Ich dich auch, glaube ich - Jonas Erzberg - E-Book
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Ich dich auch, glaube ich E-Book

Jonas Erzberg

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Beschreibung

Als der Hypochonder Konstantin nach dem Tragen von sechs Wasserkisten ein Ziehen im Oberbauch verspürt, ist der Fall für ihn klar: Leberkrebs im Endstadium! Im Wartezimmer seines Hausarztes trifft er dann aber Freya, eine Yogalehrerin kurz vor der Abreise nach Thailand. Normalerweise würde Konstantin bei dem Wort "Thailand" an Malaria, Ruhr und Typhus denken. Doch als Freya ihn in ihr Camp einlädt, denkt er an Sonne, Palmen und Sandstrände. Und beschließt, da er ja eh bald sterben wird, ihr Angebot anzunehmen. Es beginnt eine Reise, die sein Leben verändert.

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Seitenzahl: 430

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I N H A L T

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumZitatPrologTeil IEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigTeil IIEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigEpilogZitatDanksagung

Ü B E R  D I E S E S  B U C H

Als Konstantin Wittgenbausch im Wartezimmer seines Hausarztes die sympathische Freya kennenlernt, schlägt die Liebe bei ihm ein wie der Blitz. Aber Freya ist Yogalehrerin und wird den Winter über in Thailand arbeiten. Er ist selig, als sie ihn für den Dezember in ihr Camp einlädt. Es gibt nur ein Problem: Beim Wort »Thailand« denkt der bekennende Hypochonder Konstantin nicht als Erstes an Sommer, Sonne, Palmen, sondern an Malaria, Thyphus und Cholera. Aber wenn man der Liebe seines Lebens begegnet ist, muss man eben manchmal über sich hinauswachsen. Und so lässt Konstantin sich auf eine Reise ein, die sein Leben verändert …

Ü B E R  D E N  A U T O R

Jonas Erzberg ist das Pseudonym des Journalisten Hannes Finkbeiner. Er studierte an der Hochschule Hannover, wo er heute auch als Dozent tätig ist. Finkbeiner schrieb u. a. für die FAZ, Spiegel Online oder das RedaktionsNetzwerk Deutschland und ist für HAZ als Kolumnist tätig. Wie sein Romanheld ist er bekennender Hypochonder. Er liebt die Märkte Asiens und die thailändische Küche.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG unter dem Titel

»Unheilbar glücklich« erschienenen Werkes

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © shutterstock: Popmarleo | Olly Molly | Silver Spiral Arts

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7206-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

จงหมั่นดูแลใจของคุณKeep Guarding Your Own MindTafel im Kloster Wat Umong, Chiang Mai

P R O L O G

Die Frau hat Schnupfen. Eindeutig. Vielleicht sogar eine fiebrige Erkältung. Blass. Rote Nase. Glasige Augen. Wäre auch kein Wunder bei dieser Klimaanlage, die nichts anderes ist als eine ausrangierte Schneekanone, die in irgendeinem Skigebiet ausgebaut und hier wieder eingebaut wurde. Auf dem Weg zu Terminal 2 sah ich einen Fluggast, der sich frierend in die Hände pustete. Kein Witz: Irgendwo in den Kellern dieses Baus gibt es einen Tank, der nur mit Wasser gefüllt werden müsste, und in der Flughalle begänne es augenblicklich zu schneien. Aber das ist ja jetzt hier nur indirekt das Problem. Das eigentliche Problem steht direkt vor mir: eine schniefende Sicherheitskontrolleurin. Noch sieben Leute in der Reihe. Soll ich ausscheren, zurückgehen, warten, mich der harschen Einweisung einfach widersetzen?

Der Metalldetektor piept. Airport-Scooter, Ticket-Scanner, diverse Computer, alles piept hier. Dazu kommen Mobiltelefone, Informationstafeln, Kassen, sogar die Rolltreppen und Laufbänder piepen gelegentlich, keine Ahnung warum. Piepen. Das universelle Geräusch. Noch bevor der Fluggast sich in seinen Sitz zwängt und aus Näpfen gefüttert wird, ist er zwangsläufig ein Nervenbündel, denke ich und erstarre. Sie hat gewechselt. Auch das noch: von der Handgepäck-Kontrolle zur Leibesvisitation … Noch vier Personen vor mir, dann bin ich an der Reihe. Habe ich etwas Metallisches an mir? Gibt es einen Grund, mich abzutasten? Für Körperkontakt?

Doch da schlurft sie schon wieder zurück ans Rollband und durchforstet triefäugig den pinken Umhängebeutel eines sonnengebackenen Mädchens. Ich ziehe mir schon einmal den Riemen meines Rucksacks von der Schulter, umklammere ihn wie einen Wurfhammer und konzentriere mich auf einen großen Fernsehbildschirm, der an eine Betonsäule montiert wurde. Es läuft ein Trailer für einen Kino- oder Fernsehfilm, vielleicht auch nur eine Soap. Genau lässt sich das nicht sagen. Erstens sind mir die thailändischen Schauspieler völlig unbekannt, ich kann sie also keinem Genre zuordnen, zweitens läuft der Film ohne Ton, und drittens werden die Untertitel in Landessprache eingeblendet.

Auf jeden Fall spielen in der Vorschau zwei Verliebte mit. Schöne, reiche Wesen, perfekt ausgeleuchtet. Sie stehen in einem Penthouse, unterhalten sich mit gewissem Abstand, aber verzehren sich mit Blicken. Chef und Sekretärin? Schwager und Schwägerin? Gar Cousin und Cousine? Keine Ahnung. Irgendwas scheint unmoralisch. Schnitt. Es ist jetzt Nacht. Sie küssen sich leidenschaftlich, in Nahaufnahme, nackte Schultern. Doch wiegen wir uns besser nicht in Sicherheit. Es muss ja irgendetwas passieren. Tut es ja immer. Und wirklich. Schnitt. Die Frau steht plötzlich mitten auf der Straße, was immer sie da zu suchen hat, allein, im Dunkeln. Sie reckt schreiend den gestreckten Arm in die Höhe, als könnte sie damit etwas gegen den Sattelschlepper ausrichten, der ungebremst auf sie zurast. Schnitt. Zurück im Penthouse. Wutschäumend zertrümmert ihr Liebhaber mit einem Garderobenständer alle Glasflächen seines Refugiums. Schnitt. Titel. Schneller Abspann. Dann fängt der Clip von vorne an, und der ganze Horror beginnt von neuem.

Was soll ich sagen?

Liebe eben.

Kurz finde ich den Gedanken lustig, haha, Liebe, Horror, Endlosschleife, haha, doch dann fällt mir ein, dass der Witz auch teilweise auf meine Kosten geht. Erstens. Zweitens wirft der Einweiser mit einem Mal ein straffes Lasso von Anweisungen nach mir aus. »Sir, hello Sir, here Sir«, surrt seine Stimme zu mir. Er zeigt mit der Hand auf die Plastikbox, die er mir schon hergerichtet hat. Ich stehe stramm, lege meinen Rucksack hinein. »Mobiltelefon«, fügt er einsilbig hinzu. War das eine Frage? Ich schüttele den Kopf. Er mustert mich ungläubig, weswegen ich meinen Kopf noch stärker schüttele und zusätzlich mit den Schultern zucke. Ich habe wirklich kein Telefon bei mir. Er zeigt auf meinen Gürtel. Ich schnalle ihn ab, lasse ihn in die Box gleiten und warte, bis ich durch den Detektor gewinkt werde. In diesem Augenblick fallen mir die Polizisten im Hintergrund auf. Vier an der Zahl, die sich hinter Metalltischen mit diversen Geräten aufhalten. Deswegen erregen sie aber weniger meine Aufmerksamkeit, das Ding ist: Sie blicken mich an.

