Ich - Das Flüchtlingskind - Jana Bilic - E-Book

Ich - Das Flüchtlingskind E-Book

Jana Bilic

4,8

Beschreibung

„Ich, das Flüchtlingskind“ ist eine autobiographische Erzählung von Jana Bilic, die den Jugoslawienkrieg hautnah miterlebt hat. Ihre unbeschwerte Kindheit in der beschaulichen Stadt Travnik im Herzen Bosniens wird jäh durch Luftangriffe und Bodentruppen feindlicher Soldaten beendet. An einem heißen Junitag 1993 gelingt es den Feinden bis vor die Haustür der Familie zu kommen. Vater Vlado, der selbst ein furchtloser freiwilliger Soldat ist, rettet seine Familie rechtzeitig vor dem herannahenden Unheil. Es bleiben nur fünf Minuten, um die allernötigsten Sachen zu packen und das Haus zu verlassen. Bei der Flucht auf einen naheliegenden Hügel wird gnadenlos auf alles geschossen, was sich bewegt. Unter ihnen die kleine Jana, die sich fest an ihre Puppe klammert. Diese Erzählung gibt einen direkten Einblick in den Jugoslawienkrieg. Mitten in Europa. Gerade mal gut 20 Jahre her. Jana Bilic erzählt über die Reise ins Ungewisse, die Gefahren, die große Armut, das tragische Schicksal des Vaters und die Flucht nach Deutschland. Eine spannende Geschichte aus dem Leben eines Flüchtlingskindes, die Sie mit Sicherheit fesseln wird.

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Inhalt

Gemischte Gefühle

Verdrängte Ängste

Gute alte Zeiten

Ein Stück Geschichte

Glückliche Kindheit

Es beginnt zu kriseln

Fünf Minuten

Hunger, Hagel, Hilflosigkeit

Angst und Schrecken

Marthas Geburt

Das versprochene Land

Rückkehr

Nichts ist mehr so, wie es einmal war

Was willst du werden?

Die Karawane zieht weiter

Meine Karriere

Happy End

Dankesrede

Gemischte Gefühle

Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich die erste größere Flüchtlingswelle, die auf Europa zukam. Was waren das für Menschen, die ihr Leben und das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzten, alles verkauften, um etwas Geld zusammenzukratzen, damit sie sich ein Ticket oder oft nur ein Versprechen kaufen konnten, um sich irgendwann in der Nacht in ein uraltes, verrostetes und oft zum Kentern verurteiltes Schiff zu setzen, das oft dreifach überfüllt war, sich von den Betreibern oder besser gesagt den Menschenschmugglern schäbig behandeln ließen, tagelang still sitzen mussten und keinen schiefen Ton sagen durften? Was ihnen blieb, war, darauf zu hoffen, dass sie die Überfahrt überlebten, dass endlich Land in Sicht kam, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürten. Erst dann würde ihnen ein Stein vom Herzen fallen. Doch fast in derselben Sekunde bekamen sie einen riesigen Felsen auf den Buckel geschnürt. Der Kreuzweg begann, wohin sollten sie gehen? Welche Straße führte in die Sicherheit? Welcher Feldweg in das versprochene Land?

Die Menschen liefen einfach los, fühlten sich in der Masse ihrer Landsleute sicher und motiviert, bewältigten etliche Kilometer; Zeit zum Ausruhen gab es nicht, denn irgendwo, weit weg, gab es ein Land, das Frieden und Sicherheit versprach. Es hatte sich rumgesprochen, dass dort alle Menschen, die sich auf der Flucht befanden, willkommen waren. Die Schritte der Flüchtlinge wurden immer schneller, das Adrenalin stieg. Jeder wollte in das toleranteste und freundlichste Land der Welt und dann vor Freude laut losschreien: Hier bin ich! Ich habe es geschafft, bin endlich dort angekommen, wo ich vor niemandem mehr Angst haben muss, wo ich etwas zum Essen bekomme und die Möglichkeit habe, ein neues Leben mit meiner Familie zu beginnen, weit weg von Bombenanschlägen, Granaten, Unsicherheit, Angst – Krieg.

Ich saß vor meinem Fernseher und ärgerte mich, dass so viele Flüchtlinge unterwegs waren. Jeden Tag kamen neue Schiffe an die griechische Küste. Hunderte Menschen stiegen aus, meistens nur junge Männer mit Rucksäcken, die mit einem breiten Lächeln den neuen Kontinent betraten. Für mich waren sie eine Bedrohung. Ich sagte es nie laut, weil ich mich automatisch schlecht dabei fühlte und solche Gedanken in unserer Gesellschaft fast nicht erlaubt waren. Einige Frauen stiegen mit kleinen Kindern aus einem Gummiboot, das die Seenotretter aus dem Mittelmeer gefischt hatten. Sie knieten auf europäischem Boden und dankten ihrem Gott, dass sie es geschafft hatten. Mein Mutterherz wurde weich, als die kleinen Kinder ängstlich in die Kamera sahen. Ihre Mütter hielten sie fest im Arm. Ein höchstens ein paar Wochen altes Baby schrie in den Armen seiner Mutter. Der Reporter erklärte, dass es Hunger habe, die Mutter aber keine Babynahrung besitze. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Eigentlich wollte ich so etwas nicht sehen, es berührte mich zu sehr, ging mir näher, als ich gedacht hatte. Ich wechselte den Sender und sah wieder einige Gummiboote, aus dem viele junge, kräftige Männer stiegen. Erneut erfassten mich gemischte Gefühle. Was wollen die bei uns? Sollen sie doch unten bleiben und ihr eigenes Land verteidigen, statt einfach zu fliehen und sich bei uns auf die faule Haut zu legen! Es waren ja nicht nur zwei, sondern zweihundert Boote am Tag. Was musste in ihren eigenen Ländern vorgehen, dass sie so verzweifelt waren?

