Ich.Bin.Jetzt. - Su Busson - E-Book

Ich.Bin.Jetzt. E-Book

Su Busson

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  • Herausgeber: Orac
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Es gibt zwei Fehler, die man auf seinem Weg zur Wahrheit machen kann: Nicht den ganzen Weg gehen, und nicht beginnen. (Buddha) Der achtfache Yoga-Pfad ist ein seit Jahrtausenden erprobter Weg, um sich aus eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern zu befreien und sein inneres Potenzial zu entfalten. Selbstverwirklichung und innere Harmonie sind dabei das Ziel. Su Busson erklärt auf verständliche, praktische und zeitgemäße Weise die spirituellen Grundprinzipien wie Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Zufriedenheit und Selbstdisziplin, ebenso wie die weiteren Bestandteile des achtfachen Yoga-Pfades: Körperhaltungen, Lenkung der Lebensenergie, Rückzug der Sinne, Konzentration, Meditation und Einheitsbewusstsein. Neben traditionellen yogischen Zugängen fließen moderne, westliche Ansätze und zahlreiche Übungsvorschläge in dieses Buch ein. Es geht letztlich immer um das, was Yoga im Alltag bedeutet: Leben im Jetzt.

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Seitenzahl: 286

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Su Busson • Ich.Bin.Jetzt.

Su Busson

Ich. Bin. Jetzt.

Auf dem achtfachen Yoga-Pfad zu sich selbst finden

Alle Angaben in diesem Buch wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Sach-, Vermögens- und Personenschäden ist ausgeschlossen.

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0550-0 Copyright © 2013 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Einbandgestatung: Sophie Weidinger, section.d Grafische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Im Yoga leben heißt unmittelbar, von Augenblick zu Augenblick, ohne hemmende Bindung an die Vergangenheit ohne eingeschliffene Gewohnheiten und ohne überkommene Weltanschauung zu leben.

Patanjali

Inhaltsverzeichnis

I. Über dieses Buch

II. Viel mehr als östliche Gymnastik

III. Raja Yoga – Der königliche Weg

IV. Der achtfache Pfad

1. YAMA – ÜBER DEN UMGANG MIT ANDEREN MENSCHEN UND DER UMWELT

1.1. Ahimsa – Gewaltlosigkeit

Wie werden wir gewalt-los?

Woran wir uns erinnern müssen

Das Ergebnis vollkommener Gewaltlosigkeit

Ahimsa: Übungspraxis für den Alltag

1.2. Satya – Wahrhaftigkeit

Warum lügen wir?

Die Kraft der Wahrhaftigkeit

Satya: Übungspraxis für den Alltag

1.3. Asteya – Nicht-Stehlen

Warum stehlen Menschen?

Vom Mangel zum Reichtum

Asteya: Übungspraxis für den Alltag

1.4. Brahmacharya – Im Bewusstsein der All-Seele handeln

Die Sache mit dem Sex

Alles mit Maß

Der inneren Wahrheit folgen

Brahmacharya: Übungspraxis für den Alltag

1.5. Aparigraha – Nicht-Besitzen

Der Preis des Besitzes

Sich selbst treu sein

Aparigraha: Übungspraxis für den Alltag

2. NIYAMA – ÜBER DEN UMGANG MIT SICH SELBST

2.1. Saucha – Reinheit

Körperliche Reinigung

Die yogische Ernährung

Geistige Hygiene

Reines Sein

Saucha: Übungspraxis für den Alltag

2.2. Santosha – Zufriedenheit

Wie der Geist innere Unzufriedenheit sät

Mit sich selbst zufrieden sein

Santosha: Übungspraxis für den Alltag

2.3. Tapas – Selbstdisziplin

Mehr Disziplin, bitte

Das höchste Ziel verfolgen

Tapas: Übungspraxis für den Alltag

2.4. Svadhyaya – Selbststudium

Verbindung mit der inneren Göttlichkeit

Svadhyaya: Übungspraxis für den Alltag

2.5. Ishvara Pranidhana – Hingabe an das Göttliche

Vertrauen in die universelle Kraft

Dein Wille geschehe

Im Augenblick leben

Ishvara Pranidhana: Übungspraxis für den Alltag

3. ASANA – DIE KÖRPERHALTUNGEN

Körper, Geist und Seele in Einklang bringe

Die Yamas und Niyamas in der Asana-Praxis

4. PRANAYAMA – DIE LENKUNG DER LEBENSENERGIE

Atmen heißt leben

Pranayama Basics

Atemübungen für den Alltag

5. PRATYAHARA – RÜCKZUG DER SINNE

Wie uns unsere Sinne täuschen

Die Sinne entlasten

Sein mit allen Sinnen

Pratyahara: Übungspraxis für den Alltag

6. DHARANA – KONZENTRATION

Die Kraft der Konzentration

Dharana: Übungspraxis für den Alltag

7. DHYANA – MEDITATION

Meditation – der Zustand des Seins

Zugang zum wahren Selbst

Passive und aktive Meditation

Dhyana: Übungspraxis für den Alltag

8. SAMADHI – ERLEUCHTUNG

Vom Erwachen zur Erleuchtung

Das Streben nach Erleuchtung

Danksagung

Kontakt

Anmerkungen

Literatur

I. Über dieses Buch

Dieses Buch ist eine Auftragsarbeit. Kein herkömmlicher Auftrag, wie Sie vielleicht meinen. Ich saß vielmehr im Flugzeug – allein in einer Sechserreihe und gerade auf dem Rückweg von einem intensiven Yoga-Lehrertraining –, als eine innere Stimme mich aufforderte: „Schreib über den achtfachen Yoga-Pfad in der heutigen Zeit.“ „Was? Ich? Ich hab doch viel zu wenig Ahnung davon.“ Die Antwort war klar und deutlich, wenn auch etwas monoton: „Schreib über den achtfachen Yoga-Pfad in der heutigen Zeit.“ In Sekundenschnelle überprüfte mein Verstand diese Idee und kam zu dem Schluss: „Unmöglich! Unzählige Experten könnten dieses Werk in Frage stellen und kritisieren. Tut mir leid, das geht nicht.“ Die Stimme blieb hartnäckig: „Schreib über den achtfachen Yoga-Pfad in der heutigen Zeit.“ Stille. Mir dämmerte: Ich werde dieses Buch schreiben, was auch immer dabei herauskommt.

