Ich bin da noch mal hin - Anne Butterfield - E-Book
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Ich bin da noch mal hin E-Book

Anne Butterfield

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Beschreibung

Mit einem Vorwort von Hape Kerkeling Im Juni 2001 wanderte Anne Butterfield zum ersten Mal auf dem Jakobsweg und fand in Hape Kerkeling einen prominenten Mitstreiter. Doch irgendwie vermisste die Engländerin damals das intensive Gefühl des Pilgerns. Deshalb begibt sie sich 2010 erneut auf den Weg nach Santiago de Compostela. Ihren Plan, die Strecke diesmal mit dem Fahrrad zurückzulegen, muss sie jedoch bald aufgeben. Sie erreicht ihr Ziel schließlich wieder zu Fuß, aber diesmal mit der Demut und Gelassenheit, die sie sich 2001 vergeblich gewünscht hatte. Leidenschaftlich und selbstkritisch erzählt die Autorin von ihren Strapazen, persönlichen Schwächen sowie nationalen Eigenheiten. Und sie reflektiert über ihre erste Wanderung und ihren Seelenverwandten Hans Peter, der ihr zu einem guten Freund wurde.

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Dieses Buch sei all den hospitaleros und hospitaleras in den Herbergen entlang des Camino Francés und mit ihnen dem ganzen spanischen Volk gewidmet, das die Pilger so gastfreundlich aufnimmt.

Übersetzung aus dem Englischen von Katharina Förs und Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif

Mit einem Vorwort von Hape Kerkeling

Mit 30 Fotos und 9 Karten

Der Verlag dankt für die Genehmigung zum Abdruck aus:

David Wesson (Hrsg.): Pilgrim Guides to Spain. 1. The Camino Francés 2001;William Bisset (Hrsg.): Pilgrim Guides to Spain. 1. Camino Francés.Saint-Jean-Pied-de-Port to Santiago de Compostela. Holy Year 2010.

© 2001 und 2010 Confraternity of Saint James, London SE1 8NY, www.csj.org.uk

Millán Bravo Lozano: Praktischer Pilgerführer: Der Jakobsweg.Übersetzt von Guillermo Raebel. (ISBN 84-241-3835-X)© Edition Everest, Madrid, 1998

Friedhelm Kemp / Werner von Koppenfels (Hrsg.): Englische und amerikanische Dichtung. Übersetzt von Werner von Koppenfels, C. H. Beck 2000. Für das Gedicht „Das glückliche Leben“ von Henry Howard © Werner von Koppenfels

Patricia Blanco, Sin saberlo, se volvío famosa. © La Voz de Galicia S.A., Polígono de Sabón, Arteixo, a Coruña (España), 10. Juli 2010

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95529-4

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2012 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vorwort

Im Jahr 2001, als ich mich erschöpft fühlte und eine Ruhepause brauchte, spendierte ich mir eine Auszeit und machte mich auf den Jakobsweg von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela. Ich hatte keinerlei Vorstellung, welche Strapazen mich erwarteten, und wusste auch nicht, wie viele Pilger vor dem Ziel aufgeben. Zwar war ich guter Dinge, es zu schaffen, doch viel mehr als eine kleine Atempause in meinem hektischen Leben erwartete ich mir nicht. Aus dieser Pilgerwanderung entstand mein Buch »Ich bin dann mal weg«, das 2006 erschien.

Dass ich schließlich tatsächlich in Santiago ankam, verdanke ich dem Gemeinschaftsgefühl, das auf dem Camino herrscht, aber vor allem Anne Butterfield, deren liebenswertes Buch nun seinen Platz neben meinem einnehmen wird – in gewisser Weise als literarische Nachzeichnung unseres gemeinsamen Camino. Annes Gesellschaft war das Gegengift, das mich aus meiner gelegentlich etwas trübseligen Innenschau riss. Ihre ansteckende Begeisterung half mir über so manche schwierige Etappe hinweg.

Umso mehr erfüllt es mich mit Stolz, dass ich zur Entstehung von »Ich bin da noch mal hin« beitragen konnte: »Anne, du solltest schreiben!«, riet ich ihr im Jahr 2001, als sie mir die ein oder andere lange Wanderstunde mit ihren fesselnden Erzählungen verkürzte. Und ich freue mich sehr, dass die Leser meines Buches nun das Vergnügen haben werden, Annes Sichtweise kennenzulernen. Sie empfand den Camino im Jahr 2010, als sie sich ein zweites Mal auf den Weg nach Santiago de Compostela machte, belebter und schreibt das verstärkte Wanderaufkommen zum großen Teil der Veröffentlichung von »Ich bin dann mal weg« zu – sollte das wirklich der Fall sein, so wird ihr faszinierendes Buch sicherlich für ein weiteres Ansteigen der Pilgerzahl sorgen. 2010 war außerdem ein Fußball-WM-Jahr, und so wurde ihre Pilgerwanderung eine Mischung aus Tragödie, Komödie, Sinnsuche und irdischem Vergnügen in Gestalt von Fußball, guten Gesprächen und Wein.

Die Lektüre von »Ich bin da noch mal hin« hat mir unsere gemeinsame Wanderung und die vielen Freuden, die der Camino dem müden Wanderer zu bieten hat, in Erinnerung gerufen. Ich musste immer wieder laut auflachen, so wie Anne und ich 2001 oft über die Torheiten des Lebens gelacht haben, die einem auf dem schmalen Pfad des Camino in konzentrierterer Form begegnen als auf der breiten Straße des normalen Lebens. Dieses Erlebnis hat uns beide spirituell bereichert, wobei wir unsere philosophischen Diskussionen ebenso gern bei einer Tasse Kaffee wie auf dem Wanderweg führten. Es beruhigt mich, dass Cafés und Bars für Anne auf ihrem Camino 2010 noch genauso wichtig waren wie 2001. Ich habe auch Shelagh nicht vergessen, eine andere treue Gefährtin, die uns immerzu antrieb, als wären wir zwei verwöhnte Kinder. Bei Annes Rückblicken auf diese Begebenheiten muss auch ich lächeln.

Im Jahr 2001 wurde Annes Bereitschaft, jederzeit über einem Kaffee herumzutrödeln, nur noch von ihrer Entschlossenheit übertroffen, sich keine Sehenswürdigkeit des Camino entgehen zu lassen. Annes profunde Kenntnisse der Geschichte und Architektur des Camino haben mich damals beeindruckt – diese Kenntnisse und ihre anschaulichen Beschreibungen der Landschaft sowie ihrer Begegnungen mit den verschiedensten Pilgern verschmelzen in ihrem Buch zu einer lebendigen Schilderung dessen, was wir beide »einen langen Spaziergang mit viel Rotwein« nannten.

Mit Anne auf ihrer zweiten Reise nach Santiago (die sie zunächst mit dem Fahrrad begann – wozu ich ihr sicher nicht geraten hätte!) in Kontakt zu bleiben, war für mich eine Art Ersatz dafür, diesmal nicht an ihrer Seite sein zu können. Es berührt mich sehr, wie ihre Wanderung im Jahr 2010 von den freundlichen Schatten unserer damaligen Erlebnisse erfüllt wurde. Manchmal rätsele ich noch immer, wie es gelingen konnte, dass ich, eine bekennende Couch-Potato von 1 Meter 88, und Anne, eine erfahrene Wandererin von kaum 1 Meter 50, so ohne Weiteres auf dem Camino zusammen Seite and Seite marschiert sind und eine Freundschaft schlossen, die bis zum heutigen Tag Bestand hat.

Ich muss natürlich darauf hinweisen, dass Anne, wie alle geborenen Geschichtenerzähler, von Zeit zu Zeit etwas übertreibt. So habe ich beispielsweise diesen Hund nicht etwa gestohlen, sondern ihn gerettet. Doch meistens zeigt ihre Version dieser nun schon länger zurückliegenden Begebenheiten, die sie mit ihrem herzerfrischenden Humor schildert, unsere sehr ähnliche Sichtweise auf das Leben.

Meine Pilgerreise des Jahres 2001 zählt für mich zu den großen Leistungen meines Lebens, und die »lustige kleine Pilgerin mit dem Barcelona-T-Shirt«, die mir dort über den Weg lief, hat daran einen großen Anteil. Doch die Wanderung des Jahres 2010 gehört Anne, und ihr allein. Das Buch, das daraus entstanden ist, lege ich allen Lesern und Leserinnen ans Herz. Ich bin sicher, Annes Witz und ihre tiefen Einsichten werden alle Leser, die sich ihr auf diesem Weg anschließen, bezaubern und bestens unterhalten.

Ultreya, Pilger!

Hape KerkelingDezember 2011

Einleitung

Am 9. Juni 2001 kam in der kleinen Stadt Saint-Jean-Pied-de-Port in den französischen Pyrenäen ein sechsunddreißigjähriger Mann an, der sich freimütig dazu bekannte, eine Couch-Potato zu sein. Er mietete sich im Hôtel les Pyrénées ein und ging ungewöhnlich früh zu Bett, um für die vor ihm liegenden Aufgaben gerüstet zu sein. Dieser bescheidene, aber sehr bekannte Deutsche plante, am folgenden Tag die Pyrenäen zu überschreiten und anschließend von Roncesvalles aus fast achthundert Kilometer bis nach Santiago de Compostela in der nordwestlichen Ecke Spaniens zu gehen. Für Freunde, die ihn als einen Menschen kannten, der am liebsten auf dem Sofa hockte, war das überraschendste Merkmal dieser Reise, dass er zu Fuß nach Santiago gehen wollte. Was hatte diesen Mann, der das Wandern hasste, bewogen, einen solchen Kraftakt zu wagen? Er war erschöpft und brauchte körperlich wie seelisch Erholung. Und er war neugierig. Zwar ist jeder Fernwanderweg eine ganz eigene Sache, doch dieser spezielle Pfad stand in einem außergewöhnlichen Ruf, und er wollte die ihm zugeschriebenen einzigartigen Vorzüge selbst erleben.

