Ich bin jetzt zehn - Jonas Kaurek - E-Book

Ich bin jetzt zehn E-Book

Jonas Kaurek

4,2

Beschreibung

Er sieht seinen Vater nur selten und versteht nicht, warum. Deshalb hat Jonas, 10, sich entschlossen, ihm einen Brief zu schreiben. Damit sein Vater weiß, wer er ist, wie er lebt und wie er denkt, und um ihn zu Weihnachten einzuladen. Sein Vater weiß noch nichts davon. Er bekommt den Brief erst diesen November …

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Jonas Kaurek: Ich bin jetzt zehn

Alle Rechte vorbehalten© 2015 edition a, Wienwww.edition-a.at

Coverfoto: Lukas BeckCover: JaeHee LeeGestaltung: HidschLektorat: Angelika Slavik

Gesetzt in der PremieraGedruckt in Europa

Namen zum Schutz der Privatsphäre handelnder Personen teilweise geändert.

1 2 3 4 5 – 18 17 16 15

Print-ISBN: 978-3-99001-137-9

eBook-ISBN 978-3-99001-151-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Vorwort des Verlegers

Den Großteil der Zeit tat er die Dinge, die Kinder eben so tun. Während ich mit ihm über das Leben, sein Leben, reden wollte, zeigte er mir sein Furzkissen, beschoss mich mit Plastikpistolen oder versteckte sich einfach irgendwo in dem merkwürdigen Haus, in dem seine Mutter, deren Lebensgefährte und er mit fünf Hunden und zwei Katzen leben. Wie vom Himmel gefallen, steht dieses Haus an einem Weg zwischen Äckern, wo es eigentlich weithin sichtbar sein müsste, doch es duckt sich in die offene Ebene, als wäre es dafür gebaut, sich zu verstecken. Während ungefähr zehn Minuten unserer jeweils zweistündigen Treffen erklärte es mir Jonas dann doch immer: das Leben. Die Liebe, wie sie entsteht, die Wut, woher sie kommt, das Glück, wie es sich herstellen lässt, die Toleranz, was sie bedeutet, Sehnsucht, was sie mit uns macht, Neugier, warum wir sie brauchen, all diese großen Dinge.

Ich war zu ihm gekommen, weil ich mich gefragt hatte, wie es wäre, wenn nicht noch jemand über die begabten Kinder, über Kinder in Patchworkfamilien, über vaterlose Kinder schreiben würde, sondern wenn so ein Kind das einmal selber täte, wenn ich als Ghostwriter, der in vielen Jahren und vielen Büchern gelernt hat, sich zum Instrument anderer zu machen, so einem Kind eine Stimme geben würde. Ich hatte daran gedacht, wie Kinder manchmal weise Dinge sagen, und mich schon oft gefragt, ob diese Art von Weisheit einem geschriebenen Satz standhalten würde.

Dann kamen immer diese zehn Minuten, in denen Jonas mehr zu wissen schien als ich, mehr als wir alle. Wenn ich nicht versuche, das alles zu interpretieren, wenn ich mich von meiner eigenen Stimme befreie und nur die Sätze in Geschriebenes transformiere, die er tatsächlich sagt, dann hält diese Art von Weisheit vielleicht wirklich stand, dachte ich.

Wir redeten und redeten, wochenlang. Jonas zeigte mir, wie einfach scheinbar komplizierte Dinge sind, und welche Tiefe in scheinbar Trivialem liegen kann. Er erinnerte mich daran, wie auch in meinem Leben einmal alles anfing, veränderte mich damit, und wenn er von seinem Vater redete, den er fast nie sieht, und darüber, wie ihn das verändert, hielt er manchmal inne und sah mich an. »Weinst du jetzt gleich, oder was?«, fragte er dann.

Schließlich begeisterte Jonas die Idee, diesem, seinem abwesenden Vater einen Brief zu schreiben. Das Buch, dessentwegen ich eigentlich gekommen war, hatte ihn wenig interessiert, höchstens der Umstand, dass er dabei irgendwie im Mittelpunkt stehen würde, und dass da womöglich allerhand spannende Dinge passieren würden. Doch dieser Brief war ihm ein Anliegen. Also fingen wir, ohne noch lange darüber nachzudenken, an.

Jonas redete, und ich hörte ihm zu und fragte manchmal nach. Ein Jahr lang. Im Winter, im Frühling, im Sommer und im Herbst, und je näher der Winter kam, desto mehr drängte sich mir eine Frage auf, die wir zuerst beiseitegeschoben hatten: Wie wird sein Vater eigentlich darauf reagieren? Dieser Mann, den ich nie kennengelernt habe, zu dem Jonas während der ganzen Zeit über kaum Kontakt hatte, der nicht auf die SMS antwortete, die Jonas ihm am Vatertag schickte, und der ihn zu Weihnachten vielleicht anrufen würde, vielleicht aber auch nicht.