Zwei Punkte vorweg. Sollten Sie mit dem, was wir üblicherweise hierzulande unter Yoga verstehen, nichts am Hut haben, legen Sie das Buch bitte nicht gleich wieder aus der Hand. Es werden hier keine Körperübungen beschrieben und Sie müssen keinen Fuß auf eine Yogamatte setzen, um dennoch von diesem Werk zu profitieren. Haben Sie sich hingegen schon mit der Philosophie und dem, was Yoga wirklich ist, beschäftigt, will ich Sie nicht enttäuschen: Das Buch ist keine klassische Interpretation des Yoga Sutra1 (hervorragende Werke in dieser Richtung finden Sie im Literaturanhang), sondern eine sehr moderne, lebensnahe und auf unseren westlichen Alltag abgestimmte Auslegung des achtgliedrigen Yoga-Pfades2. Neben traditionellen yogischen Sichtweisen finden Sie darin genauso westliche Ansätze und Übungsvorschläge. Die Kenntnisse darüber und die Ideen dazu verdanke ich einer Vielzahl von Menschen, allen voran meinen weltlichen, spirituellen und geistigen Lehrern. Dieses Wissen möchte ich mit Ihnen teilen und ich hoffe, Sie finden auf diesem Weg zu Ihrer inneren Wahrheit, die Ihr ganzes Leben bereichert und verwandelt.

II. Viel mehr als östliche Gymnastik

Yoga. Fast jeder hat schon davon gehört. Unzählige haben es selbst schon ausprobiert. Viele schwören darauf. Doch wenige wissen, worum es dabei wirklich geht.

Bei uns im Westen halten die meisten Menschen Yoga für eine jahrtausendealte indische Form von Gymnastik. Was in den 70er- und 80er-Jahren nur ein paar Freaks begeistern konnte, liegt heute voll im Trend. Wen wundert’s. Yoga wurde uns in den letzten Jahren als Schönheitsgeheimnis von Superstars wie Madonna, Sting, Matthew McConaughey, Gwyneth Paltrow oder Jennifer Aniston verkauft und gilt als Wundermittel für körperliche Gesundheit, mentale Stärke und seelisches Wohlbefinden.

Klingt vielversprechend. Ist nicht einmal unwahr. Oder sagen wir so: Wer sich einer regelmäßigen Yoga-Praxis unterzieht – die Sonne grüßt3, Asanas4 übt, Bandhas5 aktiviert und yogisch atmet –, wird in der Regel belohnt. Die meisten Yogis fühlen sich nicht nur nach ihrer Übungspraxis wohler in ihrer Haut, sondern sind auch im Alltag entspannter und ausgeglichener. Figur und Fitness verbessern sich. Körper und Geist werden flexibler und weniger stressanfällig. Kleine und oft auch größere Wehwehchen verschwinden. Das ist schön und gut, aber noch lange nicht alles. Wer sich ein wenig intensiver mit Yoga auseinandersetzt, entdeckt noch wesentlich mehr.

Yoga ist eine jahrtausendealte indische Lehre, die ursprünglich gar nichts mit Fitness zu tun hatte. Während es Yoga vermutlich schon seit etwa 5000 Jahren gibt, hat der körperliche Übungsweg – Hatha Yoga – seinen Anfang im frühen Mittelalter. Jene körperlichen Übungssysteme, aus denen sich mit der Zeit die heute populären Richtungen wie Iyengar Yoga, Ashtanga Yoga, Vini Yoga und später Hot Yoga oder Power Yoga entwickelt haben, sind allerdings erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden – und zwar aus einer Mischung aus mittelalterlichen Hatha-Yoga-Übungen, Wrestling, Kampftechniken und moderner europäischer Gymnastik. Was heute Millionen von Menschen praktizieren, ist also weder so alt noch so indisch, wie die meisten denken.6 Yoga hat sich mit dem wandelnden Zeitgeist entwickelt und sich an die Bedürfnisse der modernen Menschen angepasst. Daran ist nichts verkehrt. Nur leider ist im Zuge der Weiterentwicklung und der weltweiten Vermarktung ausgerechnet das Wesentlichste fast vollständig verloren gegangen: das ursprüngliche Ziel von Yoga.

Vor Tausenden von Jahren haben Yogis sich mit den entscheidendsten Fragen der menschlichen Existenz auseinandergesetzt: Wer sind wir? Warum leiden wir? Wie können wir uns vom Leiden befreien und dauerhaft glücklich sein? Sie haben Antworten gefunden. Antworten, die heute noch ebenso ihre Gültigkeit haben wie vor langer, langer Zeit. Antworten, die Ihr Leben tiefgreifend verändern können.