Für Politik hatte ich nicht viel übrig. Am Rande hatte ich mal mitbekommen, dass es in Syrien drunter und drüber ging. Das war es aber auch schon. Aber diese Massen von Menschen, die durch den Balkan marschierten und immer näher kamen, waren für mich zu beängstigend. Hunderte Reporter auf sämtlichen Fernsehkanälen berichteten nur noch über die armen, verfolgten und ängstlichen Menschen aus dem Osten, die dringend Schutz bei uns benötigten. Einige Flüchtlinge sagten bei den Interviews aus, dass für sie nur Deutschland infrage käme. Kein anderes Land, nicht einmal Österreich, England oder Frankreich wären gut genug. Wut stieg in mir hoch. Also wenn es mir so schlecht ginge, dann wäre ich überall auf der Erde glücklich und zufrieden, Hauptsache kein Krieg! Dann wären auch Griechenland, Mazedonien oder Serbien okay. Hauptsache Sicherheit – aber nicht bei diesen Menschen. Ein Mann hielt das Bild unserer Bundeskanzlerin in die Luft, dann küsste er es. Mein Magen fing an zu rumoren, ich zappte durch die Programme und landete bei einer Ansprache der Bundeskanzlerin, in der sie immer wieder betonte, dass es keine Obergrenze geben würde. Das hieß für mich, dass eine weitere Million an Flüchtlingen kommen durfte. Und wohin mit denen? Wer zahlt das alles? Die Unterkunft? Das Essen? Die Krankenversicherung? Plötzlich gab es Geld in der Staatskasse. Aber wenn wir Krankenschwestern für ein paar Euro mehr im Monat bitten, dann interessiert sich niemand für uns. Irgendwie fühlte ich mich hintergangen.

Mein Baby fing an zu schreien. Rasch bereitete ich die Milchflasche vor. Mein sechs Monate alter Sohn grinste übers ganze Gesicht, als er mich an der Kinderzimmertür sah. Ich nahm ihn in den Arm und er trank zufrieden. In der Wohnung war es warm. Als mein Sohn satt war, kippte ich das Fenster und breitete eine weiche Decke auf dem neuen Parkettboden aus. Vorsichtig legte ich mein Baby darauf und wachte über ihn, damit er nicht zur Seite kippte oder sich irgendwie wehtat. Aus seinem Zimmer nahm ich einen Plüschhasen, übrigens einen von mindestens fünfzig Geschenken, die wir zur Geburt bekommen hatten, und legte ihn neben meinen Sohn. Er versuchte, ihn zu greifen. Lächelnd sah ich ihm zu und entdeckte einen Fleck an seinem Strampler. Na so was aber auch. Sofort zog ich ihm einen frischen an und die Freude war wieder groß. »Es gibt nichts Schlimmeres, als so ein hübsches Baby mit dreckigen Klamotten«, sagte ich zu ihm und aß einige Schokoladenkekse, die auf dem Tisch standen.

Zur gleichen Zeit, zweieinhalb tausend Kilometer weiter, lief eine junge Frau mit einem Kleinkind im Arm hinter ihren Verwandten her. Es war ihr erstes und bis jetzt auch das einzige Kind. Ihr Mann war vor kurzer Zeit bei einem Bombenanschlag in Syrien ums Leben gekommen. Er hatte als Soldat sein Dorf verteidigt und auf grausame Weise sein Leben verloren. Die Frau hatte das kleine Haus verkauft, wenn man es überhaupt als Haus bezeichnen konnte, in dem sie in einem kleinen Dorf hinter der syrischen Hafenstadt Latakia bis vor kurzem mit ihrer kleinen Familie gelebt hatte. Sie hatte ihr letztes Geld zusammengekratzt, um nach Europa zu fliehen, wo es angeblich ein gutes Land gab, in dem den verfolgten Menschen geholfen, in dem sie aufgenommen und in dem ihnen Sicherheit geboten wurde. Was hatte sie denn noch zu verlieren? Sie wollte ihrer kleinen Tochter eine bessere Zukunft ermöglichen, eine bessere Zukunft, als sie selbst mit ihren 23 Jahren gehabt hätte. Für eine Witwe mit Kind war es sehr schwer, wieder einen Mann zu finden. Außerdem konnten die Feinde jederzeit wieder im Dorf einmarschieren und Frauen verschleppen, wie es schon einmal vorgefallen war. Ihre Tante und zwei weitere Familienmitglieder, die von der Idee zur Flucht beeindruckt waren, suchten einen Schlepper auf, der ihnen eine Überfahrt nach Europa versprach. Da es bereits Tausende vor ihnen gewagt hatten, war es für die Schlepper inzwischen zur Routine geworden. Sie wogen die notleidenden Menschen nur noch in Geld auf.

