SIMULATIONEN - SCIENCE FICTION - WERKAUSGABE, BAND 2 - Peter Schattschneider - E-Book

SIMULATIONEN - SCIENCE FICTION - WERKAUSGABE, BAND 2 E-Book

Peter Schattschneider

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Beschreibung

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die jenseits des großen Teichs gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden.    Der Band  Simulationen  enthält zwölf ausgewählte Erzählungen. 

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PETER SCHATTSCHNEIDER

 

 

SIMULATIONEN

- Science Fiction -

Werkausgabe, Band 2

 

Erzählungen

 

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Vita Peter Schattschneider 

Vorwort 

Tiefschlaf 

Superzyte 

Sam 

Schnippchen 

GIPS Unlimited 

TinkerBell 

Selbstgespräch mit Protoplasma 

Exit to Paradise 

Verschwörung der Zwiedenker 

Emulitis 

Sollwert 80 Ego 

Der Traum des Philosophen 

Quellen 

Das Buch

 

 

Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die jenseits des großen Teichs gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden.

 

Der Band Simulationen enthält zwölf ausgewählte Erzählungen. 

  Vita Peter Schattschneider

 

 

Peter Schattschneider wurde 1950 in Wien geboren. Er studierte Physik an der Technischen Universität Wien und Lehramt für Physik und Mathematik an der Universität Wien. Nach dem Studium arbeitete er in einem Ingenieurbüro für Luft- und Raumfahrt. 1980 kam er an die TU Wien zurück und baute den Forschungsschwerpunkt Elektronenmikroskopie aus. 1992 wechselte er für zwei Jahre an das Centre Nationale de la Recherche Scientifique in Paris. Forschungsaufenthalte in Europa, USA und Australien. Gastprofessuren in Paris und in Peking. Über 300 wissenschaftliche Artikel und zwei Sachbücher; zahlreiche Science-Fiction Stories und Romane bei Springer, Suhrkamp, Waldgut und heise online.

 

 

 

 

  Vorwort

 

 

Wie ich an anderer Stelle schrieb, fällt es mir schwer, meine SF-Erzählungen in die klassischen Kategorien einzuordnen. Im ersten Band meiner Erzählungen waren daher schlicht jene enthalten, die man als Extrapolationen der Gegenwart auffassen kann. Virtuelle Welten kamen darin nicht vor. Genau diese sollen nun in Band zwei versammelt werden. Dabei geht es mir weniger um die spektakuläre Ausschmückung computergenerierter Umgebungen, wie das Ernest Cline in »Ready Player One« beispielhaft, aber mit wenig Tiefgang vorexerziert hat, sondern um die Frage, was denn virtuell überhaupt bedeutet. Man glaubt ja gern, dass virtuelle Realität nur mit Computern, 3D-Brillen usw zu tun hat. Genau genommen schafft aber bereits jeder Kinofilm eine virtuelle Realität. Wenn Sie dieses Buch lesen, begeben Sie sich sogar in doppeltem Sinn in eine virtuelle Realität – thematisch und das Gelesene individuell interpretierend. Hat nicht jede erlebte Welt einen virtuellen Anteil? Man muss gar nicht zu Extremfällen greifen, wie dem Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (ein vom Neurologen Oliver Sacks eindringlich beschriebener Fall). Höre ich dieselbe Neunte von Beethoven wie Sie? Siehst du dasselbe Rot wie ich? Ist der Regenbogen einer Person mit Rot-Grün-Blindheit derselbe wie meiner?

Jedenfalls ist das, was der Beobachter wahrnimmt, von der objektiven Welt, so es sie gibt, weit entfernt. Wenn man nicht in die Sackgasse des Solipsismus geraten will (»Die Welt ist nur im meinem Kopf«), stellt sich die Frage, wo denn die Grenze zwischen Realität und Virtualität verläuft. Optische Täuschungen geben uns einen ersten Hinweis darauf, wie vertrackt das Problem ist. Die moderne Gehirnforschung zeigt immer deutlicher, das die Dinge, die wir als Elemente der Realität verorten, erst in unserem Kopf entstehen. Insbesondere die Prozessverarbeitung im visuellen Kortex scheint hierarchisch und über verschiedene Netzwerke abzulaufen – bis zu so erstaunlichen Tatsachen wie dem Abruf eines bestimmten Gesichtes aus dem Gedächtnis, wenn ein einzelnes Neuron stimuliert wird. Veränderte Bewusstseinszustände, Rausch oder Träume, die intensiver als die sogenannte Realität erlebt werden können, Synästhesien, Hypnose und Massenhalluzinationen sind Phänomene, die zu großer Vorsicht bei der Definition von Realität aufrufen.

Die rasante Entwicklung von computerbasierter Augmented Reality und Virtual Reality verleiht dem alten philosophischen Problem der Definition von Wirklichkeit eine ganz praktische Bedeutung. Es braucht nicht viel Fantasie, um den aktuellen Stand der Technologie mit 3D-Brille und Datenhandschuh soweit fortzuschreiben, dass die Frage nach der Unterscheidbarkeit von virtueller und echter Realität zu fruchtbaren Gedankenspielen anregt.

Die Titelstory Tiefschlaf setzt voraus, dass Realität eben nicht als solche existiert, sondern aus neuronalen Impulsen gemacht wird. Hinter dem Inhalt – ein Security-Trainer überlebt schwer verletzt ein Attentat – steht die aktuelle Frage, wie Virtuelle Realität bei Behinderungen, etwa bei Bewegungseinschränkungen helfen kann. Bionische Prothesen gibt es bereits, sogar ein bionisches Auge existiert, und Elon Musks Start-Up Neuralink will Signale direkt ins Gehirn einspeisen. Dass es in Tiefschlaf am Ende ziemlich makaber zugeht, ist dem Plot geschuldet und durchaus beabsichtigt. Die zarter besaiteten Lesenden werden mir das hoffentlich nachsehen.

