Ich bin Artemis - Holger Kellmeyer - E-Book

Ich bin Artemis E-Book

Holger Kellmeyer

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Beschreibung

Innerhalb weniger Tage sterben zwei Kinder unter tragischen Umständen an Artemis' Schule. Ein unglücklicher Post mit einem Foto von ihrem Mitschüler Ben auf einer Party am Vorabend seines Selbstmordes landet in den sozialen Netzwerken und sorgt dafür, dass ihre Klassenkameraden ihr die Schuld an seinem Tod geben. Die Hölle des Shitstorms, und das Mobbing, das daraufhin über sie hereinbricht, sind für Artemis kaum zu ertragen. Als ausgerechnet Ben ihr einen geheimnisvollen Abschiedsbrief durch seinen besten Freund Ilja schickt, und ihr ein Grimoire vererbt, das angeblich magische Kräfte besitzt, ist sie überzeugt: Das kann nur ein äußerst grausamer Scherz sein. Die digitalen Puzzleteile aus Bens Hinterlassenschaften führen Artemis und ihre neuen Freunde Ilja und Jenna in die Schatten ihrer Welt, die immer dunkler wird. Gelingt es ihr, die Todesfälle aufzuklären und das heraufdämmernde Grauen zu besiegen, oder wird Bens Erbe auch sie ins Unglück stürzen? Der Auftakt der mehrbändigen All-Age Urban-Fantasy-Reihe um die junge Dämonenjägerin Artemis und ihre Freunde Ilja und Jenna.

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Seitenzahl: 492

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#IchBinArtemis

Dämonenschatten

Impressum:

Kellmeyer, Holger:

#IchBinArtemis – Dämonenschatten

1. Auflage, 2023

© Epyllion Verlag – alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Calin Noell

www.calin-noell.de

Korrektorat: Roland Blümel

www.roland-bluemel.de

Cover-Illustration: Julian Hämel

www.julianhaemel.com

ISBN: 978-3-947805-82-2

Epyllion Verlag

Jochen G. Fuchs

Ludwigstraße 23

76709 Kronau

[email protected]

www.epyllion.de

Prolog

Die beiden Jungen sprangen gleichzeitig ab. Nur legte Leif von Anfang an mehr Kraft in den Absprung. Er tauchte vor Christopher ins Wasser ein und zog mit mehr Dynamik voran.

Der Trainer wandte sich von den beiden Schwimmern ab und der Klasse zu. „Seht hin!“, rief er. „Die Kraft sorgt für den Vorsprung. Was ich immer sage.“

Kaum durchbrachen sie die Oberfläche und pflügten mit kräftigen Kraulschlägen durch das Wasser, feuerten die Kursteilnehmer ihre Favoriten an, als würden sie spüren, wie sich die Wut der beiden in dem Becken entlud.

Leif und Christopher hatten schon am Vormittag Streit gehabt. Vor allen Augen waren sie im Flur der Schule aneinandergeraten. Leif war danach mit einem blauen Auge in den Unterricht gekommen.

Solche Geschichten machten auf der Langenfeldschule schnell die Runde. Die anderen Schwimmer des Schwimmvereins Blau-Weiß wussten also schon Bescheid. Sie hatten Leif und Christopher bereits in der Umkleide und unter der Dusche gemieden. Es war kaum ein Wort gewechselt worden. Und nun explodierte die drückende Atmosphäre geradezu.

Herr Biehler, ihr Trainer, hatte garantiert auch Wind von der Sache bekommen. Denn letztlich war er es gewesen, der allen erklärt hatte, dass heute ein Mann-gegen-Mann Einsatz anstand. Er hatte die Gruppen eingeteilt und Leif und Christopher als Gegner bestimmt.

Bei keinem anderen Wettkampf hatte er mehr getan, als nur schweigend am Rand zu stehen, die Pfeife zwischen seinen fleischig roten Lippen und den Blick streng aufs Wasser gerichtet. Jetzt kommentierte er jeden Armzug, jeden Beinschlag. Er sezierte die Wende, die Leif an der anderen Seite des Beckens ausführte und erzählte die Geschichte von Phelps und Cavics, einhundert Meter Butterfly bei den Olympischen Spielen in Peking im Jahr 2008. „Er hat nur mithilfe seiner ausgestreckten Fingerspitzen gewonnen. Aber auch, weil jeder Rückstand durch Dynamik und Perfektion aufzuholen ist.“

Niemand erwartete, dass Christopher nach dem missglückten Start noch gewinnen könnte, obwohl er ein Kämpfer war. Seine Rollwende gelang ihm absolut perfekt. Während Leif sich ein wenig zu langsam unter Wasser drehte und keinen fehlerfreien Abstoß von der Wand schaffte, sah es bei Christopher aus wie in einem Lehrvideo. Mit unnachahmlicher Kraft stieß er sich ab und holte seinen Widersacher ein, noch bevor der den ersten Armzug ausführte.

„Stark, Christopher! Stark!“, brüllte Biehler. „Wie Phelps!“

Die meisten Jungen im Schwimmkurs – es war ein reiner Jungenkurs – feuerten Christopher an. Nicht, weil sie wussten, worum es in dem Streit vom Vormittag gegangen war und sie Partei ergriffen. Sie mochten einfach den mehr, der auf der Gewinnerseite stand.

Immer wieder riefen sie seinen Namen. Sie schwenkten die Fäuste in der Luft, und als die beiden Schwimmer am Ende der Bahn ankamen, sprangen sie alle wie elektrisiert von ihren Sitzen. Sie stürzten vor an den Beckenrand, um zu sehen, wer das Rennen gewann.

Tatsächlich siegte Christopher.

Breit grinsend stieg er zwischen den Startblöcken aus dem Wasser und ließ sich von den anderen bejubeln und feiern.

Der Trainer rief sie mit einem Pfiff zusammen, ohne ein einziges Wort über den Wettkampf zu verlieren. Stattdessen zählte er Namen auf. Es waren die Namen aller, die ihre Rennen am heutigen Tag verloren hatten. Leif blieb im Wasser. Er sah auch nicht auf, als sein Name fiel. „Ab ins Wasser mit euch. Die anderen“, der Trainer zeigte beim Grinsen seine Zähne, pfiff einmal laut, um sicherzugehen, dass sie ihm wirklich aufmerksam zuhörten, „können gehen.“

Ungläubig starrten sie ihn an.

„Ihr zwölf könnt gehen“, wiederholte er daher. „Heute ist internationaler Losertag. Dass ihr gut seid, habt ihr bewiesen. Und ihr“, Biehler wandte sich denen zu, die inzwischen ins Becken gestiegen waren, „habt uns gezeigt, wo eure Schwächen liegen. Wenn wir ein gutes Team sein wollen, müssen wir sie euch austreiben.“

Dann zählte er für jeden einzelnen Verlierer die Gründe auf, wegen derer sie versagt hatten.

„Leif: deine Rollwende. Sie hat dich den Sieg gekostet. Deine Stärken liegen im Absprung und im Zug. Es braucht tatsächlich nur einen einzigen Augenblick, und dein ganzer Vorsprung ist zunichte, weil du wie ein Tintenfisch mit seinen Saugnäpfen an der Wand klebst“, beendete er seine Kritik.

Zornig starrte Leif auf die Wasseroberfläche.

„Wenn ihr nicht heimwollt“, brüllte Biehler die Gewinner an, die immer noch am Beckenrand standen, „dann schnappt euch die Stangen da drüben und helft euren Partnern, besser zu werden. Ich muss den Job ja nicht allein machen.“

Man konnte Christopher ansehen, dass er darüber nachdachte. In diesem Moment tauchte Leif jedoch unter und schwamm zum anderen Ende des Beckens. Das nahm Christopher die Entscheidung ab. Er verabschiedete sich und ging.

Der Trainer hatte jedem Schwimmer eine eindeutige Aufgabe gegeben und genau erklärt, wie oft sie die Übungen wiederholen sollten. Leif übte jedoch nur halbherzig und wurde von Biehler immer wieder zurückgeschickt. „Nochmal von vorn!“, brüllte er den Jungen dabei an.

Das Becken wurde allmählich leerer, weil jeder, der seine Übungen zur Zufriedenheit des Trainers durchgezogen hatte, gehen durfte.

„Ich bleibe“, rief Leif trotzig, als der Trainer zu ihm herübersah.

„Du hast noch zwanzig Minuten“, gab er zurück. „Bis dahin bin ich umgezogen und dann will ich nach Hause.“

„Keine Angst. Ich brauche nur eine einzige Bahn.“

Biehler erkannte den Frust und die Resignation in Leifs Blick. Er nickte. „Übertreib nicht“, lautete sein letzter Kommentar, ehe er sich abwandte.

Leif wartete, bis alle gegangen waren. Dann stieg er aus dem Becken und stellte sich auf seinen Starterblock. Er starrte so lange auf das Wasser, bis sich die Oberfläche wieder beruhigt hatte und spiegelglatt vor ihm lag. Konzentriert ging er in die Sprungposition. In der Schwimmhalle war es totenstill. Dann hörte er, wie in der Lehrerumkleide die Dusche eingeschaltet wurde. Sein Trainer begann zu singen.

Leif sprang.

Ein perfekter Absprung, wie immer. Sein Körper schnitt förmlich durch das Wasser. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, einen Schatten zu sehen, als ob jemand neben ihm eingetaucht war. Jemand, der zurückgekommen war, um sich mit ihm zu messen? Oder um ihm Gesellschaft zu leisten?