Kennen Sie die Geschichte, die über das Versteck der Wahrheit kursiert? Als Gott die Welt erschuf, rief er alle Engel zu sich und sprach: „Ich werde die Menschen nach meinem Bild erschaffen. Doch sollen sie ihre Göttlichkeit für eine Weile vergessen, um selbst entdecken zu können, wer sie wirklich sind. Ich suche noch ein Versteck für die Wahrheit.“ Ein Engel schlug vor, die Wahrheit auf dem höchsten Berggipfel zu verstecken. Schnell war klar, dort würden die Menschen sie schon bald finden. Ein anderer schlug vor, die Wahrheit an der tiefsten Stelle des Meeres zu verbergen. Aber auch dieses Versteck schien allen zu einfach. Selbst auf dem Mond und über den Wolken würden die Menschen in Bälde suchen. Schließlich sagte Gott: „Ich weiß, was zu tun ist. Wir verstecken die Wahrheit in den Herzen der Menschen. Dort kann sie jeder sofort finden. Doch dort wird nur suchen, wer erkannt hat, dass die Welt ohne Wahrheit wertlos ist.“

Ob Ihnen die Geschichte gefällt oder nicht, die allermeisten Menschen haben tatsächlich vergessen, wer sie wirklich sind. Im Osten haben die Yogis schon vor langer Zeit erkannt, dass die Wahrheit nur im Inneren zu finden sein kann. Ihr Interesse galt nicht der äußeren Welt, sondern vielmehr dem, was ewig und unvergänglich ist. Traditionellerweise zogen sie sich zurück, lebten als Asketen, unterwarfen sich einem strengen Training und widmeten ihr ganzes Leben dem Ziel, ihr wahres Selbst zu erfahren und Erleuchtung zu erlangen. Sie lebten äußerlich arm, aber innerlich reich und im Einklang mit der Existenz. Im Westen haben wir uns eher darauf spezialisiert, äußeren Reichtum, Macht und Anerkennung anzustreben und unser inneres Sein zu vernachlässigen. Durch die materielle Ausrichtung haben wir in den letzten Jahrhunderten vieles in der Welt erforscht und phänomenale Dinge entwickelt. Bei allem Erfolg und Fortschritt, den wir auf diese Weise ohne Zweifel erzielen konnten, bleibt doch das Gefühl der inneren Leere und eine tiefe Sehnsucht nach Mehr – besser gesagt nach echter Erfüllung und dauerhaftem Glück. So machen sich auch bei uns immer mehr Menschen auf die Suche nach spirituellen Antworten. Dazu müssen wir uns nicht aus der Welt zurückzuziehen und allen materiellen Dingen entsagen. Was wir suchen, ist hier und jetzt. In diesem Moment. Wir sind nur meist so mit der Außenwelt beschäftigt und in unserem eigenen Kopf gefangen, dass wir die Wahrheit übersehen, die in jedem von uns versteckt ist.

Die Lehrer und Yoga-Meister aus Indien haben uns ihr Wissen geschenkt und einen Weg gezeigt, wie wir uns aus unserem geistigen Gefängnis befreien und das wieder entdecken können, was in uns ist und weit über unser getrenntes Ich hinausgeht. Einen Weg, den wir hier und heute in unserem Alltag gehen können. Er passt perfekt in unsere Zeit, in der die Wahrheit immer öfter ans Licht kommt: Alles ist eins. Untrennbar miteinander verbunden. Sie, ich, jeder andere Mensch, jedes Tier, jeder Grashalm sind Teil eines Ganzen. Gott hat kein Gegenteil, nichts ist nicht-göttlich. Alles wird von derselben Kraft belebt. Dieses höchste Geistprinzip – Purusha7, Liebe, Gott, universelles Bewusstsein oder welchen Namen Sie sonst verwenden wollen – ist in allem und überall gegenwärtig. Gott ist unser eigentliches Sein, nichts Losgelöstes, nichts weit Entferntes, nichts da oben im Himmel. Das haben Sie auf die eine oder andere Weise mit Sicherheit schon gehört oder vielleicht selbst erfahren. Yoga ist die Einladung, nach innen zu gehen und diese Wahrheit zu leben.

Das Wort Yoga bedeutet „Verbindung“ oder „Einheit“. Yoga heißt, mit dem universellen Bewusstsein verbunden zu sein – eins mit der Quelle. Mit anderen Worten bietet diese Weisheitslehre eine handfeste Anleitung zur Erleuchtung. Erleuchtung ist allerdings ein mythenumwobenes Wort. Es geht hier nicht um so etwas wie kosmische Orgasmen oder spektakuläre Gipfelerlebnisse, die genauso schnell wieder vergehen, wie sie kommen. Es geht um den Bewusstseinszustand, in dem Sie Ihren ganz normalen Alltag verbringen. In diesem Sinn ist Yoga ein tiefgreifender Transformationsprozess: Schicht für Schicht tragen Sie alte Konditionierungen und eingefahrene Muster ab, bis Ihre wahre Natur immer öfter zum Vorschein kommt. Schritt für Schritt entfalten Sie Ihr volles Potenzial und leben zusehends in Frieden und Harmonie mit sich und der Welt. Zug um Zug erleuchten Sie Ihren Alltag. Das ist eine Reise, die Selbstreflexion, Engagement und Hingabe erfordert. Wie weit Sie auf diesem Weg sind, zeigt sich in jedem Augenblick Ihres Lebens.

Yoga bedarf keiner Religionszugehörigkeit. Yoga ist keine Religion und widerspricht keiner Religion. Egal ob Gläubiger oder Atheist, jeder kann ein Yogi sein. Es heißt letztlich nicht anderes als: im Jetzt zu sein. Bewusst, aufmerksam und geistig präsent. Wahrzunehmen, was wirklich ist, und die Vollkommenheit in allem zu erkennen.

Yoga ist Indiens größtes Geschenk an die Menschheit. Es ist ein für alle zugänglicher und praktischer Weg zu dauerhaftem Glück.