Die Erkenntnisfrage (ist die Realität, die ich erlebe, echt oder virtuell?) hängt natürlich mit dem Begriff des Ich-Bewusstseins zusammen, das mich seit jeher quält und faziniert. Die Erzählungen Superzyte und SAM umkreisen dieses Thema mit flatterhafter Freiheit. In SAM stelle ich die gewagte Hypothese auf, dass das Ich-Bewusstsein auf einem selbstreferenten Prozess beruht. Breiter ausgeführt ist der Gedanke in Schnippchen, einer Geschichte, die auf boshafte Art den Typ des präpotenten Hackers vorführt, und in GIPS unlimited, in der sich die Software für eine hundsgemeine Frage ihres Meisters rächt. Hier wird erstmals ein Paradoxon der Selbstreferenz thematisiert, wie auch in TinkerBell, einer Campus-Story mit einer gewissen Portion Mathematik und Physik. Selbstgespräch mit Protoplasma geht der Frage nach, ob Künstliche Intelligenz weiß, was sie denkt, und rührt dabei tüchtig im Decartes‘schen Dogma »Ich denke, also bin ich« um.

In Exit to paradise stiftet ein scheinbar harmloser Programmierfehler existenziell-paranoide Verwirrung. Ähnlich in Verschwörung derZwiedenker, wo eine möglicherweise paranoide Wahnvorstellung als virtuelle Realität interpretiert werden kann – vielleicht ist es aber auch umgekehrt. In Emulitis führt die Verbindung Computer-Gehirn zu einer rätselhaften Krankheit. Nach diesen drei krankhaften Stories geht es in Sollwert 80 Ego um eine psychotherpeutische Übung in geziemendem Selbstbewusstsein – eine angesichts der heutigen Möglichkeiten von interaktiven Computer-Rollenspielen mit mehreren Spielern ziemlich realistische Vorstellung. 

Der Traum des Philosophen ist vordergründig eine alternative history. Auf den zweiten Blick aber doch nicht – es geht vielmehr um die Bostrom-Hypothese. Vielleicht leben wir nicht in einer virtuellen Welt wie in Matrix; vielleicht sind wir alle virtuell, wie Daniel F. Galouye in Welt am Draht meisterhaft ausgeführt hat, mehr als ein halbes Jahrhundert bevor der Oxford-Professor Nick Bostrom diese These statistisch untermauert hat.  

 

- Peter Schattschneider

Mai 2022

 

 

 

 

 

 

  Tiefschlaf

 

 

 

We’re starting to identify the mechanisms underlying neural code and make them programmable. [... This] will enable us to author ourselves and our existence in ways that were previously unimaginable.

 

- Bryan Johnson, CEO of Kernel Company, 2017

 

Und wieder der Alptraum – laute Stimmen, Schreie, Motorengeräusch. Im Umdrehen sah er Menschen am Boden liegen, manche leblos, andere bewegten sich noch. Und er sah den Pickup näherkommen. Die Augen des Fahrers, wasserhelle Augen, fixierten ihn. Bill stieß Ann zur Seite, automatisch wie in der Ausbildung zog er die Waffe – anlegen, zielen, Schuss auf Schuss, bis das Magazin leer war, dann hechtete er zur Seite, weg von der Fahrspur des Angreifers. Der Pickup schlingerte, verfehlte ihn um Zentimeter, drehte nach links, krachte in die Mauer der Uferpromenade, keine zehn Meter entfernt. Der Motor heulte auf, der Wagen kippte, kippte wie in Zeitlupe, hing in der Mauer. Die Tür sprang auf. Der Fahrer blickte Bill an, lächelte. Es war ein freudiges, erlöstes Lächeln. Er griff nach einem Amulett, das an einer Halskette hing. Es sah aus wie ein Kreuz, rot vom Blut, das stoßweise aus einer Schusswunde am Hals quoll. Dann tastete er nach etwas in seinem dicken Mantel, der kein Mantel war.

Und dann verschwand die Welt in Feuer und Schmerz.

Die Traumreste waren gestochen scharf, wie es manchmal geschieht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Bill schielte nach der Uhr am Nachttisch, aber da war keine Uhr. Und da war kein Nachttisch.

Er war nicht zu Hause. Ein fremdes Bett, gedämpfte Beleuchtung, an der Wand ein toter TV-Schirm, ein schlichter Tisch. Links ein Monitor, eine grüne Linie lief über den Schirm. Bip – bip tönte es im Rhythmus seines Pulses. Er stand vorsichtig auf, blieb auf der Bettkante sitzen. Der Fernseher erwachte.

 »Hallo, Bill!« Eine Krankenschwester lächelte ihm zu.

»Hallo«, krächzte er zurück. »Wo bin ich?« Seine Stimme klang beschädigt.

»Sie sind im Krankenhaus von Phantom City. Sie waren verletzt. Wir haben Sie in Tiefschlaf versetzt und das genetische Rekonstruktionsprogramm aktiviert. So wie es aussieht, sind Sie wiederhergestellt. Willkommen im Leben!«

»Dann war das kein Alptraum.«

»Erinnern Sie sich an etwas?«

Er schloss die Augen. Die Alptraumbilder explodierten wieder gestochen scharf in seinem Kopf.

»Ein Terror-Anschlag. Der Picku... die Uferpromenade. Die Explosion.«

»Sie waren keine zehn Meter entfernt. Es war mühsam, Sie wieder zusammenzuflicken.«

Er bewegte die Arme, betrachtete seine Hände, tastete über Hals, Brust und Schenkel. Er spürte sich, aber er war sich fremd. Als liefen Ameisen über die Stellen, die er berührte. Die Haut auf seinen Händen war merkwürdig glatt wie Plastik, das Muttermal am rechten Unterarm fehlte.

»Die Explosion hat Sie voll erwischt«, erklärte die Schwester. »Wir mussten Ihre Extremitäten rekonstruieren, Ihre Haut war fast vollständig verbrannt.«

Er bewegte verunsichert die Finger. »Sind das – Prothesen?«

»Keineswegs. Das Rekonstruktionsprogramm hat Ihr Stammzelldepot genutzt, um die beschädigten Organe wiederherzustellen. Die Haut wird Ihnen fremd vorkommen, sie ist ja frisch wie bei einem Baby. Und die Nervenleitung ist gestört, aber das gibt sich.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte die Explosion überlebt. Dann fiel ihm Ann ein. Er sprang auf.

