Ich bin dein Mörder - Ben Berkeley - E-Book

Ich bin dein Mörder E-Book

Ben Berkeley

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Beschreibung

Nie wieder FBI. nie wieder Mord. Sam Burke hat mit seinem Job als Agent abgeschlossen, von jetzt an zählen nur noch seine Psychologie-Professur und sein privates Glück mit Klara. Doch dann erhält er einen anonymen Brief, der ihn zum Handeln zwingt. "Lieber Sam, " steht dort. "Ich habe in den letzten 18 Jahren 24 Frauen getötet. Und ihr habt sie einfach alle begraben. Wieso suchst du mich nicht?"

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96056-4

© 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Arcangel Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Prolog

Lieber Sam,

werden wir das, was wir sind? Oder sind wir das, was aus uns geworden ist? Ich persönlich muss daran glauben, dass die Erste ein Unfall war und dass es nicht meine Entscheidung war, dass alles so gekommen ist. Vielmehr hat mich aus heiterem Himmel ein Schicksal ereilt, das jeden anderen hätte treffen können. Und so war dieser erste Mord auch keineswegs unausweichlich. Im Gegenteil. Tatsächlich hätte der Flügelschlag eines Schmetterlings ausgereicht, alles zu verändern. Dann hätte ich mein Leben nicht dem Tod widmen müssen. Ja, ich betrachte alles, was danach kam, tatsächlich als Notwendigkeit. Zumindest seit jenem schicksalhaften Moment im Jahr 1994 gab es für mein Leben kein Zurück mehr. Seit diesem Tag treibt mein Leben mit mir auf den Tod zu, in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur mein eigener Tod ist unausweichlich, sondern auch der vieler anderer, die meinen Weg kreuzen. Zwölf Tode insgesamt, um genau zu sein. Aber ich greife vor. Beizeiten wirst du alles erfahren, was du wissen musst. Aber ich möchte uns die Gelegenheit geben, einander kennenzulernen, und dafür darf ich dir nicht alles auf einmal verraten. Es würde dich und mich überfordern. Möglicherweise möchte ich, dass du mich verstehst, obwohl das natürlich unmöglich ist. Vielleicht ist das aber auch nicht so wichtig, vielleicht zählt nur, was wir glauben.

Ich schreibe diese Zeilen nicht grundlos in einer Kirche, was dir ob ihres Inhalts seltsam vorkommen mag. Aber verrate mir etwas über dich: Wann warst du

Kapitel 1

Sing Sing Correctional Facility, Ossining, New York

Freitag, 8.Juni

Sam stellte die lederne Aktentasche auf den ausgeblichenen Linoleumboden des Beobachtungsraums, direkt unter das Fenster mit der verspiegelten Scheibe. Er warf der Tasche einen kurzen Blick zu, oder besser, ihrem Inhalt. Denn auf den Unterlagen zum ›Praxisseminar Gewaltverbrecher II‹ lag der Brief, der heute Morgen zwischen seinen Rechnungen gesteckt hatte. Unscheinbar. Weißer Umschlag, ein gedruckter Adressaufkleber. Kein Absender. Er schluckte. Ein ganz normaler Brief? Im Gegenteil. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Vermutlich ein Spinner. Egal. Und doch schien ihn der Brief aus seiner Aktentasche heraus anzustarren.

Dreißig Augenpaare blickten erwartungsvoll, abwechselnd auf ihn und auf die verspiegelte Scheibe, doch das Verhörzimmer auf der anderen Seite des Fensters war leer. Noch stand Sam im Besucherraum vor seinen Studenten, aber das würde sich in Kürze ändern. Er blickte in das Befragungszimmer, das ihm vertraut vorkam: in seiner Mitte eine weitere Glasscheibe. Überall Trennwände. Zwischen dem Draußen und dem Drinnen, zwischen dem Guten und dem Bösen. Eine schmale Resopalplatte auf jeder Seite, an der Wand zwei Telefone, eines für ihn und eines für den Insassen. Mit dem Boden verschraubte Metallstühle mit Plastiklehnen, hart und unbequem, warteten auf ihn und den Verhörten. Supermax. Höchste Sicherheitsstufe. Mehrfachmörder, Vergewaltiger, Terroristen. Die dreißig Augenpaare gehörten Studenten der Forensischen Psychologie, Harvard. Die Besten ihres Jahrgangs. Sie waren die Zukunft des NCAVC, des National Center for the Analysis of Violent Crime, neben der Antiterroreinheit eine der profiliertesten Abteilungen des FBI. Und was für die achtzehn Frauen und zwölf Männer die Zukunft bedeutete, gehörte für Sam zur Vergangenheit. Er war früher einer der leitenden Ermittler am NCAVC gewesen. Aber jetzt hatte für ihn und Klara ein neues Leben begonnen. Keine Serienmörder mehr, keine Verstümmler, keine Sadisten. Und wenn, dann ausschließlich zu Forschungszwecken. Nur noch Theorie – wenn es sein Lehrplan erforderte. Erlaubt waren nach dem Versprechen, dass er sich selbst und Klara gegeben hatte, nur solche Psychopathen, die in den sichersten Gefängnissen des Landes einsaßen. Wie heute. Wo ihn eine zentimeterdicke Scheibe Plexiglas von dem Bösen trennte. Von Karel Maria Snow. Einem zwanzigfachen Mörder.

»Ihr alle habt die Akte zu MrSnow gelesen, nehme ich an?« Keine ernsthafte Frage. Einer der Vorteile, in Harvard zu lehren, war, dass man sich um die Motivation seiner Studenten nicht zu sorgen brauchte. Allgemeines Nicken.

»Ich habe Sie den weiten Weg fahren lassen, weil ich Ihnen etwas zeigen will, das man mit keiner Vorlesung, keinem Skript, keinem Buch demonstrieren kann: das pure, schiere Böse.«

Das pure, schiere Böse. Deswegen waren sie gekommen. Deswegen galt sein Seminar als eines der beliebtesten des zweiten Jahrs. Live! Und in Farbe! Die Faszination des Unvorstellbaren. Und trotzdem waren sie nicht vorbereitet. Niemand war auf eine schwarze Seele wie die von Snow vorbereitet. Auch er nicht.

»Es gibt drei wichtige Dinge, die Sie von Snow lernen können. Und ich rate Ihnen, diese drei Dinge niemals zu vergessen.«

Einige zückten einen Stift, was sich als überflüssig herausstellen würde. Wer Snow gesehen hatte, würde es nicht vergessen. Niemals. Deshalb fuhr er mit ihnen den weiten Weg von Boston bis ins nördliche New York.

»Erstens: Serienmörder entsprechen möglicherweise nicht im Mindesten dem Bild, das Sie von ihnen haben mögen. Und hüten Sie sich Ihr gesamtes restliches Leben vor jedem diesbezüglichen Stereotyp. Keiner ist wie der andere. Und deshalb kann der Nächste genau der sein, von dem Sie es am wenigsten erwarten.«

Einige Stifte kritzelten seine Worte auf Papier. Sam lächelte. Ein wenig. Dann fiel ihm der Brief in seiner Tasche wieder ein, und das Lächeln gefror zu einer Maske.

»Zweitens: Verabschieden Sie sich von der Annahme, Sie könnten sie fassen, indem Sie denken wie sie. Ein reines Klischee. Natürlich erstellen wir Psychogramme von ihnen, aber wir können uns nicht in ihre Gehirne hineinversetzen, weil sie anders funktionieren als unsere. Wenn Sie ein Profil erstellen, müssen Sie entweder aus dem Erfahrungsschatz der Vergangenheit schöpfen, was in manchen Fällen funktionieren wird und in anderen weniger gut. Und wenn es keine Präzedenzen gibt, dann müssen Sie versuchen, Ihr Gehirn auszuschalten. Denken Sie stattdessen wie ein Tier. Werden Sie zum Löwen, dessen Instinkte für die Jagd ausgebildet sind. Oder zur Zecke, die nichts riechen kann außer Schweiß und dahinter um das Blut weiß, das sie zum Leben braucht. Sie müssen lernen, Ihre Urinstinkte zu wecken. Sonst bleiben Ihre Profile leere Blaupausen, die nicht die Seele des Täters einfangen. Und Snow werden Sie dann niemals verstehen.«

Längeres Gekritzel. Sam war bewusst, dass der zweite Aspekt etwas abstrakt klang, aber Snow würde sich seinen Studenten ins Gehirn brennen, wenn er von seinem Ersatzteillager erzählte.

