Iblyssum - Lena Hawemann - E-Book

Iblyssum E-Book

Lena Hawemann

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Beschreibung

Der junge Elf Mørliga treibt Dämonen aus und bringt sie in den Iblyssum. Damit rettet er nicht nur sie, sondern auch ihren Wirt. Doch als eines Tages der wahnsinnige Ritter in seiner Spelunke auftaucht, gerät alles aus den Fugen. Der Dämon Fionháir entkommt und Mørliga muss um seine eigene Seele fürchten. Denn der Ruf des Iblyssums ist zu laut und zu mächtig.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Für Mama und Eva.

Für Suzana und Niklas.

Inhaltsverzeichnis

Der wahnsinnige Ritter

Pantomime der Schuld

Gespräche unter Brüdern

Fort

Die Lichter der Traumsinfonie

Erwachen

Blumen und Dämonen

Berlynë

Lebendige Ängste

Begraben unter der Stille

Die Stollen des Jabbavat

Magex Dæmoni

Lernen durch Zeigen

Verschüttet

Aus der Ferne so nah

Das Feuer der Ejdera

Erscheinung

Spiegelbild

Samannars Tränen

Wecket das Wasser

Der fliegende Tod

Urteil

Eis, Blut und Spiegel

Trúgv

Im Wald der Stille

Ein Gruß und ein Abschied

Erkennen

Es endet, es beginnt

Danksagung

Der wahnsinnige Ritter

Die Stadt Árgtoen lebte schon lange nicht mehr. Kein Wunder, lag sie doch nahe an Fáshajdh, der Wüste mit dem schwarzen Sand, in die sich kein Sterblicher wagte, wollte er nicht dem Wahnsinn verfallen. Nur ein einziger Mensch hatte je den Mut dazu aufgebracht, einen Fuß ins Reich der Erddämonen zu setzen. Dieser törichte Schritt hatte ihm im gesamten Runenwald ungewollte Berühmtheit eingebracht, und zwar wegen des Dämons, der sich einen Platz in der Seele des Mannes ergattert hatte.

Nur dank ihm war er hier gelandet. Müde von der ewigen Rastlosigkeit, die ihn antrieb. Am Ende seiner Kräfte. Der dunkelhaarige Mann stolperte durch die Gassen. Von seinen Schultern hingen die Fetzen eines vormals edlen Umhanges.

Siraf, der wahnsinnige Ritter, – wie der ehemalige Befehlshaber der königlichen Leibwache in Cloudstone fortan genannt wurde, – fristete nun ein Leben als Wanderer. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, denn er hatte aufgrund seiner Geschichte Hausverbot in sämtlichen Tavernen und Gasthäusern der Städte. Niemand wollte einen besessenen Menschen unter seinen Gästen – selbst wenn diese mitunter gefährlicher und merkwürdiger waren. So zog der bedauernswerte Ritter durch das Land und kam schließlich nach Árgtoen. Normalerweise blieb man hier von solchen Geschichten verschont, denn es lebten weder Menschen noch Elfen dort, aber wie so oft, gab es auch Ausnahmen.

Obgleich die Stadt als tot galt, so war dies keineswegs ein Ort der Stille. Natürlich war es nach wie vor trostlos, die Stadt lag in Ruinen, jedoch klang von allen Seiten höllischer Lärm. Geschrei, Gekreische und das Klirren von Schwertern folgten Siraf auf seinem Weg. Mehrmals erhaschte er aus dem Augenwinkel eine schattenhafte Bewegung, doch nur einmal konnte er eine Gestalt in einem schwarzen Kapuzenumhang ausmachen, die auf den Resten einer Mauer kauerte. Als sie ihn sah, richtete sie sich auf.

Siraf beschleunigte seinen Schritt. Keinen Ärger machen. Kein unnötiges Aufsehen erregen. Die Chancen, dass man in Árgtoen nicht von ihm gehört hatte, standen gut. Vielleicht konnte er Hilfe finden. Oder gar Erlösung.

Hastige Flügelschläge ertönten, gleich darauf huschte ein Schatten über Siraf. Er erkannte nur noch einen zerrissenen Kapuzenumhang, ehe die Gestalt mit der Dunkelheit verschmolz. Zwei Federn trudelten zu ihm herab; eine davon landete auf seiner Schulter. Siraf wischte sie fort und ging ein wenig langsamer.

Hier, im Zentrum der Stadt, sah es genauso trostlos aus. Morsche Dächer, schief in den Angeln hängende Türen, Trümmerhaufen, die einmal ein hübsches Zuhause gewesen waren. Auf dem verwaisten Dorfplatz schien der Wind noch heftiger zu wehen. Böige Luftzüge fegten durch die Straßen, die Löcher im Mauerwerk und zerbrochene Fenster. Siraf ließ den Blick über den Platz schweifen. Inmitten von Trümmern, Gestein und Staub stand nur ein einziges, noch intaktes Gebäude.

Eine Spelunke. EXIL AM ABGRUND, so der Name.

Siraf atmete tief ein und aus. Sein Blick schweifte über die Mauern des Bauwerks vor ihm, das fast noch heruntergekommener aussah als die Ruinen. Allerdings existierte dort drin Leben. Warum sonst waren der Widerschein einer Flamme durch die Ritzen der Tür zu sehen und laute Musik zu hören?

Mit dem letzten Funken Hoffnung, der ihm von dem Dämon noch nicht genommen worden war, torkelte er auf die Tür zu, schwang sie auf und schlüpfte geschwind hinein. Wärme umhüllte ihn, Wärme, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss dieses wunderbare, schon lang vergessen geglaubte Gefühl. Es war nichts als ein flüchtig vorbeihuschender Schatten, denn gleich darauf überfiel ihn die Kälte, der er seit dem Vorfall in der Wüste ausgesetzt war. Ihre Macht zwang ihn in die Knie. Mit stoßweise gehendem Atem ließ er es geschehen, bis die Kälte wieder abflaute. Er richtete sich auf, während sich der Wunsch nach dem Erinnern wie gewohnt in ihm festsetzte.