»Meine Frau! Ist sie...?«

»Ihre Frau lebt. Sie war schwer verletzt, sie schläft noch. Sie wird wieder gesund.«

»Kann ich sie sehen?«

»Morgen. Sie brauchen jetzt viel Ruhe.«

 

Sie drehten ihn durch die medizinische Mangel. Röntgen, MR, EKG, EEG, Blutwerte, Nervenleitung, Motorik, Sensorik, audio-visuelle Wahrnehmung, Gleichgewicht, Kraft, Reaktionsvermögen...

Er war vier Wochen im Tiefschlaf gelegen, während die lasergesteuerten Biobots das zerstörte Gewebe im 3D-Druckverfahren mit Hilfe fleißiger Stammzellen wieder aufbauten. Es war ein Terroranschlag nach Vorbild des Attentats in Nizza gewesen. Bills Eingreifen hatte viele Menschen gerettet.

Vor seiner Entlassung durfte er Ann sehen. Sie lag in der Rekonstruktionsbox, wie Dornröschen schlief sie in einem gläsernen Sarg. Ihr Gesicht war friedlich-entspannt, sie schien unversehrt bis auf den fehlenden linken Unterschenkel. Laserscanner huschten über den Stumpf, an dem die Biobots von Phantom hurtig arbeiteten. Phantom City war der Sitz der Firma. Sie hatten bei der Stadtgründung keine Kosten gescheut, eine perfekte Infrastruktur zu schaffen, um die besten Mitarbeiter zu gewinnen. Die besten Ärzte, die besten Neurochirurgen hatten sich um ihn gekümmert und würden sich um Ann kümmern.

Das Forschungszentrum war nur Minuten vom Krankenhaus entfernt. Kollegen gratulierten ihm, erkundigten sich nach Ann, sprachen ihm Mut zu, fragten vorsichtig, wann er denn wieder die Softwareentwicklung übernehmen würde. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Ohne ihn lief nichts in der Firma, das war allen klar.

Bryan, der allmächtige Boss, klopfte ihm auf die Schulter, was er noch nie getan hatte. Er hielt eine verkürzte Standardansprache – die Gründung von Phantom als Spin-off von Kernel, jenes Unternehmens, das einen Paradigmenwechsel in der Branche erzwungen hatte; der entscheidende Durchbruch mit den Terahertz-Lasern, der Fastbankrott nach dem Rückgang des islamistischen Terrors, Konsolidierung und Aufschwung, die harte Konkurrenz und das erklärte Ziel, Marktleader zu bleiben. Seit militante Sekten den Islamisten im weltweiten Terror den Rang abgelaufen hatten, boomte der Security- und Antiterrormarkt. Viele Newcomer nutzten die VR-Technologie, um ihre Sicherheitsleute und Eingreiftruppen zu schulen. Die Firma musste aggressiv akquirieren, um zu überleben. (Natürlich blieben manche Methoden unerwähnt. Es war ein offenes Geheimnis, dass Phantom illegale Geheimdienstsoftware zur Überwachung einsetzte. Und Bill kannte Phantoms größtes Geheimnis: Outgesourcte Todeskommandos liquidierten die Familien der Terroristen – eine der wirksamsten Abschreckungsmaßnahmen für potentielle Attentäter. Und er wusste, dass niemand wissen durfte, dass er das wusste. Zu gefährlich wäre ein solcher Mitwisser.)

Am Ende der Ansprache erläuterte Bryan ein paar neue Ideen, die zu implementieren waren, sobald Bill sich dazu in der Lage fühlte – am besten gleich. Bill ersuchte jedoch, zuerst die neuen Kadetten für den Einsatz einschulen zu dürfen und dann ein paar Tage Urlaub zu nehmen, die er mit seiner Frau verbringen wollte.

Bill war zufrieden. Von den Toten auferstanden gewissermaßen. Er war überglücklich. Wenn nur nicht das merkwürdige Ameisenlaufen auf den Armen und Beinen gewesen wäre, und das Gefühl, einen nassen Lappen zu quetschen, als Bryan ihm zur Begrüßung die Hand gegeben hatte.

 

»Sie werden jetzt Ihre erste Trainingseinheit in der aktiven VR-Umgebung absolvieren.«

Er betrachtete die Kadetten, die da wissbegierig und vor Enthusiasmus platzend vor ihm saßen. Zehn junge Kerle, die den Eingangstest geschafft hatten und ein Platoon bilden würden. Er nahm den Helm vom Pult – eine elastische anthrazitgraue Hülle aus sechseckigen Waben.

»Dieses Ding« – er dehnte es wie eine Badehaube...«versetzt Sie in eine virtuelle Trainingsumgebung. Die Terahertz-Laser in den Waben stimulieren ihre afferenten Nerven durch das Schädeldach; Sie werden das Gefühl haben, in einer absolut realen Situation zu sein. Bisher haben Sie nur in einer Augmented Reality-Umgebung geübt, die Ihre reale Umgebung wiedergab. Im Aktivmodus befinden sich alle im gleichen virtuellen Raum. Sie werden alle Mitglieder des Platoons sehen und mit ihnen kommunizieren. Aus diesem Grund können Sie Ihren Avatar nicht selbst bestimmen. Jeder Avatar bildet seinen Besitzer ab.«

Er holte weit aus und deutete auf die Fensterfront. »Erinnern Sie sich: Die Sonne schien durch dieses Fenster und warf an diesem Bildschirm einen exakt nach der Realität berechneten Schatten. Sie haben gelernt, sich mit Hilfe des VR-Helms in dieser Umgebung zurechtzufinden. Sie konnten alles beobachten, was Sie auch in Wirklichkeit beobachten würden, aber Sie konnten nichts verändern. Sie konnten durch diese Tür gehen, aber nicht durch die Wand.