Mit einem Mal entlud sich in Leif der Zorn seines ganzen Lebens. Er spürte, wie er wieder durch die Oberfläche brach, seine mächtigen Kraulzüge zerteilten das Wasser. Er schoss voran, und der Schatten, wer auch immer es sein mochte, blieb zurück. Vielleicht Christopher, um den Wettkampf noch einmal zu wiederholen.

Er steigerte seine Anstrengungen. Das Ende der Bahn lag vor ihm. Er begann die Rollwende, drehte sich, berührte mit den Füßen die Beckenwand und stieß sich ab. Dunkelheit jagte über ihn hinweg und an ihm vorbei. Diesmal konnte er diesen Schatten merkwürdigerweise ganz genau erkennen. Die Intuition des Jungen, der bereits sein Leben lang professionell schwamm, versagte unter der aufkommenden Panik. Das Wasser drang ihm in die Lungen und vertrieb die Luft darin. Er geriet aus dem Takt, sein Zug verlor an Kraft. Er drehte sich zur Seite, sah, wie sich das Schwarz um ihn legte, dann spürte er, wie es ihn nach unten riss.

Leif hielt inne. Genau das war der Fehler. Anstatt davon zu schwimmen, sackte er mit einem Mal zu Boden. Farben tanzten vor seinen Augen. Licht blitzte auf. Es war das kälteste Licht, das er je gesehen hatte.

Nach etwa einer halben Stunde kehrte sein Trainer wieder zurück, und wollte Leif anschreien, weil der nicht aus dem Wasser gekommen war. Er mochte den Jungen, nur dieser idiotische Stolz würde ihn eines Tages noch das Leben kosten. Diesen Gedanken bereute Biehler beinahe im selben Moment. Denn noch während er den ersten Schritt in die Halle setzte, sah er ihn.

Leif trieb leblos auf der Wasseroberfläche. In Rückenlage. Mit vor Schreck weit geöffneten Augen und verzerrtem Mund starrten seine kalten Augen an die Decke. Biehler erkannte sofort, dass der Junge nicht mehr lebte. Trotzdem sprang er voll bekleidet, ohne zu zögern ins Wasser, um den armen Schüler zu bergen.

Eins

Zuerst war Artemis wütend. Niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt. Und jetzt standen ihre besten Freundinnen, Meli und Luisa, vor ihrem Bett und breiteten wild durcheinanderredend die gekauften Outfits auf ihrer Tagesdecke aus.

Artemis hatte nur mitbekommen, dass die Idee von Luisa stammte. „Das Matching-Outfits-Commando“, rief sie immer wieder stolz.

„Auf der Bacchusparty werden die sich alle nach uns umdrehen“, ergänzte Meli mit funkelnden Augen.

Seit zwei Monaten war an der Langenfeldschule nichts anderes mehr Thema. Das Bacchusfest galt als das legendärste Event. Erst mit fünfzehn Jahren durften die Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal teilnehmen und Eintrittskarten in der Aula kaufen. Trotz der astronomisch hohen Preise ging jeder hin, der eine Karte ergattern konnte. Die Erlöse kamen dem Abschlussjahrgang zugute, der sich damit einen pompösen Abiball finanzierte. Trotzdem herrschte bei allen Beteiligten an ihrer Schule geschlossene Partysolidarität. Und da bekannt war, dass es ausreichend zu trinken, gute Musik und natürlich Skandale geben würde, über die die gesamte Schülerschaft dann den Rest des Jahres ablästern konnte, freute sich jeder brennend darauf.

Meli hatte vor, um jeden Preis aufzufallen. Ihr war alles recht, um der Shootingstar des Abends zu werden. „Es ist Tradition“, sagte sie immer. „Einer verlässt die Party als Star, einer als Loser.“

Von daher wunderte es kaum, dass Meli sofort auf Luisas Idee, in drei identischen Outfits auf der Party aufzutauchen, angesprungen war. Nur hatten sie Artemis nicht gefragt. Deshalb steckte ihr der Zorn wie ein kantiger Stein in der Kehle. Stumm sah sie zu, wie Meli ihr die Kleidung präsentierte.

„Und das ist deine Farbe, Artemis! Du wirst aussehen wie eine Queen. Das bringt deine Wangen zum Leuchten.“

Wenn man so aussah wie Meli und Luisa, konnte man sich vielleicht über die Farbe unterhalten, dachte Artemis. Die beiden hatten das unverschämte Glück, klein und niedlich auszusehen. Sie waren zwar nicht so schlank wie die Influencer in den Social-Media-Kanälen, aber Meli hatte einen sportlich trainierten Körper und das perfekte, herzförmige Gesicht, das es ihr erlaubte, in fast jeder Bluse hinreißend auszusehen. Luisa hatte etwas mehr Kurven. Artemis fand, dass sie das nicht weniger attraktiv machte. Im Gegenteil. Nur Artemis fiel aus der Reihe. Sie war nicht nur einen guten Kopf größer als die meisten in ihrem Jahrgang, sondern außerdem war die obere Hälfte ihres Körpers eher eckig geraten, die Schultern etwas zu breit und spitz. Ihren Hintern über den langen Beinen fand sie derzeit etwas zu groß und rund. Du und deine eingebildeten Problemzonen, würde ihre Mutter wohl dazu sagen. „In diesem Haus darf man aussehen, wie man will“, sagte sie gern. „Ignoriere die Schönheitsideale der Medien. Glaubst du wirklich, so sehen die Menschen auf der Straße aus? Das ist doch alles bearbeitet und ein Filter drübergelegt.“

Wenn es nur so einfach wäre, dachte Artemis zerknirscht und wechselte ihren Blick von ihrem Spiegelbild zu den Kleidern auf ihrem Bett. Melis Komplimente erzielten jedenfalls nicht die erhoffte Wirkung. Wie denn auch?

Da Artemis nur ihre langen, schwarzen Haare hinter die Ohren streifte, um deutlich sichtbar kritisch eine Braue zu heben, verzog Meli die Lippen, als hätte sie in etwas Saures gebissen.

„Sweet Queen Fifteen“, sang Luisa, die offenbar gar nicht bemerkte, was zwischen ihren Freundinnen unausgesprochen vorging.

Der Anblick von Melis saurer Miene erzielte bei Artemis wie immer das gewünschte Ergebnis. Sie riss sich zusammen und ermahnte sich, fair zu bleiben. Immerhin war sie die letzten zwei Tage kaum erreichbar gewesen. Ihre Mutter lebte während der Konzertproben regelrecht in dem alten Opernhaus. Artemis hatte ihr versprochen, ihr in der Woche so oft wie möglich Gesellschaft zu leisten. Immerhin war sie selbst ebenfalls nicht gern allein. Nur war der Empfang dort in den Katakomben miserabel. Trotzdem meldete sich eine widerspenstige Stimme in ihr: Eine kurze Nachricht wäre immer gegangen.

Artemis’ Schweigen löste bei Meli einen genervten Gesichtsausdruck aus, weswegen sich Artemis regelrecht auf die Zunge beißen musste, um nichts Falsches zu sagen.

Endlich brach Meli das Schweigen und schlug den Ton an, den Artemis’ Mutter seit einiger Zeit als verletzte Diva bezeichnete. „Andrea Sanovic“, sagte Meli so streng, dass sogar Luisa zusammenzuckte. „Kevin Jakobs. Zacharias Loess“, zählte sie weiter auf und machte eine dramatische Pause. „Rosa Hicks“, beendete sie mit dunkler, drohender Stimme ihre Liste.

Luisa schüttelte sich. „Müssen wir jetzt ausgerechnet über die reden?“, fragte sie.

„Was haben die vier gemeinsam, Artemis?“, hakte Meli nach, wartete aber keine Antwort ab. „Das Bacchusfest ist berühmt für seine Skandale. Rosa Hicks zum Beispiel, sie war genau wie wir fünfzehn Jahre alt, als sie zum ersten Mal auf der Festwiese im Wald gewesen ist. Ihr Leben ist seitdem ruiniert.“

„Eine einzige Sekunde auf dieser Party kann genügen, um zu entscheiden, wie es für den Rest der Schulzeit mit dir weitergeht“, stimmte Luisa ernst zu. „Auf dieser Feier werden Geschichten geschrieben.“

„Ihr seid die größten Übertreiber der Schule“, warf Artemis halbherzig ein, weil sie wusste, dass die beiden recht hatten. Sie kannte die Geschichte von Rosa Hicks nur zu gut.

Das Bacchusfest war nicht offiziell von der Schule genehmigt, sondern von den Schülerinnen und Schülern der Abschlussjahrgänge organisiert. Seitdem die Feier existierte, wurde nur im Flüsterton darüber gesprochen. Eigentlich gehörte genau das zum Spiel. Denn was war so heimlich an einem Fest, über das jeder Bescheid wusste, nicht nur die Eltern, sondern auch die Schulleitung. Lehrern und Eltern war der Zutritt zum Wald nicht erlaubt. Die ganze Stadt drückte beide Augen zu, natürlich nur, solange sich die Teenager an gewisse, unausgesprochene Regeln hielten. Fünfzehn- bis Siebzehnjährige erhielten zusätzlich zu ihren Tickets grüne Leuchtarmbänder. So konnte viel einfacher erkannt werden, wem kein Alkohol verkauft werden durfte.

Trotzdem war das Bacchusfest keine gewöhnliche Schülerparty. Nicht so, wie eine Geburtstagsfeier, ein Jahrgangstreffen oder die alljährliche Faschingsfete. Niemand wusste genau, wann und mit wem die Legende vom Fest, das Schicksale bestimmt, begonnen hatte. Inzwischen waren so viele spektakuläre Geschichten im Umlauf, dass man geradezu mit der Erwartungshaltung dort erschien, dass etwas passieren musste.