Ich schaue kurz weg, aber nur, um sofort wieder hinzuschauen.

Doch.

Doch, doch.

Kein Zweifel, alle Augen ruhen auf mir.

Oder sieht es auf die Entfernung nur so aus? Sind ja schließlich acht, neun Meter.

Ich verspüre den Drang zu pfeifen, schaue an die Hallendecke, betrachte die grauen Metallverstrebungen, ein Geflecht aus Röhren und Stahlträgern. Dann inspiziere ich den gekachelten Boden, bevor ich mich traue, wieder zu den Polizisten zu schauen. Sie stehen jetzt nicht mehr hinter ihren Tischen. Sie bewegen sich langsam auf mich zu, scheren aus, als würden sie mich einkesseln, während die Verschnupfte wieder zur Leibesvisitation wechselt und mich wild gestikulierend durch den Detektor zu winken versucht, doch plötzlich hält sie inne. Die Polizisten werden schneller. Hinter mir. Hinter mir scheint etwas zu passieren.

»Duuuu«, höre ich eine erregte Stimme.

Ich drehe mich um.

Klar drehe ich mich um.

Wer würde nicht wissen wollen, was hinter einem passiert? Ein Sozialdrama? Gar ein Promi? Ein Sportler, Politiker, Schauspieler?

Stattdessen sehe ich eine beringte Faust, die sich in rasender Zeitlupe auf mich zubewegt. Schnell und langsam. Langsam und schnell. Beides zugleich. Wahrnehmung ist schon eine verrückte Sache. Der Schmerz über meiner linken Augenbraue explodiert erst, als ich bereits falle. Ein Piepen flammt in meinen Ohren auf, ein lautes, hohes Piepen, das im Grunde ganz gut mit dem Flughafen harmoniert, aber in meinem Kopf trotzdem nichts zu suchen hat. Es erinnert mich an ein EKG, das in der Notaufnahme auf die Nulllinie springt. Piiieeeeeppp. Patient tot. Aber so weit sind wir hoffentlich noch nicht. Ich denke vielmehr an Tinnitus, natürlich denke ich an Tinnitus, ich denke an Infusionen und Tinnitus, an Infusionen und Luftblasen. Und während der Boden so auf mich zurast, überlege ich, ob das Ende immer zwangsläufig auch ein Anfang ist. Und umgekehrt.

E I N S

Infusionen sind mir ein Gräuel. Nicht dass ich jemals eine Infusion bekommen hätte, aber allein der Anblick jagt mir einen Schauer über den Rücken: die Flasche, der Ständer, der Schlauch, die Nadel im weichen Fleisch der Armbeuge, fixiert mit einem weißen Klebestreifen. Es war mir ein Rätsel, wie die junge Frau mir gegenüber so seelenruhig in einer Modezeitschrift blättern konnte, die Beine übereinandergeschlagen, während ihre Medizin durch die Tropfkammer rieselte. In ihrem Ohr steckte etwas Watte, weswegen ich auf Tinnitus tippte. Ohrgeräusche. Werden immer häufiger. Volksleiden.

Ich blickte mich kurz in dem voll besetzten Wartezimmer um, in dem die Stimmung an eine Gedenkfeier erinnerte. Zwei Patienten lehnten an der Wand, ein Jugendlicher mit grünstichigem Gesicht hatte sich kurzerhand auf einem Kinderstuhl niedergelassen. Vor den Fenstern fiel eisiger Dezemberregen, die Scheiben waren beschlagen, die Luft hier drinnen entsprechend schlecht: Es roch nach einer Mischung von Parfüm und Hefe. Ich atmete flach, meine Hände lagen gefaltet in meinem Schoß, die Finger krallte ich vor Nervosität so fest ineinander, dass sie schon ganz weiß waren, dann entdeckte ich die Luftblase im Infusionsschlauch …

Gestatten, Hypochonder. Meine Ärzte würden sagen, ich bilde mir Krankheiten ein, was irgendwie stimmt, aber was ich für eine grobe Verzerrung der Tatsachen halte: Ich habe diese Krankheiten nämlich, zumindest bis mir das Gegenteil bewiesen wird. Ich hatte mehrmals Krebs, genauer gesagt Karzinome unter der Zunge, am Hoden, im Auge, Hirn, Gehörgang, in der Milz, der Luftröhre und der Lunge. Ich litt an Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, rheumatischer Arthritis und Herzinsuffizienz. Ich hatte ALS, Muskelschwund und Multiple Sklerose, um vielleicht nur ein paar Sachen zu nennen.

Dabei ist es nicht so, dass ich morgens aufwache und denke: Kopfweh, das kann nur ein Hirntumor sein, und dann panisch in die Notaufnahme stürme, weil ich sonst nichts zu tun habe. Ich saß beispielsweise an diesem Morgen bei meinem Hausarzt, weil ich Leberschmerzen hatte beziehungsweise sich ein stechender, ziehender Schmerz in meinem rechten Oberbauch ausbreitete und in den Rücken ausstrahlte. Meine Drangsal dauerte schon drei Tage. Jede Bewegung war eine Qual, mir war speiübel und schwindelig. Klar. Krebs. Was sonst?

»Du wirkst angespannt«, ignorierte ich direkt neben mir eine weit entfernte Stimme.

Ich beobachtete den dünnen Schlauch, der an einer Stelle verdreht war, einen Kringel bildete. Die Luftblase drehte dort gemächlich einen Looping, stand plötzlich still, schwankte, einen Millimeter hoch, wieder runter, hoch, um sich dann umso schneller auf die Armbeuge der Frau zuzubewegen. War Luft im Kreislaufsystem nicht tödlich? Das sah man doch immer wieder, im Fernsehen, man las es, in Thrillern. Ich schluckte. Irgendjemand musste etwas tun. Das Umblättern der Dutzend Zeitschriften zerteilte die Sekunden, der Wasserspender gluckerte wie von Geisterhand, dann verschwand die Luftblase in der Vene.

Frau Harkisch, eine untersetzte Arzthelferin mit Fliehkinn, Monsterschminke und Reißzähnen, zog die Tür auf, sie arbeitete hier schon seit Jahren.

»Entschuldigung«, sagte ich bemüht um einen sachlichen Ton, alle Patienten schauten auf, ich zeigte auf die Frau, »da, also, ich weiß ja nicht, aber da ist gerade eine Luftblase im Infusionsschlauch gewesen, und jetzt ist sie weg, also, nicht weg, sondern im Arm verschwunden.«

Die Frau schaute auf, blickte panisch zwischen der Arzthelferin und mir hin und her.