Es handelte sich um keinen Geringeren als Hans-Peter (Hape) Kerkeling, den schon damals in Deutschland sehr bekannten Fernsehkomiker.

Ohne dass der Deutsche es wusste, war bereits vier Tage zuvor, am 5. Juni, eine dreiundvierzigjährige Engländerin aus Liverpool in Saint-Jean-Pied-de-Port eingetroffen, um den gleichen Weg anzutreten. Sie verbrachte eine unruhige Nacht in ihrem Zelt oberhalb der Stadt, und am 6. Juni kraxelte sie über die Pyrenäen nach Roncesvalles. Auch sie war von ihrer anstrengenden Arbeit erschöpft und hoffte, auf dem Weg nach Santiago de Compostela zu ihrer vollen Kraft zurückzufinden. Im Gegensatz zu Hans-Peter wanderte sie sehr gern und hatte steile Bergpfade stets einem Strandurlaub vorgezogen. Gemeinsam hatte sie mit ihm, dass auch ihre Neugier auf die kulturellen und spirituellen Dimensionen des legendären Weges durch Nordspanien erwacht war. So wurde sie wie Hans-Peter und Tausende anderer Menschen Pilgerin auf dem Camino nach Santiago de Compostela.

Es handelte sich um Anne Butterfield, eine einigermaßen unbekannte Biologielehrerin aus England.

Obwohl Anne ein paar Tage vor Hans-Peter aufgebrochen war, hätte er weit vor ihr sein müssen, da er zunächst häufig öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Erstaunlicherweise kreuzten sich dennoch am 14. Juni in Logroño, am 17. Juni in Santo Domingo und am 1. Juli in León ihre Pfade. Später konnte keiner von beiden erklären, warum sie erst in Astorga am 4. Juli wirklich in Kontakt kamen. Von diesem Tag an bildeten sie zusammen mit einer anderen neuen Freundin, Shelagh (oder Sheelagh, wie Hans-Peter den Namen später schreibt) aus Neuseeland, ein unzertrennliches Trio. Da die beiden Frauen zunächst nichts von Hans-Peters Berühmtheit wussten – beide nannten ihn seit dem Tag ihrer ersten Begegnung einfach nur Hans –, konnte er sich in ihrer rechtschaffen unbeeindruckten Gesellschaft entspannen. Am 20. Juli 2001 erreichten sie das Grab des heiligen Jakob in Santiago de Compostela, nahmen voneinander Abschied und kehrten in ihr normales, so unterschiedliches Leben zurück.

Ihre Freundschaft hatte Bestand, doch ihre Abenteuer erlitten das gleiche Schicksal wie die der meisten Pilger im Laufe der Jahrhunderte – sie verblassten zu Erinnerungen einer segensreichen Auszeit vom richtigen Leben. Doch vier Jahre nach ihrer Ankunft in Santiago geschah etwas, das alles verändern sollte.

2005 war Hans-Peter im deutschen Fernsehen in der Talkshow von Sandra Maischberger zu Gast. Vor der Sendung hörte Frau Maischberger im Flur ein Gespräch zwischen ihm und ihrem anderen Gast, dem Südtiroler Bergsteiger und Autor Reinhold Messner mit. Sie überredete Hans-Peter, die gleiche Geschichte auch den Zuschauern zu erzählen – die Geschichte seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Mitarbeiter des Münchner Piper Verlags, der auch Messners Bücher herausbringt, sahen die Sendung ebenfalls. Sie kontaktierten den Fernsehkomiker und regten eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen an, die er während seiner Pilgerreise gemacht hatte.

»Ich bin dann mal weg« erreichte bereits in den ersten Wochen rekordverdächtige Verkaufszahlen. Das Buch blieb zwei Jahre lang die Nummer eins in der Sachbuch-Bestsellerliste, nur zwei Wochen durch Papst Benedikts Jesus-Biografie von diesem Spitzenplatz verdrängt. Inzwischen hat sich »Ich bin dann mal weg« allein auf Deutsch vier Millionen Mal verkauft.

Shelagh und Anne wurden in Deutschland berühmt und Hans-Peter international gefeiert. Ein anonymer Pilger aus Liverpool veröffentlichte 2008 auf der Website der New York Times einen Kommentar zum Phänomen »Ich bin dann mal weg«:

»Hape Kerkeling freundet sich mit einer Frau namens Anne aus Liverpool an, die Biologin ist und eine Brille trägt wie Harry Potter. Ich bin vor Kurzem den Camino gegangen und wurde häufig gefragt, ob ich Anne kenne. Seltsam, dass eine Frau aus Liverpool in Deutschland berühmter sein soll als Kevin Keegan, Kenny Dalglish und Ken Dodd. Sehr wahrscheinlich ist sie sogar berühmter als John, Paul, George und Ringo. Und vermutlich weiß sie es noch nicht einmal.«

Inzwischen weiß sie es. Ich kann es Ihnen mit Gewissheit sagen, denn ich bin Anne.

Doch warum traf Hans’ Bericht unserer Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Deutschland einen Nerv und bewog so viele seiner Landsleute, es uns nachzutun? Meine Erinnerung an eine lange Wanderung durch ein heißes, brettebenes Weizenfeld kann diese Frage nicht beantworten. Um den Reiz des Camino zu begreifen, würde ich ihn noch einmal gehen müssen. Ich würde in meine eigenen Fußstapfen treten und dieses Mal dem kulturellen, spirituellen und legendären Zauber des Camino mehr Aufmerksamkeit widmen. Ich würde selbst Tagebuch führen und, sofern die Fußballweltmeisterschaft 2010 es erlaubte, meine Abenteuer ganz bewusst wahrnehmen, um meine Frage beantworten zu können.

Dieses Buch ist die Geschichte meiner Rückkehr auf den Camino und meiner Suche nach seinem Sinn. Ich werde Ihnen verraten, was er für mich war und ist, mit und ohne meinen guten Freund Hans-Peter Kerkeling.

Anne ButterfieldLiverpool, Dezember 2011

Besonderer Dank an meine Reiseführer

Den Weg nach Santiago finden die Pilger ganz einfach: Sie brauchen nur den gelben Pfeilen zu folgen. Aber sie müssen natürlich etwas mehr wissen als bloß, in welche Richtung es geht. Daher möchte ich auch den beiden Pilgerführern danken, die ich 2001 und 2010 benutzt habe und die mir unterwegs hervorragende Dienste leisteten.

»Praktischer Pilgerführer: Der Jakobsweg« von Millán Bravo Lozano ist mir ein unentbehrlicher Weggefährte gewesen. Professor Millán Bravo hat Wegbeschreibungen, Fotos und Hintergrundinformationen gekonnt zu einem herausragenden Buch zusammengestellt. Einen besonderen Reiz des Werkes stellen die spannenden Auszüge aus den Tagebüchern von vier historischen gläubigen Pilgern dar: Aymeric Picaud, Hermann Künig von Vach, Arnold von Harff und Domenico Laffi gingen zwischen 1130 und 1673 auf Pilgerreise, aber ihre höchst amüsanten und anschaulichen Berichte spiegeln Erfahrungen, die auch die Pilger von heute noch machen.

Ich möchte Editorial Everest, Professor Millán Bravos Verlagshaus in León, Spanien, dafür danken, dass ich die Worte dieser historischen Pilger und auch Millán Bravos eigene Beschreibungen zitieren durfte. Immer, wenn ich aus dem gelehrten Text des Professors geschöpft habe, um meine eigenen Schilderungen zu ergänzen, habe ich den »Lozano« eigens erwähnt.

»Pilgrim Guides to Spain, 1: The Camino Francés« ist eine ganz andere Art von Buch, aber ebenso nützlich. In dem zierlichen, gelben Band sind alle kleinen und großen Dörfer und Städte zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und Santiago de Compostela aufgelistet. Es finden sich darin sowohl die Entfernungen zwischen den einzelnen Orten als auch Informationen über Nachtquartiere, diverse öffentliche Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten. Veröffentlicht und regelmäßig aktualisiert wird dieser Führer von der Confraternity of Saint James (Jakobus-Gesellschaft) in London, einer Gesellschaft begeisterter Camino-Anhänger. Auf meiner ersten Pilgerreise hatte ich die Ausgabe aus dem Jahr 2001 dabei, beim zweiten Mal erwarb ich die Ausgabe zum heiligen Jahr 2010.

In meinem Buch bezeichne ich den Führer der Confraternity immer als mein »Gelbes Buch«. Ganz herzlich danke ich der Confraternity of Saint James und den Herausgebern der beiden Büchlein für die Erlaubnis, wichtige Hinweise, denen ich 2001 wie 2010 treu gefolgt bin, zu zitieren. Alle diesen Büchern entnommenen Zeilen und Passagen sind entsprechend gekennzeichnet.

Detaillierte Angaben zu diesen Reiseführern finden sich in den Quellenangaben.