Es war fast wie auf einer Urlaubsfahrt, wo an jeder Ecke lästige Leute mit Broschüren standen, um die Touristen zu einer kleinen Schiffsfahrt zu überreden. Reich werden durch Krieg? Kein Problem, man muss nur wissen wie.

Für die junge Frau und ihre Familie lief alles nach Plan. Die Geldübergabe war bereits einige Tage zuvor erfolgt. Jetzt mussten sich alle in einer langen Schlange aufstellen und nacheinander in das alte, verrostete und nicht gerade vertrauenswürdig erscheinende Schiff steigen. Die junge Frau drückte ängstlich ihre Tochter an sich. Obwohl sich viele über den Zustand des Schiffs beschwerten, stiegen sie ein. Eine Umkehr war undenkbar. Wohin sollten sie denn zurück? Sie hatten alles verkauft und das Geld den Schleppern gegeben, einige hatten sich hoch verschuldet und wollten ihr Gesicht nicht verlieren. Die Männer an Bord gaben sich trotz ihrer Angst stark und zuversichtlich. Sie machten den Frauen Mut, sie halfen einigen Schwächeren auf das Schiff zu steigen und waren froh, ein Teil der Menschen zu sein, die sich noch ein Ticket kaufen konnten. Das Schiff war am Ende so überfüllt, dass die Menschen wie Sardinen in der Dose nebeneinander saßen. Sie trauten sich nicht, sich zu beschweren, weil die Organisatoren sehr rau mit ihnen umsprangen und jedem befahlen, den Mund zu halten.

Es war eine Höllenfahrt. Toiletten gab es keine, viele Menschen wurden unter Deck in kleine Kabinen gesperrt. Sie schrien, weil sie raus wollten, weil sie Panik bekamen und Platzangst hatten. Einige saßen ganz tief unten im Schiff und wussten nicht einmal, ob es Tag oder Nacht war, weil es keine Fenster gab und sie ihre kleinen Kammern nicht verlassen durften. Zu der allgegenwärtigen Unruhe und Angst kamen hohe Wellen. Die junge Frau, die auf dem Deck saß, wickelte ihre kleine Tochter in eine weiche Decke. Das Kind weinte, weil das Schiff hin und her schwankte und es von den Wellen nass wurde. Die Mutter versuchte, das kleine Mädchen zu beruhigen. Doch einem kleinen Kind konnte man nicht einfach erzählen, dass es jetzt still sein musste, weil der Schlepper drohte, alle ins Meer zu werfen, wenn sie nicht endlich ruhig seien.

Ein mutiger, älterer Mann hatte sich beschwert, dass er für so etwas nicht bezahlt habe, und forderte sein Geld zurück, worauf zwei Helfer des Schleppers auf dessen Befehl hin den um sein Leben schreienden Mann einfach über Bord warfen. Dann drohte der Schlepper, jeden ins Meer zu schmeißen, der nicht das tat, was er sagte. Obwohl die Flüchtlinge in der Überzahl waren, traute sich keiner, aufzubegehren. Stumme Trauer und Panik brachen aus. Die kleine Tochter der jungen Frau spürte das und weinte immer lauter. Die Mutter konnte das Kind nicht beruhigen, obwohl sie ihm Gute-Nacht-Lieder sang und es schaukelte. Der Schlepper befahl der Frau, das Kind ruhig zu halten, sonst drohe ihr das gleiche Schicksal wie dem alten Mann. Angsterfüllt gab sie ihr Bestes, beruhigend auf ihr Kind einzuwirken.

Viele Menschen legten ihre Köpfe zwischen die Beine und beteten darum, heil an Land zu gelangen. Plötzlich hörte die junge Mutter die Schreie anderer Frauen, die den Schlepper anflehten, es nicht zu tun. Im nächsten Augenblick sah sie große Hände auf sich zukommen, sie krallten sich das Kind und schleuderten es über den Kopf der Frau hinweg in das dunkele Mittelmeer. Die Frau sprang auf und streckte die Arme ihrem einzigen Kind und dem schwarzen Wasser entgegen. Die Mutter stieg auf das Schiffsgeländer und wollte hinterherspringen. Sie wurde jedoch von den anderen gepackt und zu Boden gedrückt, wenigstens sie überleben. Vor Schmerz und Hilflosigkeit fiel sie in Ohnmacht. In dieser Nacht flogen noch ein weiteres weinendes Kind zusammen mit seiner Mutter und zwei erwachsene Männern, über Bord . Aufgrund einer Lapalie.

Was ist schon ein Menschenleben wert? Heutzutage absolut nichts. Eine tragische Nacht unter klarem Himmel im Mittelmeer. Eine Nacht, in der einer Mutter das Herz rausgerissen worden war. In der sie alles verloren hat. Deren Schmerz nie vorbeigehen wird und den niemand nachvollziehen kann, der nicht schon einmal sein Kind verloren hat. Dieses Kind trieb jetzt leblos im Mittelmeer, während Kreuzfahrtschiffe und Millionärsjachten herum cruisten und sich die Passagiere aufregten, dass das Wasser nur 25 Grad hatte.