Jonas ist ein Kind, das Entscheidungen treffen kann, ohne sie danach noch groß zu hinterfragen. »Ich weiß das alles«, sagte er zu mir, wenn ich ihm die Unwägbarkeiten des Vorhabens erklärte. Er lächelte dabei tapfer, im Wissen darüber, dass sein Vater den Kontakt zu ihm vielleicht verärgert ganz abbrechen würde, und in der Hoffnung darauf, dass das Gegenteil passieren würde. Damit war das Thema für ihn aber auch abgehakt, denn das war eine weitere Sache, die Jonas mir klarmachte: Wie ätzend es für begabte Kinder ist, Dinge erklärt zu kriegen, die sie schon kapiert haben, noch viel ätzender als für begabte Erwachsene.

Während dieser Brief von Jonas an seinen abwesenden Vater als kleines Buch in Druck geht und auf den Markt kommt, werden Jonas und ich noch immer nicht wissen, wie der Mann darauf reagieren wird. Wie es für ihn sein wird, wenn sein Sohn alles über ihn und sich selbst in einem Buch veröffentlicht, das jeder lesen kann, der es lesen will. In einem Buch, das Jonas ihm in einem handschriftlich adressierten gepolsterten Kuvert schicken wird, ein paar Wochen vor Weihnachten, das ein paar Dinge enthält, die ihn bestimmt überraschen werden, und das vielleicht jeder Vater lesen sollte und jeder Sohn, jede Mutter und jede Tochter, weil es auch sie überraschen könnte. »Ich hoffe das Beste«, sagt Jonas, wenn ich dann doch wieder damit anfange.

Ich denke, er hat wie jedes Kind das Beste verdient.

Bernhard Salomon, November 2015

Wenn wir uns treffen, oder wenn du anrufst, begrüße ich dich immer, als wärst du ein Freund. »Hallo!«, sage ich. Deinen Vornamen spreche ich nicht aus. »Hallo, Peter!« – das wäre komisch. »Hallo, Papa« würde ich sowieso nie rauskriegen. Ich nenne dich manchmal »Dad« (obwohl das eigentlich englisch ist) oder »Vater« (obwohl das ein bisschen unpersönlich ist), aber nur, wenn ich nicht mit dir, sondern über dich spreche, zum Beispiel mit meiner Mutter. Dann sage ich »mein Dad« oder »mein Vater«. Dir gegenüber kriege ich auch »Dad« und »Vater« irgendwie nicht raus. Also:

Hallo!

Du fragst dich sicher, warum ich dir jetzt einfach schreibe, noch dazu so einen langen, langen Brief. Das hat einen Grund, und der hat damit zu tun, dass wir uns bei dieser Hundeausstellung getroffen haben, an diesem Samstag im November vor einem Jahr.

Es kam mir eher wie ein Zufall vor. Meine Mutter fuhr mit unseren Hunden zu der Ausstellung, und ich kam mit. Erst als wir schon unterwegs waren, sagte sie mir, dass du mit deinem Hund wahrscheinlich auch dort sein würdest. Wahrscheinlich hat sie es mir nicht früher gesagt, damit ich nicht enttäuscht bin, wenn dann doch nichts daraus wird. Vor dem Haupteingang der Ausstellungshalle liefen wir einander über den Weg, du, meine Mutter und ich. »Hallo«, hast du gesagt. »Mist, jetzt habe ich das Hirschgeweih vergessen.«

»Das macht nichts«, sagte ich.

Ich habe mich sehr gefreut, und das mit dem Hirschgeweih, das du mir bei einem Telefonat versprochen hattest, war mir total egal. Eine Sache war allerdings ein bisschen seltsam: Ich hatte dich mit kurzen schwarzen Haaren in Erinnerung. In Wirklichkeit hattest du längere graue. Du hast gut ausgesehen, aber eben anders, als ich dich in Erinnerung hatte. So standen wir ein paar Sekunden da, du mit deinem Pinscher an der Leine. Du hast nichts weiter gesagt, und ich auch nicht. Dann hast du dich einfach verabschiedet und bist gegangen. Keine Ahnung, warum du das gemacht hast. Musstest du irgendwo hin? Warst du in Eile? Oder bist du einfach so gegangen?