»Und drittens: Vergessen Sie Hollywood. American Psycho, Hannibal Lecter, Bone Collector. Sind das realistische Figuren für einen Serienmörder? Der hochintelligente Serienmörder, der mit uns ein Spielchen spielt?«

Ein Stich fuhr ihm in die Magengegend. »Warum suchst du mich nicht, Sam?« Er warf einen flüchtigen Blick auf den Koffer und hoffte, dass sein Unbehagen den Studenten nicht auffiel.

Die Frage stand immer noch im Raum. Und wie es zu erwarten war, erntete er Kopfschütteln. Natürlich nicht! Wie hätte er denken können, dass sie sich von Hollywood verführen lassen würden?

»Doch, meine Damen und Herren angehende forensische Psychologen, die ihr noch einen weiten Weg vor euch habt. Doch, das sind sie.«

Weiter im Text, Sam.

»Sie sind durchaus realistisch, die meisten von ihnen basieren auf Vorbildern, die es tatsächlich gab. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass Sie in Ihrer Laufbahn auf einen solchen Täter treffen werden. Denn glücklicherweise sind die allermeisten Serienmörder eher unterdurchschnittlich intelligent, wie Sie gleich an MrSnow live studieren können. Glücklicherweise für uns, weil wir sie dadurch schnappen können. Den Opfern dürfte es ja gleichgültig sein.«

Der Galgenhumor, der unter Ermittlern sehr verbreitet ist, brachte ihm ein paar vorsichtige Lacher ein, die ersten, seit sie das Gefängnis betreten hatten. Die klinische Atmosphäre, die Wachleute mit den großen Tasern und die zuschlagenden Gitter ließen keinen Platz für Heiterkeit.

Snow hatte einen Intelligenzquotienten von 82. Er hatte seinen Opfern die Organe entnommen, weil er glaubte, ein Ersatzteillager für sich anlegen zu müssen. Dass er niemals einen Arzt finden würde, der ihm seine Organe einpflanzen würde, oder die Frage nach der passenden Blutgruppe war ihm nie in den Sinn gekommen. Oder dass eine Leber kaum in einer einfachen Essiglösung erhalten werden könnte. Intelligente Serienmörder sind selten, wiederholte Sam noch einmal – nur für sich selbst und an den Brief gerichtet. Der absolute Ausnahmefall. Die Dunkelziffer. Das einzig Unrealistische an Hannibal Lecter war, dass der Film mit ihm hinter Gittern beginnt. Hätte es Hannibal Lecter wirklich gegeben, den mordenden Psychologieprofessor, das Genie im Teufelsgewand: Es wäre nicht sehr realistisch, dass das FBI ihn je gefasst hätte. Zu jeder Zeit laufen zwischen vierzig und achtzig Serienmörder frei herum, denen es gelungen ist, ihre Mordserien erfolgreich zu verschleiern. Psychologie besteht zu 60Prozent aus Statistik. Das ist die Realität. Die Ausnahme, aber auch die gehört zur Realität. Noch nicht für die Studenten im zweiten Jahr, aber für dich, Sam. »Nicht nur mein eigener Tod ist unausweichlich, sondern auch der vieler anderer, die meinen Weg kreuzen.« Er spürte Stiche im Magen. Der Brief. Die ganz seltene Ausnahme?

Hinter sich hörte er ein scharrendes Geräusch aus dem Lautsprecher, der das Verhör mit Snow übertragen sollte. Er kam. Showtime. Vergiss den Brief, Sam. Das ist bestimmt nur ein Spinner, der deinen Namen letztes Jahr in den Zeitungen gelesen hat. Dunkelziffer. Und wenn nicht? Später, Sam. Seine Studenten hatten jetzt nur noch Augen für das Spektakel, das auf der anderen Seite der Scheibe beginnen sollte. Ein Wärter öffnete die Tür, und Snows massige Gestalt betrat den Raum. Er blickte gleichgültig auf die Fesseln zwischen seinen Füßen. Snow würde die Studenten nicht enttäuschen. Der Wärter, der den Gefangenen durchaus sanft auf den Stuhl drückte, nickte dem Spiegel zu. Die meisten der Angestellten im Hochsicherheitstrakt kannten Sam, er hatte für das FBI die Anklage gegen Karel Snow mit vorbereitet. Sam erwiderte den Gruß, obwohl ihn der Beamte natürlich nicht sehen konnte. Ein zweiter Wärter fixierte Snows Fußfesseln am Stuhl. Eine weitere Kette führte zwischen seinen Beinen nach oben und war mit den Handschellen verbunden. Sie war so kurz, dass er seine Arme maximal bis zum Herzen heben konnte. Niemand ging mit Snow ein Risiko ein. Karel ließ alles über sich ergehen. Karel wusste, dass er die Hauptrolle spielte. Snow war immer bereit für die Show.

»Eines noch«, mahnte Sam die gereckten Hälse. Dreißig Augenpaare konzentrierten sich wieder auf ihn. »Egal, wie freundlich er aussieht, egal, wie wenig clever er sein mag, egal, wie überlegen Sie sich ihm gegenüber fühlen hinter der Scheibe. Vergessen Sie niemals: Karel Snow ist ein sehr gefährlicher Mann.«

Als ihr Tross über den Parkplatz der Sing Sing Correctional Facility lief, schwiegen die Studenten. Zu frisch war der Eindruck des Mannes, der aussah wie ein Tankwart oder der Hausmeister einer Highschool, der seelenruhig erklärte, wie er versucht hatte, ein Organ, das er nicht mehr brauchte, weil er ein schöneres gefunden hatte, auf einem Flohmarkt zu verkaufen. Der dabei ohne jede Regung sprach, mit wulstigen Lippen, keuchend, wegen seiner 140Kilogramm, die ihn nur noch harmloser aussehen ließen. Dessen Augen beim Gedanken an seine Organsammlung nervös in ihren Höhlen umherwanderten. Der manchmal spuckte, wenn er erzählte, wie schwierig es war, die Organe sauber mit dem Küchenmesser seiner Mutter zu entfernen. Und wie sich das Blut über den Küchenboden ergoss wie ein Eimer roter Farbe.

Als sie den Bus erreichten, der sie zurück nach Cambridge bringen sollte, hörte Sam ein vertrautes Wummern. Ein großer V8-Motor. Tief, grimmig und wenig kompromissbereit. Nicht der gemütliche Reisebus. 444 PS. Der ›Boss‹. Es kam von einem nicht einsehbaren Parkplatz. Er grinste. Für einen kurzen Moment dachte er an seine Studenten, die nun alleine nach Boston zurückfahren würden. Die jetzt ohne seine Hilfe mit Snow fertigwerden mussten. Aber früher oder später mussten sie es lernen. Menschen wie Karel Snow waren ihr Beruf. Den Sam aufgegeben hatte. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als einer der profiliertesten Serienmörderjäger des FBI hatte er hingeschmissen. Für die Frau, die mit dem Boss hinter dem Bus auf ihn wartete. Klara ›Sissi‹ Swell. Die so zerbrechlich aussah wie die österreichische Kaiserin. Keine 1,68 groß. Lockige Haare, mehr Muskeln, als man so einem zierlichen Körper zugetraut hätte. Allerdings deutlich älter, als man die Kaiserin in Erinnerung hatte. Und der Boss passte auch nicht wirklich zum Image einer Prinzessin. Er verabschiedete sich von seinen Studenten und lief um den Bus herum. Er freute sich, sie zu sehen. Wie jeden Tag, wenn er nicht in Boston sein musste, sondern in ihrer gemeinsamen Wohnung in New York. Er pendelte jetzt seit etwas über einem Jahr, einen Ruf von Harvard lehnte man schließlich nicht ab. Natürlich nicht. Als er die Front des Busses umkurvt hatte, blendete ihn die Sonne. Seine Augen brauchten einen kleinen Moment, um sich auf das gleißende Licht einzustellen, aber dann sah er sie an der riesigen Motorhaube lehnend. Spöttisch grinsend, wie immer. Lederjacke, Sonnenbrille, Jeans, Bikerboots. Dazu mehr Rennmaschine als Auto. Ford Mustang Boss 302. Das neueste Modell. Ein vollkommener Überfluss an Leistung. Es sah aus wie ein Spielzeugauto. Wenig kaiserlike, aber er musste zugeben, es passte zu ihr. Klara liebte schnelle Autos. Und er liebte nun mal Klara. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, als er sie umarmte. Er schob eine goldblonde Locke hinter ihr rechtes Ohr: »Du holst mich ab?«

»Wenn du schon einmal in New York bist. Außerdem war ich gerade in der Gegend, bei einem furchtbar langweiligen Kunden.«

Eine kurze Pause. Dann der Nachsatz: »Wie ich das ständige Rumgegurke hasse.«

Sam schwieg. Seit sie beide ihre Jobs beim FBI aufgegeben hatten, war ihre Arbeit als Privatdetektiv ein ständiges Streitthema. Scheinbar konnte sie sich nur schwer damit abfinden, nicht mehr im Rampenlicht zu stehen. Das hatte er ihr allerdings nur einmal und nie wieder in dieser Deutlichkeit gesagt. Statt darauf einzugehen, begnügte sich Sam mit Small Talk. Klara gab Gas, und er wurde tiefer in seinen Sitz gedrückt. Als sie auf den Highway fuhren, schnallte Sam sich an. Man konnte ja nie wissen. Mitten in einem selbst für Klaras Verhältnisse halsbrecherischen Überholmanöver, bei dem der Boss um ein Haar den rechten Außenspiegel eingebüßt hätte, fragte sie beiläufig und mit leicht ätzendem Unterton: »Und, Schatz? Wie war dein Tag?« Zum ersten Mal seitdem sie mit Snow fertig waren, dachte Sam wieder an den Brief in seiner Tasche auf dem Rücksitz. An IHN. Was, wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte? Was, wenn der Brief authentisch war? Klara durfte auf keinen Fall von dem Brief erfahren. Er würde nach dem Wochenende entscheiden, wie er damit umgehen sollte.