Abreise und Ankunft

Yorkshire in England –Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich

Dienstag, 8. Juni 2010

Abreise: Yorkshire in England per Bus - Bayonne in Frankreich

Mittwoch, 9. Juni 2010

Ankunft: Bayonne - Saint-Jean-Pied-de-Port

Dienstag, 8. Juni 2010 – Abreise

Ich reise von Yorkshire in England per Bus nach Bayonne in Frankreich

Es ist vier Uhr morgens und noch dunkel, als ich das Fahrrad aus seinem Übernachtungsquartier in der Küche meiner Eltern hole und in meinen Fiat Punto verfrachte. Dann hole ich die drei Taschen, die von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela am Fahrrad befestigt sein werden. Ich mache mich wieder auf den Camino, diesmal nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Die ganze Strecke, hin und zurück. Wenn ich radle, so meine Logik, bleibt mir mehr Zeit für die Städte am Weg. Ich werde mehr Kirchen und Sehenswürdigkeiten besichtigen können und abends früh genug in den Herbergen eintreffen, um mit anderen Pilgern in Kontakt zu kommen. Da ich den Weg in beiden Richtungen zurücklege, werde ich doppelt so viele Leute kennenlernen und doppelt so viele Informationen aufnehmen können. Und dadurch wird sich mir, so meine Hoffnung, die Bedeutung des Camino ein für alle Mal erschließen.

Rückblickend ist es erstaunlich, dass jemand, der den Camino schon einmal – wenn auch vor neun Jahren – komplett durchwandert hat, ein fundamentales Prinzip seiner Philosophie derart aus den Augen verlieren konnte: Der Weg ist wichtiger als das Ziel. Es ist eine Pilgerreise, also eine längere körperliche Anstrengung, die zur spirituellen Läuterung des Pilgers beitragen soll. Doch in meiner Hast, aus England wegzukommen, war mir dieser grobe Denkfehler gar nicht aufgefallen. Ich war im Vorfeld so sehr mit dem Zusammentragen der Fahrradausrüstung beschäftigt gewesen, dass klare Gedanken über den Zweck des Camino gar keinen Platz mehr fanden.

Auf der Fahrt von Birstall, wo ich meine Kindheit verbracht habe und meine Eltern heute noch leben, zur Bushaltestelle nahe der Autobahn kann ich nur an das Zeug in meinen Gepäcktaschen denken. Was ist da bloß alles drin? Warum brauche ich das? Zu Hause in Liverpool habe ich eine Serie von Postkarten, auf denen Familien aus verschiedenen Kulturen vor ihren ärmlichen Behausungen stehen und stolz ihre gesamte weltliche Habe präsentieren. Väter und Mütter lächeln neben ihrem Schrank und dem Wollteppich, die sie für das Foto auf den Hof geschleppt haben. Kinder halten freudestrahlend ihr geliebtes Haustier oder Musikinstrument im Arm. Mir ist bewusst, dass ich den Camino mit einer Last von mehr weltlichen Besitztümern antrete, als einige der Familien auf den Postkarten je besessen haben.

Wie soll ich es bloß den Col de Lepoeder – mit 1410 Metern Höhe höchster Punkt auf der Strecke von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles auf der traditionsgemäß ersten Etappe des Camino Francés – bewältigen? In Liverpool radle ich maximal die knapp drei Kilometer zum Kino an der Wood Street. Die längste Strecke, die ich jemals an einem Tag geradelt bin, waren knapp neunzig Kilometer von Amsterdam nach Rotterdam. Reicht es zur Vorbereitung auf mein Vorhaben, den Hügel an der Liverpool Cathedral hinaufzufahren oder einmal im flachsten Land der Welt unterwegs gewesen zu sein? Nein, tut es nicht. Aber das ist mir jetzt noch nicht klar.

Um in Spanien beim Packen den Überblick nicht zu verlieren, habe ich in meinem Notizbuch eine Liste des Inhalts von den beiden bauchigen Fahrradtaschen erstellt. Außerdem habe ich noch eine dritte, kleinere Tasche, die hinter dem Sattel befestigt ist. Was ich da reingepackt habe, steht auf keiner Liste, also werde ich jeden Morgen Gefahr laufen, ihn in der Herberge zu vergessen, da mein Gehirn »keine Liste« mit »kein Inhalt« gleichsetzt. Die Tatsache, dass die leere Satteltasche mehr wiegt als ihr Inhalt, ärgert mich maßlos. Ob ich es wohl am Donnerstag überhaupt auf den Col de Lepoeder schaffe? Irgendetwas stimmt nicht mit dem Fahrrad, denke ich, als ich durch das Tor der Broadcut Farm fahre, wo mein Auto die sieben Wochen meiner Pilgerfahrt verbringen wird.

Als ich im Hof der Farm das Fahrrad aus dem Auto zerre, kommt durch den Schlamm eine richtige Radfahrerin herangestapft und hilft mir.

»Aha, ich sehe, Sie setzen auf Tempo«, meint sie, ganz Expertin.

Wie bitte? Was meint sie bloß? Mich oder das Fahrrad? Jedenfalls bestimmt nicht die fünfzehn Kilo Gepäck, die noch im Auto versteckt sind. Ich folge ihrem Blick und sehe, dass sie die Reifen bewundert, die schmaler sind als bei ihrem Mountainbike.

Ich unterdrücke einen weiteren Anflug von Selbstzweifel, befestige die Taschen am Fahrrad und schiebe das Monstrum über die Straße, um auf den Bus nach Bayonne warten.

Mit mir stehen neun weitere Menschen im Nieselregen unter den Bäumen. Die Fahrräder liegen im nassen Gras – eine letzte Verschnaufpause vor der großen Bewährungsprobe. Meine Doc Martens leiten die Feuchtigkeit bereits durch meine Aldi-Fahrradsocken. All meine Radfahrerkollegen, sämtlich mit anständigen Fahrradschuhen ausgestattet, werden morgen irgendwo in Frankreich aussteigen, um auf Landstraßen oder an Kanälen entlang in ihr Ferienabenteuer zu starten. Ich bin die Einzige im Bus, die vorhat, nach Santiago zu radeln. Angesichts der zahlreichen widrigen Faktoren – das viele Gepäck, die mangelnde Gesellschaft, meine Unerfahrenheit als Radfahrerin – nehme ich etwas besorgt und nervös in dem Doppeldeckerbus Platz. Ich komme mir wie eine Außenseiterin vor und blinzle angestrengt in den Regen hinaus, als wir über die M 1 Richtung Dover zur Fähre nach Frankreich losfahren.

Nach ganzen zehn Minuten Fahrt durch das miese Wetter halten wir an der Raststätte Woolley Edge zum Frühstücken an. In meiner gelben, wasserdichten Fahrradjacke versuche ich, zünftig auszusehen, und blättere ganz lässig im Sportteil des Guardian, als die Radlerin aus dem Bauernhof mich fragt, wohin meine Reise geht.

»Ich fahre den Camino nach Santiago de Compostela«, antworte ich.

Auf ihren verständnislosen Blick hin beschreibe ich ihr die Route, doch auch das hilft nichts. Sie hat noch nie vom Camino gehört. Typisch. Seitdem ich den Weg vor neun Jahren zum ersten Mal zurückgelegt habe, machte die bloße Erwähnung immer wieder langatmige geografische Beschreibungen und einen Abriss der Biografie des heiligen Jakob notwendig. Am Ende war ich jedes Mal total erledigt, darum spreche ich nur darüber, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Von ein paar aficionados einmal abgesehen kennt kaum jemand in England den Camino. Spanien verbinden Engländer vor allem mit zwei Dingen: mit Benidorm und den Balearen, wo wir uns gegen die Deutschen im Handtuchkrieg behaupten müssen, also jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe Liegestühle am Pool besetzen, um unser Revier abzustecken. Als Teenager mussten meine Schwester Jane und ich das jeden Sommer während der Familienferien in Ca’n Picafort oder Cala Millor übernehmen. Meine Eltern wollten sich nicht selbst dazu herablassen, legten aber trotzdem größten Wert darauf, den Deutschen bei den besten Liegestühlen am Pool zuvorzukommen. In ihrer von englischen Boulevardzeitungen geprägten Sicht der Welt waren die Deutschen eine aggressive Meute ungehobelter Rüpel, denen Widerstand zu leisten unsere patriotische Pflicht war. Als ich sechzehn und Jane fünfzehn wurde, war uns dieses primitive Manöver so peinlich geworden, dass wir die Aufgabe unseren kleineren Geschwistern Elizabeth und Robert übertrugen und so morgens länger liegen bleiben konnten. Wir hatten unsere Pflicht fürs englische Mutterland getan.

Von der Liege aus, die ich morgens »erobert« hatte, verfolgte ich den Kampf der Kulturen. Zwischen halb geschlossenen Lidern hindurch beobachtete ich die Deutschen und kam zu dem Schluss, dass sie, nun ja, genau so waren wie wir. Genau so. Sie tranken jede Menge Bier und lachten permanent sehr laut. Leider hatte ich in der Schule Latein gewählt und nicht Deutsch. Warum? Hatte ich geglaubt, es sei wahrscheinlicher, in den Ferien einen römischen Zenturio kennenzulernen als einen deutschen Jugendlichen? Erst 2001 konnte ich dieses Versäumnis beheben, indem ich mich, auf dem Camino unterwegs in Richtung Santo Domingo de la Calzada, mit einem dieser inzwischen schon deutlich reifer gewordenen deutschen Jugendlichen in Gestalt von Hans-Peter Kerkeling anfreundete.