»Na, was darf’s sein?«, fragte ein weißhaariger Elf – vermutlich der Besitzer dieser Spelunke – hinter der Bar, als Siraf mit weichen Knien zu ihm trat. Falls sich der Wirt über das Verhalten des Ritters wunderte, so ließ er sich nichts anmerken. Siraf zog den zerrissenen Umgang fester über seine Schultern und blickte den Elfen an, der geduldig wartete. Er wirkte recht jung, soweit Siraf das feststellen konnte, aber für Menschen sahen alle Elfen gleich aus. Dieser hier unterschied sich jedoch in einem wesentlichen Merkmal von seinen Stammesgenossen im Elfenforst, nämlich den Narben. Die eine Narbe fiel sofort ins Auge, denn sie zog sich von der Oberlippe bis zum Kinn hinunter, ein klaftertiefer Spalt. Die anderen entdeckte Siraf erst, als der Wirt mit einer ruckartigen Kopfbewegung seine langen Haare nach hinten warf. Fünf parallele, waagrechte Linien, die in der Dunkelheit silbrig schimmerten. Solche Narben hatte er noch nie gesehen, obwohl er selbst genug am Körper trug. Woher sie stammten, welche Geschichte hinter ihnen steckte, das hatte er allerdings vergessen. Wie so vieles, was vor dem Aufbruch nach Fáshajdh passiert war.

»Ich …«, begann der dunkelhaarige Mann, schluckte und setzte erneut zum Reden an. »Ich brauche Hilfe.« Er griff in eine Tasche des Umhangs und zog zwei Sølvi heraus, die er auf den Tresen legte.

Der Elf schnaubte. Seine roten Augen würdigten das Geld keines Blickes, sondern fixierten ihn, schienen in seine Seele zu blicken. »Lass stecken! Wir reden später über die Bezahlung.«

Siraf strich wortlos die Münzen wieder ein und sah sich in der Spelunke um. Als die Kälte ihn so schlagartig überfallen hatte, waren seine anderen Sinne nicht in der Lage gewesen, zu arbeiten. Deshalb nahm er erst jetzt die Musik wieder wahr. Dunkle Bässe, harter Hall und düstere Riffs. War er etwa der einzige Besucher hier? Nein, dort, in der hintersten Ecke, von wo auch die lautesten Klänge kamen, saß jemand. Ohne weiter darüber nachzudenken, wer, abgesehen von ihm, so verzweifelt sein mochte, in einer Ruinenstadt eine Spelunke aufzusuchen, gesellte sich der Ritter zu der Gestalt, die ihm den Kopf zuwandte. Sie trug einen Kapuzenumhang, lange, sehr lange Haare verdeckten das Gesicht, wurden jedoch mit einer raschen Handbewegung nach hinten gestrichen und offenbarten bernsteinfarbene Augen, die den neuen Besucher freundlich anblickten.

Mit einem Mal wusste er, welches Volk er hier vorgefunden hatte. Jeder Ritter musste sich in der Ausbildung mit Balladen auseinandersetzen. Es gab nicht viele Lieder über jene Völker, die als vergessen galten. Sie waren aber keineswegs ausgelöscht, sondern hatten sich an ebenso vergessenen Orten angesiedelt. Eines dieser Völker waren die Feantìe, deren Ballade jeder im Adelsstand kannte. Siraf hatte sich für Lyrik oder Dichtung nie sonderlich interessiert, war er doch der Meinung gewesen, dass dies nur der Unterhaltung diente. Nicht, dass er bezweifelt hätte, dass es die schwarzen Feen wirklich gab. Aber er hätte nie damit gerechnet, ihnen zu begegnen. Sie waren eine Kampfarmee, und selbst das kampferprobteste Geschöpf überlegte es sich zweimal, gegen eine von ihnen anzutreten. Waffen konnten ihnen nämlich im Lärm des Gefechts ebenso wenig den Tod bringen wie Magie.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte Siraf höflich. Da war keine Aufregung oder Angst in ihm, obwohl beides berechtigt gewesen wäre. Nur der Wunsch nach dem Erinnern.

Die Feantìe wies mit einer Hand auf den freien Platz, und er setzte sich hin. Dabei bemerkte er, dass die schwarzen Locken bis zum Boden reichten. Sie musste also in der Blüte ihrer Lebensjahre stehen, denn die Alten und ganz Jungen ihrer Art trugen das Haar nur halb so lang. Je nachdem würde es noch weiterwachsen, oder die Strähnen brachen ab und fielen aus.

»Ein Mensch verirrt sich selten hierher. Was erhoffst du dir, zu finden?«, fragte sie.

»Meine Erinnerung. Daran, wie ich früher war. Wer ich war«, erwiderte der Ritter.

Die Feantìe lachte auf. »Erinnerungen sind gefährlich. Vor allem für euch Menschen, seid ihr doch anfällig für Dämonen.«

»Nicht nur Menschen.« Der Elf war herangetreten und hielt ein Tablett in der Hand. Er stellte einen Krug mit einer undefinierbaren Flüssigkeit – es sah aus wie brackiges Wasser – auf den Tisch, dazu zwei Tonbecher.

»Du sprichst von dem Elfen, der sich auf der Flucht vor dem Kreuzzug befindet«, bemerkte die Feantìe.

Davon hatte Siraf auch schon gehört. In jeder größeren Stadt, in der die Kirche Einfluss hatte, hingen Plakate, und regelmäßig klopften Mitglieder des Mönchordens an die Türen, um Informationen zu erhalten. Siraf hatte solche Städte gemieden, schließlich eilte ihm sein Ruf voraus. Wenn die Kirche ihn in die Finger bekommen hätte … Nicht auszudenken!