»Ich danke Ihnen für den Hinweis, Herr Wittgenbausch, aber da müssen Sie sich keine Sorgen machen. In diesen Mengen ist das kein Problem«, entgegnete Frau Harkisch in melodischem Singsang, durchbohrte mich dabei allerdings mit einem Blick, der Oberärzte das Fürchten lehrte. Sie hasste mich ohnehin, weil ich mittlerweile immer ohne Termin in die Praxis kommen durfte, und fügte hinzu: »Traudel Lorenz, bitte.«

Eine ältere Dame mit Hütchen und Kostüm stand schwerfällig auf, bewaffnete sich mit ihrem Gehstock und humpelte gen Sprechzimmer. Es folgte ein allgemeines Ausrichten der Sitzpositionen, zwei Patienten husteten, kurz und intensiv. Ich sah die Bazillen förmlich im Raum schweben und sanft zu Boden sinken. Der Junge tupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch. Danach senkte sich wieder die gedrückte Wartezimmerstille hernieder. Wegen des ganzen expansiven Hustens, Schnäuzens und Atmens hielt ich, so gut es ging, die Luft an. Und obwohl ich dabei peinlich berührt zu Boden starrte, spürte ich die Blicke, die mich immer wieder verhohlen streiften, den Hansel, Suppenkasper, Panikmacher.

»Ich bin heilfroh, dass du dich bei der Arzthelferin erkundigt hast, ich hatte die Luftblase nämlich auch gesehen und die ganze Zeit ein mulmiges Gefühl dabei. Danke«, sagte eine leise Stimme neben mir, aber dennoch so laut, dass es jeder hören konnte.

In wie viele ausdruckslose Gesichter hatte ich heute schon geblickt? Ach was, ausdruckslos, allein in diesem Raum reichten die Blicke von müde, gelangweilt, genervt bis hin zu entrückt, teilnahmslos und verbittert. Das wurde mir aber erst klar, als ich in diese haselnussbraunen Augen schaute. Sie strahlten. Die Augen meiner Sitznachbarin waren mit so viel Güte, Liebe und Humor gefüllt, dass ich mich meiner leidgeplagten Existenz fast schämte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Saß sie etwa die ganze Zeit neben mir? War es schon so weit mit mir gekommen, dass ich eine umwerfende Frau einfach übersah, durch sie hindurchblickte?

Es gab ja angeblich Momente, in denen sich das Leben in seiner ganzen meisterlichen Klarheit präsentierte. Ich hatte zumindest davon gehört. Und wenn es diese Momente wirklich gab, dann war ich gerade ein Teil davon. Neben mir saß die schönste Frau der Welt. Und sie schmunzelte. Lachfältchen so zart wie Bleistiftstriche befanden sich neben ihrem Mund und ihren Augen. Ihre halblangen, braunen Haare mit Pony umrahmten ein schlankes Gesicht. Nannte man diese Frisur einen Bob? Und wenn ja, woher wusste ich das?

Ich hatte keine Ahnung, aber so begann die ganze Geschichte: Ich stierte, starrte, glotzte eine fremde Schönheit an, war regelrecht sprachlos, fragte mich dabei, wie sich ihr Haarschnitt wohl nannte, und schrie vor Schreck fast auf, als sich ein älterer Herr neben mir ohrenbetäubend in sein Stofftaschentuch schnäuzte. Es hätte auch Mündungslärm sein können. Ich fuhr instinktiv herum, das Geräusch wandelte sich von kurzen, bellenden Lauten in ein langes, tiefes Schnorcheln. Dann wurde es still. Ich erwartete fast, dass hinter dem Taschentuch ein Rüssel zum Vorschein kam. Es war aber nur eine monströse puterrote Knollennase, die in einem schrecklich müden Gesicht steckte. Er blickte mich an, faltete das Stofftaschentuch säuberlich zusammen und steckte sich seinen Rotz wieder in die Tasche seiner dunkelbraunen Cordhose.

Ich wandte mich wieder zu ihr. Was hatte sie mich nochmal gefragt? Ich benetzte meine Lippen. Überbrückte den Moment mit einem meditativen »Hmmmm«, das ich sanft im Bereich meines Kehlkopfs rotieren ließ. »Bitte, ähmm, gern geschehen«, entgegnete ich schließlich und wusste plötzlich nicht mehr, ob mein Herz wegen des Arzttermins so ungestüm pochte. Oder wegen ihr.

»Ich will nicht aufdringlich erscheinen, aber du wirkst sehr nervös. Ist alles okay?«, flüsterte sie.

Was sollte ich darauf antworten? Ich habe Krebs im Endstadium?

»Die Wahrscheinlichkeit, dass ich krank bin, ist gering und liegt weit unter einem Prozent. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, Nichtraucher, sportlich, es gibt auch keine genetisch vererblichen Krankheiten in meiner Familie. Und ich ernähre mich gesund, na ja, bis auf einen Hang für Rotwein, Schokolade und Salzstangen vielleicht«, faselte ich und fügte lächelnd hinzu: »Wobei das mit den ganzen Studien und Statistiken auch so eine Sache ist. Habe als Präpubertärer mal einen Selbstversuch gestartet und eineinhalb Jahre lang meine linken Zahnreihen nur dreißig Sekunden lang geputzt, meine rechten Zahnreihen hingegen wie empfohlen zwei Minuten. Machte dann am Ende keinen Unterschied beim Zahnarzt, ich hatte links genauso viele Löcher wie rechts. Gott, was rede ich da bloß?«

Sie lachte, und der Raum wurde heller.

Was geschah hier?

Was geschah hier mit mir?

Sie lachte warm und klar, als scherte sie sich einen feuchten Kehricht um alle anderen Patienten und eine ungeschriebene Regel, die besagte, im Wartezimmer eine angespannte Ruhe zur Schau zu stellen. Weshalb eigentlich? Weshalb war Ruhe hier drinnen angemessen, wenn man doch eigentlich schreien und kreischen sollte, um ein einigermaßenes Gegengewicht zu seinem Inneren zu schaffen? Kein Lesezirkel, sondern eine Kooperation mit einer verdammten Schießanlage, das wäre mal eine Geschäftsidee für eine Arztpraxis!

»In einem Punkt kann ich dich beruhigen: Schokolade ist gesund, soll Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen und hat sogar Bestandteile vom Glückshormon …«, sie stockte und blickte auf das Magazin in ihrem Schoß. »Serotonin«, fuhr sie fort und präsentierte mir lächelnd die Zeitschrift, auf der ich nur das Hochglanzfoto einer Kakaobohne wahrnahm. »Da habe ich auch Glück gehabt, ich esse jeden Tag eine Tafel, immer ein paar Stückchen zwischen den Sitzungen.«

»Dafür sind Sie aber ganz schön schlank«, redete ich drauflos, spürte schon beim Sprechen heißes Blut in meinem Gesicht zirkulieren und schob schnell hinterher: »Dann habe ich ja nur noch zwei Laster.« Doch weil ich auch diesen Satz viel zu banal fand, ich auch alles in allem ein Riesenidiot war und irgendwie den Drang verspürte, mein Leiden endlich einmal in die Welt hinauszubrüllen, was man aber vor einer Fremden – einer unfassbar attraktiven Fremden – ebenso wenig tat, wie bei einem ersten Rendezvous in der Nase zu bohren, auch wenn einen der Popel in den Wahnsinn trieb, sagte ich mit einem hohen Maß an Dümmlichkeit: »Hab grad viel Stress um die Ohren.«

»Haben wir alle«, entgegnete sie schmunzelnd in die Tristesse des Wartezimmers hinein und musterte mich dabei mit wachem Blick, als durchschaute sie meine Lüge bis auf den Grund meines Wesens. »Hast du es mal mit Yoga probiert?«

»Ja, hat aber nur in Verbindung mit Psychopharmaka und Alkohol gewirkt«, antwortete ich. Sie legte die Stirn in Falten. Ich schaute verlegen zu Boden. »Entschuldigung, sollte nur ein Spaß sein. Und weshalb bist du da?«

Sie lächelte mich an und richtete sich auf, schon allein ihre Haltung wirkte gesund und vital. »Ich fliege heute Abend nach Thailand und arbeite bis ins neue Jahr als Yogalehrerin auf Koh Tao. Da wollte ich nochmal meine Impfungen checken lassen. Das solltest du mal versuchen …«, sagte sie, kniff ein Auge zu und flüsterte: »So eine Auszeit in Thailand wirkt Wunder.«

Ich lächelte und dachte an Sonne, Palmen, Sandstrände.