Unser nächster Halt ist Sheffield, wo ein verkrampfter Radfahrer in der allgegenwärtigen gelben Jacke sich im Buswartehäuschen vor dem Regen versteckt hat. Er wirkt verschreckt, als er mit seinen sechs Taschen in den Bus steigt – mehr Zeug, als eine typische Familie in Bhutan überhaupt besitzt. Nachdem er neben mir Platz genommen hat, gesteht er, dass er sein kanadisches Fahrrad eben erst im Internet erstanden hat und er sich kaum vorstellen kann, was ihm bevorsteht. Sein Entschluss, sich künftig mit Radfahren fit zu halten, sei noch sehr frisch. Wir erkennen einander als Nicht-Radfahrer, entspannen uns und gestehen uns gegenseitig unser Entsetzen darüber, wie viel Organisation und Ausrüstung für so eine Fahrradreise vonnöten ist. Ich ziehe meine Satteltasche vom Boden hoch, wobei ich mir fast einen Bizepsriss hole, und fördere das Multi-Tool zutage.

»Weißt du, was das ist?«, frage ich Steve.

»Äh, vielleicht zum Reparieren eines kaputten Kettenglieds?«, schlägt er vorsichtig vor.

»Ja. Das hat man mir im Laden gesagt. Aber wie es funktioniert, weiß ich nicht, du vielleicht?«

»Ungefähr. Nicht so richtig.«

Wir sehen einander ins Gesicht und brechen in schallendes Gelächter aus.

»Ach, Steve, was soll bloß aus uns werden?«, stöhne ich.

»Weiß Gott, das müssen wir einfach unterwegs herausfinden«, gibt er zurück.

Nachdem wir uns auf diese Weise Mut gemacht haben, fühlen wir uns besser und plaudern noch lange, bis wir um Mitternacht irgendwo in der Nähe von Paris in den Schlaf sinken.

Aber vorher, in Leicester, liest der Doppeldeckerbus noch weitere Fahrradfreaks auf. Darunter auch eine Frau, die beim Einsteigen schreit: »Bloß nichts auf meine Hose, das ist meine einzige!«

Blut rinnt hinter ihrem rechten Ohr herunter, läuft ihr den Nacken entlang und landet auf dem Boden. Als sie einsteigen wollte, war vom Anhänger eine Leiter gefallen und hatte sie am Hinterkopf getroffen. Mike, der eine Reihe vor mir sitzt, ist Arzt. Er springt auf, wischt das Blut mit einem Taschentuch ab und versichert ihr, die Wunde sei nicht so dramatisch, wie sie aussieht. Steves Kopf hat sich zu meiner Seite geneigt und sein Gesicht eine graugrüne Farbe angenommen. Mit glasigem Blick gleitet er von seinem Sitz.

»Mike, Mike!«, rufe ich den Arzt, der gerade die blutende Frau in die obere Etage des Busses begleitet. »Steve wird ohnmächtig!«

Mike springt die Treppe wieder herunter und zieht Steve vorsichtig in den Gang. Dort soll Steve, so ordnet er an, liegen bleiben, bis er sich ein wenig erholt hat, und Gary, der für die heruntergefallene Leiter verantwortlich ist, muss über ihn hinwegsteigen, um für die Verletzte, Steve und den Arzt Tee zu machen. Gary stolpert nicht, also nimmt das kleine Drama nun wohl eine glücklichere Wendung. Wir sind doch erst in Leicester! Das wird bestimmt ein ereignisreicher Camino, schließe ich daraus.

Die weitere Reise verläuft ohne Zwischenfälle. Die weißen Klippen von Dover stürzen nicht ins Meer, unsere Fähre sinkt nicht auf dem Weg über den Ärmelkanal, und in Frankreich gibt es zumindest heute keinen Streik gegen die Sparmaßnahmen, mit denen Europa überzogen wird. Allerdings schürt Steve meine Ausrüstungsängste, als wir nebeneinander auf dem sonnenbeschienenen Deck sitzen und er meine Schuhe entdeckt.

»Was sind denn das für Latschen?«, erkundigt er sich und blickt dabei auf meine Füße. Ich wünschte, er würde unserer berühmten Küste mit den Kalkfelsen mehr Aufmerksamkeit widmen.

»Was soll das heißen, ›Latschen‹? Schuhe eben.«

»Aber was für welche?«, beharrt er.

»Doc Martens.«

»In denen willst du ja wohl nicht Rad fahren, oder?«

»Wieso nicht? Es sind meine bequemsten Schuhe. Sie haben sich schon in Holland beim Radeln bewährt.«

»Wie sollen deine Füße da drin atmen? Da kriegst du ja die Fußfäule«, behauptet er hartnäckig.

Inzwischen geht Steve mir auf die Nerven. Ich atme ja schließlich mit meinen Lungen und nicht mit den Füßen.

Mit einem missbilligenden Blick verschwindet Steve ins Restaurant und lässt mich in einem Zustand der Ausrüstungsneurose vor mich hin brüten. Ich gehe in Gedanken neun Jahre zurück und versuche das Bild eines Fahrradladens in Saint-Jean-Pied-de-Port heraufzubeschwören, wo ich ein Paar wasserdichte, atmungsaktive Fahrradschuhe in Blau und Gold (den Farben meiner bevorzugten Fußballmannschaft Leeds United) erstehen kann. Fast sehe ich sie schon an meinen glücklichen, atmenden Füßen, aber an Saint-Jean-Pied-de-Port habe ich keinerlei Erinnerung. Wie sieht es bloß dort aus? Ich entsinne mich nur eines Mannes, der mir mein credencial (den Pilgerausweis) über einen kleinen Tisch reicht, bevor ich aus einer Schachtel meine Muschel aussuche.

Die Nacht senkt sich über den European Bike Express, der durch Frankreich auf Bayonne zusteuert. Die Passagiere bestellen Lasagne aus der Mikrowelle und Rotwein, Gary bringt uns alles an den Platz. Wir lesen unsere Sportteile, Fahrradzeitschriften und Romane, bis wir einer nach dem anderen in den Schlaf gleiten. Ich frage mich, wo ich wohl sein werde, wenn am kommenden Samstag Englands erstes Weltmeisterschaftsspiel gegen die USA stattfindet? Mein Reiseplan sieht lediglich vor, dass ich bis Santiago kommen und am 25. Juli wieder in Bayonne sein möchte, um dort den Bus zurück nach Yorkshire zu nehmen. Sechs Wochen und fünf Tage, um den Camino hin und zurück mit dem Fahrrad zu bewältigen. Also mehr Zeit als genug …

Mittwoch, 9. Juni 2010 – Ankunft

Ich reise per Bus von Bayonne in Frankreich nach Saint-Jean-Pied-de-Port

Um acht Uhr weckt mich Garys Ankündigung, dass wir in zwanzig Minuten an einer aire, einem Rastplatz, halten werden. Ich habe mich fest in den Schlafsack gerollt, den ich am Abend hinter meinem Sitz gefunden hatte. Steve ist fort. Er ist um vier Uhr morgens in Poitiers ausgestiegen, ohne dass ich irgendetwas davon mitbekommen hätte, obwohl es wie eine Stockhausen-Symphonie geklungen haben muss, als er all seine Plastiktüten und Fahrradtaschen zusammengesucht hat. Ich ziehe die Frühstückskarte aus der Tasche vor meinem Sitz und sehe, dass aus dem Netz auch ein Zettel von Steve ragt:

»Liebe Anne – war nett, dich kennenzulernen – melde dich doch mal, wenn du willst, wäre nett, zu hören, wie du vorankommst. Pass auf dich auf – alles Gute – Steve.

PS. Bitte grüß auch Mike von mir und wünsch ihm alles Gute. Danke.«

Ich richte Mike sofort die Grüße aus. Solche Kameradschaft, wie sie schon hier im Bus entstanden ist, ist einer der Gründe, warum ich so oft in die Ferne reise. Schon jetzt fühle ich mich als Teil einer Gemeinschaft, diesmal der Bruderschaft der Radfahrer, und das gibt meinem Selbstvertrauen ein wenig Auftrieb und ermutigt mich, Mike zu fragen, wie man das Multi-Tool benutzt. Er startet eine pantomimische Vorstellung, die von Jacques Tati stammen könnte. Einen Finger krümmt er als Kettenglied, an dem er sich mit diesem Reparaturdings mit weit ausholenden Gesten zu schaffen macht. Sein technischer Monolog hätte eine größere Zuhörerschaft verdient. Ich bin fasziniert, gebe aber nicht zu, dass ich kein Wort davon verstehe. Ich versuche es, strenge mich wirklich an, doch in meinem Hirn gibt es einfach keine Neuronalverbindungen für das Reparieren von Ketten. Zwar registriere ich das Grundprinzip, aber falls mir morgen auf halbem Weg den Col hinauf die Kette reißt, werde ich das Fahrrad schieben müssen, bis echte Radfahrer vorbeikommen und mir helfen – wenn mir überhaupt jemand begegnet. Ich ahne noch nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich morgen tatsächlich konfrontiert sein werde und bei denen mir das Multi-Tool rein gar nichts bringen wird. Dieses Nichtwissen ist letztendlich doch ein Segen, denn wenn ich auch nur ansatzweise wüsste, was mir bevorsteht, würde ich in diesem Bus sitzen bleiben, bis er in Bayonne wieder umkehrt und nach England zurückfährt.