»Ganz recht. Er ist mein Bruder, und er hat keine Ahnung, worauf er sich da einlässt. Niemand kann der Inquisition entkommen.« Die roten Augen des Wirtes schienen im Zwielicht kurz aufzuleuchten.

Siraf nahm einen Schluck von seinem Getränk und musste an sich halten, um nicht zu würgen. Es schmeckte höllisch scharf, schärfer als alles, was er bisher getrunken hatte. Und er hatte bei weitem genug Erfahrung mit alkoholischen Getränken.

Aber es half. Erinnerungen tauchten auf. Er sah die Wüste, schmeckte schwarzen Sand auf der Zunge, hörte das Brausen des Windes. In seinen Händen ein Seil. Rettete das ihm das Leben? Im nächsten Moment schwarze Dunkelheit. Das Vergessen.

Siraf starrte ins Leere. »Ich bin nicht fröhlich. Ich bin nicht wütend. Ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts.« Und das war die Wahrheit. Da war nichts in ihm. Nur die Kälte, die seine Seele gefangen hielt.

»Ich will mich erinnern«, flüsterte er.

Die Feantìe beugte sich zu ihm. »Ich habe keine Erinnerungen. Und bin absolut zufrieden damit. Was zählt, ist das Jetzt. Löse dich doch. Glaub mir, das macht vieles einfacher.«

Der Ritter schüttelte den Kopf und schluckte. »Zuerst habe ich getrunken, weil ich vergessen wollte. Doch dann war da dieses Seil…« Er stockte, nahm noch einen Schluck, und der dunkle Schleier, der sich über die Erinnerung gelegt hatte, lichtete sich. Gleichzeitig schien es kälter zu werden. »Es hing einfach in der Luft«, fuhr er fort, »Ich nahm es, und es legte sich um meinen Hals, zog sich mehr und mehr zu … Ich glaubte, zu ersticken … Ich … ich …«

Er konnte nicht mehr weiterreden. Die Kälte hatte sich im Nu in ihm ausgebreitet und lähmte ihn. Seine Kehle wurde eng; es war, getreu seiner Worte, als zöge sich eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals immer weiter zu. Irgendwie gelang es ihm, trotz der lähmenden Kälte, aufzustehen und sich zu bewegen. Röchelnd taumelte er umher und versuchte, nach dem nicht existierenden Widersacher zu schlagen, ihn daran zu hindern, seinen Tod herbeizurufen. Heftige Faustschläge trafen Sirafs Gesicht, die ihn normalerweise zu Boden geschickt hätten, wäre nicht er derjenige, der sich schlug.

Den Dämon in seiner Seele stachelten die Befreiungsversuche nur dazu an, sein Opfer noch mehr zu quälen. Siraf stieß einen qualvollen Schrei aus, der abrupt abbrach und stattdessen einem hilflosen Japsen wich.

Ein Knurren durchdrang das Rauschen in den Ohren, welches die Musik übertönte und die nahende Bewusstlosigkeit ankündigte. Durch die tanzenden Schatten vor seinen Augen nahm er schwarzen Pelz wahr, der auf ihn zuflog. Scharfe Zähne bohrten sich in seinen Hals. Der Schmerz zerrte Siraf von dem Abgrund der Ohnmacht fort. Er spürte, wie etwas von ihm abfiel, nein, weggerissen wurde, mit aller Macht, sodass er wieder atmen konnte.

Keuchend fiel er vornüber, mit dem Kopf voran auf den dunklen Holzboden. Etwas klatschte wie eine Peitsche auf den zusammengekrümmten Körper, einmal, zweimal. Zum dritten Mal kam es nicht, denn da ertönte eine gebieterische Stimme.

»Getdaach, Fionháir!« fauchte sie, begleitet von dem Geräusch einer schneidenden Klinge.

Schrilles Lachen, triumphierendes Fauchen.

Der Elf beugte sich zu Siraf hinunter und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Der Dämon ist weg. Er wird dich nicht mehr finden. Ich bringe dich jetzt an einen sicheren Ort.«

Der wahnsinnige Ritter war viel zu durcheinander, um dagegen protestieren zu können. Die Kälte war fort, stattdessen hielt eine Taubheit seine Glieder gefangen, die ihm nicht erlaubte, sich zu rühren. Er spürte, dass er hochgehoben und hinausgetragen wurde. Kurz darauf fand er sich, in eine Decke gewickelt, auf einem Karren wieder.

Der Elf saß neben ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Du wirst nicht mehr derselbe sein, wenn du erwachst. Vielleicht wirst du dich wieder erinnern, aber die Erinnerungen werden dir fremd vorkommen. Als hätte sie ein anderer erlebt.«

Nach einer kleinen Pause redete der Elf weiter. »Ich bringe dich ins Sanrytariom. Dort behandelt man Wesen, denen dasselbe wie dir widerfahren ist.« Das Sanrytariom. Das Krankenhaus des Mönchordens. Sah so aus, als würde ihn die Kirche doch noch kriegen.

Entweder besaß der Elf enorm viel Feingefühl, oder er war ziemlich gut im Gedankenlesen, denn seine Stimme hatte einen beruhigenden Klang, als er sagte: »Dir wird dort geholfen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie, aber ich kann dir versichern, dass du nicht der Erste bist, den ich dahin bringe. Ich tue damit meinen Dienst, der mir aufgetragen worden ist. Mein weißer Bruder bändigt Dämonen und tötet sie, damit die Dreimachtgebieter ihre blauen Monster erschaffen können. Ich dagegen lasse die verlorenen Seelen am Leben und bringe ihre Opfer in Sicherheit. Und jetzt sag mir, wer von uns beiden den schlechteren Dienst verrichten muss!«

Seine Worte konnte Siraf zwar verstehen, aber nicht ihre Bedeutung, insbesondere, was die Aussagen über diesen weißen Bruder betraf. Dafür war er viel zu geschockt. Er sah den Abgrund unter sich, unendliche Schwärze. Diesmal war er froh um die Dunkelheit, den Mantel des Vergessens, der sich um ihn legte und den Schrecken, den er erlebt hatte, verschwinden ließ.

