S. 

 

 

4

 

Sie hatten noch einmal Glück gehabt. Der Bolide hatte die Penrose mittschiffs getroffen, die Assembly war zwischen Reaktorraum und Brücke geborsten. Die Abschott-Automatik hatte Menschenleben und Sauerstoff gerettet, die Schäden waren erträglich. Nach Tagen emsiger Reparaturen war die Penrose wieder funktionsfähig, und das aus der Not gewachsene Zusammengehörigkeitsgefühl wich freudlosem Trott. Man fürchtete und verfluchte Raeloff wieder.

Kinski war es unter großen Mühen gelungen, das Logbuch zu fälschen. Eine Kommission, deren Vorsitz er führte, kam zu dem Schluss, dass ein Zusammentreffen ungünstiger Umstände zum Zwischenfall geführt hatte. Es wurde die Vermutung geäußert, dass unbekannte, möglicherweise feindliche Einflüsse die fatale Situation herbeigeführt hatten. Man war nun wachsam. Der Alarmzustand wurde aufrechterhalten.

Kinski vermied den Kontakt zu Knastrich. Zu gefährlich wäre es so kurz nach dem merkwürdigen Zwischenfall gewesen, eine Vertrautheit aufzubauen. Auch war beiden nicht wohl bei dem Gedanken an ihre Verschwörung. Manchmal traf Kinski, wenn er in der Messe saß und das rotglimmende Ungeheuer auf dem Panoramaschirm anstarrte, ein wissender Blick des Kanoniers, und dann fühlte er sich unbehaglich, als hätte er durch seine Tat das Schicksal herausgefordert.

Die Reparaturen und die Manipulationen am Logbuch ließen ihm kaum Muße nachzudenken. Flüchtig nur verfolgte er die Sendung der Fremden, und er vermutete, dass sich hierbei eine Wendung abzeichnete. Sicher war es kein Physikkurs für Grundschüler, wie er anfangs vermutet hatte. Dazu waren gewisse Schwerpunkte zu deutlich gesetzt.

Etwa die Sache mit der Thermodynamik offener Systeme, ein Problem, das in der Geschichte der Menschheit viel Anlass zu philosophischen und religiösen Spekulationen gegeben hatte. Nach der Formulierung des Zweiten Hauptsatzes durch Carnot und den späteren Untersuchungen Boltzmanns war der Wärmetod des Universums eine Gewissheit. Die Entropie würde ständig zunehmen, bis schließlich alle Energie des Kosmos gleichmäßig verteilt war. Dann müssten alle Veränderungen ausbleiben, es gäbe keinen Stoffwechsel mehr, das Leben müsste verlöschen.

Die Frage nach der Entstehung des Lebens war aber nun umso dringlicher. Wenn die Entropie, ein Maß für die Unordnung des Kosmos, stets zunahm, dann konnte das Leben als hochgeordnete Struktur wohl auf natürliche Weise verlöschen, nicht aber entstehen.

Erst viel später kamen Männer wie Onsager oder Prigogine auf den Gedanken, offene Systeme zu untersuchen, Systeme also, die mit ihrer Umwelt wechselwirkten. Und man erkannte, dass die schreckliche Gewissheit des Zweiten Hauptsatzes, der Wärmetod, vor offenen Systemen haltmachte. Lokal durften auch in einem Kosmos der zerfallenden Ordnung Strukturen entstehen. Sie bedurften dazu lediglich eines ständigen Energiestroms zwischen zwei Reservoiren verschiedener Entropie, also eines Stoffwechsels. Dies geschah lokalisiert an begnadeten Orten, sagten die Technokraten.

Der Schwerpunkt der Sendungen hatte sich verlagert. Hatte anfangs die Physik im Mittelpunkt gestanden, schien es nun um Entstehung und Entwicklung des Lebens zu gehen. Eine Stammesgeschichte in Stichworten – vermutlich jene der Technokraten. Und sie war so allgemein formuliert in der technokratischen Poesie, dass nicht nur ein Experte sie verstand. Philosophie war darin enthalten, letzte Fragen nach Ursache und Ziel des Kosmos und des Lebens – wen lockte das nicht an. Für Kinski war das der erste Anhaltspunkt, was den Zweck der Sendungen betraf.

Eine Woche nach der Kollision mit dem Boliden entdeckte Kinski das Schiff. Seine Bahn verlief kreisähnlich nahe dem Innenrand der Akkretion. Es tauchte aus einem Plasmawirbel auf, anfangs hielt er es für einen Planetoiden. Da die Bahnkurve gegen die Ebene der Akkretion geneigt war, entfernte es sich allmählich von den opaken Schleiern des Plasmas, und endlich war es als Anordnung metallisch glänzender Kugeln zu erkennen, die durch ein kompliziertes Röhrenwerk vernetzt waren.

Das Schiff war stumm. Anrufe auf der interstellar verwendeten Identifizierungsfrequenz blieben unbeantwortet. Auch war niemandem die eigentümliche Konstruktion bekannt. Schließlich ergab eine Recherche im Bordthesaurus, dass es unbestimmten Ursprungs war. Niemals in der bekannten Geschichte der Galaxis war ein solches Sternenschiff gebaut worden. Raeloff war entschlossen, das Objekt aus der Nähe zu untersuchen. Die Mannschaft opponierte, eine Meuterei war im Entstehen, denn Kursangleichung hätte bedeutet, noch tiefer in das Eis vorzustoßen – davor schreckten die Männer zurück.

Kinski fürchtete die Annäherung aus einem anderen Grund. Häufig wurde er wegen der Zeitdehnung und anderer physikalischer Effekte befragt. Er war stets zurückhaltend, antwortete ausweichend oder gab vor, nicht Bescheid zu wissen. Hätte er nämlich der Crew seine Befürchtungen preisgegeben, wäre ein Aufstand unvermeidlich gewesen.

Nun hatte er die schwere Aufgabe, den General im Alleingang von seinem Wahnsinnsplan abzubringen. Ein Vorstoßen zu dem fremden Schiff war Selbstmord.

Genau das erklärte er, nachdem er Raeloff um eine dringende Unterredung ersucht hatte.

»Das ist eine Vermutung Ihrerseits«, entgegnete der General.

»Dann wäre ich nicht so beunruhigt«, meinte Kinski. »Nein, ich schließe das aus simplen Potentialbetrachtungen. Im Übrigen ist es eine Schulbuchweisheit. Jeder Astrogationsstudent im ersten Semester würde Ihnen das gleiche sagen.«

Raeloff lehnte sich zurück und schätzte sein Gegenüber ab. »Versuchen Sie’s mal«, meinte er.

»Ich fürchte, ich würde Sie langweilen«, sagte Kinski. Nach Sekunden des Nachdenkens erklärte er aber doch: »Die engste stabile Kreisbahn um ein Schwarzes Loch liegt bei drei Schwarzschildradien – das sind bei unserem Ungeheuer etwa zweihundert Kilometer. Bis dorthin können wir uns auf die Himmelsmechanik verlassen, brauchen gar nicht zu navigieren. Gehen wir näher ran, wird’s gefährlich. Zwar gibt es noch Kreisbahnen bis einskommafünf Schwarzschildradien – sagen wir etwa hundert Kilometer in unserem Fall – aber Sie brauchen einen verdammt starken Antrieb.«

»Den haben wir«, prahlte Raeloff.

»Aber sicher, wir könnten ja rangehen. Es wäre nur so, stellen Sie sich vor, die Penrose ist eine Kugel, die am oberen Rand eines Trichters kreist.

---ENDE DER LESEPROBE---