Als Artemis mit Beginn der fünften Klasse an der Langenfeldschule eingeschult worden war, hatte die Geschichte von Zacharias Loess gerade die große Runde gemacht. Der Junge wäre überhaupt nicht der Typ für einen Skandal gewesen, hatte es geheißen. Als Meli ihr Zacharias auf dem Schulhof gezeigt hatte, war er Artemis wie ein völlig durchschnittlicher Schüler vorgekommen. Absolut keine äußerliche Besonderheit. Schwarze, kurze Haare, graue Kleider, etwas schlaksig. Ein Junge, der einfach viel zu leicht zu übersehen gewesen war. Wäre er in ihrer Klasse, hatte Artemis damals gedacht, dann hätte sie ihn in den Ferien bereits vergessen gehabt.

„Aber das Bacchusfest hat sein Schicksal für immer verändert“, klangen ihr Melis Worte von damals in den Ohren. Sie hatte schon zu der Zeit so viel Ehrfurcht vor diesen furchtbaren Partygeschichten gehabt, dass es Artemis gar nicht wunderte, wie lächerlich überdramatisch Meli heute noch damit umging.

Zacharias jedenfalls hatte laut Schulhoflegende versucht, bei einer Mitschülerin zu landen, eine, deren Namen in Vergessenheit geraten war. Alles, was man noch wusste, war, dass sie ihn lautstark hatte abblitzen lassen und dass er ihr etwas zu verzweifelt hinterhergerannt war. Er war ausgerutscht und gestolpert, wodurch ihm ein kleines Buch aus der Hosentasche gefallen war. Mit einem panischen Schrei hatte sich Zacharias auf das kleine Notizbuch gestürzt. „Vielleicht hatte er es dabei, weil er es seinem Schwarm überreichen wollte“, hatte Meli vermutet. Ein Oberstufenschüler war jedoch schneller gewesen. Er hatte es aufgehoben, kurz reingesehen und weitergereicht. „Ein letzter kleiner Schritt vom peinlichen Augenblick hin zu einer Teenagertragödie“, hatte Meli die Geschichte kommentiert. Artemis vermutete, dass Meli von klein auf zu viele schlechte, amerikanische Teenagerserien gesehen hatte. Das Buch war voller Liebesgedichte gewesen und durch die Hände des Publikums bis hin zur großen Bühne gewandert, wo es ein Bandmitglied aufgeschlagen und die Verse laut vorgetragen hatte.

Auf dem Einband des Buches hatte der Name des Jungen gestanden, der zur Bühne gestürzt war und unentwegt versucht hatte, es dem Sänger aus der Hand zu reißen. Vergeblich.

Das Bacchusfest hatte sein Opfer gefunden.

Und Rosa Hicks? An diese Erzählung erinnerte sich Artemis auch noch sehr genau. Diese Geschichte hatte ihr sogar eine Freundin ihrer Mutter erzählt, nachdem sie erfahren hatte, auf welche Schule Artemis gekommen war. „Die Langenfeldschule? Ist das nicht die Schule mit dem Rosa-Hicks-Fest?“

Die Rosa-Hicks-Geschichte war für Artemis sogar eine Spur heftiger als die von Zacharias Loess.

Was hätte schlimmer sein können, als dass die intimsten Gefühle ins Spotlight gerückt wurden? Würde sie Rosa Hicks fragen, würde sie vermutlich nur zwei Worte nennen: Jesus und Tequila.

Rosa Hicks hatte in der Mädchentoilette ein rotes Armband gefunden. Sie war noch zu jung gewesen, um auf legalem Weg an ein Alkoholbändchen zu kommen. Ganz bestimmt war ihr das Band wie eine Eintrittskarte für die Welt der Beliebten ihrer Jahrgangsstufe erschienen. Natürlich hatte sie all ihren Freundinnen und eigentlich sogar jedem, der es wollte, Alkohol versprochen. Dadurch war sie sich bestimmt sicher gewesen, dass sie nicht Zacharias’ Nachfolgerin werden würde, sondern, wie Meli es hoffte, ein Shootingstar. Vermutlich wäre alles gut ausgegangen, wenn sie nicht mehr Tequila getrunken hätte, als gut für sie gewesen war.

Auch wenn sie sich einfach nur übergeben hätte, wäre das nicht zwingend legendenwürdig gewesen. Doch als ihr Vater, der streng religiöse Pastor der Gemeinde, pünktlich um zweiundzwanzig Uhr gekommen war, um sie abzuholen, hatte Rosa Hicks ihren ganzen mit zu viel Tequila gefüllten Mageninhalt auf seinen Anzug erbrochen. Der Wutausbruch von Pastor Hicks war das Letzte, was es gebraucht hatte, um aus Rosa eine Aussätzige zu machen, sogar jetzt noch, obwohl sie mittlerweile in die Oberstufe ging.

Artemis verstand das ganze Theater darum nicht. Warum konnte das niemand vergessen? Artemis fragte sich das nicht ernsthaft. Sie las die Antwort in Melis Gesicht ab: weil keiner es vergessen wollte.

Die Schülerinnen und Schüler gierten geradezu danach, fünfzehn zu werden. So wie sie sich alle danach sehnten, ganz besonders Meli, dass wieder etwas geschah, was man als schicksalhaft ansehen konnte. Meli stellte sich diese Party wahrscheinlich wie eine Art Feuertaufe zum Erwachsenwerden vor. Außerdem betonte sie immer, dass sich dort entscheiden würde, welche Rolle sie alle in den restlichen Jahren ihrer Schulzeit einnehmen würden.

Für Artemis war das Unsinn. Sie würde am liebsten einfach nur hingehen, um Spaß zu haben. Kein Druck, keine Erwartungen. Wenn Meli als Shootingstar daraus hervorgehen wollte, umso besser. Sie gönnte es ihr von Herzen.

„Was haben diese vier Ereignisse gemeinsam?“, wiederholte Meli, offensichtlich noch immer, ohne eine Antwort zu erwarten. „Es sind die Geschichten von Einzelgängern. Ehrlich gesagt hätte ich damit gerechnet, dass gerade du Luisas Idee mega findest.“

„Und wieso das?“

„Das ist ja das Geniale daran.“ Luisa kicherte. „Wir fallen als Trio auf, stehen gemeinsam im Rampenlicht, ohne dass es einen von uns direkt treffen kann.“

„Wie diese Sache mit den Herdentieren“, ergänzte Meli. „Erzähl ihr davon, du bist schließlich darauf gekommen.“

Luisa errötete. „Wenn ein Beutetier in der Wildnis lebt, ist es am sichersten innerhalb der Herde. Wenn es sich mittendrin versteckt, in der Gruppe sozusagen, dann kann es nicht so leicht gefressen werden.“

Unsicher sah Artemis von einer zur anderen. Dieser Gedankengang war ausgesprochen dumm und naiv, fand Artemis. Wenn eine Party aus einem Einzelgänger einen Verlierer zaubern konnte, war es auch denkbar, dass man sich die nächsten Jahre über die drei lustig machte. Tatsache war außerdem, dass die große Gemeinsamkeit der Geschichten nicht darin bestand, dass Einzelgänger zu Verlierern wurden, sondern dass jeder von ihnen krampfhaft versucht hatte, cool zu sein. Doch wie hätte sie das Meli sagen können? Oder Luisa, die gefühlt zum ersten Mal in ihrem Leben eine Idee geäußert hatte, von der Meli haltlos überzeugt zu sein schien.

Andererseits … Wenn es nichts brachte, etwas zu sagen, wenn ihr Zorn zu nichts anderem als zu Konflikten führte, konnte sie es auch gleich sein lassen und das unabwendbare Ende dieser Diskussion vorwegnehmen.

Der Klügere gibt nach, sagte ihre Mutter gern.

„Sieh es dir wenigstens an“, bettelte Meli und schob dabei ihre Unterlippe vor.

Noch ehe sich Artemis versah, lief Meli um das Bett herum auf sie zu und hielt Artemis eine der goldfarbenen Blusen vor die Brust. „Es ist absolut deine Farbe“, versicherte sie. „Wirklich. Ich schwör dir, du wirst umwerfend aussehen.“

„Als du vorhin gefragt hast, was die Geschichten gemeinsam haben“, sagte Artemis ruhig. „Weißt du, was ich geantwortet hätte?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Jedes Mal hat jemand auf Teufel komm raus etwas versucht. Warum können wir nicht einfach nur Spaß haben? Einfach nur wir drei? Die coolsten und geilsten Mädchen unserer Stufe.“ Artemis grinste schief.

Meli fiel ihr lachend um den Hals. „Wir sind wirklich die Geilsten“, stimmte sie ihr zu. Dann schob sie Artemis einen Schritt zurück. „Nein, nicht wir: Du bist die Geilste.“ Sie blinzelte mit ihren langen Wimpern, Melis Version eines Welpenblicks. „Wirst du sie wenigstens anprobieren? Einmal anziehen?“

Luisa klatschte in die Hände und sah sie bettelnd an. „Wenn sie dir nicht gefällt oder dir nicht passt, können wir sie noch umtauschen, nicht wahr, Meli?“

Artemis seufzte und beugte sich dem Druck. Sie zog sich die Bluse über. „Sag mal, wie geht dein Plan eigentlich weiter? Ich meine, wenn wir eine Herde sind, fällst du ja genau so sehr auf wie Luisa und ich.“

„Exakt“, sagte Meli. „Das ist das Geniale daran. Wir fallen auf, im positiven Sinn. Was soll da schon schief gehen?“

„Wir könnten schrecklich aussehen“, murmelte Artemis und drehte sich in Richtung des Spiegels. Frustriert hielt sie inne. Sie sah alles andere als schlecht aus. Meli hatte einen verdammt guten Geschmack. Die Bluse saß wie angegossen. Nie im Leben hätte Artemis etwas Goldfarbenes gekauft. Dennoch: Sowohl die Farbe als auch dieser Stoff standen ihr. Sie sah zu ihren Freundinnen. Meli und Luisa hatten sich ihre Blusen ebenfalls angezogen. Sie nahmen Artemis vor dem Spiegel in ihre Mitte. Luisa legte den Kopf auf ihre Schulter.