Nachdem ich einige Runden mit dem Kinderwagen im Park gedreht hatte, fiel mir ein, dass ich noch einkaufen musste. Ich ärgerte mich, dass ich keinen größeren Korb im Kinderwagen hatte, weil ich wieder einmal viel zu viel aus dem Supermarkt mitgenommen hatte. Aber ich hatte lieber einen schicken und keinen praktischen Kinderwagen gewollt. Und jetzt musste ich damit leben. Mir fielen die Worte meines Mannes ein, als er mich beim Kauf des Kinderwagens genau auf den kleinen Korb aufmerksam gemacht hatte. Aber nein, ich hatte den Designerwagen ja unbedingt haben wollen. Und nun hatte ich den Salat. Dazu die ständig rote Ampel. Nicht ein einziges Mal war sie grün, wenn ich die Straße überqueren wollte. Plötzlich fing mein Sohn an zu weinen und ich wurde langsam nervös. Eilig marschierte ich nach Hause und regte mich nicht zum ersten Mal darüber auf, dass ich die ganzen Einkäufe plus Kind und Kinderwagen in den ersten Stock tragen musste. So ein misslungener Tag aber auch. Nachdem ich das Kind versorgt, Abendessen gekocht und die Wohnung aufgeräumt hatte, setzte ich mich auf die Couch und schaltete den Fernseher wieder an. Weitere zehntausend Flüchtlinge waren am Münchener Hauptbahnhof eingetroffen, winkende Deutsche empfingen sie. Die einen klatschten, die anderen verteilten Essen und Süßigkeiten, einige gaben den Kindern Stofftiere und kleine Flaschen mit Säften. Aus den Zügen stiegen erschöpfte Menschen. Frauen mit Kopftüchern und dunkelhaarige Männer, die in die Kamera grinsten, ihre Erleichterung offen zeigten und sich sicher fühlten. Wie viele denn noch, fragte ich mich. Wie viele kamen noch? Wann war Schluss damit? Dann wurden Bilder gezeigt, wie fliehende Leute vor der ungarischen Mauer standen und nicht wussten, wie sie weiterkamen. Sie traten gegen die Wand und wollten weiter nach Deutschland. Ohne Pässe, ohne Kontrolle. Anonym suchten sie andere Wege, um nach Deutschland zu gelangen. Ich bekam Angst. Es erinnerte mich an Krieg, an den Krieg, der vor über zwanzig Jahren in Ex-Jugoslawien getobt hatte. Ich dachte an die Zeit, als lange vor uns das Osmanische Reich bis ins Landesinnere von Bosnien eingebrochen war und dort vierhundert Jahre regiert hatte.

War das gegenwärtig nur eine Masche, um wieder nach Europa zu gelangen, Europa erneut mit Muslimen zu bevölkern, damit es nicht vorwiegend christlich blieb? Um uns zu schwächen? Um sich so stark fortzupflanzen, dass unsere Kinder in dreißig, vierzig Jahren einen deutlichen Unterschied spüren würden? War das alles nur eine Taktik mit dem Krieg, ein Versuch, uns wieder einmal zu erobern? Die Deutschen dachten nicht einmal an so etwas. Für sie waren Syrer, Iraker und Flüchtlinge jeglicher Herkunft allesamt nur Freunde. Das Mitleid mit den Leuten war enorm. Überall wurden Spenden gesammelt, von Essen über Klamotten bis hin zu Geldgeschenken. Alle Schutzbedürftigen der Welt konnten einfach so, ohne Kontrolle, einreisen und hierbleiben. In welchem anderen Land war das noch möglich? War das nun lobenswert und vorbildlich oder einfach nur naiv und dumm?

Die Kanzlerin schwor auf ihre Politik. Ich dagegen war skeptisch und fragte mich, wo das hinführen würde. Ich fühlte mich irgendwie verraten und hintergangen, durfte aber niemandem in meiner Umgebung meine Meinung sagen, weil alle irgendwie anders dachten. Doch ich hatte Angst. Angst vor den fremden Menschen, die eine vollkommen andere Kultur hatten und meiner Meinung nach nicht in unser Land passten. Aber ich musste gleichzeitig irgendwie unserer Regierung vertrauen, weil die Politiker immer betonten, alles genau zu wissen, was sie taten. Aber manchmal musste ich an die naiven Trojaner denken, an das große Holzpferd, aus dem später die große Überraschung sprang.

Mein Mann kam spät nach Haus und erzählte mir wütend von einem Auftrag, der ihm durch die Lappen gegangen war. Alles war vorbereitet, angezahlt, organisiert gewesen, und in letzter Sekunde war der Kunde abgesprungen und hatte ihn sitzen lassen. Seine Firma musste sämtliche Kosten übernehmen; er hatte nicht nur keinen Gewinn, sondern obendrein einen ziemlichen Verlust eingefahren. Er sagte, dass dieser Monat überhaupt sehr schlecht gelaufen sei. Wir sahen uns bedrückt an, da wir diesen Monat nicht so viel Geld zur Seite legen konnten, wie sonst.