Diesmal ist es anders. Sie werden zum ersten Mal im Aktivmodus arbeiten. Sie können die Umgebung verändern. Sie können Wände sprengen« – seine Handfläche knallte gegen die Projektionswand...«Sie können Terroristen aufspüren und eliminieren. Sie werden heute die Burj Khalifa in Dubai schützen. Wir haben Hinweise auf einen geplanten Anschlag des KS.«

Ein prüfender Blick zur Klasse zeigte ihm, dass keine langen Erklärungen nötig waren.

»Der Turm hat eine Höhe von achthundertachtundzwanzig Meter. Allerdings werden Sie nicht auf die Nadelspitze klettern. Im Einsatz wird die hohe Aussichtsplattform wichtig sein. Und die ist in welcher Etage?«

»In der hundertachtundvierzigsten«, tönte es mehrfach aus der Klasse.

Bill war zufrieden. Sie hatten die höchsten Gebäude der Welt gründlich studiert.

»Die Übungsannahme ist, dass mehrere Sprengladungen im Gebäude so gezündet werden, dass der Turm in sich zusammenbricht. Sie wissen nicht wo, aber sie können gewisse Bereiche ausschließen.«

Die Klasse schwieg. Einige starrten scheinbar nachdenkend an die Decke, andere senkten den Kopf in ihr Tablet.

»Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Die Druckspannung hängt vom darüber liegenden Gewicht und von der lokalen Querschnittsfläche der Tragkonstruktion ab.«

Die Gruppe murmelte verunsichert. Sie sollten das selbst herausfinden, entschied Bill.

»Ok, Kadetten. Ich werde dabei sein, aber Sie werden mich nicht wahrnehmen, und ich werde nicht eingreifen, denn ich benütze diesmal den Passivmodus. Sie sind also auf sich allein gestellt. Seien sie vorsichtig, Ihr Gegner ist stark. Es kann passieren, dass Sie verletzt werden, sogar schwer oder tödlich. In diesem Fall geben wir Ihnen nach Übungsende Lipropanol.«

Er machte an dieser Stelle immer eine Pause. Er wusste, dass das ein heikler Punkt war. Die Kadetten waren verunsichert, es gab Gerede über eine Kampfdroge, aber niemand wagte danach zu fragen.

»Um das ein für alle Mal zu klären: Lipropanol ist tausendmal getestet worden und gut verträglich. Es verhindert die Langzeiterinnerung nach kritischen Einsätzen, die sonst posttraumatische Störungen erzeugen würde. Entgegen aller Verschwörungstheorien macht es nicht aggressiv; Aggression müssen Sie schon selbst in den Kampfeinsatz mitbringen. Noch Fragen?«

Einer in der ersten Reihe zeigte auf.

»Wir müssen uns ja bewegen, Kampftaktiken anwenden. Während wir hier still sitzen?«, sagte er. Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen.

Kevin war ein Besserwisser. Eine Demo war fällig. Bill trat an den Jungen heran.

 »Wie heißen Sie, Kadett?«

»Kevin, Sir.«

»Ok, Kevin. Setzen Sie den Helm auf«, forderte er ihn auf. Der stülpte sich die Haube umständlich über, nicht mehr so sicher, mit seiner Frage bei der Klasse reingefetzt zu haben. Bill korrigierte den Sitz des VR-Helms, ließ sich Zeit, damit die anderen den wackelnden Kopf des Prüflings zur Kenntnis nehmen konnten. Dann griff er nach der Brille, hielt sie hoch.

»Das ist die Mirage von Oculus, eine Weiterentwicklung der Rift 12. Wer hat schon mal mit einer Rift gespielt?«

Alle Hände schossen in die Höhe.

»Ist ja kaum zu glauben. Dann wird das ein Heimspiel. Also bitte, Kadett, setzen Sie die Mirage auf!«, befahl er und kontrollierte den korrekten Sitz der Brille. »Ich starte jetzt die Trainingssoftware, Szene #5. Sie haben genau diese Situation beim Auswahltest geübt. Kevin, ich ziehe jetzt Ihre VR für das gesamte Platoon auf den Schirm.«

Das große Wanddisplay erwachte.

 

Combat 1.0 – Szene #5: Messerattacke

VR AktivModus

 

Eine Wüstenlandschaft erschien auf dem Schirm. Kevin stand wie verloren da. Aus der flimmernden Luft materialisierte ein virtueller Trainer.

 »Hallo Kadett. Bevor Sie kämpfen, müssen wir Ihr Interface trimmen«, stellte er fest.

»Äh...?«

»Das ist neu für Sie, Kadett. Bisher waren Sie im Realitätsmodus unterwegs, Sie konnten nicht interagieren. Jetzt kommt es auf präzise Kampfbewegungen an. Die Signale des Helms sollen ja an den richtigen Stellen in Ihrer Hirnrinde ankommen, damit sie nicht danebengreifen. Sie werden jetzt einem Fliegenschwarm ausgesetzt. Sie werden spüren, wo sich eine Fliege niederlässt. Das wird irgendwo auf Ihrer linken Körperhälfte sein, je nach Sitz des Helms. Sie können die Fliege mit Handbewegungen steuern. Tun Sie dies so lange, bis sie auf Ihrem linken Handteller sitzt.«

»Aber wie...«

»Das ergibt sich von selbst.« Der Trainer schnippte mit den Fingern, und am sonnenhellen Himmel erschien ein Schriftzug:

Cortex triangulation. Follow advice.

Und sie kamen surrend daher, hunderte grünschillernde Fliegen wirbelten wie eine Aura um Kevins Kopf. Er fuchtelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen, aber sie blieben auf Distanz, abwartend, den Angriff planend, und dann schickten sie eine Kundschafterin aus, die auf seiner linken Schulter landete.

»Locken Sie sie nach vorne, auf die Hand«, ermutigte ihn der Trainer.

»Ich hab´ sie!«

»Gut. Schließen Sie die Hand. Fest!« 

 Left palm locked. Repeat right. 

Die Wiederholung mit der Rechten endete mit der Erfolgsmeldung

Right palm locked. Repeat crotch area.

Ein kleiner Schwarm landete auf Kevins Bauch, dem sichtlich nicht wohl bei der Sache war.