»Die Studenten waren so schockiert, wie ich mir das erhofft hatte. Ansonsten war Boston langweilig wie immer«, log Sam.

Kapitel 2

Manhattan, New York

Montag, 11.Juni

Adrian von Bingen starrte ins Leere und lauschte dem Summen der Klimaanlage, die sich mit dem heißesten Sommer seit vierzig Jahren redlich abmühte und den Kampf nicht gewinnen konnte. Auf dem Schreibtisch in der kleinen Kammer neben seiner Restaurantküche, die er als Büro bezeichnete, stapelten sich Rechnungen von vier Monaten. Als hoffnungslos betrachtete er das Schlamassel jedoch nicht – zumindest öffnete er die Briefumschläge noch. Pia hatte ihn gewarnt, dass zwölf Plätze für ein Restaurant einfach nicht ausreichten, egal, wie gut er kochte. Welch eine Ironie: Gäste mussten Monate im Voraus reservieren, die Restaurantkritiker beschwerten sich unisono über den winzigen Gastraum, aber über den Service in Wohnzimmeratmosphäre oder seine Kochkünste mokierte sich niemand, im Gegenteil. Kaufen konnte er sich von den positiven Rezensionen allerdings auch nichts, und die für nächste Woche geplante Stiftungsgründung fiel natürlich ins Wasser. Pia und ihr Chef, der Anwalt Thibault Stein, hatten die Verträge über Wochen ausgearbeitet. Alle standen in den Startlöchern, nur er nicht. Was zum einen am Restaurant lag und zum anderen daran, dass er sich weigerte, seine Eltern um das Startkapital zu bitten. Seit er mit Pia zusammen war, lief es besser zwischen ihm und seinem Vater. Oder zumindest nicht mehr unterirdisch schlecht. Aber das Geld für die Stiftung würde er trotzdem alleine besorgen. Ich muss das einfach schaffen, sinnierte er und nahm eine zwei Monate alte Rechnung seines Bäckers zur Hand, als sich ein riesiger Styroporkarton durch die Tür schob. Außer zwei kleinen fleckigen Händen war nichts Menschliches zu erkennen, als sich das Ungetüm wie von selbst auf den Papierstapel fallen ließ. Der Turm geriet ob des unachtsam platzierten Neulings ins Rutschen und wäre direkt in seinem Schoß gelandet, wenn er nicht eingegriffen und das wackelige Konstrukt mit der zweimal gefalteten Bäckerrechnung stabilisiert hätte.

»Shushu, was soll das?« Jeder nannte den winzigen Chinesen so, obwohl er Xǔ Shu hieß und ein »Mister« vor seinen Unternehmensnamen gesetzt hatte: Mister Xǔ Shu Fish Co. Einer der zuverlässigsten und besten Fischlieferanten der Stadt. Und für alle eben Shushu, was ausgesprochen wie Schuh-Schuh klang.

»Der feine Herr zahlt seine Rechnungen nicht«, beschwerte sich Shushu hinter seinem Karton. Er klang verärgert. Aber er lieferte noch, das war eine gute Nachricht. Adrian roch die vertraute Meeresbrise allerfrischester Angelware aus dem Atlantik. Premium-Qualität. Die ihren Preis hatte. Aber Shushus Fische waren jeden Preis wert.

»Shushu, kein Problem.« Adrian stemmte sich aus dem verbogenen Schreibtischstuhl, dessen eine Lehne nur noch wackelig an der Seite herunterhing, und griff in die Hosentasche seiner Jeans. Er ging um die Styroporbox herum und öffnete sie, beugte sich über das Eis, unter dem die bestellten Flundern und der Thunfisch schlummerten. Er inhalierte tief, um Shushu gegenüber seine Bewunderung für dessen Handwerk zum Ausdruck zu bringen. Ein äußerst wichtiger Aspekt, wenn seine Strategie aufgehen sollte. In der engen Tasche seiner Jeans zählte er fünf Scheine von einem Bündel der gestrigen Tageseinnahmen. Links Zwanziger, rechts Hunderter. Er zog die linke Hand aus der Tasche und zerknüllte die Scheine ein wenig, damit sie nach mehr aussahen, und drückte Shushu den viel zu kleinen Betrag in die Hand. »Toller Fisch, Shushu. Du bist der Beste.«

Shushu starrte auf das Bündel in der Hand. »Ich habe Sie gegoogelt, Sie sind ein Baron oder so etwas. Ich dachte immer, die haben Geld wie Heu.«

Adrian fragte sich zum wiederholten Mal, ob er trotz oder wegen seines Titels ständig pleite war. »Nix mehr da, Shushu. Seit hundert Jahren heißt so ein Titel nichts, gar nichts mehr.«

Die Augen des Chinesen finden an zu leuchten: »Hattet ihr eine Revolution?«

»Na ja, das leider gerade nicht«, antwortete Adrian wahrheitsgemäß. »Aber so etwas Ähnliches.« Historische Akkuratesse brachte ihn sicherlich nicht weiter. Shushu nickte. »Okay, zahlst du den Rest nächstes Mal.« Adrian blickte versöhnlich. Er hörte die kurzen Schritte durch sein Restaurant eilen, packte sich die Styroporkiste und trug sie in die Küche. Es war noch keiner da, sein Spüler war wieder zu spät. Aber Adrian hatte noch einen Termin, den er auf keinen Fall versäumen wollte, obwohl er nicht gerade angenehm auszugehen drohte: Er würde Pia und Thibault Stein erklären, dass sie das Stiftungsprojekt vorerst auf Eis legen müssten.

Beim Rausgehen schnappte er sich die Bäckereirechnung, einen Stift und Klebeband. Auf der Rückseite des Umschlags notierte er einen Hinweis für seine Lieferanten, alles beim Nachbarn, einem furchtbar bunten Esoterikladen, abzugeben, dessen Besitzer einen großen Bart und viel Zeit hatte und in dem es stark nach Patschuli roch. Aber ein paar Stunden würden seine kostbaren Lebensmittel schon nicht kontaminieren. Obwohl man bei kalifornischen Hippie-Räucherstäbchen nie wissen konnte, dachte Adrian und zog das weiße Hemd aus der Jeans. Hier draußen, auf der Straße, brauchte er jede Luftzirkulation, die er kriegen konnte. Langsam lief er die Driggs hinunter Richtung U-Bahn. Wenigstens arbeitete er nicht zwischen den Wolkenkratzern in Midtown, sondern im eher beschaulichen Williamsburg, wo der mäßige Verkehr den Smog auf einem erträglichen Niveau hielt und wenigstens dann und wann ein Baum etwas Schatten spendete. Und die Straßen einspurig waren und der Hudson die Hektik in den Finanzhaifischbecken von Lower Manhattan hielt, wo sie hingehörte. Außerdem hätte er sich woanders ein eigenes Restaurant ohnehin nicht leisten können. Was für ein Glück, dass ich nicht zum Problemewälzen neige, dachte Adrian noch, als ein schwarzes Auto neben ihm plötzlich langsamer wurde und hupte. Eine dieser Limousinen, die man bestellen konnte wie in anderen Ländern ein Taxi, das erkannte er am Nummernschild. Der Fahrer stieg aus, ein Mexikaner mit Anzug und dunkler Krawatte.