Leben, Liebe, Freiheit.

Malaria. Ruhr. Typhus.

Du lieber Himmel!

Thailand?

Allein bei dem Gedanken bekam ich Durchfall.

In mein Lächeln schlich sich die Qual.

»Warst du schon mal in Südostasien?«

»Nein. Ich war noch nicht mal auf Mallorca.«

»Ist wirklich einen Versuch wert, ich liebe dieses Land, das Essen, die Strände, das Klima – da ist gerade Hochsaison!«

Ich blickte durch die Fenster. Eine Windböe klatschte den Regenvorhang gegen die Hauswand, es pfiff durch die Dichtung, die Tropfen prasselten wie Kieselsteine gegen die Scheiben. »Ja, ein paar Wochen schönes Wetter … das wäre nicht übel.«

Sie zwinkerte erneut. »Ich habe immer noch ein Plätzchen in meinen Kursen frei, im Frühjahr auch gerne wieder hier, falls du Lust hast.«

Ich überlegte. »Du gibst ein paar Wochen lang Kurse und fliegst dann wieder heim?«

»Jein, ich habe am Ende noch ein bisschen Zeit für mich und reise …«

»Freya Hofleben, bitte«, erklang Frau Harkischs Stimme.

Wie in Trance sah ich zu, wie sie eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche zauberte, sie zwischen meine verknoteten Finger schob und aufstand.

»Also, alles Gute«, sagte sie und schaute auf mich herab.

»Schöne Zeit«, antwortete ich und schaute zu ihr hinauf.

Z W E I

»Konstantin, kommen Sie rein, kommen Sie rein!«, rief Dr. Kalthand, als ich in sein Sprechzimmer trottete. Er hieß natürlich nicht so, sondern Friedrich P. Bischoff, ich hatte ihm nur diesen Spitznamen gegeben, weil er immer so kalte Hände hatte. Furchtbar. Gänsehaut vorprogrammiert, vor allem, wenn er die Lymphknoten am Hals abtastete. Er gab mir mit einer ausladenden Armbewegung zu verstehen, dass er mich hinter seinem Schreibtisch wünschte, und fügte hinzu: »Sie kommen mir wie gerufen, ich brauche Hilfe, schauen Sie mal hier, ich versuche schon den ganzen Morgen Karten für das Kabarett zu bestellen, aber ich kann partout die Sitzplätze nicht selbst auswählen, obwohl das eigentlich gehen sollte.«

Ich schaute auf den Computerbildschirm. »Sie brauchen ein Update Ihres Flash Players.«

Er stutzte. »Woher wissen Sie das jetzt so schnell?«

»Steht doch da oben, in dem Kästchen. Sie müssen schon auch lesen, was da ab und zu aufpoppt.«

»Oh, und wie geht das jetzt?«

»Den kann man einfach runterladen, kostenlos, darf ich mal«, antwortete ich, öffnete den Link und begann mit dem Download. »Dauert ein paar Minuten, danach das Browserfenster einmal schließen, dann sollte es klappen.«

»Was ist noch einmal ein Browser?«, fragte er.

»Machen Sie einmal das Internet weg, dann funktioniert es.«

»Großartig, danke«, sagte er, stieß sich mit seinem Lehnsessel von der Tischkante ab und rollte einen halben Meter zurück, bis ihn die Fensterbank stoppte. Die Eilenriede, der Stadtwald Hannovers, der quasi direkt vor seinem Praxisfenster begann, war nur eine Ahnung im dichten Nebel. »Und was führt Sie heute zu mir?«, fragte er fröhlich.

Eigentlich hämmerte mein Herz bis in den Hals, aber ich sagte mit gespieltem Zynismus: »Ich habe Leberkrebs.«

»Oh. Sie sehen auch ganz schön mitgenommen aus.« Er runzelte die Stirn und musterte mich ernst über den Rand seiner Nickelbrille hinweg, die weniger modisch als zweckerfüllend war. Überhaupt war der Doktor eine Mischung aus gelecktem Promovierten und verwahrlostem Intellektuellem. Sein weißer Haarkranz war auf ein paar wenige Millimeter geschoren, sein Gesicht war aalglatt rasiert, und ich glaube, er ließ sich sogar die Augenbrauen stutzen. Demgegenüber trug er ein zerknittertes Polohemd, die Brusttasche seines weißen Kittels war löchrig, gelegentlich hatte ich sogar das Gefühl, er roch nach Zigarrenrauch, was aber auch nur der Note seines urmännlichen Aftershaves geschuldet sein konnte. Er fuhr fort: »Haben wir nicht erst vor ein paar Wochen einen kompletten Gesundheits-Check-up gemacht?«

»Sie verwechseln das, der Check-up war vor über zwei Jahren, als ich fünfunddreißig wurde, vor sieben Wochen war ich wegen der Faszikulationen bei Ihnen.«

»Ahhhh, stimmt, stimmt, richtig, die Muskelzuckungen. Was ergab denn der Hirnscan?«

»Nichts, keine Hirntumore, alles o.k.«

»Gut, gut, prima, und wie lange haben Sie schon Leberkrebs?«

»Drei Tage«, antwortete ich und spürte dieses Ding in meinem Bauch, pumpend, ziehend, reißend und beißend, ein golfballgroßes Knäuel.

Dr. Kalthand schaltete das Ultraschallgerät an, die Lüftung sprang summend an, als liefe eine Flugzeugturbine warm. Ich schreckte bei dem Geräusch zusammen, kurz vor den Untersuchungen liegen meine Nerven blank wie Kupferdrähte. Ablenkung. Ich suchte einen Fixpunkt, versuchte mich in die stille Funktionalität des Geräts zu denken, das erhabene Geflecht aus Platinen, Dioden und Kabeln, in dem alles logisch erklärbar war, einen Sinn ergab und den Naturgesetzen untergeordnet war, doch es half nichts: Der Tumor kniff und zwickte, glich einem feinen elektrischen Impuls, der mich schmerzvoll durchzuckte.

»Und wie sind Sie so schnell daran erkrankt, haben Sie eine Idee?«, fragte Dr. Kalthand.

»Ethylenglycol«, antwortete ich.

»Ethy-was?«

»E-thy-len-gly-col«, wiederholte ich und gab ihm einen Abriss des ganzen Wahnsinns.