Da ich aber keine Ahnung habe, steige ich wie geplant in Bayonne beim Hotel Formule 1 aus und befestige meine drei Fahrradtaschen am Gepäckträger. Es regnet, und so kann ich nicht einmal dieses Ritual durchführen, ehe ich die Aldi-Überhose aus der Satteltasche gekramt habe. Ich ziehe sie verkehrt herum an, weil sie an den Knienähten nicht hundertprozentig wasserdicht ist. Es dauert eine halbe Ewigkeit, und als ich aufblicke, lehnt nur noch mein Fahrrad einsam am Hotelzaun. Alle anderen Radfahrer, die ebenfalls in Bayonne ausgestiegen sind, haben sich längst aus dem Staub gemacht und sind wahrscheinlich schon auf halbem Weg über die Pyrenäen. Nein, doch nicht. Als ich die hässliche Ansammlung von Motels und Lagerhallen hinter mir habe, sehe ich zu meiner Erleichterung eine Gruppe der Mitreisenden vor dem ersten Café an der Hauptstraße Kaffee trinken und Croissants essen. Ist es mein Schicksal, immer die Letzte zu sein? 2001 hatte mich in Roncesvalles, wo ich morgen hoffentlich ankomme, der hospitalero durch den Schlafsack in die Zehen gezwickt, um mich aufzuwecken. Als ich zu mir kam, hatten alle anderen Pilger die Herberge bereits verlassen. Damals war ich am zweiten Tag meines Camino als Letzte aufgebrochen, und so war es bis zum Schluss geblieben.

»Ich werde als Letzte in Santiago de Compostela ankommen«, hatte ich dem hospitalero erklärt und versucht, ihm nicht im Weg zu stehen, denn er schwang bereits den Besen, während ich noch hektisch meinen Rucksack packte.

»Oh nein«, hatte er überzeugt geantwortet. »Es kommt immer noch jemand nach dir. Immer.«

Diese Erinnerung spornt mich an, und ich winke meinen Landsleuten zu, die zurückwinken. Ich bin eine richtige Radfahrerin! Auf dem Weg zum Bahnhof werde ich immer optimistischer. Und dort gibt es gute Neuigkeiten: Der Bus um 11 Uhr 47, der den ausgefallenen Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port ersetzt, nimmt auch Fahrräder mit. Wäre da nicht die Glasscheibe zwischen dem Fahrkartenverkäufer und mir, ich würde ihn küssen. Seit meiner Abreise aus England hatte mir der Gedanke, es könnte vielleicht keinen Fahrradtransport nach Saint-Jean geben, keine Ruhe gelassen. Bis jetzt, um 10 Uhr 20 am Bahnhof von Bayonne, klappt alles, einfach alles.

Ich gehe durch die Bahnhofshalle zum Café, wo eine junge Frau allein sitzt und in ihrem Notizbuch liest. Ihre kurzen grauen Wollsocken sind ordentlich über den Rand der Wanderstiefel geschlagen, die farblich mit ihrer braunen Fleecejacke harmonieren. Voller Neid betrachte ich ihren Rucksack, der an der Wand lehnt. Ein Gepäckstück. Mehr hat sie nicht dabei.

Die Schlagzeile der Le Monde am Kiosk lautet »Berlin. Madrid. Paris. Europe à l’heure de la rigueur« und erinnert mich an die Wirtschaftskrise, die uns alle betrifft. Welchen Einfluss das auf meine Reise haben könnte, kann ich nicht voraussehen, aber ich nehme an, dass ich mich auf dem Camino von weltlichen Problemen abgeschottet fühlen werde. Auf jeden Fall aber von den politischen Angelegenheiten, die Europa bewegen. Dem Alltagsleben den Rücken zu kehren, liegt natürlich im Wesen des Camino. Ich hoffe allerdings, dass dies nicht für die Fußballweltmeisterschaft gilt. Das Titelblatt der wöchentlich erscheinenden Fernsehzeitschrift verkündet: »Die WM-Spieler mit dem größten Sex-Appeal.« Daneben prangen Fotos von Yoann Gourcuff (Frankreich), Roque Santa Cruz (Paraguay) und Cristiano Ronaldo (Portugal). Mir fällt auf, dass Gourcuffs Wimpern getuscht sind. Die Belanglosigkeit des Titelblatts ärgert mich. Sollte sich die Presse nicht mit den besten WM-Spielern befassen? Dann müssten Philipp Lahm und Lionel Messi Wimperntusche tragen. Spricht Philipp Lahm Englisch? Wahrscheinlich schon, wie alle Deutschen, außer Helmut Kohl oder Angela Merkel. Ich verbanne Philipp Lahm und Angela Merkel eine Weile aus meinem Kopf, während ich mein Fahrrad in den Gepäckraum des Busses nach Saint-Jean verfrachte und es mir auf dem vordersten Sitz bequem mache.

Vielleicht war es ungeschickt, mich ausgerechnet während der WM noch einmal auf den Jakobsweg zu machen. Wer weiß, ob ich einen Fernseher finde, wenn ein wichtiges Spiel läuft, oder ob ich überhaupt in der Lage sein werde, die beiden bedeutenden Projekte unter einen Hut zu bringen. Wenn sich nun die innere Einkehr auf einer Pilgerreise als unvereinbar mit dem trivialen Fußball erweist? Oder wenn ein spirituelles Erwachen mich von der WM ablenkt? Die WM ist, wie der Camino, überall. Man trägt sie mit sich. Ich bin nicht sicher, in welcher Tasche, aber ich habe den Guardian World Cup 2010 Guide dabei, um meine Reise mit den entscheidenden Spielen abstimmen zu können. Ich werde das Turnier in wahrhaft internationalistischem, unparteiischem Geist genießen, wo immer ich kann. Wer gewinnt, ist mir egal – ich bin jetzt eine Pilgerin.

Ja, wo werde ich wohl am Samstag sein? Mir fällt ein, dass ich mir nun doch ein paar Gedanken zum Wegverlauf machen sollte. Ich dachte, es wäre befreiend, keinen festen Plan zu haben, nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein zu wollen, merke jetzt aber, dass ich so vielleicht in entscheidenden Augenblicken aufgeschmissen sein werde. Ich will nicht gerade durch Weizenfelder radeln, während England im WM-Halbfinale Deutschland beim Elfmeterschießen besiegt. 2001 hatte ich Daten und Entfernungen gänzlich ignoriert, und offenbar habe ich mich in dieser Hinsicht kaum geändert. Vor neun Jahren folgte ich einfach nur den gelben Pfeilen und machte jeden Abend in einer Stadt Station, die in meinem Handbuch – »Praktischer Pilgerführer. Der Jakobsweg« von Millán Bravo Lozano – angegeben war. Dieses Mal, das ahne ich schon jetzt im Bus nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wird es so nicht gehen, denn alles ist noch komplizierter: das Fahrrad, die Tatsache, dass ich den Weg in beide Richtungen gehe, die WM und meine Suche nach dem schwer fassbaren Sinn des Camino.

In dem baskischen Dorf Uhart-Cize, wo sich ziegelgedeckte weiße Häuser mit geschlossenen grünen und roten Fensterläden zwischen die Hügel schmiegen, tauche ich aus meinen Gedanken auf. Hügel! Als der Bus kurz darauf am Bahnhof von Saint-Jean-Pied-de-Port eintrifft, realisiere ich, dass ich morgen über diese Hügel (oder mindestens einen davon) radeln werde. Ich hole mein Fahrrad aus dem Gepäckraum und schiebe es zur nächsten Bank, wo ein österreichischer Radfahrer gerade sein Gefährt aus einer Kartonschachtel befreit.

»Hallo!«, sagt er und sieht mir dabei zu, wie ich meine Packtaschen auf die Bank fallen lasse. »Fährst du nach Santiago?«

»Ja«, entgegne ich verwundert – wo sonst sollte man von hier aus hinfahren?

»Den ganzen Weg?«

»Ja, hin und zurück. Und du?«

»Auch den ganzen Weg, mit meinem Mountainbike, auf dem Weg der Wanderer.«

»Ich auch!«, sage ich und denke mir, ja und? Klar, auf dem Weg der Wanderer. Wo sonst? Wer würde als Radler schon auf den Gedanken kommen, auf der Straße zu fahren? Ich bestimmt nicht.

Er bittet mich, kurz auf sein Fahrrad aufzupassen, während er sich an der Tankstelle die Hände wäscht. Aber ich kann kein Fahrrad erkennen, denn es ist noch nicht fertig zusammengebaut. Also betrachte ich den Rahmen, die Räder, die Pedale und den Sattel, die am Boden verstreut liegen. Bis er zurückkommt, habe ich mein eigenes Fahrrad beladen und bin bereit für die ersten Meter auf dem Camino.

»¡Buen Camino!«, wünscht mir der Österreicher zum Abschied.

»¡Buen Camino!«, gebe ich zurück – zum ersten Mal spreche ich den Gruß aus, den wir Pilger uns unterwegs entbieten.

Ich stelle fest, dass die Schaltung einwandfrei funktioniert, als ich den steilen Hügel vom Bahnhof ins Stadtzentrum hinaufstrample. Ich schalte einmal durch alle Gänge und halte den Atem an: Wird die Kette in den leichtesten Gang wechseln, ohne abzuspringen? Ja! Trotzdem muss ich auf dem Kopfsteinpflaster unter dem Bogen, der in die Altstadt führt, absteigen. Pilger mit Rucksäcken schreiten auf der ansteigenden Rue de la Citadelle mit großen Schritten an mir vorbei, und Touristen mit lässig über die Schulter gehängten Pullovern ignorieren mich – die Schaufenster der Souvenirläden sind einfach interessanter. Das städtische Pilgerbüro befindet sich nur wenige Meter unterhalb vom höchsten Punkt des Hügels. Warum liegt es ganz oben? Wie sollen Radfahrer da hinaufgelangen? Vielleicht ist das Befahren des Camino so wenig herausfordernd, dass zusätzliche Hindernisse notwendig sind, um die Leidensschwelle zu erreichen, die Voraussetzung für eine innere Wandlung ist?