»Mrvon Bingen, Sir?«, fragte er. »Zu Thibault Godfrey Steins Kanzlei?«

Einen kurzen Moment war er überrascht, dann nickte er. Wahrscheinlich lief im Inneren des Wagens die Klimaanlage auf vollen Touren. Die U-Bahn nach Manhattan würde einem Höllentrip gleichkommen mit ihren Stahlkolossen in den endlosen Röhren. Luftfeuchtigkeit wie im ecuadorianischen Dschungel. Den Mann schickte der Himmel.

»MrStein sagt, Sie seien bald Stiftungsvorstand und als solcher privilegiert.« Er hielt ihm sogar den Schlag auf. Wenn der wüsste, dachte Adrian ein wenig verbittert. Aber nur ein wenig. Eine Welle kühler Luft wehte ihm entgegen.

»Wie überaus aufmerksam«, murmelte Adrian und glitt auf den Rücksitz. Der Mexikaner ließ die Tür ins Schloss fallen und lief um die Motorhaube herum. Adrian konnte nur hoffen, dass Stein die Limousine vorab bezahlt hatte. Der Fahrer fuhr los und fädelte auf die Brooklyn Bridge ein, die sie nach Manhattan bringen würde, wo die Kanzlei lag. Adrian seufzte und fischte das Telefon aus der Brusttasche seines Hemds, um Pia wenigstens eine halbe Stunde vorab zu informieren, dass es endgültig nichts werden würde mit der Stiftung. Die Bilanz des Restaurants der letzten sechs Monate, die er gerade heute Morgen erst gemacht hatte, ließ keinen anderen Schluss zu. Ja, natürlich habe ich es vor mir hergeschoben, weil ich wusste, dass es nicht gut aussieht, dachte Adrian verärgert über sich selbst, als er die Nummer wählte. Ja, ich bin ein Feigling. Ein Wegläufer. Aber ich werde es trotzdem schaffen, wartet es nur ab. Er hielt das Handy ans Ohr und räusperte sich. Aber nichts geschah. Das Handy funktionierte nicht. Er warf einen Blick auf die Anzeige: Kein Empfang. Mitten in New York? Mitten auf der Straße? Verfluchtes AT&T. Er probierte es noch einmal. Immer noch nicht. Er versuchte, ein Straßenschild zu erkennen, um sich zu orientieren, als er feststellte, dass ihn der Mexikaner im Rückspiegel mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Auf einmal kam ihm sein Gesicht gar nicht mehr so freundlich vor.

»Ich befürchte, Mrvon Bingen, dass Ihr Handy hier drinnen nicht funktioniert.«

»Weil wir in Afghanistan sind?«, fragte er verärgert. Was meinte er damit?

»Nein, Sir. Sie können derzeit keine Anrufe tätigen, weil dieses Auto eine spezielle Abschirmung besitzt. Was im Übrigen, technisch gesehen, keine besonders komplizierte Angelegenheit ist.«

Redet so ein mexikanischer Limousinenfahrer? Nein, entschied Arian. Was ging hier vor? Wollte ihn der Mann entführen? Ein Entführer, der einen mit Sir anspricht? Und bei seinem Kontostand ohnehin ein grandioser Scherz. Außerdem sind Limousinen registriert, und seit dem 11. September waren George Orwells Überwachungsvorstellungen aus »1984«, verglichen mit der Überwachung der Stadt New York, nichts.

»Fahren Sie rechts ran«, verlangte Adrian.

»Ich befürchte, Sir, das ist derzeit nicht möglich.« Ein Blick nach draußen bestätigte: Sie fuhren nicht zur Kanzlei. Sondern quer durch Manhattan weiter nach Westen. Langsam, aber sicher erfasste ihn ein Anflug von Panik. Er rüttelte am Türöffner. Verschlossen. Natürlich. Der Wagen stoppte an einer Ampel. Er warf sich mit dem Rücken gegen die Tür. Trat vor Wut dagegen. Was wollte der Mexikaner von ihm?

»Mrvon Bingen«, sagte der Fahrer, seine Stimme war jetzt tonlos. »Es ist zwecklos. Bitte begreifen Sie das.« Adrian trommelte gegen die Scheibe, versuchte, den Fahrer eines Lieferwagens auf sich aufmerksam zu machen, der neben ihnen stand und mit den Fingern im Takt zu einer Musik auf die Wagentür trommelte. Er blickte beinah in ihre Richtung, ohne Adrian in die Augen zu sehen. Er musste ihn doch sehen! Adrian winkte noch verzweifelter und schlug mit der Faust gegen die Scheibe.

»Sir, ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Scheiben von außen verdunkelt sind?«

»Verdammt!«, schrie Adrian und ließ sich in den Sitz fallen. Noch einmal griff er nach dem Handy, suchte den einzigen Eintrag, von dem er annahm, dass er ihm jetzt helfen könnte: Klara Swell. Sie würde wissen, was zu tun ist. Und sie hatte eine Knarre. Aber das Handy blieb tot. Null Balken. Kein Empfang. Nichts. Adrian ballte die Hand zur Faust und ließ sich in den Sitz sinken. Was sollte er auch tun? Er brauchte eine zündende Idee.

»So ist es besser, Sir. Bitte glauben Sie mir, dass Sie nicht in Gefahr schweben. Mein Auftraggeber möchte nur in Ruhe mit Ihnen reden.«

»Das hätte er aber auch einfacher haben können«, giftete Adrian nach vorne. Er glaubte ihm nicht. Ganz und gar nicht. Und wer sollte das überhaupt sein, dieser ominöse Auftraggeber? Ein Lieferant, der sich für die unbezahlten Rechnungen rächen wollte? Er hatte bisher gedacht, dass er nicht von der Mafia beliefert würde, sondern nur von ehrlichen Händlern wie Shushu. Shushu würde ihm aber keinen Wagen schicken, Shushu würde ihm höchstens einen vergammelten Fisch vor die Tür des Lokals legen.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte der Mexikaner. »Wie Sie sehen werden, hat er eine sehr spezielle Vorstellung von Diskretion.«

Adrian starrte auf sein nutzloses Handy. »Langsam bekomme ich eine Ahnung davon«, murmelte er zu sich selbst.

»Bitte, Sir, genießen Sie die Fahrt, so gut es Ihnen in dieser für Sie sicherlich verwirrenden Situation möglich ist. Und wenn es Ihre Zeit erlaubt, lesen Sie den Vertrag.«

Was für einen Vertrag?, fragte sich Adrian. Er fingerte am Klappmechanismus der Mittelarmlehne herum. Tatsächlich lag dort ein brauner Umschlag mit einem Aufkleber darauf: Lost Souls Foundation. Stiftung der verlorenen Seelen. Seine Stiftung. Deren Name nicht einmal zwanzig Leute kannten. Die noch nicht einmal gegründet war. Mit einem letzten Funken Hoffnung warf er noch einmal einen Blick auf sein Handy und öffnete dann mit zitternden Fingern den Umschlag.

Kapitel 3

Hillsborough, New Jersey

Montag, 11.Juni

Klara startete den Boss, als sie den riesigen Geländewagen ihres Zielobjekts im Rückspiegel bemerkte. Der weiße Lincoln Navigator bog aus der steilen Einfahrt auf die Straße und fuhr langsam an ihr vorbei. Der starke V8-Motor ihres Mustangs brummte hungrig, aber trotz seiner Übermotorisierung würde er dem Mann im Suburban nicht auffallen. Denn aufgrund ihrer Überwachungsaufträge hatte sie sich für eine einfarbige Standardlackierung entschieden statt des grellen Oranges oder giftigen Grüns, den regulären Boss-Farben. Ein weiterer Kompromiss für ihren neuen Job und ein weiterer Grund, ihn besonders aufregend zu finden. Ich sollte weniger Kompromisse machen, dachte Klara, als sie den Gang einlegte. Sie ließ ihm gute hundert Meter Vorsprung, um sicherzugehen. Obwohl nicht zu erwarten war, dass er sie bemerkte. Er hatte keinen Grund, sich verfolgt zu fühlen. Und wenn doch, würde er nach einem roten Voyager Ausschau halten, dem Van seiner Frau. Klara wusste bereits, mit wem er sich treffen würde. Was ihr jedoch fehlte, waren Beweise. Fotos. Sie verfolgte die Ehemänner hysterischer, aber dafür umso reicherer Frauen, damit diese vor Gericht einen höheren Preis für ihre Scheidung erzielen konnten. Manchmal war auch ein Auftrag für Thibault Stein, einen alten Anwalt, dabei, die interessanter klangen, als sie tatsächlich waren. Alles in allem war aus der einstigen FBI-Ermittlerin eine sehr durchschnittliche Privatschnüfflerin geworden. Was zum Teil an Sam lag, der nach den Erfahrungen aus dem letzten Jahr nichts mehr von lebensgefährlichen Einsätzen wissen wollte. Sie hatten ihre Beziehung auf ernsteren Boden gestellt. Was aber nicht nur an Sam lag, musste Klara zugeben. Der Navigator bog zur Interstate 287 ab. Wie erwartet, fuhr der Inhaber einer gut gehenden Plastikpflanzenfirma nach Manhattan. In ein anonymes Hotel. Kein billiges, aber auch kein Luxusschuppen. Er traf sie nicht erst seit gestern. Und wenn es heute klappte mit den eindeutigen Bildern, wäre der Fall endlich abgeschlossen. Dann musste sie nur noch die Abschlussbesprechung mit seiner Frau überleben, ihr geheucheltes Geheule, wobei sie doch längst einen eigenen Lover unterhielt. Und die mit ihrem Mann, den sie seit Highschoolzeiten kannte, in etwa so viel Gemeinsamkeiten hatte wie ein Affe mit einem Schnabeltier.