»Ach, übrigens: Ich heiße Mørliga«, sagte der weißhaarige Elf, und das Letzte, was Siraf sah, waren rote Augen, die in der Dunkelheit aufleuchteten wie zwei entfachte Flammen.

Pantomime der Schuld

Mørliga fegte Strohbündel, mit denen er den Boden ausgekleidet hatte, als er Siraf ins Sanrytariom gebracht hatte, von dem hölzernen Karren, und fluchte dabei ununterbrochen. Die Flüche galten den Dreimachtgebietern, dem Inquisitionsorden, der das Sanrytariom leitete, und allen Dämonen, die frei und ungehindert im Runenwald ihrer Wege gingen. Fionháir war jetzt wieder einer von ihnen.

›Durch deine Schuld. Durch deine eigene, dumme Schuld.‹

Mørliga versetzte dem Karren einen Tritt gegen das Hinterrad. Das klapprige Gefährt, das so aussah, als würde es jeden Moment zusammenbrechen, hatte zwar seine besten Tage hinter sich, dennoch war es für seine Arbeit unverzichtbar. Vor allem, wenn er die Opfer der Dämonen in Sicherheit bringen musste.

Die meisten Lebewesen beruhigten sich auf dem Karren sehr schnell, was wohl an den Spörupps lag, die in einem kleinen Beutel, welcher an einem vorstehenden Nagel hing, aufbewahrt wurden. Die mit Eisfolie umwickelten und somit immer frischen Kekse vertrieben die Taubheit im Körper und sorgten dafür, dass der Geist zur Ruhe kam. Auch der wahnsinnige Ritter hatte den Beutel während der Fahrt entdeckt, nachdem er aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Außer einigen Krümeln war nichts mehr da. Mørliga schüttete sie in die Handfläche und pfiff leise.

Kurz darauf schälten sich aus den Schatten der frühen Morgendämmerung die Umrisse zweier schwarzer Ponys. Die Hufe machten nicht den geringsten Laut und die Mäuler, welche die Krümel fraßen, fühlten sich nicht samtweich an, sondern eisigkalt.

Es waren Geister, sogenannte Svimp, die einen müden Wanderer auf sich reiten ließen und diesen an den Ort brachten, zu dem er am wenigsten wollte. Zudem zogen sie Mørligas Karren, wenn dieser seinem Auftrag nachgehen musste.

Ein Pony stupste ihn an, doch Mørliga hatte keine Leckerchen mehr für sie. Der Elf verstaute die zerrissene Eisfolie in einem der zahlreichen Beutel, die er an einem Gürtel um seine Hose hängen hatte, und legte dem Tier zwei Finger an die Stirn.

»Gute Arbeit! Bringt mich nach Árgtoen zurück und bleibt in Rufweite. Kann sein, dass ich euch nochmal brauche.« Vielleicht hatte er Glück und Fionháir trieb in den Ruinen sein Unwesen.

Die Svimp preschten los, kaum dass Mørliga auf Svånons Rücken saß. Årmion hielt mühelos mit seinem Zwillingsbruder mit, doch es war nicht die Geschwindigkeit, die den Elfen dazu veranlasste, die Augen fest zusammenzukneifen. Die kalte Dunkelheit ließ sich nur mit warmen und farbenfrohen Gedanken ausblenden.

Als das EXIL AM ABGRUND in Sicht kam, wurden die Ponys langsamer. Mørliga rutschte von Svånons Rücken, nickte den Geistern zu und ging die letzten Meter zu Fuß. Hinter ihm verschmolzen die Svimp mit den Schatten der Ruinen, bis eine heranfegende Windbö dem Elfen ihr Verschwinden mitteilte.

Vor der Eingangstür der Spelunke blieb Mørliga stehen. Der Wind war kalt, aber nicht so kalt wie der Atemhauch eines Dämons. Waffengeklirr und das Schreien der kämpfenden Feantìe, die mit Begeisterung ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen, ertönten. Alles, wie es sein sollte. Nur, dass der Dämon fort war.

›Deine eigene, dumme Schuld, Mørliga.‹

Zu seiner Überraschung saß Whouinacc immer noch in der Ecke, wo die Musik am lautesten tönte, und blickte mit glasigen Augen in den vor ihm stehenden leeren Krug.

»Willst du noch was?«, fragte der Elf.

Die Feantìe grinste ihn an und nickte. »Wie geht es ihm? Er sah ziemlich fertig aus.«

Mørliga blickte Whouinacc an. In den bernsteinfarbenen Augen war Unsicherheit zu erkennen, aber keine Furcht. »Er wird es überleben. Zumindest das, was ihn jetzt im Sanrytariom erwartet. Für seine Seele, die die ganze Zeit über von einem Dämon kontrolliert wurde, wird die Behandlung zunächst die reine Folter sein, weil sie sich erst einmal wieder an die Freiheit gewöhnen muss.« Er nahm den Krug an sich, machte aber keine Anstalten, zur Bar zu gehen und ihn wieder aufzufüllen.

Viel wichtiger als die Zukunft des wahnsinnigen Ritters war der Dämon. Wenn er den nicht fand, dann … »Sag mal, was hast du mit dem Dämon gemacht? Als du auf den Ritter los bist und ihn gebissen hast, dachte ich erst …« Sein Stammgast schluckte und brachte den Satz nicht zu Ende.