T.K.V. Desikachar

III. Raja Yoga – Der königliche Weg

Der Ordnung halber sei hier gesagt, dass Yoga zahlreiche verschiedene Richtungen und Wege anbietet, um zur Wirklichkeit zu erwachen. In diesem Buch geht es um Raja Yoga, den Pfad der Geisteskontrolle. Raja bedeutet „König“, und so wie ein König über seine Untertanen herrscht, so herrscht ein Raja-Yogi über seinen Geist. Die älteste Überlieferung dieser Tradition ist das Yoga-Sutra von Patanjali, der vermutlich im 2. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat. In Form von 195 kurzen Sanskrit-Versen fasst diese Schrift die Essenz universeller Weisheit erstmals schriftlich zusammen und weist den „königlichen“ Weg zur Selbsterkenntnis. Das Sutra basiert auf dem Wissen, dass menschliches Leid nichts mit dem zu tun hat, was in der Außenwelt passiert, sondern mit dem, was in unserer Innenwelt vor sich geht. Lange vor der Modeerscheinung des „positiven Denkens“ und des aktuellen Hypes um die „bewusste Realitätsgestaltung“ wussten die Weisen Indiens, welchen immensen Einfluss unser gesamtes Denkorgan (Chitta)8 – die Art und Weise unseres Denkens – auf unser Leben hat. Genauer: Der Zustand Ihres Geistes bestimmt Ihr (Er-)leben. Jeder Ihrer Gedanken hat ein schöpferisches Potenzial. Was Sie oft denken, bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder nicht beabsichtigt, zeigt sich in Ihrem Leben. Die logische Konsequenz: Wollen Sie Ihr Leben verändern, müssen Sie „nur“ Ihr Denken verändern. Möglicherweise haben Sie schon die Erfahrung gemacht, dass das nicht so leicht geht. Unser Gehirn denkt fast pausenlos und das nicht immer auf besonders produktive Weise. Im Gegenteil, im Kopf geht es meist zu wie in einem Bienenstock, in dem die Bienen völlig plan- und ziellos herumschwirren. Der Vergleich hinkt, denn in der Natur passiert so etwas nicht. Wir Menschen haben uns nur schon so weit von unserer Natur entfernt, dass ein klarer, ruhiger Geist, der uns die perfekte Ordnung aller Dinge sehen lässt, Seltenheitswert hat.

Unser Denkorgan dürfen wir für das Chaos nicht verantwortlich machen. Es ist seine Aufgabe zu denken, zu analysieren, zu interpretieren und zu urteilen. Der Kopf arbeitet dabei recht effizient, denn er neigt dazu, gewohnte Bahnen zu nutzen und sich aus seinen bisherigen Erfahrungen ein Bild von der Wirklichkeit zusammenzureimen. Was er wahrnimmt und wie er das Wahrgenommene deutet und beurteilt, hängt von den Glaubenssätzen, Überzeugungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Erwartungen ab, die sich im Laufe unseres Lebens ausgeprägt haben – unabhängig davon, ob die richtig sind oder falsch. Ein einfaches Beispiel aus dem Alltag: Mein Chef kommt offensichtlich verärgert ins Büro und zieht sich wortlos in sein Zimmer zurück. Jetzt könnte mein Geist die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass er ein Problem mit mir hat, meine Arbeit schlecht findet oder mich gleich kündigen wird. Genausogut könnten die Gedanken entstehen, dass er mit seiner Arbeit überfordert und als Chef unbrauchbar ist. Ich könnte aber auch denken, dass er nur schlecht geschlafen oder mit seiner Ehefrau gestritten hat. Abhängig davon, welche Erklärung in meinem Verstand auftaucht, werde ich mich fühlen und verhalten. Welche Variante auch immer auftaucht, ich weiß nicht, was wirklich wahr ist. Das, worauf ich reagiere, ist lediglich die Geschichte in meinem Kopf und die hat in aller Regel mit dem Hier und Jetzt reichlich wenig zu tun. Der Kopf ist vielmehr mit der Vergangenheit beschäftigt oder mit der Zukunft, die er auf Basis der Vergangenheit erdenkt, während das Leben nur Jetzt ist – in diesem Moment.

Vielleicht haben Sie keinen Chef, doch egal in welchem Zusammenhang, der Kopf hält sich nicht an die reinen Tatsachen. Der menschliche Geist filtert und interpretiert ständig mit seinem „Wissen“ die Wirklichkeit. Meiner macht das auf meine Weise, Ihrer auf Ihre. So erschaffe ich meine Realität und Sie Ihre. Jede Art von Leid hat damit zu tun, dass wir nicht die Wirklichkeit wahrnehmen, sondern unserer subjektiven Wahrnehmung vertrauen.

Probleme entstehen dort, wo wir die Geschichten in unserem Kopf ungeprüft übernehmen, daran glauben und sie für objektiv und wahr halten. Wir meinen zu wissen und beurteilen zu können, was ist bzw. was sein sollte, tun es aber in Wahrheit nicht. Auf diesem falschen Wissen bauen wir unser Leben auf. Das Ganze ist nicht so leicht zu durchschauen, weil uns meist gar nicht bewusst ist, was in unserem Geist vor sich geht.