Alles hatte damit begonnen, dass ich auf der Internetseite der Apothekenumschau von der Chemikalie Bisphenol A gelesen hatte, die in Plastikflaschen verarbeitet wird und so ähnlich wirkt wie das Geschlechtshormon Östrogen. Es konnte zu Fruchtbarkeits- und Entwicklungsstörungen führen. Schlimmstenfalls Krebs. Ich war perplex, recherchierte weiter und fiel schier rücklings vom Stuhl, als ich herausfand, dass PET-Flaschen durchaus auch Weichmacher, Nervengifte und Schwermetall enthielten, die unter Umständen auf die darin enthaltene Flüssigkeit übergingen.

Ich fackelte nicht lange und kippte meinen kompletten Wasservorrat in den Ausguss. Der ist beträchtlich, also der Vorrat, ich gehe nämlich täglich joggen, fahre gelegentlich Mountainbike und habe für Regentage ein Rudergerät, weswegen ich viel trinke. Anschließend fuhr ich in den Getränkemarkt und kaufte mir sechs Kisten Mineralwasser in Glasflaschen. Ich trug die Dinger ins fünfte Stockwerk. Am Abend spürte ich dann erstmals die Schmerzen im Rücken und in der Lebergegend. Mensch, dachte ich, blöd, ich habe mich beim Schleppen verhoben, mir einen Muskel gezerrt oder mir einen Nerv geklemmt, was auch immer. Ich holte mir eine Wärmflasche, knallte mich mit einem Glas Rotwein auf die Couch und legte eine DVD ein.

Am nächsten Morgen waren die Schmerzen nicht verschwunden. Im Gegenteil. Mir war obendrein schlecht. Und da ich mich am Abend gerne mit ein oder zwei Gläschen ins seelische Gleichgewicht bringe, wurde ich unsicher: War das vielleicht gar kein geklemmter Nerv, sondern hing mit meinem Alkoholmissbrauch zusammen? Ich suchte im Internet nach der Alkoholhöchstmenge für Männer, die bei dreißig Milligramm lag. Mein Magen begann zu rebellieren, meine Tagesration lag hart an der Grenze, das wusste ich. Ich gieße die Gläser nämlich voll.

Ich gab Leberschmerzen ein und las von Eisenspeicherkrankheiten und Ikterus, von Hämochromatose, Steatohepatitis oder sklerosierender Cholangitis. Keine Ahnung, was sich genau hinter den Begriffen verbarg, ich konnte die Worte ja nicht einmal aussprechen, ohne mir einen Muskelkater in der Zunge zu holen, aber es las sich furchterregend. Ich erfuhr auch, dass die Leber über keine Schmerzrezeptoren verfügt, die Leber also genau genommen nicht schmerzen kann, die Sache war nur die: Ich hatte ja Schmerzen, die waren real, was dann nur mit einer Entzündung und Schwellung des Organs zu erklären war. Schwupps, war ich bei Leberinsuffizienz gelandet, auch verursacht durch Toxine wie … Mir stockte der Atem.

Ich klickte zurück. Seite um Seite. Durchforstete meinen Verlauf. Mein Herz flatterte, meine Augen sprangen panisch über den Bildschirm. Ich hatte das Wort schon zweimal gelesen, irgendwo, und mit jedem weiteren Klick brach und bröckelte meine Fassade. Dann hatte ich die Info endlich wiedergefunden: Leberversagen konnte durch eine Überbelastung an Amatoxinen, Halothan oder eben auch Ethylenglycol ausgelöst werden. Das hatte ich gesucht. Ich versuchte mir jeden einzelnen Buchstaben des Wortes einzuprägen – Details, die Details waren entscheidend –, klickte wieder zwei Seiten nach vorne und wurde bestätigt. Da stand es, schwarz auf weiß: Ethylenglycol war ein Bestandteil von Polyethylenterephthalat. Kurz: PET.

Mein Herz setzte aus.

Wie viele Liter Mineralwasser hatte ich in meinem Leben schon aus Plastikflaschen getrunken? Hunderte? Tausende? Zehntausende?

Schwindel schwappte wie eine Welle über mich hinweg, ich sank mit der Stirn auf die Tischkante, denn wenn es losging, fiel alle Rationalität von mir ab, ich konnte nichts dagegen tun, die Wände stürzten ein, und ich stand mit meinem Tumor allein in der Dunkelheit.

Deswegen rannte ich auch fortwährend zum Arzt, weil nur ein Fachurteil mich beruhigte. Deswegen konnte man mit meinem Blutdruck eine Modelleisenbahn im Wartezimmer kreisen lassen. Deswegen klammerte ich meine Finger ineinander, bis sie weiß wurden, und deswegen schreckte ich jedes Mal hoch, wenn die Arzthelferinnen die Milchglastür aufzogen und mit ihrem Klemmbrett den nächsten Patienten aufriefen. Denn obwohl ich es nur hinter mich bringen wollte, wünschte ich mir, dass ich bloß nicht der Nächste war. Aber irgendwann ist eben jeder dran.

Dr. Bischoff musterte mich lange, als befände ich mich schon längst auf seinem Seziertisch und er hätte nur noch zu entscheiden, wo er das Skalpell ansetzen müsste. Er faltete seine Hände, setzte sich ruckartig auf.

»Junge, hören Sie doch auf, um Ihr Leben herumzustehen, wie um ein Kunstwerk, das Sie nicht verstehen. Ich will ja jetzt nicht schon wieder davon anfangen, aber …«

»Keine Chance, Dr. Bischoff«, unterbrach ich ihn.

Der Arzt presste kurz die Lippen aufeinander. »Ich habe als junger Arzt zehn Jahre lang in einer neurologischen Abteilung gearbeitet, ich kenne sooo tolle Fachleute. Vielleicht lag es ja wirklich nur an dem Psychologen, wie hieß er nochmal?«

»Kippel. Dr. Peter R. Kippel.«

»Richtig, richtig, aber es ging ja dabei auch weniger um Therapie.«

»Ich will das nicht mehr, wirklich, genug ist genug.«

»Haben Sie auch einmal versucht, die Sachen, die Sie in den Sitzungen besprochen haben, auf Ihr Leben anzuwenden?«

»Mich beispielsweise auf die Symptome konzentrieren, die ich nicht habe? Habe ich getan, mit dem Resultat, dass ich genau diese Symptome kurze Zeit später hatte.«

Bischoff seufzte. »Gut, egal, ich habe mir aber auch so meine Gedanken über die Theorie gemacht, die Sie mir beim letzten Mal erzählt haben. Über das Drama in Ihrer Kindheit, die Nahtoderfahrung, als Sie fast ertrunken sind. So ein Trauma kann sich in der Psyche schon verankern, und eine Psychotherapie kann hier wirklich …«

»Ich unterbreche Sie nur ungern, aber ich habe mich getäuscht.«

»Ach.«

»Ja, tut mir leid, ich habe nach unserem letzten Termin mit meiner Mutter telefoniert, und ich habe die Situation wohl etwas anders abgespeichert. Ich bin mit zehn Jahren durch unseren Garten gerannt, gestolpert und kopfüber ins Planschbecken meines kleinen Bruders gestürzt. Ehrlich gesagt habe ich mich damals nur mordsmäßig verschluckt. Nichts weiter.«

»Oh«, knurrte Dr. Bischoff. »Haben Sie vielleicht keine Angst vor Krankheiten, sondern vielmehr vor der Zukunft?«

»Lässt sich das trennen?«, fragte ich.