„Ich finde es nicht okay, dass ihr mich zwingt, diese tolle Bluse zu tragen“, knurrte Artemis. Sie spürte selbst, dass der innere Widerstand sich bereits aufzulösen begann.

„Ich weiß“, flötete Meli unschuldig.

„Selfie-Time!“, rief Luisa und stürzte vom Spiegel zu ihrer Handtasche, um ihr Smartphone zu suchen.

„Für die wichtigste Party des Jahres“, sagte Artemis, um Meli weiter zu besänftigen. Sie wusste, wie viel diese Feier ihrer Freundin bedeutete, und auch wenn sie all das nicht ganz so wichtig nahm wie sie, wollte sie der langen Freundschaft zuliebe wenigsten so tun als ob.

„Skandalös.“ Meli reckte sich, sodass sie direkt in Artemis’ Ohr sprechen konnte und Luisa sie nicht hörte. „Lächle. Für Luisa. Es ist die erste geniale Idee ihres Lebens“, flüsterte sie.

Artemis grinste gequält. Im Spiegel sah sie diese gefühllose Fratze, die sie immer machte, wenn sie Meli echt ätzend fand. Ein Wunder, dass keine ihrer Freundinnen es bemerkte. Meli genoss es einfach, sich überlegen zu fühlen und Luisa sah jetzt auch mehr Meli ins Gesicht als Artemis.

„Dir gefällt es?“, fragte Luisa sie, ohne den Blick von Meli zu nehmen.

„Wir sehen mega aus“, sagte Artemis. Auch wenn es tief in ihr immer noch spürbar brodelte, waren diese Worte alles, aber keine Lüge.

Zwei

„Wie aufgeregt kann man sein?“, wimmerte Luisa auf der Rückbank. Sie tastete in der Dunkelheit nach Artemis’ Hand und drückte sie. Lustigerweise hatte Meli kurz zuvor ihre andere Hand ergriffen. Sie saßen also nicht nur eng aneinander gezwängt im hinteren Teil des Volvos, sie hielten auch noch Händchen, was sich für Artemis nach vielem anfühlte, aber nicht nach cool und erwachsen.

Im Radio sang The Weeknd von blendenden Lichtern, was Artemis wieder nach der Lichtshow Ausschau halten ließ. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Der Himmel weigerte sich noch, das letzte Sonnenlicht loszulassen. Wie ein sich langsam ausbleichendes, milchig blaues Tuch hing der Himmel über der Stadt, die sie in ein paar Minuten aus den Augen verlieren würden. Noch führte die Straße am Waldrand den Berg hinauf. Aber vor ihnen erschien bereits der scharfe Linksknick, hinter dem das Auto von den Bäumen verschluckt werden würden. Als sich der Volvo noch unten auf dem kurzen Abschnitt der Bundesstraße befunden hatte, waren die ersten Himmelsstrahler eingeschaltet worden und hatten sich schwach aber verheißungsvoll hinauf in den Himmel bewegt. Zwei große Skybeamer, die wie Leuchtfeuer den Weg weisen wollten. Natürlich dachte Artemis sofort an das berühmte Batman-Signal.

Schade, dass wir so früh losgefahren sind, dachte sie. In größerer Dunkelheit war der Effekt bestimmt beeindruckender und gänsehauterregend.

„Danke, dass Sie uns hinbringen“, sagte Meli zu Artemis’ Mutter und riss Artemis aus ihren Gedanken. „Das ist wirklich superlieb von Ihnen.“

„Das ist kein Problem, Meli“, versicherte sie. „Und ihr wollt wirklich nicht, dass ich euch wieder abhole?“

„Mama!“, rief Artemis vorwurfsvoll.

„Schon gut. Ihr sollt nur wissen, dass ihr mich jederzeit aus dem Bett klingeln könnt, wenn ihr doch noch ein kostenloses Taxi braucht.“ Verschwörerisch warf sie einen Blick in den Rückspiegel. „Außerdem würde ich euch garantiert keine Vorwürfe machen. Nicht wie andere Eltern. Ich bin nämlich eine coole Mutter.“

„Man wird keine coole Mutter, indem man sagt, dass man es ist“, sagte Artemis und spürte, wie sie knallrot anlief. Obwohl Meli, Luisa und sie bereits seit der Grundschule beste Freundinnen waren und die beiden bei ihnen zu Hause ein und aus gingen, war ihre Mutter ihr hin und wieder doch peinlich.

„Da hast du natürlich recht“, antwortete ihre Mutter und grinste. „Es wäre aber sicherlich total cool, wenn ich keine Fragen stellen würde, ganz egal, in welchem Zustand ihr heute Nacht bei mir einsteigt?“

„Keine Fragen sind immer gut.“ Luisa kicherte. „Sie waren bestimmt auch eine krasse Teenagerin. Ich kann Sie mir richtig gut vorstellen.“

„Gab es das Bacchusfest damals schon?“, wollte Meli wissen.

Ihre Mutter lachte. „Ich war bestimmt nicht halb so wild wie ihr“, versicherte sie. „Aber ja, das Fest gibt es schon ewig. Zu meiner Zeit war das Bacchusfest eins der angesagtesten Events des Jahres. Es wird bestimmt immer noch von den beiden Oberstufenjahrgängen organisiert, oder nicht? Ich erinnere mich noch, dass wir damals mit der Organisation an der Reihe waren. Ich bin für die Blumendekoration verantwortlich gewesen.“

„Und die Geschichten?“, hakte Luisa aufgeregt nach. Ihr Zappeln machte Artemis nervös. Am liebsten hätte sie ihr die Hand auf das Bein gelegt, damit sie damit aufhörte. Sie wagte es jedoch nicht, ihre Hand loszulassen. Daher drückte sie warnend einmal etwas fester zu, woraufhin Luisa unruhig mit dem Hintern hin und her rutschte.

Artemis’ Mutter warf ihnen durch den Rückspiegel einen fragenden Blick zu, und Artemis verdrehte die Augen, als ob sie dem Ganzen nicht den geringsten Glauben schenkte. „Jedes Jahr passiert irgendetwas Spektakuläres“, erklärte Artemis ihr. „Etwas, worüber das restliche Jahr geredet und getratscht wird.“

„Sterne werden geboren“, sagte Luisa und beugte sich vor, um einen Blick auf Meli zu erhaschen.

„Meistens schrecklich peinliche Dinge, die einem noch lange nachhängen“, ergänzte Artemis. Zwischen Luisas Aufregung und Melis vor Stolz angespannter Haltung hatte sie das Bedürfnis, auf gar keinen Fall den Sinn für die Realität zu verlieren.

„Nein, so übertrieben haben wir es nicht gesehen“, gestand ihre Mutter. „Ich erinnere mich noch daran, wie wir damals einen Schönheitswettbewerb auf der Bühne veranstaltet haben. Spielen eigentlich noch echte Musiker auf der Feier?“

„Ein Schönheitswettbewerb?“ Luisa drückte sich jetzt die Nase an der Fensterscheibe platt. Sie seufzte schwärmerisch.

„Ein DJ legt Musik auf“, sagte Meli. „Echte Bands gibt es dort seit den 90ern nicht mehr.“

Ohne hinzusehen wusste Artemis, dass es jetzt an ihrer Mutter war, die Augen zu verdrehen. Denn wenn man sie fragte, gab es keinen größeren Sittenverfall als den Untergang echter Musik, wie sie es nannte.

Artemis musste sich in diesem Moment eingestehen, dass Luisas Aufregung sie angesteckt hatte. In ihrem Brustkorb kribbelte es, als ob jemand darin Strom eingeschaltet hatte. Es war nicht einfach nur das erste Bacchusfest, an dem sie teilnahm, sondern die erste große Party überhaupt. Eine, die bis lange nach Mitternacht ging, ohne die Anwesenheit von Erwachsenen. Die Nächte, die mit solchen Partys begannen, endeten meistens mit einer großen Liebesgeschichte oder zumindest einem kleinen Abenteuer. Artemis glaubte, ein Kribbeln in der Luft zu spüren, das ihr verriet, dass heute Nacht wirklich alles möglich sein konnte. Irgendwoher mussten diese Serien es schließlich haben. Vielleicht steckte ja doch ein Funken Wahrheit in ihnen. Auf einmal wünschte sie es sich.

Gedankenverloren hatte sie inzwischen die Hände ihrer Freundinnen losgelassen und die goldene Bluse glattgestrichen und zurechtgezupft. Erst als sie Melis amüsierten und selbstzufriedenen Blick auffing, begriff sie, was sie da überhaupt tat.

„Da ist es!“ Luisa japste nach Luft und trommelte aufgeregt mit den Zeigefingern auf der Armablage, ehe sie wieder Artemis’ Hand packte und ganz fest zudrückte. „Da oben das Licht, das muss es sein.“

„Hast du dein Handy dabei?“, fragte Artemis´ Mutter rasch.

„Klar“, antwortete Meli anstelle von Artemis gedehnt. „Sie muss doch die Fotostory machen.“

Das war der eigentliche Plan. Die „Matching Outfits“ sollten wie eine Rüstung gegen Peinlichkeiten funktionieren und ein erster Hingucker sein. Dass Artemis gleichzeitig live von der Party auf ihrem Social Media Account berichten wollte, würde für den nötigen Fokus sorgen.