Mit unserem Bewusstsein in diesem Moment, „jetzt“, zu sein, ist unsere einzige Chance, das Leben in seiner ganzen Vollkommenheit zu erfahren. Reine Wahrnehmung sieht, was in diesem Augenblick ist, statt zu fantasieren. Je klarer der Geist, desto klarer die Wahrnehmung. Je unklarer der Geist, desto mehr sind wir in seinen Illusionen gefangen. Das war schon vor Tausenden Jahren ein Thema, sonst hätte sich damals keiner mit Geisteskontrolle beschäftigt, und in jenen Tagen gab es noch keinen Fernseher, kein Radio, keine Zeitungen, keine Werbung, kein Internet, keinen Computer und weder Telefon noch Mobiltelefon. Abschalten und den Geist zur Ruhe kommen lassen war früher wohl noch etwas leichter. In der heutigen Zeit werden wir regelrecht bombardiert mit Sinneseindrücken und Informationen, die sich mehr oder weniger ungefiltert ins Gehirn einbrennen. Alles scheint machbar. Unzählige Dinge scheinen wichtig und erstrebenswert. Gleichzeitig hören wir ständig von Krisen, Gefahren und Bedrohungen. Kein Wunder, dass unser Geist meistens vollgestopft, unruhig und unklar ist. Im digitalen Zeitalter brauchen wir Raja Yoga vermutlich dringender als je zuvor. Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Verstand ist nichts Schlechtes und nicht zu verdammen! Im Gegenteil, er ist ein geniales Werkzeug, wenn wir ihn benutzen, statt ihn selbstständig vor sich hinarbeiten und Herr im Haus sein zu lassen. Ohne bewusste Führung vernebelt er unser Herz und hindert uns am Sein.

Damit zurück zum Yoga-Sutra. Es ist ein Leitfaden, um den denkenden und fühlenden Geist zu erforschen, zu durchschauen und von Störfaktoren zu befreien. Quasi eine Betriebsanleitung für unser Denkorgan. Yoga wird darin als Zustand beschrieben, in dem die hektischen Hirnwellen zur Ruhe kommen. Wenn der Geist klar ist, kommt unsere wahre Natur ans Licht. Wir lernen, auf die Antworten aus unserem tiefsten Inneren zu hören, und finden so den Ursprung und die Lösung all unserer Schwierigkeiten. Das Sutra ist jedoch sehr komplex, weder ganz einfach zu verstehen noch ganz einfach im Alltag umzusetzen.

Ein guter und praxisnaher Einstieg ist sein Herzstück: der achtfache Pfad, um den es in diesem Buch geht. Er dient heute in fast allen Yoga-Richtungen als geistige Grundlage, weswegen Patanjali oft „Vater des Yoga“ genannt wird. Bei uns im Westen praktizieren allerdings die meisten nur den dritten Pfad – die Körperübungen. Der ganze Pfad enthält acht Übungsglieder. Sie sind ein Schlüssel für einen besseren Umgang mit anderen Menschen, mit der Umwelt und mit uns selbst, mit unserem Körper, unserer Lebensenergie und unserem Geist. Auf diesem handfesten spirituellen Übungsweg lernen wir, uns von eingefahren Denk- und Verhaltensmustern zu befreien, zu uns selbst zu finden und unser Potenzial zu verwirklichen.

Yoga ist vierfaches Bewusstsein: körperliches Bewusstsein, emotionales Bewusstsein, geistiges Bewusstsein und Bewusstsein über das Bewusstsein. Man sollte mit dem Bewusstsein darüber beginnen, wie unbewusst man ist.

Dr. Swami Gitananda Giri

IV. Der achtfache Pfad

1.Yama – Fünf Prinzipien für den Umgang mit anderen Menschen und der Umwelt

2.Niyama – Fünf Prinzipien für den Umgang mit sich selbst

3.Asana – Körperhaltungen

4.Pranayama – Lenkung der Lebensenergie

5.Pratyahara – Rückzug der Sinne

6.Dharana – Konzentration, bewusste Fokussierung

7.Dhyana – Meditation

8.Samadhi – Erwachen, vollkommene Erkenntnis, Erleuchtung

Im Sanskrit heißt dieser Weg Ashtanga9 – ashta steht für acht, anga bedeutet Stufe oder Glied. Normalerweise geht man einen Weg Stufe für Stufe. In dem Fall dürften wir nicht auf der Yogamatte turnen, bevor wir nicht die ethischen Lebensregeln einhalten. Die Yoga-Studios wären ziemlich leer. Dieser Übungsweg verläuft nicht unbedingt stufenförmig, jedes Element ist vielmehr wie ein Glied in einer Kette und Teil eines ganzheitlichen Systems. Wir können auf mehreren Ebenen ansetzen. Das Geniale daran: Alle Glieder beeinflussen sich wechselseitig. Wenn Sie beispielsweise Asanas praktizieren, dann wirkt sich das nicht nur auf Ihren Körper, sondern auch auf Ihre innere Haltung aus. Folglich wird es Ihnen leichter fallen, die Lebensregeln erfolgreich umzusetzen, sich zu konzentrieren und zu meditieren. Umgekehrt profitiert Ihre körperliche Praxis enorm, wenn Sie die Lebensregeln beherzigen bzw. gelernt haben, sich zu sammeln und zu fokussieren.

Der achtfache Pfad gilt für viele Yogis als wichtigste Richtschnur für rechtes Denken und Handeln. Bevor wir uns allerdings auf den Weg machen, sollten wir noch eine Frage klären: Was genau ist „recht“ oder „richtig“? Der Originaltext des Pfades, der höchstens eine Seite in diesem Buch füllen würde, enthält gar keine konkreten Vorschriften im Sinn von „richtig“ oder „falsch“. Patanjali beschreibt lediglich das Ergebnis von bestimmten Verhaltensweisen – die Früchte, die wir ernten. In diversen Sutra-Auslegungen, bei vielen Yoga-Lehrern und von manchen Schülern werden Sie hingegen detaillierte Anweisungen bekommen, wie man sich als Yogi verhalten muss, bzw. Ermahnungen, auf was zu verzichten ist. Müßig zu sagen, dass sich hier beim besten Willen nicht alle einig sind.