»Sie müssen sie zwischen Ihre Beine locken. Fürs 3D-tuning brauchen wir drei Punkte.«

Kevin folgte widerwillig mit steuernden Handbewegungen der Aufforderung;

»Wo sind sie jetzt?«

»Genau auf meinen – äh – zwischen den Beinen.«

»Etwas höher. Das Interface muss genau wissen, wo es zuschlägt.«

Kevins Finger steuerten das Zielobjekt vorsichtig an.

»Ist sie am Ziel?«

»Ich – ich glaube schon.«

»Na dann weg mit ihr. Oder brauchen Sie eine Fliegenklatsche?«

Mit Todesverachtung griff Kevin nach der an delikater Stelle sitzenden Fliege.

Aus der Klasse kam prustendes Lachen.

Cortex triangulation finished

blinkte die Schrift.

»Das hätten wir. Das Interface kann jetzt präzise mit Ihrer Feinmotorik kommunizieren. Viel Glück, Kadett!« Damit verschwand der Trainer wie eine Fata Morgana. Gleich darauf reckte sich ein zartes Pflänzlein aus dem Wüstensand. Innerhalb von Sekunden spross es zu einer mächtigen Schirmföhre. Kevin duckte sich, suchte Schutz am Stamm.

Der Angreifer kam von oben aus den Ästen, federte leicht beim Sprung ab, in der Rechten einen Dolch. Kevin ging sofort in Verteidigungsstellung. Der Angreifer war klein. Er stürzte sich mit erhobenem Messer auf den Gegner. Der wich seitlich aus und kickte einen Yop-chagi gegen das Knie des Angreifers, wie sie es im Training geübt hatten. Der Gegner knickte ein, das Messer landete im Sand. Beide Kämpfer hechteten danach. Ein Ringkampf entspann sich, die Männer wälzten sich am Boden, und nach kurzer Zeit hatte Kevin die Oberhand. Er griff nach dem Messer, aber da ruckelte das Bild, er griff daneben. Der Terrorist nutzte den Systemblackout und fasste das Messer mit beiden Händen. Mit einer geschickten Rolle befreite er sich aus dem Klammergriff und stieß Kevin die Klinge von unten in den Hals. Blut quoll in Stößen in den Sand. Der Körper des Kadetten bäumte sich auf, dann war der Kampf vorbei. Der echte Kevin gab grässliche gurgelnde Laute von sich, während er sich wiederholt zusammenkrümmte.

Bill trat an das Pult des Prüflings heran, fixierte seinen sich windenden Oberkörper, griff seitlich an den Helm und drückte den roten Knopf für die Lipropanolinjektion fest gegen den Hals des Kadetten. Der wurde bald ruhig, seine Schultern entkrampften sich. Nach kaum einer Minute streckte er sich und setzte die Mirage ab. Erstaunt rieb er sich die Augen.

»Gut gemacht, Kevin. Hatten Sie genug Bewegung?« Kevin nickte benommen, noch halb im Kampfgeschehen.

»Berichten Sie.«

»Nun, ich habe mit dem Angreifer gekämpft. Ich habe ihm das Messer abgenommen.«

»Sehr gut. Und dann?«

»Äh, dann – wir sind zu Boden gegangen, es war ziemlich wild.«

»Wer hat gewonnen?«

Kevin zögerte. »Ich – ich weiß nicht genau. Ich denke, ich?«

»Nun, Sie hätten gewonnen, wenn die Software nicht einen Sekundenbruchteil aus dem Takt geraten wäre. Das hat Sie abgelenkt. Das ist ein echtes Problem, es bringt den Trainingsplan durcheinander. Die verbesserte Version wird demnächst ausgeliefert.«

Kevin wartete auf eine Antwort. Bill wandte sich an die Klasse. »Sie sehen, das Lipropanol wirkt augenblicklich. Keine Erinnerung, keine posttraumatische Störung.«

»Sir?«, fragte Kevin etwas verstört.

»Sagen Sie’s ihm«, forderte Bill die Kadetten auf. Die Klasse schwieg.

»Nur zu, es tut nicht mehr weh.«

»Du hast verloren«, murmelte schließlich einer. »Er hat dir den Hals aufgeschlitzt.«

»Du warst tot.«

Bill wartete, bis die Klasse das verarbeitet hatte.

»Die Immersion ist vollständig«, fuhr er fort. »Die Helmsensoren nehmen die Aktionspotentiale der motorischen Nerven ab, um die Simulation realitätsecht abzuwickeln. Dadurch kommt nur ein schwaches Restsignal in die efferenten Nervenbahnen. Das führt zu ineffektiven Muskelkontraktionen. Sie haben gezuckt wie eine schlafende Katze.« Dies zu Kevin, der rot anlief.

Unterdrücktes Lachen kam aus den hinteren Reihen. Jetzt hatte Bill die Klasse auf seiner Seite. Nun war es leichter, sie zum Training zu motivieren. Er vergewisserte sich, dass alle Helm und Brille korrekt angelegt hatten, tat desgleichen und aktivierte den Passivmodus nur für sich.

Das Grau der Datenbrille flimmerte, als die Immersion begann: Die Burj Khalifa erschien wie aus lichtem Nebel in hyperrealistischer Schärfe, und davor hing greifbar nah

 

Combat 1.0 – Szene #13: TerrorAnschlag Burj Khalifa

VR PassivModus  

 

Der Helm begann zu pulsieren. In massierenden Bewegungen schmiegte er sich Bills Gehirn an. Ein verwischter Lufthauch im Gesicht, Ameisen trabten seine Arme entlang bis zu den Fingerspitzen, ein zartes Kribbeln in der Wirbelsäule. Der Helm vibrierte jetzt, eine heiße Welle wie nach einem Adrenalinstoß überrollte Bill, und er hatte das Gefühl, sachte vor dem Riesengebäude zu landen. Gleichzeitig wusste er, dass er vor der Klasse saß und sich nicht rührte.