„Das ist es nämlich, was uns von den Generationen vor uns unterscheidet“, hatte Meli erklärt. „Wir können die Macht des Internets für uns nutzen.“

Schon vor ein paar Tagen hatte Artemis alle nötigen Einstellungen ausprobiert: Sie kannte sich bestens mit den Filtern aus und hatte die Standardeinstellung so angepasst, dass sie jemanden auf einer nächtlichen Waldparty wie einen Star bei den Oscars aussehen lassen konnte. Dass sie seit jeher ein gutes Auge für Situationen besaß, bewiesen ihre inzwischen knapp vierhundert Follower, die selbst jedes noch so belanglose Foto begeisterte.

„Fotografierst du uns, wie wir aussteigen?“, drängte Meli.

„Na klar.“

Als ihre Mutter in dem kleinen Wendekreis am Ende der Waldstrecke parkte, kletterte Artemis über Luisa aus dem Wagen und dokumentierte, wie erst Luisa, dann Meli möglichst elegant aus dem Wagen stiegen. Anschließend wechselte sie mit Luisa, damit es auch Bilder von ihr gab.

„Du rufst mich an, wenn du etwas brauchst“, erinnerte ihre Mutter sie zum Abschied. „Es ist mir egal, wie spät es ist. Ich bin immer für euch da, ja?“ Artemis drückte ihre Mutter kurz an sich, erwiderte allerdings nichts und folgte den Freundinnen Richtung Feier.

Zwischen den Waldparkplätzen und dem Partygelände hing das erste Highlight. In Wellen überdachte ein Vorhang aus Lichterketten den Weg. Dazwischen baumelten an feinen Schnüren aufgeknüpfte Papierblüten.

Dass ihre Mutter früher für die Blumendeko verantwortlich gewesen war, erschien ihr jetzt lächerlich. Sie sah sich um. Die Papierblüten über ihrem Kopf strahlten in allen erdenklichen Farben, aber angeordnet waren sie nach den Gesetzen eines Regenbogens, sodass es von rot bis lila verschiedenfarbige Passagen gab.

Als sich Luisa in der Mitte unter den gelben Blüten drehte, knipste Artemis rasch einige Bilder.

„Zauberhaft“, schwärmte Meli und hakte sich bei Artemis ein.

Das Bacchusfest schien gerade erst zu beginnen. Am Ende des Regenbogens wollten zwei Schüler ihre Eintrittsbänder sehen. Sie trugen stilecht schwarze Anzüge und natürlich Sonnenbrillen.

„Ist es nicht ein wenig lächerlich, sowas nachts zu tragen?“, fragte Meli spitz. Die beiden nahmen es ihr offensichtlich nicht übel. Wahrscheinlich rechneten sie an diesem Abend mit vielen dummen Sprüchen. Roboterhaft verzogen sie keine Miene.

„Wir hätten sie besser fragen sollen, ob sie gleich anfangen, wild zu tanzen“, sagte Artemis im Weitergehen. „Blues Brothers“, ergänzte sie auf Melis verwirrten Blick nur. Mehr Mühe war ihr die Erklärung nicht wert. Der Filmnerd war allein sie in dieser Dreierclique.

In der Mitte einer kreisrunden Lichtung brannte bereits ein größeres Palettenfeuer. Links von ihnen befand sich eine beachtlich große Bühne. Auf ihr machte sich eine Schülerband bereit, während gleichzeitig ein DJ zum Aufwärmen dröhnende Bässe durch den Wald schickte.

Artemis war noch nie hier gewesen. Beeindruckt betrachtete sie das großzügige Gelände. Direkt am Anfang stand die erste Waldhütte, hier gab es die antialkoholischen Getränke. Zwei weitere Hütten, deutlich größer, säumten den gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Fasziniert sah sie die Steckdosen und Stromtrommeln, die all die Lampen über ihnen und um sie herum versorgten, ebenso wie Kühlschränke und die Musikanlage.

Wie immer hielt Luisa zuerst nach den Toiletten und Meli nach dem Getränkestand Ausschau. Artemis machte ein paar Fotos, um einen besseren Eindruck von den vorläufigen Lichtverhältnissen zu bekommen; Bilder, die sie nicht posten wollte. Dann überprüfte sie die Fotos vom Aussteigen und der Regenbogenbrücke, um noch mit ein paar Filtern zu experimentieren.

„He.“ Meli stieß ihr unsanft in die Seite.

„Ist was passiert?“

„Wir werden gerade abgecheckt“, entgegnete Luisa aufgeregt, wobei das „checkt“ viel zu schrill klang, fast wie ein Quieken. „Von den Typen da drüben.“

„Du kannst nicht die ganze Zeit am Handy rumhängen“, meinte Meli.

„Du wolltest doch die Online-Storys“, warf Artemis ihr vor.

„Du sollst Posten, nicht Rumspielen.“

„Ich spiele nicht rum, ich will das Beste aus den Fotos rausholen.“

Meli sah sich die Bilder an, schnaubte und drückte ohne Artemis’ Erlaubnis auf „Jetzt posten“.

„Was soll das? Ich war noch nicht fertig.“

„Du hast die Filter alle ausprobiert. Es muss heute Abend schnell gehen. Dein Perfektionismus soll uns nicht davon abhalten, Party zu machen“, beschwerte Meli sich, als sie das Feuer erreichten.

Artemis spürte den Widerwillen in sich wachsen. Etwas, das sich verdammt ähnlich anfühlte wie bei der Geschichte mit den für sie ausgesuchten Kleidern. „Kein Blogger postet das erstbeste Bild“, verteidigte sie sich. „Außerdem: Willst du etwa nicht, dass der Abend perfekt festgehalten wird?“

Meli hielt mitten im Schritt inne. Sie atmete tief ein, um zu demonstrieren, dass auf ihr kleines Gezicke jetzt ein größeres folgen würde, als unvermittelt ein lautes Zischen erklang. Es lenkte ihre Aufmerksamkeit im letzten Moment um. Eine blaue Stichflamme loderte im Palettenfeuer auf, während zwei Jungs daran vorbei und auf sie zu gingen.

„Willst du etwa so uncool sein wie die hier?“ Sie zeigte auf die beiden, die auf das Display ihres Smartphones starrten. Es waren Ben und Ilja. Artemis kannte sie, weil sie in dieselbe Klasse gingen wie sie. Nur war „kennen“ eigentlich zu viel gesagt. Sicher, sie mochte die beiden irgendwie. So wie man eben Menschen mag, die man nur von Weitem kennt und ab und an denkt, sie könnten interessant sein.

Meli hatte es so laut gesagt, dass der Größere der beiden zu ihnen aufschaute.

„Ben“, grüßte Artemis und versuchte ein klägliches Lächeln, das Melis unverschämte Art entschuldigen sollte. Dabei blieb Artemis’ Blick für einen kurzen Moment an den grünen Militärrucksäcken der beiden hängen, die über und über mit merkwürdigen Zeichen und Symbolen bemalt waren. Für einen Sekundenbruchteil fragte sie sich, was die beiden darin auf eine Party mitschleppten.

„Geht weiter, ihr Loser“, blaffte Meli hochnäsig.

Artemis zuckte zusammen. „Sie hat es nicht so gemeint“, versicherte sie hastig. Aber Ben schenkte ihr einen „Wen willst du damit eigentlich verarschen?“ Blick. Es war unmöglich, ihm standzuhalten, als wäre Ben längst kein Jugendlicher mehr, sondern jemand, der weit mehr von der Welt gesehen hatte, als sie alle zusammengenommen, diese schrecklichen Erlebnisse aber lieber für sich behielt.

Ilja rutschte im Vorbeigehen der Rucksack von der Schulter. Seine unbeholfene Art löste ein mulmiges Gefühl in ihr aus, anders noch als bei Ben, weil Ilja eher über Anakin-Skywalker-Vibes verfügte.

Vor einem Jahr hatten sie mit ihrem Musiklehrer, der ohne Vorwarnung von jetzt auf gleich verschwunden war, als hätte ihn der Erdboden verschluckt, Star Wars gesehen. „Achtet darauf, wie Anakin Skywalker in diesen Szenen auf euch wirkt“, hatte er sie gebeten und dann eine Sequenz komplett ohne Ton laufen lassen. „Ein normaler junger Mann, findet ihr nicht? Ziemlich gutaussehend, aber dennoch so kindlich, dass man ihm seinen Zorn nicht wirklich abkauft. Es sieht lächerlich aus, weil zu viel in seinem Gesicht passiert. Zu viel Augenbrauen nach unten ziehen, zu viel Stirnrunzeln, zu viel den Kopf senken. Ohne Geräusche, ohne Gespräche kaufen wir ihm hier nicht ab, dass Wut so aussieht. Jetzt achtet einmal darauf, was passiert, wenn die Musik läuft.“

Jedes Kind kennt Star Wars wenigstens vom Namen her und auch wenn es nicht jeder gesehen hat, gilt dasselbe für die berühmte Darth-Vader-Melodie, die immer dunkel und bedrohlich klingt, sobald der Bösewicht den Raum betritt. Als die Filmszene mit Anakin Skywalker mit Ton wiederholt worden war, hatte ein Junge aus ihrer Klasse gerufen: „Ich dachte, das darf nur bei Darth Vader gespielt werden. Das klingt zumindest ganz ähnlich wie das berühmte da-da-da—dap-da-daaa“.