Mit einigen Schwierigkeiten lehne ich das schwere Fahrrad an die Mauer des Gebäudes, in dem sich das Büro befindet. Die Sohlen meiner Doc Martens rutschen auf dem blanken Pflaster. Drinnen im Büro, einem großen Raum, den ich nicht wiedererkenne, kann ich besser gehen. Zur Linken stehen einige Tische, hinter denen vier Freiwillige sitzen, ihnen gegenüber jeweils ein Pilger. Zwei junge Pilger erheben sich, jeder einen Stapel Papiere, ein credencial und eine weiße Muschel in der Hand. Ich setze mich an einen der frei gewordenen Tische und reiche Wim aus den Niederlanden meinen britischen Pass. Nachdem er meinen Namen und meine Nationalität in sein Register eingetragen hat und ich acht Euro bezahlt habe, übergibt er mir eine orangefarbene Karte, der ich entnehme, dass ich heute Nacht das Bett 112 habe. 112? Das hat mir gerade noch gefehlt! Über hundert Schläfer in einem einzigen Raum. Nach einer schlaflosen Nacht in einem stickigen Schlafsaal voller Pilger, die unruhig ihrem ersten Tag auf dem Camino entgegenfiebern, wird der Col de Lepoeder morgen noch schwerer zu bezwingen sein.

Wim reicht mir einen nagelneuen Pilgerausweis – eine weiße Karte mit der Aufschrift »CARNET DE PÈLERIN DE SAINT-JACQUES Credencial del Peregrino« und dem fett aufgedruckten Umriss einer Muschel. Der Ausweis lässt sich wie ein Akkordeon auseinanderziehen. Dann hat man sieben doppelseitige Blätter, von denen neun Seiten unbedruckt sind – für die Stempel (sellos) der Herbergen, Hotels, Cafés und Kirchen am Weg. Ich trage meine persönlichen Angaben sowie das morgige Datum ein und kreuze das Kästchen an, das für Reisende »à bicyclette« vorgesehen ist. Ein wenig schuldbewusst betrachte ich das freie »à pied«-Kästchen und erwarte schon fast einen Tadel von Wim, denn das Rad zu benutzen ist sicher die einfachere Variante. Aber er bringt in mein credencial den ersten sello dieses Camino an, ein grünes Quadrat, in dem »ACCUEIL SAINT JACQUES St. Jean-Pied de Port« steht, dazu die symbolischen Darstellungen eines Schlosses, eines Schafs und eines Pilgers, der etwas trägt, das wie ein Köcher voller Pfeile aussieht. Ein anderer Pilger, vielleicht der heilige Jakob persönlich, hat ein Totenkopfgesicht und steht, einen Stab in der Hand, vor einer Bergkette.

Wim reicht mir weitere Papiere sowie eine weiße Jakobsmuschel an einem Stück Schnur. Diese Muschel identifiziert mich als echte Pilgerin und muss an meiner Satteltasche befestigt werden, damit Autofahrer mich nicht irrtümlich für eine weltliche Berufspendlerin oder eine Tour-de-France-Teilnehmerin halten, die sich verfranzt hat. Wanderer befestigen die Muscheln an ihren Rucksäcken, um en route von ihren Pilgerkameraden erkannt zu werden, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass jemand, der mit Rucksack den gelben Pfeilen durch einen Buchenwald folgt, nicht nach Santiago de Compostela pilgert.

»Wie bist du unterwegs?«, fragt Wim und wirft einen Blick auf mein credencial.

»Mit dem Fahrrad.«

»Wo ist es?«

»Draußen.«

Er besteht darauf, mich zu begleiten, um mein Gefährt sicherheitshalber in einem verschlossenen Schuppen unterzubringen.

»Oh, ist das schwer!«, ächzt er. Beinahe kippt ihm das Rad um, als er es von der Wand wegschiebt.

Er ist der Erste, der diesen wenig hilfreichen Kommentar abgibt, und er wird nicht der Einzige bleiben.

»Ach, das geht schon«, entgegne ich, ohne selbst davon sonderlich überzeugt zu sein. »Beim Radeln spüre ich das Gewicht nicht.«

Er schiebt mein Rad den Hügel hinauf, am Eingang der Herberge in Haus Nummer 55 vorbei, durch ein Tor und einen Garten in einen steinernen Schuppen. Allerdings schafft er es erst, das Fahrrad hineinzumanövrieren, nachdem ich die drei Taschen abmontiert habe. Als er mich mit je einer Packtasche über meinen Schultern, der Satteltasche in der einen und den Papieren in der anderen Hand sieht, nimmt er mir beide Packtaschen ab und führt mich in den Schlafsaal der Herberge. Mehr Hirte als Verwalter, verkörpert er mit seiner pastoralen Fürsorge die Hilfe, auf die Pilger auf ihrem Weg zählen können.

»Bett 112, das ist deins, Anne«, sagt Wim und stellt die Packtaschen ab. »Falls du noch was brauchst, ich bin im Büro.«

Ich würde ihn am liebsten bitten, mich nach Santiago zu begleiten. Allerdings darf ich mir dabei die Schlange der Pilger, die ihn bei seiner Rückkehr vor dem Büro erwarten würden, gar nicht erst vorstellen. Nachdem er gegangen ist, inspiziere ich den Raum und bin beeindruckt. Durch die offenen Fenster zwischen acht metallenen, in lockerem Abstand auf dem blank gewienerten Holzboden platzierten Stockbetten flutet Licht herein. Meine Angst vor über hundert Mitschläfern erweist sich als grundlos. 112 bedeutet Schlafsaal eins, Bett Nummer zwölf. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Herberge 2001 so schön gewesen wäre. Vielleicht ist sie renoviert worden. Jedenfalls ist diese Herberge nicht so »nasskalt« und »etwas zu gesellig«, wie sie Hans in »Ich bin dann mal weg« beschrieben hat.

In der gegenüberliegenden Ecke des halb leeren Schlafsaals richtet sich gerade ein deutsches Ehepaar ein, und in den Kojen neben mir dösen zwei junge Leute aus Korea. Gegenüber packt ein britisches Pärchen seine Rucksäcke aus und wieder ein – obwohl es noch nicht einmal zwei Uhr nachmittags ist, bereiten sie schon ihren morgigen Aufbruch vor. An ein Fensterbrett gelehnt beginne ich, Wims Unterlagen zu studieren. Auf einem Blatt sind in siebzehn Linien die Höhenprofile der ersten siebzehn Etappen des Camino dargestellt, von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Carrión de los Condes. Ganz eben ist nur die letzte Linie von Frómista nach Carrión. Meine Stirn legt sich in tiefe Falten, während ich die Informationen überfliege. Mindestens elf der Profile zeigen Berge, die ich erklimmen muss. Einige von ihnen sind enorm hoch. Als ich umblättere, habe ich die Höhenprofile der nächsten siebzehn Etappen von Carrión nach Santiago vor Augen. Sechs der Linien sind flach, zwei gehen bergab und die übrigen neun ziehen sich ungleichmäßig auf- und abwärts. Von vierunddreißig Etappen gibt es auf dem Camino geschätzte zwölf ohne Steigung. Das kann doch nicht wahr sein. Hat man den Camino verlegt? Dieses Blatt habe ich vor neun Jahren nicht bekommen, und ehrlich gesagt möchte ich es jetzt auch nicht haben. Von der Tour 2001 sind mir vor allem drei Dinge im Gedächtnis geblieben: flache Landschaft, brütende Hitze und Weizen ohne Ende. Klar, ich weiß noch, wie ich mich im Nebel nach Roncesvalles hinaufgekämpft habe und dass es in Galicien, schon in der Nähe von Santiago, ein paar grüne Hügel gab. Aber mit den Jahren hat mein Gedächtnis den Camino auf eine monotone Getreidewüste zusammengeschrumpft. Wenn Freunde in England mich fragen, wie der Camino ist – was selten genug vorkommt –, reduziere ich die Erfahrung auf: »Es ist eine lange Wanderung durch ein heißes, brettebenes Weizenfeld. Wenn du tolle Landschaften sehen willst, fahr nach Nepal.« Auf diesen Profilen sieht es allerdings aus, als wäre der Camino in Nepal.

Um nicht sofort meinen offenkundigen Gedächtnisverlust ergründen zu müssen, lege ich Wims nächstes Blatt (eine Liste aller Herbergen entlang des Camino) beiseite und studiere meine eigenen Listen. Ich sehe, dass ich beide Packtaschen öffnen muss, um aus Tasche 1 ein frisches T-Shirt und aus Tasche 2 saubere Unterwäsche zu holen. In Tasche 2 kann ich gleich auch noch meinen Schlafsack und das Seideninlet dazu suchen, die Sandalen hingegen wieder in Tasche 1. Die Auspackerei ist erst abgeschlossen, als ich aus Tasche 2 meinen Kulturbeutel gekramt und alles, was ich jetzt herausgefischt habe, in eine Plastiktüte gesteckt habe. Und das ab jetzt jeden Tag? Ich will doch nur mal duschen.

Die Sonne und der leichte Wind auf meiner Haut hellen meine Stimmung auf, als ich meine frisch gewaschenen Klamotten im Garten auf die Leine hänge. Aber ich bin immer noch ein wenig erschrocken über meine beängstigenden Erinnerungslücken zur Topografie des Camino. Seit ich hier war, sind doch erst neun Jahre vergangen, nicht neunzig. Bin ich vielleicht mit allen Ereignissen in meinem Leben so verfahren, habe ich sie zu statischen Szenen destilliert, die nur einen Bruchteil der emotionalen und sinnlichen Erfahrungen beinhalten? Wenn ich eines Tages im Sterben liege und mein Leben an mir vorüberzieht, werde ich dann unbewegte, stumme und verblasste Schwarz-Weiß-Fotos sehen statt der farbenfrohen, lauten und bewegten 3D- und HD-Filme, die jenen vergönnt sind, die ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben? Wozu erlebe ich überhaupt etwas, wenn ich so wenig davon in Erinnerung behalte? Saint-Jean-Pied-de-Port ist eine Stadt, die in meinem Leben bereits eine wichtige Rolle gespielt hat, und doch erinnere ich mich weder an das Pilgerbüro noch an den Garten oder den Schlafsaal. Wie viel wird mir auf dem Camino überhaupt vertraut vorkommen?