Er war im Spiel, beobachtete alles, aber für sie existierte er nicht. Er brauchte auch nicht auf Distanz zu achten – sie liefen einfach durch ihn durch. Die Gruppe war gut organisiert. Sie holten sich die Konstruktionspläne aus der Cloud, ließen eine Finite-Elemente App laufen, die potentielle Statikschwachstellen anzeigte, orderten in der Zentrale einen Drohnenschwarm, mit dem sie die Außenhülle entlang der tragenden Stützen von unten nach oben scannten. Die hochempfindlichen Sprengstoffdetektoren fanden die Bomben in drei übereinanderliegenden Stockwerken. Expertensoftware analysierte den Zündmechanismus. Bill hatte, um den Stress zu erhöhen, einen Zeitzünder eingebaut, der ihnen ab Entdeckung gerade genug Zeit ließ, das Gebäude zu räumen, wenn sie es gut machten. Sie verschwendeten wertvolle Zeit mit dem vergeblichen Versuch, die Bomben zu entschärfen. Alle Mechanismen waren individuell SSL-kodiert. Sie arbeiteten an der ersten Entschlüsselung, bis nach wenigen Minuten einer von ihnen feststellte:

»Wir brauchen mindestens zehn Minuten für jede, das macht... fast zwei Stunden! Zu lang. Wir müssen evakuieren!«

Und das taten sie. Die Kapazität der Expressaufzüge wurde berechnet und voll ausgelastet; die Personen aus den oberen Stockwerken wurden per Helikopter von der Plattform in der 148. Etage geborgen. Bill zoomte sich als Beobachter in den letzten Heli; es war Zero minus eine Minute. Er saß auf dem Kranausleger des Boeing Defiant und sah zu, wie zwei seiner Kadetten die Leute anwiesen. Die Evakuierten waren verwirrt, langsam und nicht sehr kooperativ; realitätsnah eben. Bei Zero minus 10 Sekunden waren alle drin, ein Kadett gab dem Piloten Zeichen. Die Rotoren liefen donnernd an, während der andere Kadett hochhechtete und Bills virtuellen Platz auf dem Ausleger einnahm. Wie ein Schoßkind saß er auf Bill, ohne es zu merken.

Der Rumpf des Defiant schwankte. Aber es waren nicht die mächtigen Doppelrotoren, die ihn zittern ließen – es war die Burj Khalifa, die wie in Zeitlupe einzustürzen begann. Der zweite Kadett lief auf den Helikopter zu, auf einer Plattform, die sich wie das Deck eines Ozeanriesen in schwerer See senkte. Der Defiant hob aus der Sinkbewegung ab, schwebte einige Zentimeter über dem Landeplatz, um den Heranlaufenden aufzunehmen, aber je näher er kam, desto weiter fiel er auf der stürzenden Plattform zurück. Bill unterdrückte den Impuls, die Hand nach ihm auszustrecken. Er konnte nicht eingreifen, und es war sowieso zu spät. Sekunden noch schwebte der Defiant gleichsam zögernd über dem rasch unter ihnen schrumpfenden Landeplatz, während seitlich des Helikopters die höheren Etagen majestätisch erdwärts strebten. Staubfontänen und glitzernde Glassplitter brachen aus den Wänden der kühnen Nadel, die zur Ehre einer fixen Idee in den Wüstensand zurückstürzte, aus dem sie einst gewachsen war.

DNA-Spuren führten zu den Terroristen. Die KS-Zelle wurde liquidiert, wobei ein zweiter Kadett ums Leben kam. Gemäß Protokoll erhielten die beiden nach Übungsende Lipropanol. Sie erinnerten sich an den Einsatz, aber das traumatische Ende war vergessen. Es ging ihnen gut. Alles in allem war es ein guter Score, fand Bill.

Seine Versuche, mehr über Anns Zustand zu erfahren, waren unergiebig. Tiefschlaf... Auf dem Weg der Besserung... In wenigen Tagen wissen wir mehr, hieß es vom Krankenhaus. Die Einschulung der Kadetten nahm ihn voll in Anspruch, es war schön zu sehen, wie begeistert sie waren und wie sie unter seiner Führung besser wurden; er hatte kaum Zeit, an den Anschlag zu denken, der Ann und ihn fast das Leben gekostet hätte. Und das war gut.

Nur in den Träumen kamen die Bilder wieder. Die wasserhellen Augen des Terroristen, der Pickup, Ann zur Seite stoßen, zielen, feuern. Aus einer Halswunde quoll Blut. Feuer und Schmerz.

Er erwachte mit klopfendem Herzen. Im Takt quellendes Blut – das Metronom des Todes. Wie in der Combat-Simulation. Die Wunde war an der gleichen Stelle und es quoll im gleichen Takt – war das Zufall?

 

Bill nahm den geplanten Urlaub, nachdem er die Kadetten durch das Programm geschleust hatte. Sie würden gute Phantoms werden – aufmerksam, entscheidungsstark und skrupellos, wenn es um die Bekämpfung von Terroristen ging.

Es war phantastisch, Ann wiederzusehen. Sie genossen einen romantischen Abend mit allem, was dazugehörte. Sie war wunderschön, kein Anzeichen von Narben, die Haut war glatt und jugendlich, ihre Formen besser denn je, die Brüste zart und wohlgeformt, ein Tigh Gap wie ein Model – die Biobots hatten ganze Arbeit geleistet.

Er buchte ein Luxushotel in Sardinien, und die Tage vergingen wie im Traum. Sie vermieden es die meiste Zeit, über den Anschlag zu sprechen, aber Bills Alptraum quälte ihn; die Bilder liefen immer wieder ab, als hätte er etwas übersehen.

»Weißt du noch«, fragte er eines Morgens, »als der Wagen auf uns zuraste, da standst du neben mir. Was ist dann geschehen?«

»Du hast mich zur Seite gestoßen.«

»Und?«

»Es war heftig, ich bin gestürzt.«

»Hattest du einen Hut auf? Oder irgendwas um die Schultern? Ein Cape oder einen Umhang?«

Sie verneinte wortlos.«Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Hat dich der Pickup erwischt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Du hast geschossen, dann ist er in die Mauer gekracht. Und dann...«

Dann war die Welt in Feuer und Schmerz untergegangen.