Mørliga unterdrückte ein Schmunzeln. Viel hatte nicht gefehlt, aber er wusste, wie man angriff, ohne ein Leben auszulöschen. Die Zähne des Lyfux’, in den er sich verwandelt hatte, hatten lediglich einen Schock ausgelöst. Für den wahnsinnigen Ritter wäre der Tod eine Erlösung gewesen. Für ihn dagegen wäre nur noch mehr Arbeit entstanden.

»Er lebt noch. Das ist das Wichtigste. Jetzt soll er erstmal gesund werden.« Der Elf drehte sich um und ging zur Bar. »Der Dämon wird ihm nichts mehr tun. Er ist weg.«

›Deine Schuld, Mørliga!‹

Ein leises Knurren kam aus seiner Kehle. Mørliga verharrte einen Moment lang vor dem Holzfass, in dem sich der Met befand. In seinem Geist zog der Kampf vorüber: Der arme Ritter, sich voller Qual am Boden windend. Er selbst in der Lyfux-Gestalt, die rotfunkelnden Augen nur auf das Opfer gerichtet. Er sah sich von außen, wie er mit gebleckten Zähnen auf den Ritter zusprang. Dämonen griffen selten Tiere an, deshalb hatte er sich verwandelt. Instinkte waren schwerer zu kontrollieren als höhere Intelligenzen.

Noch dazu war dieser Dämon, der den Ritter befallen hatte, einer von der Sorte, die lieber floh, als sich einem Kampf zu stellen. Und Mørliga hatte ihn entkommen lassen! Es wäre so einfach gewesen, ihn einzufangen.

Mit einem beherzten Schlag öffnete der Elf das Holzfass und hielt den Krug so, dass der herauslaufende Met hineinfließen konnte.

Nach dem Biss des Lyfux’ hatte Fionháir, so der Name des Dämons, versucht, sich mit der Kraft der Verzweiflung in dem Ritter zu halten. Was ihm nicht viel genützt hatte. Mørliga hatte den Geist seines Gastes vor einem möglichen Angriff des Dämons verschlossen, und seine Zunge hatte das dünne Rinnsal Blut aufgeleckt, das aus der kleinen Wunde am Hals des Ritters ausgetreten war. Bevor er jedoch Magie hatte einsetzen können, hatte Fionháir allerdings seinem Zorn über die Niederlage Luft gelassen: Er hatte den Körper eines Seils angenommen – Dämonen konnten sich nur als feste Gestalt im Runenwald fortbewegen – und auf seinen ehemaligen Wirt eingeschlagen. Bis Mørliga ihm befohlen hatte, sich vom Acker zu machen. Die Schutzzauber der Spelunke hatten ihr Übriges getan, den Dämon zu verscheuchen.

›Deine größte Dummheit. Deine Schuld.‹

»Wo ist er jetzt?«, ertönte Whouinaccs Stimme. Mørliga hörte die Angst deutlich heraus. Die Feantìe war während des ganzen Geschehens erstaunlich ruhig geblieben. Mørliga hatte eigentlich damit gerechnet, dass Whouinacc die Spelunke in Panik verlassen würde.

Kurz schüttelte er den Kopf und verzog den Mund zu einem Schmunzeln. Er kannte seinen Stammgast doch! Für Whouinacc war das EXIL ein Zufluchtsort. Eine Insel der Ruhe, die ihm in den Ruinen bei den anderen Feantìe nicht vergönnt war. Und nun trieb auch noch ein Dämon draußen sein Unwesen. Kein Wunder, dass er hiergeblieben war.

»Ich weiß nicht, wo er ist. Aber ich werde mich später nochmal auf die Suche machen. Jetzt hat das keinen Sinn, weil er bestimmt damit rechnet, dass ich ihm auf der Spur bin, und sich irgendwo versteckt.« Der Krug war voll. Mørliga schloss das Loch im Holzfass und schwang sich elegant über den Tresen. An der Wand neben dem Regal mit dem Geschirr hingen mehrere große Trinkhörner. Er nahm eins davon und füllte langsam den Inhalt des Krugs hinein. Morroris, der Met des Grauens, eins der Lieblingsgetränke der Feantìe.

»Warum überlässt du die Arbeit nicht den Dämonenbändigern? Dann hättest du nicht diesen Stress! Ist auf Dauer ungesund, nur zu arbeiten!« Bei den Dämonen, sein Stammgast schien sich wirklich Sorgen zu machen, und zwar nicht nur um sich selbst.

»Dämonen auszutreiben, das ist nicht meine Arbeit, sondern mein Auftrag von den Dreimachtgebietern«, stellte Mørliga klar. »Runa wird sich schon etwas dabei gedacht haben, als sie mir mein Schicksal zugeteilt hat. Du als Teil einer Kampfarmee kennst sie ebenso gut wie die Gewalt und du hast mit Sicherheit schon mal den kalten Wind gespürt, mit dem sich der Tod ankündigt.« Seine Worte riefen bei Whouinacc ein nachdenkliches Nicken hervor. Die Diener Runas, Gewalt und Tod, lernte jede Feantìe schon früh kennen. Kämpfen hieß verletzen und manchmal auch töten. Eines Kriegers Schicksal, von Runa gegeben.

Das Horn war randvoll, Mørliga trug es zum Tisch. »Weißt du, ich rette mit meinem Auftrag sowohl die Dämonen als auch ihre Opfer. Ich tue einen guten Dienst, im Gegensatz zu meinem Bruder.« Er drückte Whouinacc das Gefäß in die feingliedrigen, bleichen Finger und setzte sich gegenüber von ihm. Die schwarze Fee trank und reckte anerkennend den Daumen nach oben.

»Dein Bruder …«

»Ich will nicht über ihn reden!«, fiel Mørliga Whouinacc ins Wort. Die roten Augen funkelten gefährlich, und die Feantìe wandte den Blick ab. Der Abgrund der Vergangenheit war zu groß, um nicht von ihm verschlungen zu werden. Seit sie sich kannten, herrschte so etwas wie eine stille Vereinbarung zwischen ihnen, diesen Graben nie zu überspringen.