Der Verkehr wurde dichter, und Klara beschleunigte auf der mittleren Spur, um sich ein paar Autos näher an ihn heranzupirschen, mehr aus beschäftigungstherapeutischen Gründen als aus Notwendigkeit. Nein, es lag nicht nur an Sam. Sie hatten es gemeinsam entschieden, dass er nicht mehr für das FBI arbeiten würde. Ihre eigene Kündigung hingegen war nicht gerade freiwillig erfolgt, sodass auch Michael Marin, ihren ehemaligen Chef, eine ordentliche Portion Schuld an ihrer Situation traf. Ekelhafter Karrierist, dachte Klara, als sie auf den Turnpike wechselte. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und betrauerte die verschwendeten PS, ihr verschwendetes Talent und einige weitere Vergeudungen, bis sie sich endlich daran erinnerte, wie gern sie diesen Mistkerl hatte. Den Psychologen, ehemaligen Chefermittler der NCAVC und einen der besten Polizisten, die sie kannte. Jeder muss sein Opfer bringen, damit wir funktionieren, dachte Klara. Ich weiß, Sam. Sie seufzte und wartete auf das Ende der einstündigen Autofahrt.

Es wurden anderthalb eintönige Stunden daraus, davon eine im chaotischen Nachmittagsverkehr der Innenstadt, bis der große SUV vor dem angekratzten Podest des hoteleigenen Valet Parking hielt, das 37Dollar am Tag kostete. Dafür nahmen sie einem den Wagen ab und brachten ihn gegen Aufpreis auch gewaschen und ausgesaugt zurück. Klara ließ den Boss gegenüber in einer Ladezone stehen, was nun mal nicht zu ändern war, und beeilte sich, ihm in die Lobby zu folgen. Er war beruflich der Chef der Plastikpflanzen, die billige Büros und lausige Restaurants in ganz New York begrünten, und zudem ein lauter und unangenehmer Mann. Klara fand, dass er gar nicht so schlecht zu seiner Fönfrisurfrau passte, wie die beiden dachten. Aber das war nicht ihr Job. Ihr Job war es herauszufinden, in welchem Zimmer er abstieg. Er buchte immer die Zimmer für die beiden, was Klara eine weitere Verfolgung ersparte. Scheinbar gedankenverloren fischte sie aus dem Pult des Concierges, der unmittelbar an die Rezeption grenzte, den Flyer eines Broadway-Musicals: die größte Show seit »Der König der Löwen«! Der Junge hinter dem Computer fand die Reservierung schneller, als Klara es ihm zugetraut hätte. Zimmer 748. Noch bevor der Blumenchef sich auf den Weg zu seinem Zimmer machte, steckte Klara den Werbeprospekt zurück und lief zu den Aufzügen. Zwei Geschäftsleute mit schlecht sitzenden Krawatten betraten eine der vier Kabinen, und Klara schlüpfte hinein, kurz bevor sich die Türen schlossen. Die Krawatten wollten in den vierten und fünften Stock. Klara war es einerlei, denn die Zimmerverteilung in diesen auf Effizienz getrimmten Touristenblöcken in der Nähe vom Times Square war immer gleich. Darauf konnte sich eine Privatschnüfflerin ebenso verlassen wie eine Aushilfe beim Reinigungstrupp. Sie musste nur wissen, wo die 48 lag. Sie stieg mit den Krawatten im Vierten aus und fotografierte den Stockwerkplan, der praktischerweise und aus Gründen des Feuerschutzes direkt neben den Fahrstühlen hing. Die Krawatten beachteten sie nicht, es war ihr vollkommen gleichgültig, ob sie ihr dabei zusahen. Warum sollten sie Verdacht schöpfen? Außerdem tat sie ja nicht einmal etwas Illegales. Keine zwanzig Sekunden später trug der Fahrstuhl sie schon wieder nach unten. Klara, du hast den langweiligsten Job der Welt, stellte sie fest. Ist es das wirklich wert?

Zurück beim Boss, der dankenswerterweise von keinem der notorisch übellaunigen Verkehrspolizisten in ihren eiswagenartigen Minidreirädern abgeschleppt worden war, ärgerte sich Klara immer noch. Zimmer 748 lag Richtung Osten. Es wurde als »City View« vermarktet, was nichts weiter hieß, als dass die Gäste statt eines verheißungsvoll blinkenden Lichtermeers (Metropolitain View) Backsteinmietshäuser und Klimaanlagenschlote zu sehen bekamen. Für Klara, die derzeit um jedes My Adrenalin betteln musste, hieß das: kein Bürogebäude mit Wachschutz. Keine Glasfassade. Sondern einfach nur ein Mietshaus. Eine kurze Fahrt um den Block brachte ihr neben einer legalen Parkoption in einer Tiefgarage zu immerhin nur 15 Dollar die Stunde auch die Erkenntnis, dass es zumindest ein Gebäude gab, das hoch genug war, um ihr Fotos aus einem sinnvollen Winkel zu ermöglichen. Betrogene Ehefrauen wollen immer ganz genau sehen, mit wem ihr Mann sie hinterging. Und möglichst auch, wie. Warum das so war, erschloss sich Klara nicht. Masochistische Züge? Oder mussten sie einfach der Wahrheit ins Auge blicken? Sie hatte noch niemals in dem Jahr, den sie diesen lausigen Job machte, erlebt, dass sich einer der Typen eine genommen hätte, die schlechter aussah als seine Frau. Sie suchten schon eine Verbesserung für den ganzen Aufwand, das Geld, die Geschenke und das Scheidungsrisiko. Die Neuen waren zwar meist nicht klüger, gebildeter und in Klaras Augen durchaus nicht attraktiver als die Ehefrauen, bloß jünger. Und alberner. Sie musste bei Gelegenheit mal mit Sam über die Motivation der Ehemänner reden. Es interessiert mich tatsächlich, stellte Klara fest. Ein Lichtblick, dass mich mal etwas interessiert, was mit dem Job zu tun hat.

Bevor Klara den Boss am Parkhaus abgab, tauschte sie ihre Lederjacke gegen die Lieferantenweste eines Pizzadienstes. Die dünne Variante, denn außerhalb der angenehmen Kühle ihres Autos war es verdammt heiß in der Stadt. Sie zögerte kurz, ob sie auch den Motorradhelm mitnehmen sollte, und entschied sich dann dafür. Sie ging nicht davon aus, dass es einen misstrauischen Türsteher geben würde, aber man konnte nie wissen. Manche der Hochhäuser waren bereits renoviert, aber die meisten waren immer noch Sozialwohnungen, im gleichen Zustand wie seit 50Jahren. Und je niedriger der Mietpreis war, umso weniger motiviert waren nun einmal die Sicherheitsleute. Einfach deshalb, weil es wenig zu stehlen und daher auch selten Probleme gab. Klara faltete zwei Pizzaschachteln, packte ihre Kamera und das kleine Stativ in die riesige Tasche mit dem Werbeaufdruck des Lieferservices und ihre Picks in die Hosentasche. Dann fuhr sie den Boss das kleine Stück die Straße runter und ließ sich den netten Mann vom Parkservice darüber wundern, wie ein Pizzabote zu einem Mustang Boss kommt und warum er sich beim Ausliefern ein Parkhaus für 15Dollar leistet. Wenn das überhaupt einen Sinn ergeben hätte, aber Klara hatte die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen im Schnitt keine 30Sekunden über etwas wundern, dass sie nicht verstehen, und es dann vergessen. Das galt insbesondere für New Yorker.