Richtig oder falsch, gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch, das sind nicht mehr als Konzepte, die dem Urteil des Kopfes entspringen. Welches Verhalten richtig oder falsch ist, hängt von unzähligen Faktoren ab: Was in einer Kultur als gut gilt, ist woanders oft schlecht. Was in einer bestimmten Situation oder zu einem bestimmten Zeitpunkt angemessen sein kann, ist unter anderen Umständen unangemessen. Was für einen Menschen richtig ist, ist für einen anderen falsch. Die für alle gültige und unter allen Umständen richtige Lebensweise gibt es nicht! Genauso wenig wie die eine richtige Weise, Yoga zu praktizieren, oder den einen Weg zur Erleuchtung. Sobald wir an fixen Vorstellungen, festen Geboten oder moralischen Überzeugungen festhalten, bleiben wir in einem Charakterpanzer stecken. Wir nehmen nicht mehr wahr, was in eben diesem Augenblick tatsächlich gut und richtig ist – sprich, uns auf unserem Weg weiterbringt, und zwar dorthin, wo wir hinwollen.

Auf dem achtfachen Yoga-Pfad geht es nicht um Moral oder darum, ein „guter“ Mensch zu werden, der alles „richtig“ macht. Es geht darum, zur Wirklichkeit zu erwachen. Es hat ein Weilchen gedauert, bis ich begriff, dass das nichts damit zu tun hat, irgendwelche allgemeingültigen Regeln zu befolgen, bestimmte Dinge zu tun oder nicht zu tun, bestimmtes Essen zu vermeiden oder sich auf bestimmte Weise zu bewegen, den Atem zu kontrollieren oder stundenlang zu meditieren. Wer sich wie Buddha verhält, wird noch lange nicht zum Buddha. Oder denken Sie, dass jeder, der sich unter einen Baum setzt und wartet, Erleuchtung findet?

„Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns“, hat Rumi gesagt. Rechtes Leben im Yoga-Sinn hat mit Bewusstsein zu tun – mit einem glasklaren Bewusstsein. In jeder Situation achtsam und in Übereinstimmung mit unserem wahren Wesenskern zu handeln, das ist das Ziel. Wer so weit ist, braucht keine Regeln und keine Moral. Alles, was aus diesem Bewusstsein heraus passiert, ist automatisch gut und dient dem höchsten Wohl aller. Dieses erwachte Bewusstsein gilt es zu entwickeln, und dieses Buch hilft Ihnen dabei. Die darin enthaltenen Prinzipien und Verhaltensregeln dienen als Wegweiser. Sie sollen Ihnen helfen, die geistigen Konzepte und falschen Ideen des Geistes zu durchschauen und zu erkennen, was wirklich los ist. Nicht mehr und nicht weniger. Was für Sie richtig und gut ist und wie Sie sich verhalten sollen, kann Ihnen letztlich niemand sagen. Der achtgliedrige Pfad führt Sie zu Ihrer inneren Weisheit, zu Ihrem inneren Guru. Dort finden Sie alle Antworten, die Sie brauchen. Machen wir uns auf den Weg.

Gehorche niemals dem Gebot irgendeines anderen, außer es kommt auch aus deinem Inneren heraus. Wahrheit ist in dir, suche sie nirgendwo anders.

Osho

1. Yama Über den Umgang mit anderen Menschen und der Umwelt

Yama bedeutet im Sanskrit Enthaltung und Selbstkontrolle. Die fünf Yamas, die meist als moralische Gebote oder ethische Disziplinen bezeichnet werden, betreffen den Umgang mit unseren Mitmenschen und der Umwelt und sichern eine friedliche Existenz. Dazu zählen:

1.Ahimsa – Gewaltlosigkeit

2.Satya – Wahrhaftigkeit

3.Asteya – Nicht-Stehlen

4.Brahmacharya – Im Bewusstsein der All-Seele handeln

5.Aparigraha – Nicht-Besitzen

Diese fünf Prinzipien sind zwar die sogenannten „äußeren“ Regeln, gelten aber sowohl für den zwischenmenschlichen Umgang als auch im Umgang mit uns selbst. Was wir über die Außenwelt denken, wie wir fühlen, sprechen und anderen gegenüber handeln, hängt nun einmal untrennbar damit zusammen, wie wir uns selbst sehen und behandeln. Wie innen, so außen – wie außen, so innen.

Es geht nicht darum, die fünf Gebote mit eiserner Disziplin zu befolgen, sondern ihre Funktionsweise zu begreifen. Wer wirklich erkannt hat, wer er ist, wie das Leben funktioniert und wie sich das innere Sein auf die äußere Welt auswirkt, lebt diese fünf Prinzipien – sie sind quasi ein Nebenprodukt der Erleuchtung. Die Regeln basieren auf universell gültigen geistigen Gesetzen. Es sind spirituelle Wahrheiten, die Sie selbst ausprobieren und am eigenen Leib überprüfen können. Sie müssen damit Erfahrungen sammeln. Im Lauf der Zeit werden Sie die Prinzipien immer besser verstehen, immer mehr verinnerlichen und immer öfter in Ihrem Leben anwenden. Und zwar nicht, weil das irgendjemand sagt, sondern weil Sie erkennen, dass es das einzige ist, was wirklich Sinn macht.

1.1. Ahimsa Gewaltlosigkeit

Es war einmal ein Tempel in Indien, dessen Wände tausend Spiegel zierten. Als eines Tages ein Hund den Tempel betrat, sah er sich umringt von tausend Hunden und bekam es mit der Angst zu tun. Er fletschte die Zähne, knurrte und seine Nackenhaare stellten sich auf. Tausend Hunde taten es ihm gleich. In Panik rannte der Hund aus dem Tempel, überzeugt, die Welt sei ein Ort voll feindlicher und bedrohlicher Hunde.