Es klang ähnlich und Artemis, die wusste, dass aus dem jungen Anakin, der hier noch als Held die Story vorantrug, eines Tages der teuflische Darth Vader werden würde, begriff natürlich sofort, was die Musik bei den Zuschauern auslösen sollte. Sicher, es gab nur die Andeutung des Bösen in der Hintergrundmusik, nur ein Ausschnitt des berühmten dunklen Klangs, aber auf einmal spürte man, dass dieser kindliche, kaum ernst zu nehmende Krieger etwas Unheimliches und Schicksalhaftes in sich trug.

Natürlich war das eine übertriebene Assoziation, trotzdem fand Artemis sie passend. Auch wenn Iljas Erscheinen selbstverständlich nicht von einer unheimlichen Melodie begleitet wurde und er mit seinen rot-blonden Haaren äußerlich kaum Ähnlichkeiten zu Anakin hatte, umgab ihn etwas Dunkles, das in Artemis die Alarmglocken in Hab-Acht-Stellung versetzte. Es fühlte sich an, als ob sich Steine in ihrem Magen bildeten, die sie nach unten ziehen wollten.

Vorwurfsvoll zog Artemis ihre Freundin zur Seite. „Was soll das? Sei nicht so fies.“

„Heute Abend“, versicherte Meli ihr streng, „wird etwas ganz Besonderes passieren. Und ich werde im Mittelpunkt stehen. Jedenfalls“, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, was sie in diesem Licht ein wenig wie ein gefährliches Raubtier aussehen ließ, „werde ich nicht diejenige sein, über die man ein ganzes Jahr lang lacht, das schwöre ich dir.“

„Du willst auch nicht dafür verantwortlich sein, dass andere leiden, oder?“ Meli gab darauf keine Antwort. Dieses Schweigen brachte Artemis’ Wut auf einen Schlag zurück. Binnen Sekunden fühlte sie sich in ihren Kleidern nicht mehr wohl und am liebsten wäre sie sofort wieder nach Hause gegangen. Meli ins Gesicht zu sagen, was sie empfand, hätte jedoch nichts genützt. Das war etwas, was Meli noch nie verstanden hatte. Auf andere eingehen konnte sie nur, wenn es um Klamotten und Haarstyling ging.

Vielleicht wäre Artemis an dieser Stelle tatsächlich nach Hause gegangen, wenn nicht gerade in dem Augenblick jemand ihren Namen gerufen hätte. Eine Gruppe von Mitschülern kam auf die drei Freundinnen zu. Glücklich, einander zu treffen, umarmten sie die Neuankömmlinge und bewunderten die goldfarbenen Blusen.

„Es war Melis Idee.“ Luisa kicherte und schob überraschenderweise Meli vor sich in das Zentrum der Gruppe.

Sofort blühte Meli auf. „Sehen wir nicht einfach hinreißend aus? Jemand hat eben zu mir gesagt, wir würden wie Göttinnen aussehen.“

Artemis krümmte sich innerlich. Sie hasste es sehr, wenn Meli überheblich wurde, weil sie mit der Großspurigkeit ihre besten Seiten überlagerte, als würde man über ein romantisches Foto einen dunklen Filter legen.

„Ist es nicht wahnsinnig schön hier?“, plapperte Meli weiter. „Der Regenbogendurchgang ist einfach nur himmlisch. Ich würde am liebsten den ganzen Abend darunter stehen und Fotos für meine Social Media Seiten machen. Das Licht dort ist eine echt unglaublich schöne Kulisse für Selfies. Und Artemis“, damit legte sie den Arm um Artemis’ Hüfte und zog sie zu sich heran, „ist die beste Fotografin. Ich kenne niemanden, der so brillante Bilder von mir macht.“

Artemis liebte Meli, nicht nur, weil sie sich seit Ewigkeiten kannten. Artemis wusste, dass Meli ein herzensguter Mensch war, dem es jedoch im Beisein von anderen beim besten Willen nicht gelang, sich ab und an von der eigenen Oberflächlichkeit zu verabschieden. Sie lebte impulsiv und stürzte sich hastig in Entscheidungen und Meinungen. Doch so spontan sie diese fasste, so verbissen konnte sie daran festhalten. Das Vertrackte daran: Die meiste Zeit über war es genau diese Impulsivität, die ihnen den größten Spaß brachte.

Artemis neigte eher zu Besonnenheit. Genau das, was es in der Regel brauchte, um Meli etwas zu bremsen, bevor ihre eingebildete Art überhandnahm. Im Gegenzug war Melis Spontaneität genau das, was Artemis nötig hatte, um immer wieder über den eigenen Schatten zu springen.

„Die Party füllt sich“, sagte Luisa, während Meli munter weiter drauflosplapperte und gleichzeitig mit dem Finger eine Haarsträhne zwirbelte.

Artemis begann Fotos zu machen. Sie fand das Licht wunderschön. Ihr gefielen vor allem die, bei denen das große Lagerfeuer am Bildrand noch zu sehen war, ohne dass jedoch ihr Fokus darauf lag. Irgendwann fühlte sich Artemis wie eine Fotoreporterin. Ihr wurde klar, dass die Bilder ihr zwei Dinge gleichzeitig ermöglichten, die sich eigentlich ausschlossen: Zum einen war sie hier, als ein Teil der Party, konnte die Stimmung genießen und teilhaben, zum anderen fühlte sie sich auch nicht ganz einbezogen. Das Fotografieren katapultierte sie ständig aus dem Geschehen heraus. Das war fraglos das Reporterhafte und was ihnen im Deutschunterricht als „objektiv“ genannt worden war.

Obwohl sie anwesend war und inmitten lachender, feiernder Gleichaltriger stand, erwischte sie sich ständig dabei, wie sich ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Szenen richtete. Die mussten festgehalten werden. Immer wieder drückte sie den Auslöser und ging anschließend zur Seite, um in Ruhe die Filter darüberlegen und die Bilder posten zu können.

Sie sah auf. Noch war die Lichtung erst halb gefüllt. Sie ahnte, dass in ein oder zwei Stunden noch sehr viel mehr los sein würde, und es fühlte sich an, als ob sie sich entscheiden müsste: Wollte sie coole Fotos für ihren Social Media Account oder das Smartphone einstecken und gemeinsam mit den anderen ordentlich abfeiern?

Sie ließ ihren Blick weiter von der Bühne über die Landschaft wandern. Die Musik war unfassbar laut. Der Bass dröhnte so sehr, dass er in ihrem Brustkorb vibrierte und in ihrem Magen ein verlockend warmes, kribbliges Gefühl hinterließ. Der Sommer lag bereits hinter ihnen und obgleich sich bereits die ersten kälteren Tage bemerkbar gemacht hatten, war es heute Nacht angenehm mild, trotz der Wolken, die den fast vollen Mond verdeckten. In der Nähe des Feuers zogen ein paar halbstarke Jungs ihre Pullover aus und sprangen mit ihren muskulösen, nackten Oberkörpern gegeneinander. Dieser Anblick nahm ihr die Entscheidung ab. Sie löste sich aus der Gruppe, und ihr gelangen ein paar richtig gute Action Shots.

„He“, rief einer der Jungs und kam zu ihr. „Darf ich das Foto sehen?“

Sie nickte, überrascht davon, wie selbstverständlich er seinen Arm um ihre Hüfte legte und ihre Hand mit dem Smartphone so hielt, dass er auf das Display sehen konnte.

„Du bist Artemis, richtig?“

Perplex starrte sie ihn an. Sie schätzte ihn mindestens drei Jahrgangsstufen älter. Woher kannte er ihren Namen?

Er lachte, als könnte er ihre Fragen an ihrem Gesichtsausdruck ablesen. „Ich habe schon einige deiner Posts gesehen.“ Er zeigte auf ihr in der Ecke sichtbares Profilbild. „Einige aus unserer Stufe folgen dir. Und wenn du heute Nacht die richtigen Hashtags nutzt, wird dir die halbe Schule folgen. Du bist verdammt gut, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

Unbewusst schielte sie zu Meli hinüber, die sich ganz offensichtlich in der Aufmerksamkeit sonnte, die ihr zuteilwurde.

„Hast du noch mehr von uns gemacht?“

In einer Mischung aus Nervosität und Stolz öffnete Artemis die Galerie auf ihrem Smartphone und zeigte ihm weitere Aufnahmen.

„Wow, die sehen echt mega aus!“ Er grinste breit und kratzte sich am Hinterkopf. „Willst du die hochladen?“

„Klar, wenn es euch recht ist.“

„Du musst uns unbedingt verlinken.“ Sein Grinsen verstärkte sich, und er zwinkerte ihr zu. Dabei ließ er endlich ihre Hüfte los, und sie spürte, wie sich ihr Körper wieder entspannte. „Ich habe schon überlegt, dir zu folgen, jetzt klick ich auf jeden Fall auf dein Profil. Markier mich, ich bin FunDreas – lach nicht, den Namen hat mir ein Typ gegeben, der sich Zottel nennt. Sobald du mich markierst, kann ich alle andern markieren, die dabei sind.“

„Sind die damit einverstanden?“

Er lachte, als wäre es eine so unfassbar dämliche Frage, wie die, ob der Bär in den Wald kackt. „Kyle und Zottel haben auch schon Fotos gemacht. Nur halb so gut wie deine, ich schwör’s dir. Und inzwischen hat keiner mehr Bock auf Fotos. Wir wollen lieber Spaß haben.“

„Okay“, sagte Artemis und konnte nicht anders als zu lächeln. „Mach ich gern. Kein Problem.“

Meli hatte also wieder einmal recht gehabt. Es lohnte sich, am Ball zu bleiben. Stolz schlenderte Artemis weiter und sah sich um, immer auf der Suche nach dem nächsten guten Schuss.