Im Erdgeschoss saß tatsächlich eine Art Wachdienst, der jedoch seinen Namen nicht verdiente. Klara hätte es sich auch sparen können, sich im Vorbeigehen einige Namen aus dem sechsten Stock zu merken, in den sie gar nicht wollte, denn er hatte keine Fragen an den Pizzaboten, der einen Namen nuschelte und Schachteln trug, die in seiner Erwartungshaltung appetitlich dampften. Das menschliche Gehirn ist zu erstaunlichen Leistungen fähig, vor allem wenn es um die Erwartungshaltung geht. Eine von Sams Lieblingslektionen an der Uni, und sie war tatsächlich auch für die ganz praktische Polizeiarbeit hilfreich. Zum Beispiel, wenn sich ein Wachmann ganz sicher an den Geruch von frisch gebackenem Teig und Mozzarella erinnert, auch wenn die Pappschachteln niemals eine Margarita gesehen hatten. Wie schon erwähnt, hätte man sich dies alles heute sparen können, vermerkte Klara, als sie im achten Stock angekommen war. Selbst wenn er nach einer halben Stunde misstrauisch würde, da sie das Gebäude nicht verlassen hatte. Er würde im sechsten Stock mit seiner halbherzigen Suche anfangen. Mehr als genug Zeit für sie zu verschwinden. Diese Mechanismen, mit denen Klara in der Vergangenheit schon in wesentlich besser gesicherte Gebäude gelangt war und auch zweimal aus einem Gefängnis hinaus, waren ihr dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie nicht einmal mehr darüber nachdachte. Klara »Sissi« Swell, die Einbrecherkönigin des FBI. Mit Sam zusammen das erfolgreichste Team des New Yorker Büros. Gefeiert und belobigt – bis sie einmal erwischt worden war. Im Haus eines Senators mit sehr widerlichen Beweisen für seine Bestechlichkeit und noch viel widerlicheren Kungeleien in seinem Computer. Sie würde nie wieder in den Knast gehen, dachte Klara, als sie an der ersten Tür klingelte. 8G. Niemand antwortete. Sie klopfte. »Davini’s Pizza, einmal Margarita, einmal Meeresfrüchte.« Die Tür knarzte und öffnete sich einen Spalt, bis sie von einer dünnen Kette zurückgehalten wurde. Ein alter Mann in einem blau-rot gestreiften Bademantel. Er hielt eine riesige Fernbedienung in der Hand. »Nix bestellt!«, blaffte er.

»Ist das nicht 8E?«, flötete Klara mit ihrem schönsten Pizzabotinnenlächeln hinter dem Visier des Helms, der Authentizität willen.

»8G, Dummchen.« Da war die Tür schon wieder zu. Natürlich, wie konnte ich nur so dumm sein, dachte Klara und schellte an der nächsten Tür. Glück hatte sie jedoch erst bei der vierten. Als auch nach mehrmaligem Klopfen und Klingeln niemand öffnete, zog sie den Pick aus der Hosentasche. So viel zum Thema nie wieder Knast, dachte Klara und hatte das Schloss schon geöffnet.

Als der Schließmechanismus klickte, drückte Klara die Tür nach innen auf, und ihr schlug ein bestialischer Gestank nach verdorbenen Lebensmitteln entgegen. Irgendetwas blockierte die Tür, sodass sich Klara durch einen engen Spalt in die Wohnung zwängen musste. Überall in dem winzigen Flur lagen Müllsäcke. Kleine Schmeißfliegen waren aufgeschwirrt, als sie mit der Tür gegen die Plastiksäcke gestoßen war. Klara war heilfroh, dass sie den Helm aufhatte, ohne wäre sie vermutlich Gefahr gelaufen, in Ohnmacht zu fallen. Sie versuchte, so gut es ging in den Stoff zu atmen, und stakste über die Müllsäcke hinweg ins Wohnzimmer. Kein Zweifel: Sie hatte sich die Wohnung eines Messies ausgesucht. Das gesamte Apartment war vollgestellt mit Regalen, aus denen wertloser Tand und Abfall herausquollen. Alte Zeitungen, Plattenspieler, staubige Gefäße, nicht abgewaschenes Geschirr mit versteinerten Essensresten. Zu allem Überfluss bemerkte sie mindestens acht Katzen, die sich bemühten, ein Plätzchen in dem Chaos zu finden. Sie öffnete das große Fenster, ein Schwall klarer Luft strömte herein, sodass sie sich traute, den Helm abzunehmen. Klara bückte sich und kraulte ein besonders verwahrlost aussehendes Tier hinter den Ohren. Es war eine riesige grell orangefarbene Katze mit gelben Augen. Ein lautes Schnurren ließ erkennen, dass das schon viel zu lange niemand mehr gemacht hatte. In einem der Regale fand sie eine flache Schale, die außer einer dicken Staubschicht einigermaßen sauber aussah. Im Bad füllte sie Wasser hinein und räumte ein Stück Fußboden für die Katzen frei, indem sie einfach einige Zeitungen auf einen alten Plattenspieler warf.

Am Fenster überprüfte sie die Lage von Zimmer 748 im Gebäude gegenüber, und es zeigte sich, dass sie sich nicht verrechnet hatte. Der Pizzatasche entnahm sie ihre Nikon mit dem Teleobjektiv und schraubte sie auf das einbeinige Stativ. Sie musste sich einen weiteren Stapel Zeitungen suchen, um mit ihren 1,67Meter einen anständigen Winkel auf den siebten Stock des Hotels zu haben, der ein wenig tiefer lag. Zimmer für Zimmer suchte sie die Fassade ab, bis sie ihr Ziel gefunden hatte. Der Ehemann kam gerade aus der Dusche, er trug einen Bademantel des Hotels. Sollte sie etwa zu spät gekommen sein? Laut seinem Terminkalender hatte er das »Kunden«-Treffen erst um vier. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 3:55Uhr.

Zehn Minuten später wurde Klara wieder einmal bestätigt, dass sich Terminkalender selten irren, zumindest was die Zeiten angeht. Um 4:04Uhr öffnete der Plastikpflanzengeschäftsführer seine Hotelzimmertür. Tatsächlich immer noch im Bademantel, was Klara an seinen Qualitäten als Liebhaber zweifeln ließ. Sie schoss ein paar Bilder. Die Frau, die sein Zimmer betrat, sah aus wie eine Geschäftsfrau. Eine sehr gut aussehende Geschäftsfrau, wie Klara zugeben musste. Kurze rote Haare, perfekt geschminkt. Die Geschäftsfrau schien keinesfalls irritiert, ihn im Bademantel zu sehen. Im Gegenteil. Vermutlich kannten sie sich tatsächlich schon länger. Klara betätigte den Auslöser. Der Spiegel der Kamera klackte. Die Frau nahm einen Umschlag entgegen, lächelte verführerisch. Sie freute sich offenbar sehr, ihn im Bademantel vorzufinden, denn sie nahm ihn in die Arme und streichelte seinen Nacken. Schaute ihm tief in die Augen. Dann knöpfte sie ihre Bluse auf. Viel zu schnell für Klaras Geschmack. Aber sie hat sich auf das Treffen gefreut, merkte Klara. Sie trug vermutlich ihm zuliebe dunkle Wäsche, die sehr teuer sah. Wenn ich zwei und zwei zusammenzähle, murmelte Klara hinter ihrer Kamera, dann bist du keine reguläre Geliebte, Herzchen. Sondern eine Professionelle. Ihre Auftraggeberin würde ihre Bilder trotzdem bekommen. Und sie werden genauso oder gar noch ein wenig wertvoller sein. Mein Honorar hat sich gerade um fünfhundert Dollar erhöht, dachte Klara zufrieden.

Und der atemberaubend aussehende Escort hatte gehalten, was er versprochen hatte, dachte Klara, als sie eine halbe Stunde später aus dem Haus trat. Sie ließ sich den Mustang bringen und fuhr nach Hause. Auf dem Weg griff sie nach ihrem Handy, das sie im Handschuhfach gelassen hatte. Eine Nachricht von Pia: Ob sie wisse, wo Adrian stecke. Irgendeine Sache mit seiner Stiftung. Die reden auch von nichts anderem mehr, dachte Klara. Und klar, Pia, natürlich weiß ich, wo dein Verlobter ist, weil ich ja einfach alles weiß. Weil ich ja jetzt einfach die Informationstante bin. Und wenn ich etwas nicht weiß, kann man mir ja einfach ein paar Mäuse zahlen, und dann finde ich es schon für dich raus. Ich hasse diesen Job.

Dann suchte sie die Nummer der Tierrettung New York. Sie hatte sich vorgenommen, ihr Honorar zur Abwechslung in etwas wirklich Sinnvolles zu investieren.