Jetzt wusste er, was ihn beunruhigte: Er hatte bis zur Explosion volle Sicht auf die Uferpromenade gehabt. Er hätte Ann sehen müssen, sie war ja nicht weit von ihm gestürzt. Aber da war nichts. Dort, wo sie hätte liegen müssen, war in seiner Erinnerung ein Loch.

»Das kommt vom Lipropanol«, beruhigte sie. »Es ist ohnehin erstaunlich, dass du dich an so viele Details erinnerst. Die haben dir zu wenig gegeben.«

Die Erinnerung überfiel ihn, als sie durch die Straßen schlenderten, vorbei an Geschäften, Cafés, Restaurants. Ein Windstoß erfasste einen schlecht befestigten Schal vor einem Souvenirladen, wehte ihn in die Straßenmitte. Er schwebte elegant zu Boden und landete in einer Pfütze. Bill blieb stehen. Er starrte in die Pfütze, die vor seinen Augen rot wurde, blutrot wurde sie, und der Schal sog das frische Blut auf.

Ann hatte einen Schal getragen an jenem Tag. Der Schal lag in einer Pfütze aus Blut und Gehirnmasse, und in der Pfütze lag ein halber Schädel – Anns Kopf, oder was von ihm übergeblieben war, als der Pickup sie überfahren hatte. Du kannst das nicht überlebt haben, dachte er. Nicht mit den besten Biobots der Welt konnte man ein zu Brei gequetschtes Gehirn wiederherstellen. Wer bist du? 

Sie merkte gleich, dass etwas nicht stimmte, da er plötzlich schwieg.

»Was ist, Liebster?«

»Weißt du noch, an unserem ersten Hochzeitstag, das teure Restaurant in der Bucht«, lenkte er ab.

Sie nickte lächelnd. »Das war so schön.«

»Ich glaube, wir hatten Fisch, nur an den Wein kann ich mich nicht erinnern.«

Es war ein Test. Er beobachtete sie aufmerksam. Sie blieb kurz stehen, erstarrte, wie um nachzudenken. Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Kind im Laufen innehielt, und die Spatzen erstarrten im Flug. Für Sekundenbruchteile schien die Welt den Atem anzuhalten.

»Nein, wir hatten ein boeuf bourgignon, und dazu zwei Flaschen Volnay `93.«

Gut pariert, dachte er. Natürlich wusste er, dass sie ein boeuf bourgignon hatten. Dass sie sich noch an den Volnay erinnerte, war auch möglich. Aber gleich den Jahrgang... etwas zu perfekt für jemanden, dem Wein nicht viel bedeutete. Die Kameras im Restaurant, die Rechnung, die Robotkellner – alles war aufgezeichnet. Ihr Wissen konnte aus der Datenkonserve kommen.

Er musste sie mit einer Situation testen, die keine digitalen Spuren hinterlassen hatte. Sie schlenderten weiter, und er bemühte sich, entspannt zu wirken.

»Wir waren dann noch am Strand, erinnerst du dich?«

Sie nickte versonnen.

»Was hältst du davon, das heute zu wiederholen? Es ist ein lauer Abend.«

»Oh, ja, wie schön wäre das!«

Er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab’s dir damals gleich zweimal besorgt. Aber das ist zehn Jahre her. Keine Garantie, dass ich das noch bringe.«

Sie kicherte verschämt und schenkte ihm ein verliebtes Lächeln.

Er spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Das war nicht Ann. Denn an jenem Hochzeitstag hatte er die zwei Flaschen Volnay fast alleine geleert. Sie waren nicht an den Strand gegangen, sondern gleich aufs Zimmer. Und dann war von Sex keine Rede, so abgefüllt wie er gewesen war.

Wer bist du? Wenn du nicht Ann bist, wer bin dann ich? Ein Verdacht regte sich, ein ganz und gar unmöglicher Verdacht.

 

Die Woche darauf war mit Meetings und Planungen ausgefüllt. Er beschäftigte sich intensiv mit der Weiterentwicklung der VR Simulation. Es gab immer noch kleinere Probleme mit dem Streaming. Wenn der Hauptcluster eine Anfrage erhielt, die komplexe Suchroutinen in der Cloud erforderte, stockte das Bild für Sekundenbruchteile (so wie bei Kevins Combat-Training). Das war für die praktischen Übungen im Gelände kein Problem. Aber im Kampfeinsatz hatte das Platoon keine Zeit für Anfragen an die Zentrale.

In den Pausen überlegte Bill, wie er seinen unmöglichen Verdacht überprüfen konnte, und so entstand bald ein Plan. Er erfand einen Notfall und bat Ann um Verständnis, dass er das Wochenende im Forschungszentrum bleiben musste. Er schlenderte zum Krankenhaus, langsam und scheinbar in Gedanken, um keinen Verdacht zu erregen. Er warf einen Blick in die Krankenstation, in der sie ihn zusammengeflickt hatten, fand wie erwartet das jetzt unbelegte Krankenzimmer. Aber sein Ziel war die Neurochirurgie – ein Hochsicherheitsbereich, in dem Tests am Menschen und Gehirnoperationen an Versuchstieren durchgeführt wurden.

Am Wochenende gab es nur Journaldienst. Mit seiner Zertifizierung kam Bill problemlos an einer gelangweilten Schwester vorbei, als er die Labors besichtigen wollte. Bioreaktoren brummten, Zentrifugen sirrten, Sequenzierer blinkten, alles lief vollautomatisch ab. Er kontrollierte alle Labors, aber nirgends fand er Versuchstiere. Auch die OP-Säle, an die er sich erinnerte, gab es nicht. Die Sache wurde immer mysteriöser.

Er inspizierte den gesamten Trakt, prägte sich die Lage der Labors und Büros ein und zeichnete sie danach in einen Grundrissplan der Basis ein. Dabei entdeckte er, dass ein Sektor ausgespart war. Niemandsland gewissermaßen, unsichtbar und unzugänglich. Jedenfalls für ihn. Wenn seine Erinnerung an die unsichtbaren Labors und OPs korrekt war, gab es nur eine Erklärung: Sie spielten ihm eine virtuelle Umgebung vor. Aber warum? Hatte die Innenrevision herausbekommen, dass er von den Todeskommandos wusste?