Das Dekorationsteam dieser Party hatte wirklich bombastische Arbeit geleistet. Immer mehr offenbarte sich ihr das Grundkonzept, mit dem man vorgegangen war. Neben dem Regenbogeneingang gab es einen Bereich im Wald, der voller asiatisch aussehender, rot-schwarzer Lampions hing. Mit einfachen Mitteln waren aus Paletten niedrige Tische aufgestellt worden und auf alten, ausgetretenen Teppichen konnte man sich bequem hinsetzen. Eine ganz andere Stimmung fand Artemis in einem etwas abgelegeneren Bereich. Hier standen mehrere Bierpong-Tische, die wie Magnete für die Oberstufenschülerinnen und -schüler wirkten. Insgesamt zählte sie vier solcher Partybereiche. Am letzten stand sogar ein sich wichtig fühlender Aufpasser mit Sonnenbrille. „Keine Fotos!“, knurrte er. „Hier hinten ist die Kuschel-Area. Wir garantieren volle Privatsphäre.“

„Artemis, mach ein Foto von uns!“, rief ihre Klassenkameradin Jenna, ehe sie etwas erwidern konnte. Jenna winkte und hakte sich bei einem Jungen ein, der neben ihr stand.

„Klar, gerne“, antwortete sie, trat ein wenig näher und fokussierte sie. „Smile“, rief sie grinsend und beide strahlten um die Wette.

„Dürfen wir es sehen?“, fragte Jenna und ging auf Artemis zu.

„Natürlich. Hier.“ Artemis blätterte durch die drei Aufnahmen, die sie von Jenna und dem Jungen gemacht hatte. „Ich finde das Zweite am schönsten.“

„Die sind wirklich unglaublich schön geworden. Einfach toll. Würde mich sehr freuen, wenn du es postest. Ich verlinke dich dann“, sagte sie und wandte sich mit den letzten Worten an ihre Begleitung.

„Cool“, entgegnete der nur und nickte.

„Viel Spaß euch noch“, wünschte Artemis lächelnd und wandte sich ab. Da entdeckte sie Luisa. Von Meli war weit und breit nichts zu sehen. Also schlenderte sie zu ihrer Freundin.

„Du bist der Wahnsinn!“ Jubelnd lief Luisa ihr entgegen. „Ich habe mich umgeschaut. Die meisten machen Fotostorys nur über sich selbst. Jede Menge Party-Selfies. Hier, sieh mal!“ Sie gingen ein paar Schritte zur Seite und Luisa zeigte ihr im Netz alles, was unter den erwartbaren Hashtags auftauchte.

„Der Trend geht zu #Bacchuswaldparty. Frag mich nicht, warum so kompliziert. Aber siehst du es? Siehst du es? Du bist die Einzige, die sich Mühe gibt, alles einzufangen. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal.“

„Die meisten freuen sich, wenn ich sie fotografiere“, stimmte Artemis zu. Es wunderte sie nicht, dass Luisa von „unserem“ Alleinstellungsmerkmal redete, obwohl das Fotografieren und Posten streng genommen allein in Artemis´ Hand lag. Es war das gleiche „unser“, das auch in Sätze gehörte wie „unsere Idee mit dem Partnerlook“ oder auch „unsere Meli“. Queen Meli, korrigierte sich Artemis in Gedanken.

„Manche haben mich sogar schon nach dir gefragt.“ Luisa zog an den Schulterteilen ihrer Bluse. „Matching Outfits!“ Sie lachte. „Weil sie wissen, dass wir zusammengehören. Verstehst du? Sie wollen alle von dir fotografiert werden.“

„Hast du Meli gesehen?“, versuchte Artemis das Thema zu wechseln. Im gleichen Moment hörten sie Meli auch schon kreischen. In der Nähe der Asien-Area hatten ein paar Jungs begonnen, sie in die Luft zu heben, um ihre Stärke zu beweisen. Sie jauchzte vor Vergnügen.

„Ihr geht es gut.“ Luisa biss sich auf die Unterlippe. „Ich geh trotzdem mal hin, okay?“ Nach ein paar Schritten kehrte sie wieder zu Artemis zurück. „Hast du übrigens gesehen, wie viele Bereiche die hier gemacht haben? Nicht alle sind toll, aber insgesamt haben die sich richtig viel Mühe bei der Dekoration gegeben.“

Artemis nickte. „Richtig übertrieben.“

„Ich frage mich, wo die das Geld herbekommen haben. Einiges ist sicher selbstgebastelt, das sieht man ja. Manches ist trotzdem richtig professionell.“

„Bis jetzt habe ich nur beeindruckende, professionelle Sachen gesehen“, meinte Artemis, was Luisa zum Kichern brachte.

„Dann warst du noch nicht auf dem Berg der magischen Wünsche.“ Sie zeigte auf eine Stelle zwischen den beiden größten Hütten. Mit Mühe konnte Artemis ausmachen, dass dort ein schmaler Weg in den Wald hineinführte. Skeptisch runzelte sie die Stirn.

„Vertrau mir.“ Luisa lachte. „Es gehört wirklich zur Party. Da stehen sogar Schilder. Allerdings lohnt es sich nicht. Es ist so eine ganz schlimme Mischung aus billig und kitschig. Da kannst auch du keine guten Bilder machen. Obwohl …“, ihr Kopf wiegte von einer Seite zur anderen, als würde sie ihre Erinnerungen mit ihrer Vorstellungskraft abwägen, „man hat einen ganz schönen Blick über die Party.“

„Na, dann werde ich mal ein Paar Bilder von dort machen.“ Eine Herausforderung war genau das, worauf sie gerade Lust hatte. „Vielleicht auch ein Video. Die Party aus einiger Entfernung, um …“, aber sie war schon wieder allein. Luisa interessierte sich gerade nur dafür, dort zu sein, wo die Party am heißesten abging: bei Meli, die gerade von einem richtig gutaussehenden Jungen mit nacktem Oberkörper hochgehoben wurde.

Artemis sah Luisa grinsend hinterher. Sie dachte kurz darüber nach, warum sie nicht so war wie Luisa, die danach gierte, so zu sein wie Meli, um von den muskulösen Jungs hochgehoben zu werden. Es blieb ihr ein Rätsel, weshalb es sie weg von der Party zog, wo doch alles so unfassbar gut lief. Vielleicht war es dieses übertriebene Hollywood-Feeling, mit dem die Festwiese daherkam. Mit unglaublich viel Aufwand und erstaunlich viel Geld hatte man in diesem kleinen deutschen Wald eine Kulisse entworfen, die genauso gut in einen Twilight-Film gepasst hätte. Artemis streckte die Hand nach einer Papierblume aus, die über ihr in einer Girlande hing und ließ sie durch die Finger gleiten. Die Lichter flackerten kurz auf, als wollten sie ihr Gefühl bestätigen, dass alles hier irgendwie unwirklich war. Kulissen eben.

Zwei aus der Oberstufe stolperten lachend an ihr vorbei und rempelten sie aus Versehen an. Der ruckartige Stoß löste einen kurzen Schwindel aus. Das Gefühl der Unwirklichkeit schnürte ihr die Kehle zu.

Sie wollte sich gerade auf den Weg machen, da schnappte sie Gesprächsfetzen über Cheerleader auf und konnte nicht anders, als noch einmal innezuhalten und genauer hinzuhören.

„So ein Unsinn“, wehrte ein gut trainierter Junge ab. „Klar, das Schwimmteam unserer Schule ist der große Shit! Dieses Jahr holen wir den Pokal. Auch wenn wir uns ganz neu aufstellen müssen, weil …“

„Wo ist eigentlich unser Captain heute Abend? Wollte sie nicht kommen?“

„Nisa hat mir geschrieben, dass sie wegen Leifs Tod keinen Bock zu feiern hat und wie scheiße sie es findet, dass wir alle hier sind.“

„Nicht die Stimmung drücken!“, mahnte ein schlaksiges Mädchen mit Zahnspange. „Lieber die Leber beglücken!“ Darin stimmten alle überein. Sie stießen ihre Flaschen klirrend aneinander und tranken.

Artemis sah sich um. Die abgesteckte Waldfläche war inzwischen voll. Alle feierten und wirkten unglaublich vergnügt. Niemand schien ausgegrenzt oder im absoluten Mittelpunkt zu stehen, ob positiv oder negativ. Vielleicht würden dieses Jahr also weder Legende noch Elend geboren werden. Artemis hoffte es.

Drei

Wie der Dampf über einem Kochtopf, so standen die Rauchschwaden des Lagerfeuers über der Lichtung. Das matte Leuchten des von Wolken umgebenen Mondes verschmolz mit dem gespenstisch wirkenden Licht der fünf Bühnenscheinwerfer. Die zwei Skybeamer strahlten von den beiden Eckpunkten der Bühne geradewegs in den Himmel hinein.

Erst war sie überrascht gewesen, dass auch auf dem Weg hierher immer wieder Lampions hingen. Dann hatte sie gesehen, dass es kleine, krakelig beschriebene Schilder gab. „Zum Berg der magischen Wünsche“ stand da. Es sah aus wie die Schrift eines Sechsjährigen, was sie irgendwie gruselig fand. Der Weg schlängelte sich über einen schmalen Trampelpfad zu dem Hügel hinauf. Dann tauchte wie aus dem Nichts eine größere Plattform auf, von wo aus man alles richtig gut überblicken konnte. Die Ruhe hier oben tat gut. Nur ganz entfernt und ganz dumpf drang der Bass herauf. In Artemis’ Ohren rauschte es, je weiter sie sich vom Partylärm entfernte. Trotzdem genoss sie die Stille. Das erhoffte Festivalpanorama lag unter ihr. Ein letztes Schild deutete auf einen großen Metallkasten mit einer Kurbel an der Seite. „Für Magie: kurbeln“ stand da. Es brauchte nicht viel technisches Knowhow, um zu verstehen, was sich da vor ihr befand. Es handelte sich um einen einfachen, klobigen Stromgenerator.