Kapitel 4

Jersey City, New Jersey

Montag, 11.Juni

Nach dem Holland Tunnel änderte sich das Stadtbild drastisch. Die tiefen Häuserschluchten von Manhattan wichen fünfstöckigen Wohnhäusern, die mit jedem weiteren Kilometer an Glanz verloren. Adrians Nerven hatten sich nach der Lektüre des Dokuments in dem braunen Umschlag einigermaßen beruhigt. Zumindest war er relativ sicher, dass er nicht entführt wurde, wobei es sich entschieden so anfühlte. Der mexikanische Fahrer warf von Zeit zu Zeit einen Blick in den Rückspiegel, offenbar um sich Adrians Geisteszustands zu versichern. Über Letzteren war er sich selbst nicht ganz im Klaren. Das Dokument gab mehr Rätsel auf, als es löste. Sicher war nur, dass, wer auch immer ihm die Limousine geschickt hatte, genauestens über seine Pläne informiert war, was die Lost Souls Foundation anging. Die Stiftung war Adrians wichtigstes Projekt, je nach Tageszeit kam sie knapp vor oder hinter dem Restaurant. Seit er im letzten Jahr seine Frau beerdigt hatte, nach acht quälenden Jahren, war in ihm der Entschluss gereift, etwas für die anderen zu tun. Denen zu helfen, die immer noch in der Situation steckten, die ihn selbst beinah umgebracht hätte: die nagende Ungewissheit. Seine geliebte Jessica war vor acht Jahren während ihrer Flitterwochen auf Hawaii von einem Badeausflug nicht zurückgekommen. Man fand ihren Wagen ausgebrannt am Rand eines Bambusdschungels. Aber keine Spur von ihr. Und deshalb hatte sich weder die Polizei von Maui noch das FBI, noch irgendeine andere Behörde sonderlich dafür interessiert. Erst hatten sie ihm versprochen, sie komme bestimmt zu ihm zurück. Später hatten sie mit den Schultern gezuckt und zähneknirschend zugegeben, dass sie Jessica ohne Leiche nicht als Mordfall behandeln konnten. So sei nun einmal das Gesetz. Und es wisse ja niemand, ob sie wirklich tot sei. Adrian war immer überzeugt davon gewesen, aber die winzige Hoffnung, dieser niemals weichende Prozentsatz einer Chance, und sei er noch so klein, hatte ihm fast den Verstand geraubt. Bis im letzten Jahr Sam Burke und Klara Swell den Täter gefasst hatten. Mehr oder weniger aufgrund eines Zufallstreffers ihres FBI-Computergenies bei einem Bilderabgleich von Internetfotos mit der Vermisstenkartei. Nach acht Jahren. Adrian stoppte seine Gedanken an die Videos, die sie von Jessica gefunden hatten. Ihre Qualen, schließlich ihr Tod. Er konnte die Bilder kaum ertragen. Und doch waren sie ein Grundpfeiler der Lost Souls Foundation, die sich um unerkannte Mordserien kümmern sollte. Die Stiftung würde dem Zufall systematisch auf die Sprünge helfen. Damit es endlich eine Institution gab, die sich um die Wahrheit hinter den Vermisstenfällen kümmerte. Um andere wie ihn. Um die zweite Reihe. Die Menschen hinter den Opfern. Offenbar hatte er sich das allerdings viel zu einfach vorgestellt. Anfangs hatte er angenommen, der Name seiner Familie würde ihm einige Türen öffnen, nur um festzustellen, dass die feine New Yorker Gesellschaft ihre eigenen Regeln hatte. Und ein europäisches Adelsgeschlecht nicht unbedingt als Eintrittskarte gewertet wurde, im Gegenteil. Pia hatte ihn bekniet, seinen Vater zu bitten, aber das kam für Adrian nicht infrage. Zwar waren sie dank Pias diplomatischer Fähigkeiten mittlerweile wieder in der Lage, gemeinsam ein Restaurant zu besuchen, ohne sich gegenseitig an den Kragen zu gehen, aber er hatte nicht vergessen, dass ihn sein Vater hochkant der Tür verwiesen und aus dem Testament gestrichen hatte, als er die Kochlehre begonnen hatte. Von Bingens wurden Juristen oder Firmenlenker, seinethalben noch Historiker mit ordentlicher Professur. Aber Koch? Adrian jedoch hatte seinen eigenen Weg gehen und seine Leidenschaft zum Beruf machen wollen. Zur Not gegen den Willen seiner herrschsüchtigen Familie. Er hatte sein Elternhaus nie wieder betreten. Und Jessica hatte seine Eltern deshalb nie kennengelernt. Nein, diesen Teil seines Lebens würde er ohne Hilfe seiner Verwandtschaft auf die Beine stellen müssen. Und vielleicht bot ihm der Inhalt des Umschlags, der bedrohlich und verheißungsvoll zugleich neben ihm auf dem Rücksitz lag, tatsächlich eine Gelegenheit.

Irgendwo in Jersey City, Adrian hatte längst jede Orientierung verloren, holperte der Wagen über einen Bordstein auf einen großen betonierten Platz. Sie hielten direkt in der Mitte. Adrian griff ohne viel Hoffnung zum Türöffner. Natürlich nicht. Der Mexikaner drehte sich zu ihm um.

»Sie haben das Dokument gelesen?« Adrian nickte. »Demnach werden Sie nicht fortlaufen, nehme ich an?« Er schüttelte den Kopf. Nein, nicht mehr. Wenn sie ihn hätten entführen oder umbringen wollen, hätten sie das anders angestellt. Sie boten ihm etwas an, was er wollte. Und sie diktierten dafür die Bedingungen, auch wenn Adrian ein ungutes Bauchgefühl hatte, was derartige Methoden am Anfang einer Geschäftsbeziehung anging. Die Mafia? Möglich. Aber warum sollten ihm Verbrecher so etwas anbieten? Nein, es musste eine andere Erklärung geben. Und deshalb würde er abwarten.

»Nur eine Regel«, sagte der Mexikaner. Adrian schaute ihm auf den Bart. »Wenn er kommt, steigen Sie wieder ein.«

Adrian blickte sich um. Der Platz war menschenleer, und es sah nicht so aus, als käme im nächsten Augenblick ein Bus voller Jugendlicher, die ausgerechnet jetzt Basketball spielen wollten. Er nickte erneut. In der Tür klackte ein Mechanismus, als der Mexikaner entriegelte. Erleichtert stieg Adrian aus dem Wagen und wurde von einer Walze stickiger, glühend heißer Stadtluft erschlagen. Es musste noch um die vierzig Grad warm sein, selbst jetzt am Nachmittag. Und der Asphalt trug nicht gerade dazu bei, die Hitze zu lindern. Dünne Grashalme kämpften sich durch wie zufällig entstandene Risse, enger Maschendraht umzäunte das gesamte Areal. Am anderen Ende hingen zwei Basketballkörbe mit Netzen aus Ketten, in den Ecken standen mit Abfall vollgestopfte, verrostete Ölfässer. Adrian hörte das Ploppen von Tennisbällen auf den anliegenden öffentlichen Plätzen und den schwer arbeitenden Motor eines anfahrenden Lastwagens. Er blinzelte in die Sonne und lief um den Wagen herum, um sich die Beine zu vertreten. Und um sich das Nummernschild und den Aufkleber des Limousinenservices einzuprägen. Er war sich zwar nicht sicher, ob beides echt war, aber schaden konnte es nicht. Wie auch immer das hier ausging. Sein Fahrer hieß laut dem Ausweis am Handschuhfach Enrigo Hernandez. Falls er nicht gefälscht war. Alles erschien Adrian heillos kompliziert. Er hatte gerade seine möglichst entspannt wirkende Runde um das Auto beendet, als er bemerkte, dass eine zweite Limousine auf den Platz schaukelte. Sie war identisch mit der, in der er bis eben noch gesessen hatte. Enrigo klopfte aufgeregt an die Scheibe. Adrian warf einen letzten Blick zurück und stieg wieder in den Fond. Kaum hatte er die Tür geschlossen, hörte er das vertraute Klicken der Zentralverriegelung. Er war wieder eingesperrt. Der zweite Wagen rollte neben ihren und hielt ein kleines Stückchen weiter vorne. Ein Mann in einem Anzug stieg aus, er trug eine Sonnenbrille und bemühte sich auffällig, ihm unauffällig den Rücken zuzudrehen. Der Mann öffnete die Tür und glitt auf den Beifahrersitz. Ein dezentes, teures Parfum. Adrian starrte ihm auf den Hinterkopf und versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, was nicht leicht war, denn sie schwankten immer noch zwischen Neugier und einem sehr miesen Grummeln im Bauch.