Zur gleichen Zeit kämpfte sich ein sechzehnjähriger Junge aus dem Sudan durch die heiße Wüste Afrikas, um in den Libanon zu gelangen. Der Schlepper hatte ihm den Transport bis Beirut und dann eine Schiffsfahrt nach Italien zugesichert. Er saß mit fünf anderen in einem alten Jeep, seit drei Tagen und Nächten ohne Wasser. Sie saßen dicht nebeneinander und waren nur froh gewesen, irgendwo zu fahren. Hauptsache weg aus dem Sudan. Irgendwann erreichten sie den Libanon und nach dreimaligem Umsteigen und ständigem Versteckspiel mit der Polizei erreichten sie zu dritt Beirut. Die anderen beiden hatten dem Hunger und Durst nicht standhalten können, waren kurz vor dem Kollaps gestanden. Sie waren einfach in der Wüste ausgesetzt worden. Schockiert hatte der Junge die Augen geschlossen und geschwiegen. Das erstaunlich kleine Schiff, das sie in die Freiheit bringen sollte, schien nicht gerade geräumig und sicher, aber egal. Wichtig war, einfach an Bord zu gehen und loszufahren, bevor die Leute von den Behörden sie aufspürten und zurückschickten oder einsperrten. Das Geld für die Reise hatte der Junge leihweise von Verwandten erhalten. Er hatte versprochen, das Doppelte zurückzuzahlen, sobald er in Deutschland sei und eine Arbeit habe. Mit einhundertzwanzig weiteren Personen ging es schließlich los. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. In wenigen Stunden würden sie Europa erreichen und damit ihre Freiheit gewinnen.

Doch nach knapp einer Stunde drohten ihnen die Schlepper mit Gewehren und befahlen ihnen, vom Schiff zu springen. Sie hatten die Kohle kassiert. Alles andere war ihnen egal. Die Menschen und ihre Schicksale interessierten sie nicht. Die Flüchtlinge versuchten, die Situation zu klären, und fragten, ob sie schon vor der italienischen Küste seien. »Runter mit euch!«, war alles, was sie zu hören bekamen. Sie mussten ins dunkle Meer springen, ansonsten würden die Schlepper sie erschießen. Der Junge sprang voller Angst ins Wasser und schwamm, um sich irgendwie zu retten, was aussichtslos war. Nachdem die Schlepperbande alle Menschen ins Meer getrieben hatten, kehrten sie um. Am nächsten Tag wartete eine neue Tour von Flüchtlingen, die das gleiche Schicksal ereilen würde. Die Menschen schrien, einige konnten nicht schwimmen und ertranken. Der Junge war ein guter Schwimmer und kämpfte. Viele Stunden in den hohen Wellen. Bis auch ihn die Kräfte verließen und er ertrank. Fern der Heimat trugen die Wellen seinen Körper davon.

Verdrängte Ängste

Die Vorbereitungen für die Taufe unseres Sohnes näherten sich dem Ende. Die Einladungskarten waren längst verschickt. Auf einem Blatt Papier hielten wir die Leute fest, die zugesagt hatten. Die Liste wurde immer länger. Am Ende zählten wir rund siebzig Erwachsene plus Kinder. Ich holte tief Luft. Es gab Leute, die ihre Hochzeit mit weniger Gästen feierten, aber es war unser erstes Kind und der erste Enkel meiner Eltern, versuchte ich, mein Gewissen zu beruhigen. Plötzlich klingelte es an der Tür. Das Taufkleid war da! Ich machte ein paar Fotos und schickte sie an Ani, die eine der beiden Taufpatinnen sein würde. Ani antwortete mit einigen Smileys und der Mitteilung, dass er einem Engel ähnlich sähe. Sie hatte noch keine Kinder. Unser Sohn war ihr Ein und Alles. Für ihn würde sie nach eigenen Aussagen alles hergeben, sterben und ihn adoptieren, wenn uns, Gott bewahre, etwas zustoßen sollte. Es war sehr schön, jemanden zu haben, dem man sein Kind anvertrauen und in jeder Situation mit Hilfe und Unterstützung rechnen konnte.

Es war soweit. Gegen sechs Uhr morgens fuhr ich mit dem Auto los, um meine Eltern am Busbahnhof abzuholen. Sie waren für den festlichen Anlass extra aus Kroatien angereist. Als ich am Hauptbahnhof vorbeifuhr, sah ich Hunderte von Menschen, die bepackt mit Tüten, Decken und Rucksäcken rumstanden und auf Hilfe warteten. Sie schienen orientierungslos und ängstlich, wirkten aber auch erleichtert, dass sie sich auf sicherem Boden befanden. Ich stand an der Ampel und wartete, dass sie auf Grün umschaltete. Automatisch drückte ich die Taste an meiner Autotür und verriegelte sie. Eine Gruppe junger Männer überquerte die Straße und gesellten sich zu der Menschenmasse, alle wurden wieder eins. Schon wieder diese Flüchtlinge, ich war wütend. Sollen sie doch dort hingehen, wo sie hergekommen sind. Ich entschloss mich, an Frau Merkel einen Brief zu schreiben und ihr meine Meinung und meine Ängste über die vorwiegend muslimischen Einwanderer mitzuteilen. Vielleicht erhielt sie den Brief ja nie, aber zumindest würde ich meine Meinung äußern und damit versuchen, etwas zu ändern. Am schlimmsten war es schließlich, nur zuzusehen und nichts zu unternehmen. Es war nichts anderes als eine Völkerwanderung. Der Seehofer hatte Recht.