Dr. Kalthand zog einen Mundwinkel nach oben, öffnete die Knöpfe seiner Hemdsärmel und schlug sie zurück. »Egal, dann wollen wir mal zur Tat schreiten.«

Ich starrte auf seine bleichen, langen Finger. Sie sahen schon kalt aus, seine Hände. »Dr. Bischoff«, entfuhr es mir, »Sie hatten vorhin eine Patientin, eine Frau Hofleben, die …«

»Freya?«

»Ja, genau, Freya, haben Sie, ähm, wissen Sie«, fuhr ich fort, ohne eigentlich zu wissen, was ich fragen oder sagen wollte, weswegen ich verstummte und ihn belämmert anschaute.

Der Arzt schürzte die Lippen. »Tolles Mädchen«, sagte er und spielte plötzlich mit seinen nackten Fingern Klavier in der Luft. »Und jetzt machen Sie doch bitte den Oberkörper frei.«

»Ja«, antwortete ich und zog mein Hemd aus der Hose.

»Sie hat sich übrigens auch nach Ihnen erkundigt«, erwiderte er und kniff schmunzelnd ein Auge zu, während er aus einer Plastikflasche kaltes Gel auf meinen Bauch presste und den Ultraschallkopf aufsetzte.

»Was, also, was hat sie denn wissen wollen?«, fragte ich erstaunt, doch Dr. Kalthand runzelte die Stirn und starrte auf den Bildschirm. »Was hat sie denn gefragt?«, wiederholte ich, während der Ultraschallkopf mehrmals über den Bereich über meiner Leber sauste und eine Eisenklaue mein Herz zusammenpresste. »Was hat sie gefragt?«, bohrte ich weiter, aber die Worte waren nur noch Spachtelmasse, die ich in den Spalt der Stille schmierte.

»Oh.«

D R E I

Klappcouch0815: Hi Kapsel, wie war die Vorbesprechung?

Kapsel: bin nicht hingegangen

Klappcouch0815: ???

ÄskulaPatchouli: kenne den verlauf nicht, wie lautet denn deine diagnose?

Kapsel: sense

ÄskulaPatchouli: so hat er es sicher nicht gesagt

Klappcouch0815: Hat Lebertumore, total verwachsen, inklusive Pfortader und Arterie … das ist inoperabel.

ÄskulaPatchouli: das tut mir sehr, sehr, sehr, sehr leid

ANGEL: Hast du eine ZWeitmeineung eingeholt? Hatte mal ienen Onkel, hieß es Exodus – in dreo Monaten liegste in der Grube, am Ende hatte er Dartschieling, war auch nich lustig, aber leben tut er immer noch

Klappcouch0815: Du meinst Darjeeling?

ANGEL: Ja, das Trobending.

Klappcouch0815: Darjeeling ist aber ein Tee

Dorfneurotiker: genau genommen ist darjeeling ein teeanbaugebiet in nord-ost-indien … ;-)

ANGEL: Ich meine das Fiber, von den Mücken

Klappcouch0815: Malaria?

ANGEL: Quatsch,ich meine Troben nicht Afriak

ÄskulaPatchouli: Dengue?

ANGEL: Weiß nich, kann sein

ÄskulaPatchouli: An dengue kann man durchaus sterben

ANGEL: Ist aber nicht gestorben

Dorfneurotiker: Darjeeling … hahahah … ich krach mich weg :-)))

ANGEL: Leckt mich doich, ihr arroganzten A…

Klappcouch0815: Du solltest wirklich ins Krankenhaus, Kapsel!!!!!!! Da gibt es heutzutage viele neue Methoden!!!!!! Du kannst mit Behandlung noch lange leben!!!!!!!

Kapsel: als kind bin ich einmal ausgebüxt, war neun oder zehn, hatte tom sawyer gelesen und wollte die welt sehen, in der wildnis überleben, da bin ich los, mit nix dabei außer einer packung cornflakes und gozilla, meinem teddy. polizei hat mich sechs stunden später im mecklenheider forst gefunden, durstig und mit staubtrockenem mund, hatte ja keine milch zu den cornflakes dabei, aber irgendwie wollt ich gar nicht heim, war grad dabei eine unterkunft für die nacht aus ästen aufzuschlagen – war seit dieser exkursion ein paar mal im urlaub, klar, europa, paar städtereisen und so, aber gefühlt war ich nie länger und weiter von zu hause weg wie in diesen paar stunden

MorgionLöwenherz: Du stehst unter Schock, Kapsel, hast Du vielleicht Angst vor der Bestrahlung oder der Chemo? – es gibt auch alternative Therapien mit Mistel-, Minz- oder Grünteepräparaten.

Klappcouch0815: MINZE???? Hast Du sie noch alle??? Wechsel auf ein Esoterik-Forum mit deinen Tipps!!!!

Dorfneurotiker: Nicht unbedingt, hatte einen onkel, hatte auch krebs, hat das mit grünteefasten in den griff gekriegt.

Klappcouch0815: Genau, den Tumor wegschrumpfen, oder wie?

Dorfneurotiker: Fasten weckt die urgenetischen potenziale, heizt den stoffwechsel an, kein spaß, der stoffwechsel ist evolutionär drauf eingestellt, weite strecken ohne nahrung auszukommen, habe ich letztens erst wieder gelesen, experte hat das so erklärt: die körperzelle ist ein haus mit vorgarten und briefkasten und täglich bringt der briefträger neue post, irgendwann ist der postkasten voll, dann wirft er die post in den vorgarten, wenn man nicht irgendwann einmal richtig sauber macht

Klappcouch0815: Wie geht es Deinem Onkel jetzt?

Dorfneurotiker: schon lange tot, aber war damals auch schon über 80

Klappcouch0815: ??? Ehrlich. Ich halte davon überhaupt nichts und finde es auch nicht gut, wenn das hier zur Option gestellt wird. Dafür gibt es andere Foren und …

Kapsel: habe eben einen flug nach bangkok gebucht

Klappcouch0815: ???

Klappcouch0815: ??????????????????!!!!!

Klappcouch0815: Brauchst Du jemandem zum Reden? Wo wohnst Du?

Kapsel: Hannover

Klappcouch0815: Mist, das ist zu weit

ÄskulaPatchouli: wieso, wo wohnst du?

Klappcouch0815: Kiel

ÄskulaPatchouli: Lustig, wohne bei eckernförde, sollten uns mal treffen … @Kapsel: krasser schritt, solltest du dir nochmal überlegen … oder willst du dort zu einem heiler, würde ich abraten

Kapsel: after eight

Dorfneurotiker: häh?

ÄskulaPatchouli: du meinst 5 vor 12

Dorfneurotiker: hast du etwa auch ein analkarzinom?

Kapsel: after eight!

MorgionLöwenherz: Steht unter Schock

Klappcouch0815: Kapsel?