»Ich vermute, Sie haben das Dokument gelesen?«, fragte der Mann. Ostküstenakzent. Sehr kultiviert. Gebildet. Höflich. Auch die Mafia war mittlerweile gebildet und bisweilen höflich, erinnerte sich Adrian. Er nickte mit trockenem Mund.

»Ich bin gekommen, um Ihre diesbezüglichen Fragen zu beantworten«, fuhr der Unbekannte fort. Hernandez kaute währenddessen scheinbar abwesend einen Kardamomsamen. »Haben Sie Fragen zu unserem Angebot, Adrian?«

Adrian zog die Blätter aus dem Umschlag. »Vertrag zwischen der Soulmate LLP und der Lost Souls Foundation« stand auf dem Titelblatt.

»Na ja, wir könnten zum Beispiel damit anfangen«, begann Adrian, »dass Sie mir erklären, wer zum Teufel diese Soulmate LLP ist, die mir diesen Vertrag anbietet.«

Der Mann auf dem Vordersitz zeigte keine Regung. Sein Kopf blieb starr nach vorne gerichtet, er bewegte sich keinen Millimeter, während er ruhig antwortete: »Die Soulmate LLP ist eine Firma mit Sitz auf den Cayman Islands, die eigens für diese Investition gegründet wurde.«

Adrian lachte, halb aus Verzweiflung, halb aus Ungläubigkeit: »Sie wollen mir erzählen, dass jemand eine Firma gründet, damit sie meiner noch gar nicht gegründeten Stiftung zwei Millionen Dollar überschreibt?«

»Das ist korrekt.« Keine Regung. Weder der Stimme noch des Kopfes.

»Und warum sollte irgendjemand so etwas Verrücktes tun?«

»Das weiß ich nicht.« Der Mann war glatter als ein frisch gefangener Aal. Ein Faktum. Er weiß es nicht. So einfach ist das.

»Was soll das heißen, das wissen Sie nicht? Das heißt, Sie investieren nicht in meine Stiftung?«

»Doch. Ich bin der Geschäftsführer der Soulmate LLP.«

»Aber dann werden Sie doch wohl wissen, warum Sie investieren wollen.«

»Schauen Sie, Adrian. Glauben Sie wirklich, dass jemand, der zwei Millionen Dollar für einen guten Zweck ausgeben kann, die Zeit hat, sich hier mit Ihnen zu treffen?« Er schnippte zu den zwei Millionen mit den Fingern, um zu verdeutlichen, wie unbedeutend sie für den Wer-auch-immer waren.

»Wo wir dabei sind«, ätzte Adrian jetzt, »ich hatte nicht gerade um ein derartiges Treffen gebeten. Es gehört nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, von einem wild gewordenen Mexikaner entführt zu werden.«

Hernandez grinste und schob den Kardamomsamen zwischen den Schneidezähnen hin und her. Der Hinterkopf zeigte keine Regung.

»Es war notwendig, denn es ist uns sehr wichtig, dass bei dieser Transaktion strikte Diskretion gewahrt wird.«

»Soso, Diskretion«, redete sich Adrian in Rage. »Und deshalb darf ich auch nicht wissen, wer mit mir Geschäfte macht und auf wen ich mich einlasse?«

Der Hinterkopf seufzte: »Schauen Sie, Adrian.« Er sagte offenbar gerne ›Schauen Sie‹. Vermutlich ein Anwalt oder ein Politiker. »Es ist doch ganz einfach: Wir geben Ihnen das Geld für Ihre Stiftung. Wir stehen hinter dem, was Sie tun. Wir möchten Sie unterstützen. Die Lost Souls Foundation soll ungeklärte Mordserien aufdecken? Sie haben unsere Unterstützung. Es gibt viele Gründe, warum reiche Menschen nicht möchten, dass man weiß, für welchen guten Zweck sie ihre Gelder spenden. Die Steuerfahndung, die Presse, suchen Sie sich etwas aus. Aber es ist durchaus nichts Ungewöhnliches.«

Nicht ungewöhnlich? Klar, dachte Adrian. Genauso wie diese Limousine und der letzte Paragraf. Er blätterte bis zur hintersten Seite des Vertrags. Sonstige Bestimmungen.

»Die Lost Souls Foundation erklärt in ihrem Stiftungszweck unwiderruflich, keine Fälle zu untersuchen, die mit Hyannis Port, Connecticut, in Zusammenhang stehen. Der Ausschluss gilt für Vorfälle beginnend mit dem 01. 01. 1990 und endet mit dem 31. 12. 2005. Die Lost Souls Foundation erklärt bei Zuwiderhandlung eine vollständige, unverzügliche Rückzahlungspflicht sämtlicher Zuwendungen seitens der Soulmate LLP. Die Soulmate LLP ist ausdrücklich befugt, im Falle einer nicht fristgerechten Rückzahlung der Zuwendungen ein Insolvenzverfahren gegen die Lost Souls Foundation einzuleiten.«

»Und was ist mit Hyannis Port?«, fragte Adrian, nachdem er den Absatz noch einmal gelesen hatte. Für ihn als juristischen Laien schien das der einzige Haken des Vertrags zu sein.

»Wie Sie sicher gelesen haben, erklären wir gleichzeitig an Eides statt, dass es sich bei den ›Vorfällen‹ in Hyannis Port«, er setzte das Wort »Vorfälle« mit seinen manikürten Fingern in Anführungszeichen, »auf die sich dieser Absatz bezieht, keine ›Vorfälle‹ im Sinne des Stiftungszwecks sind.«

»Im Klartext?«, verlangte Adrian.

»Schauen Sie, Adrian. Wir reden über einen Menschen, der sehr viel Geld hat, denn er gibt Ihnen zwei Millionen für Ihre Stiftung. Ohne Konditionen, ohne den Steuervorteil für sich zu nutzen. Einfach so. Solche Menschen haben ein anders geartetes Bedürfnis nach Privatsphäre. Stellen Sie sich einmal vor, unser Geldgeber wäre George Clooney.«

Langsam geht mir der Hinterkopf ganz schön auf den Zeiger mit seinem blasierten Schauen-Sie-Getue, seiner Anwaltssprache und dem affektierten Akzent, ärgerte sich Adrian. Der Hinterkopf roch nach Geld. Viel Geld. Es war ein Geruch, den Adrian nicht mochte. Er kannte ihn von seinem Vater. Und er war immer mit dieser Arroganz gepaart, sich die Welt kaufen zu können.

»Natürlich ist es nicht George Clooney«, fuhr der Hinterkopf unbeirrt fort.

»Natürlich nicht«, sagte Adrian trocken.

»Aber nur einmal angenommen. Als Schauspieler hätte er ein riesiges Problem, wenn zum Beispiel rauskäme, dass er eine uneheliche Tochter in Hyannis Port hat, die er zwar seit Jahren finanziell unterstützt, aber die er noch nie gesehen hat. Die ein Teenagerunfall war vor über dreißig Jahren. Wenn das rauskäme, wäre sein Ruf dahin und die Einbußen für ihn persönlich – auch finanziell – immens. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

»Schon klar. Sie wollen mir zwar Geld geben, aber Ihr schönes Geheimnis soll gewahrt bleiben. Und anscheinend ist es Ihrem Herrn Geldgeber sogar zwei Millionen wert, dass dieses Geheimnis gewahrt bleibt, nicht wahr?«

Adrian glaubte, den Mann auf dem Vordersitz lächeln zu spüren.

»Das weiß ich nicht. Aber möglich wäre es.«

Adrian schluckte. Das Geld, die Stiftung. Vielleicht war es ja wirklich so, wie der Mann sagte, und es handelte sich einfach nur um eine Kleinigkeit. Juristisch lange verjährt, aber trotzdem für den Geldgeber persönlich unangenehm. Das Geld würde derart viele Probleme in Adrians Leben lösen, dass er es eigentlich nicht ablehnen durfte. Was sollte er tun? Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass er sich verkaufte, wenn er unterschrieb. Und was, wenn sie ihn nicht mehr zurückfahren ließen, wenn er sich nicht freiwillig in ihre Klauen begab? Würden Sie ihn einfach gehen lassen? Oder würde der Mexikaner eine Knarre ziehen und ihn in irgendeinem Waldstück erledigen? In einem Waldstück. Wie Jessica. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken an die Vergangenheit zusammen. Er wollte es für sie tun. Die Stiftung war ihr Andenken. Er durfte nicht scheitern. Adrian wusste nicht mehr weiter.

»Ehrlich gesagt«, stammelte er schließlich nach gefühlten fünf Minuten Bedenkzeit, »weiß ich nicht, was ich sagen soll.«

Ende der Leseprobe