»Was geschieht mit einem Dämon, den du ausgetrieben hast?« Entweder war es der Schock über den Vorfall oder der Morroris schmeckte nicht, denn Whouinacc redete normalerweise nicht so viel und war auch niemand, der sich in fremde Angelegenheiten einmischte. Aber erst Fanóla und jetzt wieder der Dämon! Mørliga unterdrückte den Impuls, laut zu fluchen. Er hätte den wahnsinnigen Ritter niemals in das EXIL lassen dürfen!

»Sie bleiben normalerweise längere Zeit an dem Ort, an dem die Austreibung stattgefunden hat. Finden sie dort kein Opfer, ziehen sie weiter.«

Oder sie haben nicht einmal die Gelegenheit, sich ein neues Opfer zu suchen, weil der Dummkopf, der die Austreibung vornimmt, den Ort mit Schutzzaubern gegen Dämonen versehen hat, fügte der Elf in Gedanken hinzu und knurrte leise.

Whouinacc lächelte, als hätte er die gedachten Worte gehört, und nippte am Morroris. Die Musik über ihnen wurde ruhiger.

»Und du sorgst dafür, dass sie sich in niemandem mehr einnisten.« Es war mehr eine Feststellung als eine weitere Frage. Mørliga nickte trotzdem. »Da die Dämonen an dem Ort bleiben, kann ich sie mit Magie einfangen und in den Iblyssum bringen. Von dem hast du doch sicher schon gehört.«

»Natürlich!«, entgegnete Whouinacc. »Der Abgrund in Mortos Reich, in dem die Seelen hausen, die verlorengegangen sind.«

»Die Dämonen, richtig«, bestätigte Mørliga. »Der Begriff hausen trifft es ganz gut. Sie sind nicht freiwillig dort, sondern weil …«

»… jemand sie dorthin verfrachtet hat.« Whouinacc blickte Mørliga an. Seine Miene gab nichts davon preis, was in ihm vorging, doch trotzdem spürte der Elf einen Anflug von Furcht. Unwillkürlich fuhren seine Finger zu den fünf kleinen Narben an seinem Hals. Wäre Fionháir nicht die Flucht gelungen, würde jetzt eine sechste Narbe die Haut zieren. »Es ist lange her, dass ich einen Dämon in den Iblyssum gebracht habe. Noch nie ist einer entkommen.«

Whouinacc trank einen Schluck Morroris. »Ist das denn so schlimm?«, wollte er wissen. »Ich meine, es gibt so viele Geister, die hier im Runenwald ihr Unwesen treiben. Die Svimp zum Beispiel. Kein Morroris der Welt würde mich dazu bringen, auf einem von ihnen zu reiten!«

»Wenn dich ein Svimp an einen Ort abliefert, an den du nicht willst, hast du eine relativ hohe Chance, von dort unbeschadet wieder zu gehen. Ein Dämon, der sich in dich eingenistet hat und dich dazu bringt, einen Ort aufzusuchen, wird nicht zulassen, dass du dann einfach so einen Abflug machst.«

Bei Mørligas Worten nickte Whouinacc langsam. Dem Elfen entging keineswegs der ängstliche Blick zur Tür.

»Ich muss dann nochmal nach draußen. Vielleicht finde ich Fionháir ja doch. Kannst du, während ich weg bin, hierbleiben?«, fragte Mørliga, und sein Stammgast nickte. Die Erleichterung war ihm anzumerken. Trotzdem konnte sie die Sorge in den Augen nicht verscheuchen, geschweige denn die Gedanken. Gedanken an den Vorfall, der vor wenigen Stunden stattgefunden hatte.

»Du hast gesagt, dass die Spelunke mit Schutzzaubern umgeben ist. Aber wenn dem so ist, wie hat der Dämon …?«

Die Feantìe konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn in dem Moment schwang die Tür der Spelunke auf. Zuerst schob sich ein fellbedecktes Gesicht mit Schnurrhaaren durch den geöffneten Spalt der Tür, dann hüpfte das Wesen auf einem Bein in die Spelunke.

Es trug einen schwarzen, mit Stoffflicken übersäten Mantel und einen zerrissenen, grauen Hut, aus dessen Löchern spitze, fellige Ohren hervorlugten. Sonnengelbe Augen funkelten vor Freude darüber, wieder daheim zu sein. Samtweiche Pfoten, die nadelscharfen Krallen eingezogen, gaben der Tür einen Stoß, sodass sie zufiel. Dann hüpfte das Geschöpf in Richtung Bar.

Es handelte sich um einen Korkufug, welcher normalerweise auf den Feldern stand und die gierigen Vögel vertrieb, wenn diese sich auf die frisch ausgesäten Körner stürzten. Dieser Kerl hier aber war von seinem Hof ausgerissen, weil der Besitzer ihn und auch die anderen Tiere schlecht behandelt hatte.

»Samannar!«, rief Mørliga überrascht. »Du bist früh dran heute!«

Samannar streckte die Zunge raus und fuhr sich damit einmal um das Maul. Mørliga hatte ihn im Wald beim Sammeln von Zutaten für die Gerichte in seiner Spelunke kennengelernt. Der Korkufug war so schlimm zugerichtet gewesen, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, ihn fortzuscheuchen. Auch dann nicht, als Samannar dank guter Pflege schon längst wieder gesund geworden war. Seitdem ging er in der Spelunke ein und aus, ließ sich füttern und unterhielt die Gäste.