Eine junge, vermummte Frau hielt ihr wenige Wochen altes Baby auf dem Arm und wiegte es; neben ihr Müll, McDonalds Tüten flogen durch die Gegend. Es war ein kalter, unangenehmer Herbsttag. Irgendwie atmete ich tief auf, als die Ampel endlich wieder grün zeigte, denn die junge Mutter mit dem Baby weckte in mir ein trauriges Gefühl. Ich parkte den großen Geländewagen meines Mannes vor dem Busbahnhof und stieg aus. Bereits von weitem sah ich meine Eltern. Meine Mutter, eine zierliche, kluge, zurückhaltende Frau, die wunderschöne lockige, braune Haare hatte, um die sie alle Frauen mit glatten, dünnen Haar beneideten. Sie drückte ihre Handtasche an sich und hatte alles fest im Blick. Mein Vater stand ein paar Meter weiter. Er trug einen dicken Pulli und eine Hängetasche quer über seinem etwas dickeren Bauch. Mit dem Schnurrbart sah er ein bisschen aus wie Stalin. Sein ernster Blick unterstrich dieses Bild. Er starrte auf einen Punkt und bewegte sich nicht. Beim Näherkommen winkte ich den beiden zu. Sie nahmen ihre Koffer und gingen mir entgegen. Ich freute mich sie wieder einmal zu sehen und brachte sie zu unserem Wagen. Vater stellte erneut fest, wie stark und gut unser Wagen sei, betonte mehrmals, dass wir uns das hier im Westen locker leisten könnten und nicht so arm dran seien wie die meisten Kroaten in der Heimat. Damit wollte er mir verdeutlichen, dass ich es richtig gemacht hatte, als ich vor sechs Jahren nach Deutschland gezogen war. Ich verdrehte leicht die Augen, nickte aber höflich in den Rückspiegel, um nicht ganz so genervt zu wirken. Mutter dagegen betonte, dass ich gut ausschaue und schlanker geworden sei, was mich sehr freute. Als ich wieder an den Einwanderern vorbeifuhr, meckerte Vater über die versammelte Mannschaft und sagte, dass er eigentlich nichts gegen verfolgte Leute hätte, betonte aber, dass sie einen anderen Glauben haben und sich wahrscheinlich hier nie richtig anpassen werden. »Arme Menschen«, sagte Mutter, »als wäre es gestern gewesen, dass wir unsere Häuser fluchtartig verlassen mussten.« »Das war was anderes«, erwiderte Vater energisch. »Wir sind Christen …«. Ich schaltete mein Hirn aus, drückte aufs Gaspedal und nutzte die Strecke im neuen Tunnel, wo es noch keine Blitzer gab.

Sie stellten die Koffer ins Gästezimmer, schlichen zum Kinderzimmer, öffneten leise die Tür und bemerkten hoch erfreut, dass der kleine Mann schon munter war. Während Oma und Opa sich mit dem Kleinen beschäftigten, kümmerte ich mich um das Frühstück. Dazu gehörte auch der geräucherte Speck, den ich vor einigen Tagen extra gekauft und dafür gefühlte zwanzig Läden abklappern musste, damit es auch der Gleiche war, den mein Vater so gern mochte, ohne den er glaubte, nicht leben zu können. Außerdem hatte ich weitere Wurstsorten und Brotspezialitäten gekauft. Das größte Hobby meines Vaters war es, gut und opulent zu essen. Er war nicht wählerisch, aber sein Essen musste Fleisch enthalten und der Teller musste gut gehäuft sein.

Mein Vater wollte wissen, wo denn die Suppe sei. Ich rollte nur mit den Augen. Er hatte die seltsame Angewohnheit, jeden Morgen drei bis vier Teller Suppe zum Speck und Brot zu verzehren. Mutter stuppste ihn etwas beschämt an. Also setzte sich Vater zu seinem Enkel auf den Boden, um mit ihm zu spielen. Leider begriff dieser immer noch nicht, wer denn die Besucher eigentlich waren. Wenig später gesellte sich mein Mann verschlafen zu uns und begrüßte herzlich seine Schwiegereltern. Mutter konnte etwas Deutsch. Mit Händen und Füßen versuchte sie, ihrem Schwiegersohn zu erklären, wie das Wetter bei ihrer Abreise in Kroatien gewesen war. Vater dagegen konnte nur diese Wörter: Speck, wunderbar, ja, nein, wie geht’s und gut. Was natürlich ziemlich peinlich war.

»Sei froh, dass Michael unseren Vater nicht versteht. Gott weiß, was er ihm alles über uns erzählen würde«, hatte Ani gesagt, als sie vor ein paar Monaten bei uns war und wir ein Gläschen hausgemachten Kirschlikör getrunken hatten. Wir hatten herzlich gelacht und auf unsere Eltern angestoßen. Die Taufe unseres Sohnes war sehr schön, meine jüngste Schwester Marta war schon einige Tage zuvor angereist und wohnte bei Ani.