V I E R

»Ich will aber einen Rollkoffer«, sagte ich schweißbekleistert, mit holprigem Herzschlag in meinem saubersten Englisch. Ich zeigte auf ein vierrädriges Hartschalenexemplar, das aus einigen Rucksäcken des Straßenstandes hervorragte. »Was ist denn mit dem da?«

»Du gehen nach Koh Tao? Dann ist Rucksack besser«, konterte die Thailänderin. Sie war eine schmächtige, junge Frau, mit hüftlanger, wallender schwarzer Haarmähne, in der einige rote Strähnen schillerten und glitzerten. Sie trug ausgelatschte Sneakers, eine verwaschene Jeans-Latzhose, unter der ich ein Guns-N’-Roses-Shirt erkannte. Sie schob den Rucksack zurück in die Verpackung, fädelte einen Metallhaken durch die Plastikhülle und hängte das gute Stück wieder an die Innenwand des Standes, der mit unzähligen Taschen und Rucksäcken ausstaffiert war. Im Grunde kleideten die Gepäckstücke den gesamten Raum aus, hingen an Stangen und Seilen, wie Schinken und Würste in einer Metzgerei. Sie überlegte kurz, nahm dann einen anderen Rucksack von einem Haken und hob ihn mir unter die Nase. »Look«, sagte sie. »Look at this.«

»Koffer, ich will einen Koffer«, entgegnete ich beratungsresistent und schnippisch – ja, schnippisch, die Buchung hatte mich nämlich an den Flughafen, in einen Terminal, an einen Schalter, an ein Gate, in ein Flugzeug, in einen Bus und in ein Gästehaus gebracht. Es ist auch einfach zu einfach. Bisschen rumklicken. Zahlen. Mobilisieren. Ja. Ich war in Bangkok. Ich. Bangkok. Gut, es war in den letzten beiden Tagen einiges geschehen, aber Körper legten heutzutage innerhalb weniger Stunden Strecken zurück, da stand der Geist noch an der Grenzkontrolle und zeigte seinen Ausweis. Selbst Cook, Humboldt oder Kolumbus hätten bei dieser Reisegeschwindigkeit einen Kulturschock erlitten. Ich war also wirklich überfordert und deswegen auch etwas ungehalten.

»Rucksack wirst du mögen.«

»Ich habe Schmerzen, hier.« Ich zeigte auf meinen rechten Oberbauch. »Ich will keinen Rucksack. Ich. Will. Einen. Rollkoffer.«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Ihre Haare wogten umher, sie wirkte wie ein Siamesischer Kampffisch kurz vor dem Angriff. »Koffer für Thailand nix gut, okay?«, schnatterte sie und ließ den Rucksack sinken.

»Warum haben Sie dann überhaupt Koffer im Angebot?«, fragte ich altklug.

»Auch Thailänder fliegen in Urlaub!«, rief die Verkäuferin und begann eine Unterhaltung mit ihrer Kollegin?, Schwester?, Mutter?, die auf einem Schemel im Eingangsbereich hockte.

»Cha hop krapao pai thua koh tao rue, pen pai mai dai rok«, sagte sie.

Die Frau grunzte amüsiert. »Lao hai khao fang si wa koet arai khuen bon thanon.«

»Es gibt viele Löcher und Steine auf Inselstraßen. Rucksack praktisch«, erwiderte sie schließlich.

»Mir egal, mag ja sein. Ich fahre aber Taxi, Bus und Schiff.«

»Wo sein denn dein Gepäck?«, fragte sie plötzlich und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich habe kein Gepäck«, antwortete ich, was vollauf richtig war.

»Kein Gepäck?«, entfuhr es ihr ungläubig.

»Kein Gepäck.«

»Gestohlen?«

»Nein.«

»Verloren?«

»Nein.«

Ich hatte schlichtweg nichts mitgenommen außer meinem Portemonnaie, meinem Tagebuch mit Muttermalfußnoten und Briefpapier darin, sowie einer Packung After Eight. Hätte ich mich mit Packen beschäftigen müssen, mich ernsthaft damit auseinandergesetzt, ich glaube, ich wäre nicht geflogen, hätte meine letzte Chance nicht ergriffen. Und jetzt brauchte ich eben einen Koffer. Klar? Und Kleidung. Logisch. Und Waschzeug. Alles eben, und das so schnell wie möglich. Mein Bus in den Süden ging zwar erst in den frühen Morgenstunden, aber ich hatte die Stadt gedanklich schon verlassen, kaum, dass ich sie betreten hatte. Es roch nach Abgasen und Kanal. Es rauschte, hupte und knallte, unablässig. Wenn ich nicht schon längst verrückt war, würde ich es hier werden.

Die Verkäuferin sah mich an, wartete auf eine Erklärung. »Kann ich jetzt bitte den Koffer hier haben?«, rief ich, zerrte mein Wunschobjekt aus dem Stapel hervor und streckte ihr fast kavaliersmäßig mit ausgestrecktem Arm einen Strauß Geldscheine entgegen. Ein Vorteil, wenn man stirbt: Man musste sich nicht mehr um sein Erspartes scheren. Das schien das Herz der Einzelhandelskauffrau zu erweichen. Sie seufzte zwar, zupfte aber eine ganze Weile wie eine pedantische Floristin an dem Büschel Banknoten herum. Irgendwann hatte sie sich ein sauberes Bündel zusammengestellt, faltete die Scheine in der Mitte und steckte sie in die Brusttasche ihrer Latzhose. »Chan tuean khun laeo«, sagte sie.

Ich atmete durch, so gut es in der Schwüle eben ging, lief ein Stück weiter die Straße hinab und sah mich um. Der leere Koffer musste gefüllt werden. Es hatte kurz zuvor geschüttet. Ein wahrhafter Tropenguss. Die Welt schwamm in Licht, Geräusch und Bewegung: Überall tropfte es herab, von Markisen, Dachrinnen und Bäumen. Bunte Reklametafeln von Restaurants und Geschäften hangelten sich glitzernd an Hausfassaden empor. Rote und gelbe Autoleuchten zogen schillernde Bahnen über den pitschnassen Asphalt. Trübe Lampen an Straßenimbissen und Ständen klatschten Lichtklekse in das urbane Dickicht, selbst Handydisplays von einem steten Menschenstrom gruben matte Tunnel in die Dunkelheit.

Ich bog in eine gut besuchte Seitenstraße ein, riss unentwegt an meinem langärmligen Shirt, um mir Luft zuzufächeln. Links und rechts entdeckte ich allerlei Aquarien, in denen Langusten dahintrieben, bevor sie auf Holzkohlegrills landeten. Riesige Bambuskörbe waren mit lebenden Muscheln und Garnelen gefüllt und wurden hin und wieder mit Wasser übergossen. An einem Suppenstand brodelten Töpfe, darüber baumelten acht oder neun gerupfte Hühner, samt Kopf und Krallen. Schräg dahinter saß eine ältere Frau auf einem Plastikhocker auf dem Gehsteig und werkelte an einem Wok, den sie mit einem Holzfeuerchen heizte. Der Duft von angebratenem Knoblauch lag in der Luft. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Ich trat einen Schritt näher. Sie gab Karottenstifte, Nudeln und eine dunkle Paste in das brutzelnde Fett. Es sah lecker aus, dann entdeckte ich das bräunlich-schaumige Rinnsal, das hinter ihr aus einer Hauswand lief und neben ihren Füßen in der Kanalisation versickerte. Plastikschalen mit Gemüse standen auf dem brüchigen Gehsteig, der Wok wirkte etwas abgenutzt – und mengte sie da etwa rohes Hühnerfleisch unter?

Egal.

Es war mir egal.

War ja erhitzt.

Ich pfiff mir einen ganzen Teller rein und genoss es. Problem Hunger: gelöst.