Ich sehe dich nie, dann tauchst du auf und verschwindest wieder. Ich habe Glück und Freude gefühlt, als du da vor der Halle der Hundeausstellung aufgetaucht bist, und als du wieder verschwunden bist, habe ich das Gegenteil von Glück und Freude gefühlt.

Ich habe mit meiner Mutter auf der Rückfahrt darüber gesprochen. Unsere Hunde, Olga, ein Corgi, Eddy, ein American Akita, und Navy, ein Border Collie, lagen hinten im Auto. »Warum tut er das?«, fragte ich sie.

Sie gab mir die gleiche Antwort, die sie mir immer gibt, wenn ich sie so etwas frage. »Weil er Angst hat«, sagte sie.

Ich habe dich, wenn das stimmt, da noch nie ganz verstanden. Für mich braucht kein Vater Angst vor seinem Sohn oder seiner Tochter zu haben. Es ist allerdings auch schwer, jemand anderen ganz zu verstehen, denn alle Menschen sind anders. Alle leben in ihrer eigenen Welt, machen ihre eigenen Erfahrungen und wissen nicht, wie es ist, andere Erfahrungen zu machen. Ich zum Beispiel weiß nicht, wie es ist, ohne Brille gut zu sehen. Noch dazu haben alle andere Sinneswahrnehmungen. Ich mag Cornflakes, aber jemand anderer findet sie vielleicht schrecklich. Alle haben andere Charakterzüge. Ein Mensch ist großzügig, tolerant und respektvoll, das ist dann seine Welt, ein anderer ist das alles nicht so sehr. Alle haben auch unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft. Manche stellen sich 2030 wie »Men in Black« mit Außerirdischen, Robotern und Hightech vor. Andere glauben, dass alles so ähnlich wie jetzt sein wird, bloß dass es dann schon das iPhone 30 gibt. Jeder hat seine eigene Vergangenheit, seine eigenen Hoffnungen und eben auch seine eigenen Ängste.

Das ist auch gut so, denn wären alle gleich, und wüsste jeder, was in den anderen vorgeht, wäre das Leben irgendwie dumm. Dann würde einer zum Beispiel sagen: Im Jahr 2040 kommen die Drachen. Der andere würde ganz gelangweilt antworten: Ja, ich weiß. Alle würden das Gleiche denken, das Gleiche tun und das Gleiche erleben.

Jeder, der versucht, Menschen gleichzumachen, muss scheitern, denn jeder Mensch ist einzigartig. Dadurch kann jeder etwas anderes erzählen, jeder kann sich andere Vorstellungen machen von dem, was er gehört hat, und jeder kann sich auf seine eigene Weise entwickeln und hoch in die Welt hinauswachsen. Das Dumme daran ist nur, dass es uns deshalb eben ein bisschen schwerfällt, einander ganz zu verstehen. Würden wir jemanden ganz verstehen wollen, müssten wir eigentlich für eine Weile mit ihm Körper tauschen, und selbst dann würde es nicht funktionieren. Wenn der andere eine fiepsige Stimme hat, würden wir, wenn wir in seinem Körper wären, mit dieser fiepsigen Stimme reden, aber es wäre noch immer unser Verstand, der dort drin ist.

Deshalb ist es okay, falls du wirklich Angst vor mir hast. Dass ich dich nicht danach fragen kann, weil ich dich nicht einmal oft genug sehe, um mir dein Aussehen richtig zu merken, macht die Sache aber noch ein bisschen schwieriger. Ich weiß sehr wenig über dich. Deshalb kann ich mir nicht einmal meine eigene Vorstellung davon machen, warum du Angst vor mir haben könntest. Ich weiß zum Beispiel nicht, welche Erfahrungen du selbst mit deinem Vater gemacht hast. Über ihn weiß ich überhaupt nur, dass er 103 geworden ist.

Manchmal schaufle ich im Kopf alles zusammen, was ich über dich weiß. Du bist groß und warst schwarzhaarig, bevor deine Haare eher grau wurden. Du bist dünn, trägst keine Brille und hast freundliche Augen. Ich weiß gar nicht, welche Farbe sie haben. Aber das bedeutet nichts. Ich könnte dir jetzt auch nicht die Augenfarbe meiner Mutter sagen. Oder doch? Nein, könnte ich nicht.

Du sprichst ein bisschen im Dialekt, so eine Mischung aus Wiener Dialekt und noch etwas anderem. Woher bist du eigentlich? Du hast eine Wohnung in Wien und noch eine, aber ich weiß nicht, wo. Mir fällt auf, dass du immer Anzüge trägst, braune oder graue, manchmal Jägeranzüge. Es könnte sein, dass du von Beruf Jäger bist, aber auch das weiß ich nicht.