Als wir am Abend müde nach Hause kamen, drückte mir Mutter ein kleines Päckchen in die Hand. »Vielleicht erinnerst du dich daran.« Als ich es ausgepackt hatte, schlug mein Herz schneller. Es war die dünne, goldene Halskette mit goldenen Minikugeln, die ich zu meiner eigenen Taufe in Travnik von meiner Taufpatin bekommen hatte. Die Kette besaß für mich eine große Bedeutung. Ich hatte sie als Kind immer mal wieder ansehen dürfen. Natürlich hatte ich die Kette nie getragen, weil Mutter Angst gehabt hatte, dass sie eventuell kaputtgehen könnte. Bei den Erinnerungen an meine Kindheit wurde mir ganz warm ums Herz. Unter der Kette lagen goldene Ohrringe mit einem riesigen Stein in der Mitte. Es waren die Ohrringe meiner geliebten Oma, die ich ihr als Kleinkind immer hatte erbetteln wollen. Angeblich hatte ich meiner Oma jeden Tag gesagt, was für schöne Ohrringe sie hat und dass ich solche auch gerne hätte. Dabei hatte ich immer gehofft, dass sie den Schmuck abnehmen und mir in die Hand drücken würde, was sie zum Schluss auch getan hatte. Diese Ohrringe waren neben den wenigen Erinnerungen und dem Grabstein das Einzige, was von meiner Oma geblieben ist.

Nach wenigen Tagen fuhren meine Eltern wieder zurück nach Hause, da sie einerseits immer etwas zu tun hatten und andererseits einfach nicht stören wollten. Sie ließen sich auch durch diverse Freizeitangebote nicht dazu überreden, länger zu bleiben. Mein Mann und ich brachten unseren Sohn zu seiner geliebten Tante und fuhren meine Eltern und Marta zum Busbahnhof. Ich hätte mir gewünscht, dass sie alle länger bleiben würden, aber ich versprach ihnen, zu Weihnachten nach Hause zu kommen. Gleich im Anschluss fuhren wir zur Geburtstagsparty eines guten Freundes. In dem schicken Restaurant warteten schon alle und begrüßten uns herzlich. Die Truppe war gut gelaunt und das Essen spitze. Nachdem ich mir einen Weißwein bestellt hatte, packte das Geburtstagskind seine Geschenke aus und freute sich über die Kleinigkeiten, die alle mitgebracht hatten. Ein Hugos nach dem anderen wurde bestellt und nach einiger Zeit kamen wir, wie sollte es auch anders sein, auf das Thema Flüchtlingskrise zu sprechen. Die einen waren strickt gegen die ungebetenen Gäste, andere zeigten jedoch etwas Mitleid, das sich aber in Grenzen hielt. Ich hatte nur das Bild der grinsenden, jungen Männer im Kopf und sagte offen, dass ich gegen diese hohe Anzahl von Flüchtlingen bin.

»Schatzi, erzähl doch mal, wie es bei dir damals war. Du warst doch auch ein Flüchtling«, sagte mein Mann, ohne näher darüber nachzudenken. »Für alle, die es nicht wissen, Jana floh mit ihrer Familie aus Bosnien. Es ist eine interessante Geschichte, erzähl mal!« Ich spürte, wie ich rot anlief. Keiner von den Anwesenden wusste, dass ich ein Flüchtlingskind war, und ich hatte auch keine Lust, darüber zu sprechen. Es lag schon so viele Jahre hinter mir und irgendwie hatte ich mit der ganzen Geschichte schon längst abgeschlossen und ein neues Leben begonnen. Aus einem unerklärlichen Grund verschwieg ich allen neu gewonnenen Freunden und Bekannten meine Herkunft und erzählte ihnen nichts von meinem steinigen Lebensweg. Wenn mich jemand fragte, woher ich denn käme, sagte ich spontan aus Kroatien, und das war’s. Meine Eltern lebten seit über zehn Jahren in einem beschaulichen Ort an der kroatischen Küste, unser Haus lag nur zweihundert Meter von einem wunderschönen Strand entfernt. Wir besuchten unsere Eltern, vor allem im Sommer, so oft es ging. Das war die Geschichte, die alle kannten, weil ich sie als meine Heimat verkauft hatte.

Natürlich wunderten sich an diesem Abend alle über diese neue Erkenntnis, die mein Mann ohne böse Absicht kundgetan hatte und wollten mehr darüber wissen. Am Tisch wurde es ganz plötzlich still. Da begriff ich, dass ich mich für meine Vergangenheit schämte. Alle Augen waren erwartungsvoll auf mich gerichtet und ich wünschte mir, dass die Erde aufging, damit ich hineinfallen konnte. Irgendwie redete ich mich aus der Situation heraus und hoffte, dass niemand etwas von meiner Nervosität merken würde. Ich sagte, dass alles nicht so wild und dass der Krieg schnell vorüber gewesen sei. Ich würde ein glückliches Leben führen. Darauf erhoben wir unsere Gläser und stießen an. Mein Mann wunderte sich sichtlich über meine Aussage, sagte aber nichts weiter, weil ich ihm einen bösen Blick zuwarf. Nach ein paar Minuten entschuldigte ich mich und ging auf die Toilette. Ich stellte mich vor den Spiegel und erneuerte meine Schminke. Ich atmete tief durch und sah vor meinem inneren Auge das kleine, blonde Mädchen mit den roten Bäckchen, das mit seinen blauen, großen Augen traurig im Flur stand und seine geliebte Puppe im Arm hielt. Ich betrachtete mich im Spiegel und sagte laut: »Mein Gott, ich bin ein Flüchtling, warum schäme ich mich dafür?«