Ich gehe die Straße entlang bis zum Büro in Haus Nummer 39, um die riesige laminierte Darstellung der morgigen Route über den Cize-Pass nach Roncesvalles zu studieren, die dort an der Wand hängt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Die traditionelle Route Napoléon steigt auf dreiundzwanzig Kilometer Länge (Luftlinie) von 163 Meter über dem Meeresspiegel in Saint-Jean-Pied-de-Port auf 1410 Meter am Col de Lepoeder an. Dann verläuft sie vier Kilometer lang bergab durch Buchenwald nach Roncesvalles, das 952 Meter über dem Meer liegt. Die Alternativroute durch das Valcarlos-Tal im Westen zähmt die Steigung durch Serpentinen, und die Straße ist geteert. Der Col de Lepoeder wird ganz vermieden, höchster Punkt ist der vergleichsweise niedrige Col d’Ibañeta. Von dort geht es in kurzer Abfahrt zum Kloster in Roncesvalles.

Während ich mit düsterer Miene diesen Aushang studiere, gesellt sich Wim mit zwei Radfahrern zu mir, die ich bereits kenne. Es sind Mike und Ken aus Blackburn, die mir zuletzt vor dem Café in Bayonne zugewinkt haben. Ich schätze sie beide auf Ende sechzig und bin nicht überrascht, dass sie schwitzen und ihre Gesichter gerötet sind – schließlich mussten auch sie ihre Fahrräder die Kopfsteinstraße hinaufschieben.

»Gemein, was«, kommentiere ich, »dass diese Herberge am höchsten Punkt der Straße liegt?«

»Kannst du laut sagen«, stimmt Ken keuchend zu. »Schrecklich.«

»Ihr kommt spät. Welchen Bus habt ihr in Bayonne genommen?«, frage ich.

»Bus? Wir sind hergeradelt und gerade angekommen.«

Ich bin sprachlos. Diese beiden Rentner haben Hügel und Kurven der Pyrenäenausläufer durchradelt, während ich im Bus an Philipp Lahm gedacht habe. Und zudem muss ich mich jetzt, unmittelbar vor Antritt meiner Reise, mit der Erkenntnis herumschlagen, dass ich morgen nicht die Route Napoléon nehmen kann. Die ersten achtzehn Kilometer wären kein Problem, denn der Abschnitt bis zum Steinmännchen auf 1350 Meter verläuft auf der Straße. Aber wird der anschließende Fußweg nach dem Regen gestern nicht zu aufgeweicht sein, um die restlichen fünf Kilometer bis zum Col de Lepoeder hinaufzuradeln? Und dann bergab durch den Buchenwald … Ich wende mich Rat suchend an Wim.

»Wim, ich sollte wahrscheinlich die Valcarlos-Route nehmen, oder?«

»Natürlich! Du bist ja mit dem Fahrrad unterwegs!«

Ken und Mike stehen immer noch hinter mir und studieren eingehend die Karte.

»Nehmt ihr auch die Valcarlos?«, frage ich, um Zustimmung fast schon bettelnd.

»Na klar. Da kommt man mit dem Rad nicht rauf«, erwidert Mike mit einer Kopfbewegung zur Route Napoléon hin.

Ich sehe ihn dankbar an und atme tief durch. Diese strammen Radler fahren morgen den gleichen Weg wie ich. Nein, es ist keine Niederlage, wenn wir den Col de Lepoeder umfahren, schließlich heißt es doch in dem mittelalterlichen Pilgerhandbuch »Codex Calixtinus« über so manchen Gipfel, er sei »… so hoch, dass jene, die hier heraufsteigen, den Himmel zu berühren glauben«. Wir nehmen also die Alternativroute durch das Valcarlos-Tal, »… die man nimmt, um die Bergbesteigung zu vermeiden.« Das einzig Vernünftige für Radpilger, die es im Mittelalter natürlich nicht gab und die es, so fürchte ich, vielleicht auch heute nicht geben sollte.

Wim führt mich zum Supermarkt, wo ich belegte Brötchen und Bananen für unterwegs kaufe. Im Ausrüstungsladen nebenan steht das britische Pärchen aus meinem Schlafsaal und schwingt Golfschläger, wie mir scheint. Alle Achtung! Es ist sehr löblich, Aspekte des Alltagslebens in den Camino zu integrieren, damit sich der Pilger nicht in Frömmelei verliert. Ich will ja schließlich auch verfolgen, wie sich England in der WM schlägt. Ich gehe hinein, um mich Alison und Ian vorzustellen, die zwischen schnell trocknenden Shorts und Wollsocken in Wirklichkeit mit Graphit-Wanderstöcken herumfuchteln.

»Sieht aus, als würde das morgen ein ziemlich harter Aufstieg, vom Abstieg ganz zu schweigen, darum werden wir uns so was zulegen müssen. In Frankreich war es immer flach, da haben wir keine gebraucht«, erklärt Alison.

»Ja, ich hab in Frankreich auch keinen Stock gebraucht. Ich saß im Bus«, versuche ich zu scherzen. »Heißt das, dass ihr schon durch Frankreich gewandert seid?«

»Ja, wir sind sogar in England gestartet, dann rüber mit der Fähre von Portsmouth nach Caen und weiter durch Frankreich«, erzählt Ian.

»Von wo aus in England?«, frage ich.

»Von unserem Haus in Surrey aus«, entgegnet Alison lächelnd. Ihr Gesicht ist rosarot wie ein Macintosh-Apfel. Nicht zum ersten Mal am heutigen Tag nötigen mir Landsleute Hochachtung ab. Ich bin noch nicht einmal gestartet und fühle mich bereits von Pilgern gedemütigt, die viel mehr hinter sich haben, als ich noch vor mir habe.

Es kommt immer noch jemand nach dir. Immer.

Schon jetzt offenbart mir der Camino etliche universelle Wahrheiten. Dass immer jemand vor uns sein wird. Dass immer jemand hinter uns sein wird. Wie sollen wir damit umgehen?

»Großartig! Und was führt euch hierher?«

Da bemerke ich das Kreuz, das Alison an einer Kette um den Hals trägt.

»Aha! Ihr macht den Weg aus religiösen Gründen?«

Wie sich herausstellt, sind Alison und Ian gläubige Katholiken, die schon oft mit einem Holzkreuz auf dem Rücken nach Walsingham in England gepilgert sind, wo 1061 die Jungfrau Maria Richeldis de Faverches befohlen hatte, eine Nachbildung des Hauses der Heiligen Familie in Nazareth zu erbauen.

»Glaubt ihr denn wirklich, dass in Santiago die sterblichen Überreste des heiligen Jakob liegen?«, erkundige ich mich.

»Na ja, wäre doch möglich, oder?«, antwortet Ian nachdenklich.

»Hm. Da kenne ich mich, ehrlich gesagt, nicht aus. Ich bin den Weg schon mal gegangen, vor neun Jahren. Als ich nach all der Lauferei in Santiago ankam, war ich bereit, alles zu glauben. Ich hatte mich mit einem Deutschen angefreundet und in der Kathedrale haben wir auch gesagt: ›Er könnte es doch sein, oder?‹ Und wir waren uns einig gewesen: ›Ja, könnte er!‹ Aber nach ein paar Minuten haben wir uns angesehen und gesagt: ›Nein, er kann es nicht sein.‹ Was mein Freund heute darüber denkt, weiß ich nicht. Ich muss ihn mal fragen. Aber es ist doch bloß eine Legende, oder?«

»Und warum bist du dann wieder hier?«, will Alison wissen.

»Also, wenn ich ehrlich bin, habe ich die Erkenntnisse vergessen, die ich damals gewonnen hatte. Ich bin zurückgekommen, um mir über den Sinn des Ganzen klar zu werden.«

Alison und Ian kaufen ihre Wanderstöcke, und ich erkunde die kleine Stadt, in der ich vor neun Jahren ein paar Stunden verbracht habe. Eine steile, aber kurze Straße auf dem Weg hinauf zur Porte d’Espagne, einem der Stadttore, kommt mir bekannt vor. Ich gehe durch das Tor und so lange weiter, bis ich auf eine Rechtskurve neben einem weißen Gebäude stoße – den Anfang der Valcarlos-Route, die ich morgen einschlagen werde. Die Route Napoléon zweigt nach links ab, und obwohl sie viel steiler beginnt als die Straße nach Valcarlos, betrachte ich sie voller Sehnsucht.

Ich stehe ganz still, bis ich mich schließlich an diesen Ort erinnere. Mir fällt ein, welchen Verdruss ich 2001 darüber empfunden habe, dass der Camino gleich zu Beginn so stark ansteigt. Das war nicht fair, fand ich. Doch gleichzeitig ist da unleugbar ein Anflug von Bedauern, weil ich morgen nicht den gleichen Weg einschlagen werde. Nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich in Betracht gezogen, dass ich eine ganze Tagesetappe auf der Straße radeln werde. Egal, es wird nur dieser eine Tag sein. Erfüllt von der Hoffnung, es werde nicht allzu lange dauern, bis ich mit den anderen Radfahrern wieder auf dem Weg der Wanderer fahren kann, gehe ich zurück in die Stadt. Auf einer Straße, die ich zu erkennen glaube. Sie verläuft an einer Mauer entlang, hinter der Pilger neben ihren Zelten unter Platanen im Gras sitzen und ihr Abendessen zubereiten. Darum also habe ich keinerlei Erinnerung an die Herberge – weil ich vor neun Jahren gar nicht dort war. Ich habe gezeltet, hier, auf dieser Wiese!