Es gab vielleicht einen Weg, das herauszufinden. In der Nacht schloss er sich in seinem Büro ein, nahm Helm und Brille und startete den Aktivmodus.

 

Combat 1.0 – Szene #1: Phantom City

VR AktivModus

 

blinkte es in der Mirage.

Das vertraute Kribbeln in den Armen verging rasch. Als Ausbildner hatte er die Wahl zwischen zahlreichen Avataren. Die 3D-Brille bot ihm mehrere Modelle an. Spontan wählte er ein weibliches und stattete es mit Anns Gesicht aus. Er steuerte es in Richtung Krankenhaus. Der Avatar bewegte sich nun durch einen virtuellen Raum, der dem realen Gebäude exakt glich. Jedenfalls hoffte Bill das. Dann würde die virtuelle Ann Dinge wahrnehmen können, die ihm selbst in seiner virtuellen Realität verborgen blieben, wenn er denn wirklich in einer solchen gefangen war. Dinge, die er in der Neurochirurgie vermutete...

Die Laborräume entsprachen exakt seiner Erinnerung an den Rundgang. Aber die Abstellkammer am Ende des Korridors, an der er bei seiner Erkundung ratlos kehrt gemacht hatte, war jetzt keine Abstellkammer, sondern bot Zugang zu einem Vorraum, von dem mehrere Türen wegführten. In einem Raum lebten Mäuse und Meerschweinchen in ordentlich gestapelten Käfigen. Dann zwei OPs, ein leeres Krankenzimmer mit zwei Betten, und eine breite Doppeltür mit der Aufschrift »Intensivpflege«.

Ann trat ein. Gedämpftes Licht, eine lange Reihe von Hightechbetten. Beatmungsgeräte, Monitore, Schläuche, Kabel. Die Betten waren mit etwas Menschenähnlichem belegt. Hier lag ein halber Torso, dort jemand, dem Teile des Schädels fehlten. Mehrere Patienten waren frisch operiert, Drähte führten von geöffneten Schädeldächern zu Maschinen. Ann schritt die Reihe der Schwerverletzten ab, bis sie unvermittelt erstarrte. Da lag er, Bill. Er war sehr klein, besser gesagt sehr kurz. Keine Beine, kein Torso, keine Arme. Die Chirurgen hatten aus den Resten seines Körpers einen polstergroßen Klumpen gebaut, auf dem der Kopf saß.

Der Kopf trug einen VR-Helm und die Mirage.

So einfach war das. Hier lagen die unrettbar Verlorenen. Krüppel, die für die Firma wichtig waren. Alle waren sie bei Unfällen oder Anschlägen schwerst verletzt und für ein virtuelles Leben zurechtgeflickt worden. Die Biobots konnten keine Körper nachbauen, aber sie hatten die Gehirne bewahrt. Wichtige, wertvolle Gehirne. Und sie waren gnädig gewesen. Sogar seine Frau hatten sie ihm virtuell zurückgegeben.

Bill steuerte den Avatar an das Kopfende seines Bettes. Er hielt den Atem an, als ihm das Irrwitzige der Situation bewusst wurde: Er nahm durch die Mirage seine Frau wahr, die vor seinem Krankenlager stand – dem Bett eines Verlorenen. Aber eigentlich sah der Verlorene durch Anns Augen, was er wirklich war: Nichts als ein intaktes, getäuschtes Gehirn.

Der Monitor neben dem Bett erwachte.

»Hallo Bill«, sagte Bryan. Er schien sehr ernst und besorgt. »Wir wussten, dass du irgendwann hier auftauchst. Bei deiner Intelligenz war das vorauszusehen. Wir wussten nur nicht, wie du es anstellen würdest, die Simulation auszutricksen.«

»Was habt ihr mir angetan?«, fragte Bill. Seine Stimme zitterte vor Haß, aber aus Anns Mund klang es merkwürdig sanft. Bryan schwieg.

»Was – was habt ihr mir angetan?? Ich bin ein... verdammter... Krüppel! und ihr spielt mir die heile Welt vor. Verflucht sollt ihr sein!«

Bryan seufzte, den Blick schmerzgetrübt.

»Es tut mir so leid.«

»Spar dir dein Mitleid! Du... mieser...«

»Bill! Hör zu, Bill! Was hätten wir denn tun sollen? Die Explosion hat deinen Körper fast vollständig zerstört. Du warst gerade noch am Leben, als wir dich holten.«

Ann, alias Bill, blieb stumm. Was sollte sie auch sagen? Sollte sie jene verfluchen, die ihn gerettet hatten? Auch wenn sie es nicht aus Nächstenliebe getan hatten.

»Wir hatten gehofft, dass die Simulation schlauer sein würde als du. Aber so war es leider nicht. Jetzt, da du die Wahrheit kennst, hast du den Wunsch, dem ein Ende zu machen. Wir verstehen das. Aber es gibt eine Option: Wir simulieren den Anschlag, holen dich heraus und versetzen dich in Tiefschlaf. Wir würden die Lipropanoldosis erhöhen, um diesmal dein Trauma endgültig zu löschen. Du würdest dich an nichts erinnern, du könntest wirklich von vorn beginnen. – Wir brauchen dich. Überleg es dir.«

Bryan verschwand mit einem hoffnungsvollen Blick vom Schirm. Von vorn beginnen. Ein virtuelles Leben. ‚Wirklich von vorn beginnen‘ hatte er gesagt. Welch ein Hohn...

Die bleierne Zeit floss dahin. Wie ein Lavastrom ergoss sie sich in die Simulation, in der er gefangen war. Nach einer Ewigkeit erwachte das Display wieder zum Leben. Life Support System stand da. Darunter zwei Buttons – Shut down und Replay. 

Ann blickte den Patienten lange an. Dann strich sie ihm zärtlich über die Wange. Bill spürte die schlanken Finger wie einen Lufthauch der Verheißung. Wir sind eins. Du bist mein Leben, dachte er und schloss die Augen. So vermied er es zu sehen, wie sie sich zum Monitor drehte. Ihre Hand verweilte zögernd über dem Bildschirm, dann drückte sie Replay.