Gute alte Zeiten

Travnik im Dezember 1992. Ich war ein sechsjähriges, blond gelocktes Mädchen. An diesem Abend hatte ich mir fest vorgenommen, die ganze Nacht wach zu bleiben, um den Nikolaus endlich mal mit eigenen Augen zu sehen. Meine Eltern und meine fünf Jahre ältere Schwester Ani hatten mir erzählt, dass der dicke Mann mit dem langen weißen Bart und dem roten Anzug einmal im Jahr um die ganze Erde reiste und Geschenke an die Kinder verteilte, aber nur an die Kinder, die das ganze Jahr auch brav gewesen waren. Anstatt mich zu freuen schluckte ich erstmal, weil ich mir nicht sicher war, ob ich diesmal dazugehörte. Ich spürte wie meine sonst so roten Bäckchen noch mehr Wärme bekamen und mein Herz schneller schlug. Da ich ein sehr lebendiges Kind war, hatte ich öfter Sachen angestellt, die verboten waren. Häufig lief ich barfuß zur Oma gegenüber und machte mit den staubigen Füßen das ganze Haus dreckig. Oder ich klaute das heiß geliebte Schulbuch meiner Schwester, um es schnell durchzublättern und die bunten Bilder anzuschauen. In der Eile konnte es schon mal passieren, dass die Seiten knitterten oder gar zerrissen. Allzu oft zog ich die dreckigen Stiefel im Flur aus und warf sie dann durch die Gegend. Mutter rastete jedes Mal aus, aber ich ließ mich nicht belehren. Es war aber auch nicht schwer gewesen, Fehler zu begehen, da unsere Eltern sehr streng waren. Sie hatten viele Regeln aufgestellt und bestanden darauf, dass wir Kinder diese ohne Wenn und Aber befolgten. Wenn der Nikolaus dieses Jahr nicht zu mir käme, dann schaute er zumindest bei Ani vorbei, die ein absolutes Vorbildkind war. Sollte ich keine Geschenke bekommen, war mir das egal. Wichtig war nur, dass ich den Nikolaus endlich mal zu Gesicht bekomme. Warum verschlief ich immer seinen Besuch? Heute Nacht sollte es aber anders sein, ich würde den Nikolaus sehen, und wenn es das Letzte war, das ich im Leben tun würde.

Das Abendessen wurde in Edelstahltellern serviert. Ich hasste diese Teller so sehr, dass mir der Appetit sofort verging, als ich sie in der Küche klappern hörte. Aber so war es, seitdem ich denken konnte. Unsere Eltern hatten bei jedem Versuch, schöne und große Teller zu erbetteln, die Köpfe geschüttelt.

Meine Mutter, die sehr praktisch veranlagt war, hatte ein kleines Vermögen für die ewig lebenden Teller bezahlt, damit wir Kinder sie nicht kaputt hauen könnten, wie es früher mit anderem Geschirr passiert war. Ich meckerte auch an diesen Abend, weil ich lieber aus den Porzellantellern mit dem Blumenmuster essen wollte, die meine Tante Ljuba hatte. Aber wie jedes Mal war ich noch zu klein dafür, das behauptete zumindest mein autoritärer Vater, den meine Mutter Vlad nannte. »Dann esse ich auch nichts«, sagte ich und schob den Edelstahlteller zur Seite. Ein Blick des Vaters genügte, um den Teller wieder zurückzunehmen und unter Tränen mein Sarma, ein bosnisches Nationalgericht, zu essen. Es war eher ein Rumstochern, weil ich die Sauerkrautblätter sowieso nicht mochte, aber jeder Widerspruch bedeutete Strafe. Sarma ähnelte deutschen Krautwickerln, allerdings gefüllt mit gemischten Hackfleisch und Reis. Dazu gab es meistens Kartoffelpüree mit Soße. Das Kartoffelpüree verschlang ich im Nu, aber das andere blieb auf dem Teller. Ich habe gehofft, nicht bestraft zu werden, denn jeden Tag gab es Theater mit dem Essen, weil ich außer Kartoffeln nichts anderes mochte. Nachdem Vater fertig war, stand er auf und schimpfte komischerweise nicht über das verbliebene Essen auf dem Teller. Er ging in den Flur und Mutter folgte ihm, die kurz darauf wieder zurückkam. Plötzlich rief Vater laut und forderte uns Kinder auf, rauszukommen. Ani und ich liefen in den Flur und starrten durch die offene Haustür nach draußen. Vaters jüngerer Bruder, Onkel Braco, stand im tiefen Schnee, lachte laut und sagte, dass wir schnell rauskommen sollten, weil der Nikolaus gerade mit dem Schlitten wegfahren würde. Aufge