Wenig später betrat ein anderer Hund den Tempel, sah sich umringt von tausend Hunden und freute sich aus ganzem Herzen. Er wedelte mit seinem Schweif und forderte die anderen zum Spielen auf. Tausend Hunde taten es ihm gleich. Glücklich und zufrieden verließ er den Tempel, überzeugt, die Welt sei ein Ort voll friedlicher und wohlgesinnter Hunde.

(Quelle unbekannt)

ahimsa pratishthayam tatsannidhau vairatyagah Wer gewaltlos denkt, spricht und handelt, schafft ein friedliches Umfeld.10

So lautet die Lebensregel über Gewaltlosigkeit. Mit anderen Worten: Innerer Frieden schafft äußeren Frieden. Kultivieren Sie Harmonie und Frieden in sich, dann erleben Sie Harmonie und Frieden in und mit allem, was ist. Warum das so ist? Dazu müssen wir ein wenig ausholen.

Ahimsa ist die erste und wichtigste Tugend auf dem Yoga-Weg11 und bedeutet wörtlich übersetzt Nicht-Verletzen. „Du sollst nicht töten“, sagt das 5. Gebot in der Bibel. Ahimsa geht jedoch weit über das Nicht-Töten hinaus: Durch die eigene Lebensweise sollen andere Menschen, Tiere, Natur und Umwelt nicht geschädigt oder verletzt werden.

Absolutes Ahimsa ist unmöglich. Wer leben will, muss Leben zerstören – denken Sie nur an unser Immunsystem, das fremde Eindringlinge bekämpft. Es geht hier weder um die Ameise, die Sie beim Gehen unabsichtlich zertreten, noch darum, sich alles gefallen zu lassen, sich zum Opfer zu machen oder jede Art von Konflikt zu vermeiden. Was zählt, ist nicht, was wir tun, was zählt, ist vielmehr der stiftende Gedanke und die Absicht dahinter. Beispielsweise ist ein Chirurg mit seinem Messer kein Gewalttäter, obwohl er von außen betrachtet scheinbar das gleiche tut wie ein Mörder. Wer hingegen einem anderen Menschen Schlechtes wünscht – ohne dabei tatsächlich irgendetwas in die Richtung zu unternehmen –, ist gewalttätig im Sinne von Ahimsa. Noch ein paar Beispiele, wie sich Gewalt im Alltag zeigt: jemanden anschreien, unfreundliche Worte, destruktive Kritik, jemanden zu etwas drängen oder zwingen, Eifersucht schüren, ein verachtender Blick, Vorurteile, Mobbing, Ausgrenzung, schlecht über jemanden reden, Gerüchte und Klatsch, Rachegedanken; dem eigenen Körper z.B. durch Drogen, exzessives Training, schlechte Ernährung schaden, sich selbst runtermachen, die eigenen Bedürfnisse missachten; die Umwelt verschmutzen, die Natur ausbeuten, Tiere essen (andere müssen dafür töten) usw.

Positiv formuliert heißt Ahimsa, liebevoll mit allen Lebewesen, der Umwelt und mit sich selbst umzugehen. An Stelle von Gewalt treten Freundlichkeit, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Toleranz und Gelassenheit.

Vielleicht dachten Sie am Anfang des Kapitels noch: „Kein Problem, gewaltlos lebe ich ohnehin.“ Jetzt erkennen Sie vermutlich schon, dass die Einhaltung dieses Prinzips unter allen Lebensumständen wahre Meisterschaft erfordert. Gewaltlosigkeit ist eine innere Geisteshaltung, die auf bedingungsloser Liebe basiert. Wer in Ahimsa vollständig gefestigt ist, hat eine immense innere Stärke entwickelt und erfährt inneren und äußeren Frieden. Wie kommen wir dorthin?

Wie werden wir gewalt-los?

Wer ein „guter“, friedvoller Mensch sein möchte, bemüht sich möglicherweise darum, bestimmte Gefühle, Eigenschaften oder Verhaltensweisen loszuwerden, um nicht mehr verletzend zu sein. So könnte ich zum Beispiel versuchen, nicht mehr wütend zu werden, weil ich dann dazu neige, gemeine Dinge zu sagen. Oder ich denke, ich darf nicht so ungeduldig sein, weil ich dann immer gleich explodiere. Diese Strategie gleicht dem Versuch, die Warnleuchte im Auto auszuschalten, ohne zu schauen, wo der Schaden tatsächlich zu suchen ist.

Tatsache ist: Wir können nicht anders fühlen und nicht anders sein, als wir jetzt gerade fühlen oder jetzt gerade sind. Was ist, ist. Wenn wir dagegen ankämpfen, gibt es nur noch mehr Probleme. Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt die bestmögliche Wahl trifft, die ihm in diesem Augenblick auf Grund seiner Sicht der Welt und seiner inneren Verfassung zur Verfügung steht. Jeder tut sein Bestes, wie gering wir das auch immer einschätzen.

Wenn wir uns verletzend verhalten, liegt es also nicht daran, dass wir von Grund auf schlecht sind, sondern daran, dass uns in dem Moment keine bessere Möglichkeit zur Verfügung steht.