»Schon hungrig? Nichts gefangen? Waren die Vögel zu schnell für dich?« Während der Elf dem Korkufug Fragen stellte, holte er aus dem Regal ein Glas mit Qhunga, füllte einige der cremegefüllten, mit Stacheln bewehrten Kugeln in eine kleine Schüssel und in eine weitere ein wenig Tafali, ein Getränk, das wie Milch aussah und nach Apfel schmeckte.

Beides stellte er dem hüpfenden Samannar hin, der zuerst ein Schauspiel zum Besten gab, um zu erzählen, was er alles erlebt hatte.

Der Korkufug stand still, hielt eine Pfote an sein Herz und bewegte sich dann leise hüpfend zu einem Hocker, die Pfoten vor seine Augen haltend. »Wo? Wo?«, sagte er. Anschließend grinste er breit, wobei er spitze Haifischzähne zeigte, und tippte sich an die Stirn. »Da isser! Da! Da!«, rief er begeistert. Bevor er zu einem weiteren Hüpfer ansetzte, blickte er nach oben, und seine Pupillen weiten sich überrascht. In wilder Hast nahm er die Hände wieder vor die Augen, tippte sich wie wahnsinnig an die Stirn, doch wer auch immer da oben in der Luft war, ließ sich nicht im Mindesten davon beeindrucken. Im Gegenteil, wahrscheinlich war dem Wesen, das da angeflogen gekommen war, das Spiel gründlich missfallen. Samannar duckte sich und suchte Schutz unter einer Eckbank.

Dort blieb er zusammengekauert sitzen, während Mørliga und Whouinacc in lautes Gelächter ausbrachen.

»Du hast mit deinem Freund Nirug gespielt und euch hat ein Vogel angegriffen? Hat Nirug sich etwa in einem Nest mit Jungvögeln versteckt und die Mutter ist aufgetaucht? Oh Samannar!« Mørliga unterdrückte ein weiteres Kichern und ging zur Eckbank, unter der der Korkufug sich verkrochen hatte. Als der Elf sich hinunterbeugte, kam Samannar langsam hervor und hob witternd die Schnauze. Dann stürzte er sich auf seine Morgenmahlzeit.

In dem Moment verstummte die Musik, stattdessen ertönte ein gleichmäßiges Zirpen.

»Die Sicyli hat wohl genug für heute«, bemerkte Whouinacc. Sicyli fungierten als ein Nachrichtennetzwerk, bestehend aus Grillen, welche zuverlässig arbeiteten und eine Vorliebe für Musik hatten. Allerdings wurden die meisten Stromgrillen, die bei den Bewohnern des Runenwaldes lebten, unter unwürdigen Bedingungen gehalten und gezwungen, die Vorgänge im Runenwald auszuspähen. Dies führte dazu, dass sie bei ihren Berichten vor lauter Angst vieles verdrehten.

Mørligas Sicyli musste diese Not nicht leiden, war sie doch freiwillig zu ihm gekommen.

Der Elf streckte den Zeigefinger aus, und die Stromgrille hüpfte von der Decke auf ihn hinab.

»Du hast leider keinen Feierabend für heute. Whouinacc bleibt noch. Ein wenig musst du noch durchhalten«, sagte Mørliga und setzte sie auf dem Bartresen ab. Samannar beobachtete das Tierchen, die Pfoten brav hinter dem Rücken verschränkt. Er wusste, dass er keine Jagd auf die Grille machen durfte. Außerdem war das kein Vogel und daher konnte er sein Lieblingsspiel nicht spielen.

Whouinacc streckte sich und stand auf. »Ich mach den Abwasch«, verkündete er und begab sich hinter den Tresen. Ein Plätschern ertönte, als das dreckige Geschirr in der Wassertonne landete.

»Danke dir«, sagte Mørliga. »Wenn du den Schankraum putzt, erlasse ich dir alle Krüge, die du heute getrunken hast!«

»Dann hast du ja sicher nichts dagegen, dass ich mir nach getaner Arbeit noch einen genehmige.«

»Solange du den bezahlst, nein.«

Das Plätschern verstummte.

Ein Grinsen stahl sich auf Mørligas Lippen, als er die Empörung in Whouinaccs Gesicht bemerkte.

»Ich werde mir überlegen, ob ich weiterhin dein Stammgast sein will«, hörte er die Feantìe sagen, doch da hatte er sich schon verwandelt. Anstelle des Elfen richtete sich nun ein schwarzes Wesen mit schlankem Körperbau auf. Die spitzen Ohren waren von Fellbüschel umrahmt. An den großen Pfoten versteckten sich unter langem Pelz scharfe Krallen. Der Lyfux ging auf die Tür zu, stellte sich auf die Hinterbeine und drückte die Klinke hinunter. Rote Augen blickten in die Dunkelheit. Dann huschte der Jäger los. Auf der Suche nach einer Beute, die schon längst erkannt hatte, dass es zwischen den Ruinen keinen sicheren Ort für sie gab.

Gespräche unter Brüdern

Whouinacc verbarg sich im Schatten eines halb zerfallenen Stützpfeilers und presste beide Hände gegen seinen Kopf. Bei allen hellen Geistern, die Schmerzen nahmen gar kein Ende! Sie waren sogar schlimmer als gewöhnlich. Nein, die Trinkerei konnte nicht daran schuld sein. Das war irgendwas anderes.

Wenigstens hatte er es noch geschafft, den Schankraum sauber zu machen und alles ordentlich aufzuräumen, ehe der plötzlich einsetzende Kopfschmerz ihn gezwungen hatte, nach draußen zu gehen und frische Luft zu schnappen. Auf den Feierabendkrug hatte er verzichten müssen. Vielleicht war das besser so.

Er keuchte auf, als der Druck in seinem Kopf unvermittelt verschwand, und stützte sich gerade noch rechtzeitig an dem Pfeiler ab, bevor ihn die Schwäche, die ihn überkam, zu Boden zwang. Sein abgehackter Atem normalisierte sich langsam wieder, und auch die Kraft kehrte in seine Gliedmaßen zurück. In seiner Brust kribbelte es.