Also gut, sie wollte das Spiel mitmachen. Sie kurbelte ein paar Mal kräftig und hörte, wie im Inneren Spulen zu surren begannen.

Jetzt musste sie nur noch auf einen großen roten Knopf drücken, auf den jemand eine eckige, schwarze „2“ geschrieben hatte. Unter lautem Brutzeln, bei dem sie kurz dachte, jetzt wäre der Generator kaputt, und es würde gleich einen Funkenregen geben, blitzten über ihr in den Bäumen kleine Lämpchen auf. Das System stabilisierte sich und das Licht wanderte über die in den Ästen versteckten LED-Schläuche. Mit ganz viel Fantasie erkannte Artemis, dass es wie ein Sternschnuppenschauer aussehen sollte. Nur war es so billig und schlecht gemacht – vor allem im Vergleich mit dem großartigen Regenbogentunnel – dass sie ihr Lachen nicht zurückhalten konnte.

Andererseits konnte es ihr nur recht sein. Das Licht half ihr, ein paar außergewöhnliche Aufnahmen zu machen, die sonst garantiert keiner hatte. Vor allem der Blick nach unten gefiel ihr. Sie musste nur darauf achten, nicht das zu fotografieren, wofür sie eigentlich hergekommen war: die LED-Sternschnuppen.

Die Fotos waren schnell gemacht, bearbeitet und mit dem passenden Hashtag gepostet. Nun stand sie hier oben und fand es in der Ruhe und Abgeschiedenheit viel angenehmer als dort unten.

Der Wald erschien ungemein friedlich, und sie hätte stundenlang hier stehenbleiben und einfach nur zusehen können, wie sich unten die farbigen Lichter über den Boden schoben. Etwas weiter weg raschelte es im Gestrüpp. Sie konnte nichts erkennen, aber mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass sich in der Luft ganz langsam elektrische Spannung aufbaute. Stirnrunzelnd näherte sie sich. Das angenehme Gefühl war vorüber.

„Hallo?“, rief sie. Das Rascheln wiederholte sich. Der Wind konnte es nicht sein, weil sonst alles in Regungslosigkeit verharrte. Ein Tier vielleicht.

Ein Ast brach. Sie zuckte zusammen und nahm ihr Smartphone, um die Taschenlampenfunktion einzuschalten. Erst jetzt, als sie versehentlich mit dem Finger abrutschte und stattdessen nur das Blitzlicht des Fotoapparats aktivierte, merkte sie, dass sie zu zittern begonnen hatte. „Verdammt“, flüsterte und dann etwas lauter: „Verdammt, ist da jemand?“ Sie wollte zur Taschenlampe wechseln, stattdessen blieb das Display hängen und ehe sie sich versah, hatte sie unbeabsichtigt ein Foto gemacht. Im selben Moment blitzte das Display auf und wurde schwarz.

Irritiert starrte sie auf das sich drehende Rad, das normalerweise anzeigte, dass ein Hintergrundprozess geladen wurde. Seit wann geschah ihr das beim Fotografieren?

Das Rad blieb stehen. Ihr Magen fühlte sich an, als ob ihn eine unsichtbare Hand einmal um sich selbst zu drehen begann. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie fest davon überzeugt, sich übergeben zu müssen. Aber das dauerte nur genau so lange wie ein Wimpernschlag. Und als die Lider sich wieder öffneten, legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken fuhr sie herum. Ihr Herz raste wie wild. Sie starrte auf einen schwer atmenden Schemen im Schatten eines breitstämmigen Baums.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, hörte sie ihn fragen und erkannte, dass es Ben war. Er schwankte etwas, als wäre er betrunken und fiel schließlich neben ihr auf die Knie.

Unvermittelt tanzten Sterne vor ihren Augen, als würde ihr Kreislauf jeden Moment seinen Dienst quittieren wollen. Von einer Panik ergriffen, deren Ursprung sie nicht ausmachen konnte, sah sie sich gehetzt um und obwohl sie nichts Ungewöhnliches ausmachen konnte, blieb dieses Gefühl. Etwas stimmte nicht. Sie konnte es spüren. Die Welt schmeckte anders, auch wenn das völlig verrückt klang. Aber auf ihrer Zunge lag ein Geschmack, als ob sie an einer alten Centmünze gelutscht hätte. Dann der Wind … eben war es noch völlig windstill gewesen, jetzt rauschte das Blätterdach über ihr, ohne dass sie diesen Wechsel mitbekommen hatte.

„Du hast mich zu Tode erschreckt“, beschwerte sie sich und bemerkte erst jetzt, dass sie vollkommen außer Atem war, als wäre sie gerannt. Irritiert sah sich Artemis erneut um, ohne irgendetwas zu entdecken, das einen Sinn ergab. Es war, als ob die ganze Welt … ja was? Als ob die Welt einen Sprung gehabt hätte. Besser konnte sie das nicht ausdrücken. Ein Sprung, wie bei einer Schallplatte, sodass die Nadel der Zeit einfach mitten im Lied ins nächste gerutscht war. Das Einzige, das gefehlt hatte, war das laute Knacken, das man dabei gewöhnlich hörte.

Oder hatte sie es gehört? In ihren Ohren rauschte es, als hätte sie soeben ein akutes Lärmtrauma erlitten.

Umständlich richtete sich Ben ein wenig auf und blickte zu ihr hoch. Da sah sie es, und obwohl sie es nicht recht verstand, hatte ihr Unterbewusstsein längst erkannt, dass er blutete. Er hielt sich die flache Hand gegen den rechten Arm, konnte den Blutfleck, der sich auf der Jacke abzeichnete, dennoch nicht ganz bedecken.

Alarmiert hockte sie sich zu ihm runter. „Blutest du?“, rief sie erschrocken.

Er grinste gequält.

„Was ist passiert? Bist du gestürzt?“

„Das war das Monster im Wald.“ Seine Antwort klang ebenso verwundert wie angestrengt.

Irritiert hielt Artemis inne. Monster? Vielleicht wollte er geheimnisvoll rüberkommen, angeberisch, oder er versuchte etwas Peinliches zu überdecken. Absurderweise fühlte es sich für sie nicht so an.

Sie lachte nervös, als hätte er einen Witz gemacht, den sie nicht kapierte. In Wahrheit wurde sie jedoch das Gefühl nicht los, dass sie gerade etwas ganz besonders Wichtiges nicht verstand.

„Wieso bist du hier? Was ist passiert?“ Trotz ihrer Frage wurde sie das irrwitzige Gefühl nicht, dass sie das eigentlich wissen müsste. Eine Gänsehaut überlief ihren Rücken. Hastig schob sie diese Gedanken beiseite und half ihm, die blutbefleckte Jacke auszuziehen.

„Scheiße“, sagte er. „Geht es dir gut? Artemis?“

Sie reagierte nicht, weil sie das Starren nicht lassen konnte. Dass seine Fragen keinen Sinn ergaben, passte nur zu gut zu der gesamten Situation. Es hätte sie auch nicht gewundert, wenn plötzlich ein Raumschiff gelandet wäre und Captain Spock persönlich verraten hätte, dass sie hier bei der versteckten Kamera waren. Ihr Schauder verstärkte sich, diesmal ließ sie die Gedanken aber nicht zu. Sie schob alles, was mit dem Gefühl der Unwirklichkeit zu tun hatte, weit zurück.

„Geht es dir gut?“, wiederholte er langsam und mit demonstrativen Pausen zwischen jedem Wort, als ob er sie für dumm hielt.

Nervös sah sie ihm in die Augen. „Ich habe ein komisches Gefühl“, gestand sie mit zittriger Stimme. Warum raste ihr Herz so? „Als würde etwas fehlen.“

„Viele Menschen können kein Blut sehen“, antwortete er, klang dabei jedoch, als hätte er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen.

„Das ist es nicht. Es ist …“

„Ein Déjà-vu?“

Sie schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil“, murmelte sie und sah mit an, wie er sich nun den Pullover auszog. Als er mit nackter Brust vor ihr kniete, konnte sie die Wunde deutlich erkennen. Drei große, blutige Streifen liefen ihm quer über den rechten Oberarm. Sie hatte noch nie eine so große Wunde gesehen. Ihr wurde übel. Dass Ben lediglich zitterte, sonst aber ganz konzentriert bei der Sache war, war irgendwie das am meisten Beunruhigende an der Situation.

Er zeigte auf seinen Rucksack, der etwas abseits auf dem Boden lag. „Gib mir bitte den Verbandskasten aus meiner Tasche.“

Obwohl es gar nichts mit seiner Bitte zu tun hatte, kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wann hatte sie die Party verlassen? Wie lange war sie bereits hier?

Sie warf einen Blick auf ihren letzten Post. Sie hatte das Bild vor zwanzig Minuten veröffentlicht. Das war keine lange Zeit. Es fühlte sich aber so an. So, als wäre mehr passiert, als dass sie einfach nur hier gestanden und geträumt hätte. Viel mehr.

Sie sah wieder auf und blickte in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Entsetzt fuhr sie zusammen und ermahnte sich, nur nicht den Verstand zu verlieren. Was dachte sie jetzt an ihre Partyfotos, wo Ben vor ihr saß und halb verblutete.

Reiß dich gefälligst zusammen!