Kein Mensch schadet einem anderen Wesen ohne Ursache und Anlass. Niemand lebt glücklich und zufrieden und wacht dann eines Morgens mit dem Vorsatz auf: „Heute werde ich meinen Partner zur Schnecke machen, einen fremden Menschen anschreien und schlecht über meinen Kollegen reden.“ Oder extremer: „Heute werde ich XY umbringen.“ Zu all dem, wer auch immer was tut, gibt es stets eine persönliche Geschichte und einen Hintergrund. Wenn wir jemanden verletzen oder jemandem schaden, passiert das zumeist aufgrund einer unbewusst ablaufenden und hochkomplexen Kettenreaktion. Vorher spielt sich vieles in unserem Gehirn und in unserem Körper ab, ohne dass wir das bewusst mitbekommen – vereinfacht gesagt eine bunte Verkettung von Gedanken, Erinnerungen, Emotionen und physiologischen Vorgängen. Dieses innere Geschehen entscheidet darüber, wie wir uns fühlen und in Folge verhalten. Genau genommen agieren wir nicht, wir reagieren auf äußere und innere Reize wie ein Autopilot. So tun wir Dinge, für die wir uns oft selbst nicht leiden können.

Wenn wir uns aus diesen Automatismen befreien wollen, brauchen wir Achtsamkeit und Bewusstheit. Das heißt beispielsweise, bewusst wahrzunehmen, wenn ich wütend oder ungeduldig werde, und aufmerksam zu beobachten, was passiert. Ohne Urteil. Fast so, als würde es jemand anderem passieren. Beziehungsweise mir später die Zeit zu nehmen, um zu hinterfragen, was in meinem Kopf vorgegangen ist und was meine Wut oder Ungeduld wirklich verursacht hat. Durch Achtsamkeit beginnen wir zu verstehen. Erkennen wir die Ursache für verletzende Gedanken, Worte oder Taten und sehen, wie alles zusammenhängt und voneinander abhängt, verändert sich unweigerlich unsere Sicht- und Verhaltensweise. Bewusstheit bewirkt Veränderung.

Wie wird aus Aggression Gewalt?

Wo ist die Ursache von Gewalt zu suchen? Treffen wir zunächst einmal eine Unterscheidung zwischen Aggression und Gewalt. In der heutigen Zeit werden diese Begriffe oft gleichbedeutend verwendet und sind beide meist negativ besetzt. Das verleitet dazu, Aggressionen zu verdrängen, zu unterdrücken und zu verleugnen. Ab ins Unbewusste, von wo aus sie unser Denken regieren und nicht selten in Gewalthandlungen enden. Im Gegensatz zur Gewalt ist Aggression nichts Schlechtes. Das Wort stammt vom Lateinischen „aggredi“ und heißt ursprünglich weiterkommen, vorwärtskommen, auf etwas zugehen und etwas in Angriff nehmen. Es ist der Gegensatz zu Passivität und Zurückhaltung. Ohne aggressive Kraft kommt ein Vogel nicht aus dem Ei, eine Pflanze nicht aus der Erde und ein Mensch nicht aus dem Bett. Aggression ist Lebensenergie – eine Quelle der Kraft, die wir unbedingt zum Leben brauchen. Sie dient nicht nur dem Überleben, sondern hilft uns, uns zu entfalten und voranzukommen.

Die Energie an sich ist neutral. Genauso wie wir mit Strom Wärme und Licht erzeugen oder Menschen töten können, können wir unsere Energie konstruktiv oder destruktiv nutzen, das Leben fördernd oder zerstörend. In diesem Sinn ist Gewalt der destruktive Ausdruck von Aggression. Leben ist ohne Aggression nicht möglich, ohne Gewalt aber sehr wohl. Nutzen wir unsere Lebensenergie nicht konstruktiv, werden wir entweder depressiv oder gewalttätig. Bleibt die Frage, wann und warum wir unsere Energie nicht unbedingt konstruktiv einsetzen.

Vermutlich gibt es hier unzählige Begründungen, aber letztlich ist die tiefste Ursache immer dieselbe: Angst.

Angst ist prinzipiell eine gesunde Alarmreaktion unseres Körpers. Sie sichert unser Überleben. Es liegt in der menschlichen Natur, jede Situation auf potenzielle Bedrohungen zu überprüfen. Sind wir in Gefahr, leitet der Körper automatisch eine Stressreaktion ein, die dafür sorgen soll, dass wir die Gefahr überwinden oder uns in Sicherheit bringen. Dieses biologische Schutzprogramm diente dem Menschen schon in der Steinzeit. Unsere Vorfahren lebten als Jäger und Sammler, die sich vor Feinden in Acht nehmen und in null Komma nichts bereit sein mussten, zu fliehen, anzugreifen oder sich totzustellen. Ein Raubtier im Busch war nichts Ungewöhnliches. Wer nicht auf etwaige „Bedrohungen“ achtete und nicht angemessen darauf reagierte, bezahlte nicht selten mit seinem Leben. In unserer Evolution hat es sich wohl bewährt, zuerst auf Gefahren zu achten und das Leben erst dann entspannt zu genießen und uns zu entfalten, wenn wir uns sicher fühlen, und nicht umgekehrt.

Unser Sicherheitsprogramm funktioniert in der heutigen Zeit nicht anders. Durch bestimmte Reize oder in bestimmten Situationen kommt es zu einer Stressreaktion und unser Körper stellt sich auf Abwehr ein. Solange wir Angst haben und unter Stress stehen, können wir uns weder entspannen, noch in Ruhe klar denken noch auf all unsere Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zugreifen. Während allerdings unsere Vorfahren eher selten Stress hatten und dazwischen lange Erholungsphasen, ist es bei uns genau umgekehrt. Viele von uns sind ständig im Stress. Das macht in lebensbedrohlichen Situationen auch heute noch Sinn. Aber einmal ehrlich: Wie oft fühlen Sie sich gestresst? Wie oft fühlen Sie sich angegriffen, verletzt oder bedroht? Und wie oft sind Sie dabei tatsächlich in Lebensgefahr?

Gewalt – ein Ausdruck von Angst