Mike und Ken sitzen vor dem Restaurant Lizarra Ostatua am Place Floquet und essen Pizza. Ich geselle mich zu ihnen und lausche aufmerksam ihren unumstößlichen Plänen. Sie werden nach Santiago zwei Wochen brauchen und wissen ganz genau, wo sie welche Nacht verbringen werden. Kens Frau, die daheim in Lancashire geblieben ist, hat jedes Detail ausgearbeitet, sogar die einzelnen Straßen, die sie benutzen werden.

»Ich war schon mal hier«, erkläre ich ihnen. »Also werde ich einfach den gelben Pfeilen folgen. Beeilen muss ich mich nicht, weil ich sieben Wochen für den Hin- und Rückweg habe. Ich nehme es einfach, wie es kommt.« Ich frage nicht, ob ich am nächsten Morgen mit ihnen radeln kann, obwohl ich mehr als alles in der Welt darauf hoffe, gemeinsam mit ihnen aufbrechen zu können.

Die beiden Rentner aus Blackburn mit zusammen einhundertzwanzig Jahren Radfahrerfahrung lassen mich mein Bier allein austrinken und gehen zurück in die Herberge, um genügend Schlaf zu bekommen. Ich studiere das offizielle Wappen der pyrenäischen Freunde des heiligen Jakobus auf meinem credencial. Kühe, Löwen, eine heraldische Lilie und noch einiges andere vor dem Hintergrund einer Jakobsmuschel. Dann betrachte ich auf der nächsten Seite das heutige sello, das den Totenkopf des heiligen Jakob neben Schafen und einem köcherbewehrten Pilger zeigt. Waren die Herausforderungen für mittelalterliche Pilger so groß, dass sie sich bewaffnen mussten, um dem Tode zu trotzen? Das Memento mori in Gestalt des Schädels des heiligen Jakob und der Pfeile des Pilgers gehören freilich einem vergangenen Zeitalter an: Gefahr für Leib und Leben sind nicht Gegenstand meiner Gedanken. Jedenfalls noch nicht.

Navarra bis La Rioja

Saint-Jean-Pied-de-Port – Logroño

Donnerstag, 10. Juni 2010

Saint-Jean-Pied-de-Port - La Trinidad de Arre in Spanien | 66,6 Kilometer

Freitag, 11. Juni 2010

La Trinidad de Arre - Cirauqui | 34,2 Kilometer

Samstag, 12. Juni 2010

Cirauqui - Los Arcos | 37 Kilometer

Sonntag, 13. Juni 2010

Los Arcos

Montag, 14. Juni 2010

Los Arcos - Logroño | 28 Kilometer

Dienstag, 15. Juni 2010

Logroño

Donnerstag, 10. Juni 2010

Ich radle 66,6 Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port nach La Trinidad de Arre in Spanien

Meine Schlafmaske und die Ohrstöpsel halten so effizient Helligkeit und Geräusche ab, dass mich an diesem Morgen weder das Licht der Morgendämmerung noch das Auf- und Zuziehen von Reißverschlüssen, weder das Aufreißen von Klettverschlüssen noch das Öffnen von Türen und Fenstern weckt. Als ich um halb sieben langsam zu mir komme, sind alle anderen Schlafstellen bereits leer. Die am Fußende der Betten ordentlich aufgereihten Rucksäcke verraten mir allerdings, dass die anderen Pilger noch irgendwo in der Nähe sein müssen. Ich klettere vom Stockbett Nummer 112 hinunter auf den blank gewienerten Fußboden und ziehe Fahrradshirt und Shorts unter dem Bett hervor. Am Abend zuvor hatte ich sie in einem Anfall vorbildlicher Planung aus Tasche 2 gezogen, um für einen frühen Aufbruch gerüstet zu sein. Leider liegt auch fast der gesamte übrige Inhalt beider Fahrradtaschen auf dem Boden und wartet darauf, nach dem Frühstück zusammengepackt zu werden. Schon jetzt begreife ich, dass ich mich besser organisieren und mir die Technik des »Packens am Vorabend« zur Gewohnheit machen muss, die hier im Raum allenthalben so schön zu beobachten ist.

Ich durchquere den Schlafraum und öffne die Tür zum Speisesaal. Da sitzen sie alle dicht gedrängt an den Tischen, kauen Toast und trinken Kaffee aus Duralex-Glasschalen, wie wir sie in der Grundschule hatten. Ich bekomme ein Getränk gereicht und quetsche mich auf den einzigen freien Platz. Mir gegenüber sitzen Alison und Ian. Während ich Marmelade- und Butterreste auf meinen Toast kratze, fragt mich Alison, wie weit ich heute fahren will. Ohne eine bestimmte Route im Kopf zu haben, nenne ich den erstbesten Ort, der mir gerade einfällt.

»Bis Pamplona. Na ja, so weit wie möglich Richtung Pamplona. Oder vielleicht sogar weiter bis Cizur.« Diesen Ortsnamen habe ich gestern Abend im Gespräch mit Ken und Mike aufgeschnappt. Wenn das die Entfernung ist, die richtige Radler als Tagesetappe in Betracht ziehen, dann soll es auch mein Ziel sein.

Die Reihen der Pilger am Tisch lichten sich rasch. Zu zweit holen sie ihre Rucksäcke und gehen hinaus auf die Rue de la Citadelle. Sie nehmen ihren Camino auf, bevor ich auch nur fertig gefrühstückt habe. Als Ken und Mike ebenfalls aufstehen, werde ich unruhig.

»Wir sehen uns«, sagt Ken strahlend.

»Mmm. Ja, bestimmt«, antworte ich, schon halb in Panik.

Wo werden wir uns sehen? Da ich erst noch alles packen muss, kann ich unmöglich mit ihnen fahren. Als Nächstes brechen Alison und Ian auf, und nun bin ich wirklich die Letzte. Es ist erst sieben Uhr, wozu die Eile? Die Entdeckung, dass Pilger noch genauso sind wie vor zehn Jahren und morgens immer noch zu einer für meinen Geschmack unchristlichen Zeit aufbrechen, schlägt mir aufs Gemüt. Was, so hatte ich mich 2001 bereits gefragt, hat dieses »Rasen auf Blasen« für einen Sinn? Unterwegs nichts zu sehen und im nächsten Ort anzukommen, bevor die Cafés und Kirchen geöffnet haben? Der Grund, so erfuhr ich später, ist, dass die meisten die Mittagshitze meiden und früh genug in der nächsten Unterkunft eintreffen wollen, um sich ein Bett zu sichern. In meinen Augen war das eher zweitrangig verglichen mit der Möglichkeit, bei Tageslicht unterwegs zu sein und den Camino wirklich zu sehen. Klar, damals war ich mit dem Zelt unterwegs, brauchte mir also keine Gedanken über volle Herbergen zu machen. Dieses Mal ist für ein Zelt kein Platz, aber überfüllte Schlafquartiere bereiten mir trotzdem kein Kopfzerbrechen, schließlich kann ich, wenn nötig, immer noch die nächste Stadt ansteuern. Trotzdem fühle ich mich ein bisschen einsam und verlassen, als ich mein Frühstück allein beende. Also werde ich mir in Zukunft Mühe geben, auch um sieben startklar zu sein – und sei es nur, um ein wenig Gesellschaft zu haben.

Nach einer weiteren Stunde Listenkontrolle habe ich es geschafft, alle Sachen, die unter meinem Bett lagen, in die richtigen Taschen zurückzustecken. Ich lasse meine drei schweren Gepäckstücke neben dem Gartentor fallen, hole das Fahrrad aus dem Schuppen und belade es. Ein farbenprächtiger Teppich aus rotem Baldrian und weißen Gänseblümchen an der gegenüberliegenden Mauer erinnert mich an Jeff Koons Skulptur »Puppy« in Bilbao, und daran, dass ich heute Spanien erreichen werde.

Schon mit neunzehn hatte ich den Wunsch, über die Pyrenäen zu radeln. Der Gedanke kam mir während des Studiums bei einem unerträglich langweiligen Ferienjob. Meine Freundin Jane und ich fanden es toll, zum ersten Mal in unserem Leben richtiges Geld zu verdienen. Doch am Fließband, wo wir wie Roboter Tuben mit Gel gegen Schleimhautentzündung, die für den Export nach Australien bestimmt waren, in kleine Pappschachteln steckten, waren wir bald trübsinnig geworden. Ich fühlte mich, als steckte ich wie die Tuben in einer engen Schachtel, und begann davon zu träumen, über die Pyrenäen zu radeln, sobald ich dort rauskam. Das erwies sich als einfacher als gedacht – dort rauszukommen, meine ich, nicht, über die Pyrenäen zu radeln. Einige von uns (die Idee stammte zugegebenermaßen von mir) schrieben ihre Namen und Adressen auf Papierschnipsel, die wir zu den Tuben in die Schachteln steckten, wenn der Vorarbeiter nicht hinsah. Auf den Zetteln stand etwa: »Ich bin die Sklavin, die diese Tube eingepackt hat. Willst du mein Brieffreund werden?« Eine Woche später wurde ich gefeuert, angeblich, weil ich nach der Mittagspause zu spät zur Arbeit zurückgekommen war, wahrscheinlich aber eher wegen meines trotzkistischen Einflusses auf die Belegschaft. Seitdem sind mir Firmenleitungen suspekt.