Die Feantìe stand auf. Ferner Kampfeslärm, Gelächter, Geschrei. Geräusche, die der plötzliche Kopfschmerz gänzlich unterdrückt hatte. Was war das eben gewesen? Whouinacc fuhr mit den Fingern durch die langen, schwarzen Locken, und einen kurzen schrecklichen Moment befürchtete er, dass der Dämon sich wirklich ein neues Opfer gesucht hatte. Aber er hatte doch selbst gesehen, wie wütend Mørliga nach seiner Rückkehr vom Sanrytariom gewesen war. Er hatte sogar die Gedanken des Elfen empfangen. Die Worte, die er nicht ausgesprochen hatte, weil sie jene Wahrheit enthielten, die sein Versagen eingestanden. Armer Mørliga!

Whouinacc fuhr zusammen. Seit wann konnte er die Gedanken eines anderen Wesens lesen? Und warum empfand er mit einem Mal Mitleid? Den Feantìe war allein der Kampf wichtig, sowohl mit ihresgleichen als auch mit anderen Wesen. Bei ihm kam noch die grenzenlose Liebe zu alkoholischen Getränken hinzu. Ach ja, und natürlich die Musik, welche jede Feantìe in Form des Flohrrings im Ohr hatte. Whouinacc besaß schon wieder keinen mehr. Dass diese Dinger auch immer so schnell herausfielen!

Er schob seine sich überschlagenden Gedanken beiseite, als die Geräusche lauter wurden. Lauschend legte er den Kopf schief. Das Schreien zweier Feantìe kam näher. Waffengeklirr. Eine junge Stimme brüllte, jemand lachte.

»Das war gemein, Maimaes!«

»Nein!«, erwiderte der Angesprochene. »Du musst lernen, gleich zuzuschlagen und nicht abzuwarten. Ansonsten ist dein Gegner im Vorteil.«

»Aber … Aua!« Schmerzerfülltes Jaulen hallte in den Ruinen wider.

»Und kein Kampf lässt sich mit Worten gewinnen! Steh auf!« Maimaes’ Schwert stieß gegen einen kleinen Trümmerhaufen. Einige Kiesel fielen in einer Lawine zu seinen Füßen. Whouinacc trat hinter dem Pfeiler hervor und ging langsam auf Maimaes und seinen kleinen Bruder Ouyuyar zu, der auf dem Boden lag. Der Jüngere entdeckte ihn zuerst und duckte sich.

»Steh auf, hab ich gesagt!«, rief Maimaes, doch Ouyuyar schüttelte wild den Kopf. Er wisperte etwas, und da drehte die Feantìe sich um. Whouinaccs Anblick ließ sie schnauben. »Sieh an, der Säufer. Hast du dich nach Gesellschaft gesehnt? Oder bist du auf einen Kampf aus?«

»Weder noch«, antwortete Whouinacc und lächelte. »Ich würde Ouyuyar nur gern eine Kampftechnik zeigen, die er später anwenden kann.«

Maimaes zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte aus. »Er soll erst einmal die Grundlagen lernen. Dazu gehört auch, zuzuhören und sich nicht beim Anblick einer Waffe so zu erschrecken, dass hinterher das Gewand stinkt!«

Sofort war Ouyuyar auf den Füßen. »Du dämonische Ausgeburt des Iblyssums! Du Flügelfetzer!«, fauchte er und hob die Fäuste.

Nur mit Mühe unterdrückte Whouinacc ein Kichern. Was hatte Maimaes vorhin gesagt? Kein Kampf ließ sich mit Worten gewinnen? Nun, sah ganz so aus, als hätte die junge Feantìe gerade einen vernichtenden Schlag ausgeteilt. Die Beleidigung allerdings lenkte seine Gedanken zu Mørliga und dem Vorfall in der Spelunke.

»Sagt mal, habt ihr hier zufällig einen Dämon herumstreunen sehen?«, fragte er.

Maimaes und Ouyuyar hörten auf, einander zu fixieren, und musterten Whouinacc verblüfft.

»Nein«, sagte Ouyuyar. »Aber ich glaube, Mørliga ist vorhin an uns vorbeigelaufen. Ich habe nur ganz kurz schwarzes Fell gesehen. Bin mir nicht sicher, ob er es wirklich war.«

»Ist irgendetwas passiert?«, wollte Maimaes wissen.

Whouinacc nickte und erzählte, was sich im EXIL AM ABGRUND ereignet hatte. Als er fertig war, sagte niemand ein Wort. Einzig der Bass eines Flohrrings, den einer der beiden Brüder trug, durchdrang die kräftezehrende Stille der Gasse.

Ouyuyar blickte sich ängstlich um. »Und was ist mit dem Dämon?«

Mit einem Seufzer warf Whouinacc die langen Haare nach hinten. »Der ist verschwunden.«

Sie starrten ihn entsetzt an. Der Anflug von Angst in ihren Augen irritierte ihn, und seine Verwirrung nahm noch mehr zu, als Maimaes das Schwert hob und es drohend auf seine Brust richtete.

»Darf ich fragen, was das soll?«, knurrte Whouinacc und griff mit der Rechten unter den Mantel. Seine Finger schlossen sich um den Schwertgriff. Wut kochte in ihm hoch. Jetzt musste er doch kämpfen! Weder fühlte er sich bereit dazu noch verspürte er großartig Lust. Warum war er nicht einfach hinter dem Pfeiler geblieben?

»Meines Wissens suchen Dämonen sich einen neuen Wirt, sobald sie ausgetrieben worden sind!« Maimaes machte einen Schritt vor, ohne das Schwert zu bewegen. »Niemand außer dir bleibt so lange in der Spelunke. Oder waren da noch andere Gäste?«