Danach zog ich meinen Koffer zwischen zwei Klamottenständen hindurch und fand mich in einem wirren Geflecht aus Hunderten Marktständen wieder. War ich auf dem Pahurat-Markt gelandet, von dem ich an Bord gelesen hatte? Oder war ich in der Sampeng Lane? Und machte das überhaupt einen Unterschied? Wie ein endloses Gitternetz zogen sich die Wege durch das Areal, nach nur wenigen Minuten hatte ich völlig die Orientierung verloren und schlenderte ziellos umher, stopfte Shirts, Hosen, Unterwäsche, Zahnbürste oder Shampoo in meinen Koffer. Es lief im Grunde gut, flüssig, schnell, unkompliziert, ich erkundigte mich gerade nach dem Preis eines Hemds und dreier kurzer Hosen, bedruckt mit einer bunten Sammlung lustiger Korallen, als mir einfiel, dass ich mit diesen Klamotten ja Freya unter die Augen treten musste.

Ich zog Luft durch die Zähne. Die ganze Angelegenheit war ohnehin ein brenzliges Unterfangen: Kuckuck, servus, grüezi, da bin ich, ein Todesurteil und neuntausend Kilometer von unserem letzten Treffen entfernt, wann beginnt der Kurs? Nein, keine Frage, Palmenmotive und Sonnenuntergang auf einem hellblauen Batikhemd würden diesen heiklen Moment nicht auflockern. Meereshöschen schon gar nicht. Im Gegenteil. Es bedurfte Fingerspitzengefühl in dieser Situation, Sensibilität und Einfühlungsvermögen, Humor und Coolness, alles drin, alles machbar, aber fatal wäre ein mangelhaftes, gar geschmackloses Erscheinungsbild. Erster Eindruck und so. Nach kurzer Überlegung brach ich die Verhandlungen mit dem verdutzten Thai ab und machte mich auf die Suche nach formellerer Kleidung.

Die Luft war unter den Markisen so stickig und feucht, es fühlte sich an, als würde ich durch einen warmen Waschlappen atmen. An einer Ecke kaufte ich eine Dose Bier aus einem Kübel mit Eis, stürzte mir das Gebräu in den Hals, während ein steter Menschenstrom an mir vorüberzog. Ich gönnte mir eine zweite Dose – noch so ein Vorteil, wenn man stirbt: Man musste nicht mehr auf seine Gesundheit achten –, da erschien wie aus dem Nichts eine kleine Thailänderin vor mir. Sie war alt und hatte ein Gesicht wie eine Runzelkartoffel. Oder zumindest schloss ich von ihrem faltigen, geradezu zerklüfteten Gesicht auf ein hohes Alter, denn im Grunde wirkte die drahtige Frau kraftstrotzend. Sie blickte mich klar und durchdringend an und stand aufrecht und gerade vor mir. Von ihrem linken Arm baumelten Halsketten wie Lametta. Sie sah mir wortlos in die Augen, und plötzlich spürte ich etwas in meiner Hand: Die Alte hatte mir einen milchigweißen Bergkristall zwischen die Finger geschoben, so groß wie ein Fingerhut. Eine Seite war zu einem Sechskant geschliffen, die andere noch rau und unbearbeitet.

Der Stein war schön, keine Frage, aber ich schüttelte sofort den Kopf, denn seit ich durch die Stände schlenderte, war ich hundert Mal angesprochen worden: »Wollen Sie ein Feuerzeug kaufen, Sir?« Nein. »Wollen Sie einen Skorpion verkosten, Sir?« Nein. »Eine Heuschrecke oder eine knusprige Made, Sir?« Nein. »Brauchen Sie nicht noch ein paar Badetücher für den Strand, Sir?« Nein. »Wollen Sie Ihrer Frau nicht eine handgemachte Hautcreme mitbringen, Sir?« Nein! »Ihrer Mutter, Sir?« Nein! »Brauchen Sie einen Ring, ein Schweißband oder ein Kokosnusswindspiel, Sir?« NEIN!»Aber Sir, jeder Mensch braucht doch ein Kokosnusswindspiel!« ICHNICHT!

»Nein, nein, nein«, entfuhr es mir. Ich wollte der Frau ihren Kristall sofort zurückgeben, hielt ihn ihr auf meiner offenen Hand entgegen. Ihre Augen kamen mir plötzlich heller vor. Wie konnte das sein? Ein Lichtschein?

»Gift. It’s a gift«, antwortete sie, »es ist ein Geschenk.«

Ich presste die Lippen aufeinander, blickte kurz auf den Kristall. »Das ist sehr nett, ab…«, entgegnete ich, doch als ich aufblickte, war sie wie vom Erdboden verschluckt.

Ich sah mich nach allen Seiten um. Von der Alten keine Spur.

Wahrscheinlich hatte sie sich in den Menschenfluss geworfen.

Den Kristall hielt ich noch in der Hand, als ich später auf einer Pritsche saß, die sich Bett nannte, und auf die Abfahrt meines Busses in den frühen Morgenstunden wartete. Ich hatte mir das Gästehaus bei meiner Zwischenlandung an einem öffentlichen Rechner auf dem Frankfurter Flughafen im Internet gesucht. Auf dem Reiseportal wurde die Unterkunft jedenfalls als ruhig, blitzsauber und günstig beschrieben. Das war alles korrekt, aber das Internet verschwieg, dass das Gästehaus zwar in einer ruhigen Seitenstraße zur berüchtigten Khaosan Road lag, aber die Wände so dünn wie Pappe waren. Ich nahm teil an allerlei Körpergeräuschen anderer Rucksacktouristen. Gesprächsfetzen flatterten umher, verwoben sich zu einem undurchdringlichen Kauderwelsch. Ich glaubte romanische, germanische, slawische und asiatische Worte zu hören.

Es musste jetzt kurz vor zehn Uhr am Abend sein, überall wurde geduscht, gelacht, geplappert. Musik trällerte aus Reiselautsprechern, jemand putzte sich die Zähne, irgendwo hämmerte jemand mit etwas Metallischem auf etwas Metallisches, plötzlich ein gellender Schrei, der in wieherndes Gelächter überging, eine Tür schlug zu, wahrscheinlich im Nebenzimmer, meine Wände wackelten nämlich, dann Fußgetrappel, Hopsen, Klopfen. Als Kind hatte ich ja Wimmelbücher geliebt, aber ich hatte nicht gedacht, mich mal in einem wiederzufinden. Plötzlich hörte ich einen jungen Kerl, der aus voller Kehle Last Christmas anstimmte.

Dann kam der Durchfall.

F Ü N F

Beschreibe die Qual: das Gefühl, als würde einem ein Regenschirm im Hintern aufgespannt. Ganz langsam und ununterbrochen, fortwährend, unaufhörlich. Die ganze Fahrt wankte ich mit zugekniffenem Hinterteil zwischen meinen diversen Transportmitteln und der nächstgelegenen Toilette hin und her. Wobei mir manchmal nicht ganz klar war, was eigentlich schlimmer war, der Zustand meiner Eingeweide, die sich von innen nach außen kehrten, oder der Zustand der Toiletten. Auf dem Schiff hatte ich Seegang im Hirn und Flaute im Magen. Erst als wir am Mittag im Hafen einliefen, nach zwei Litern Cola und einem Teller Reis, ging es mir etwas besser. Runter vom Kahn, rauf auf die Ladefläche eines Jeeps. Ich: Wackeldackel. Dann: Stille.

Es war eine Stille, die sich vor allem über das Ausbleiben von Krach definierte. Der Wagen verschwand hinter einer Biegung, und zurück blieb ich mit meinem Atem und einem Tier, das hin und wieder ein monotones, hohes Tschilp-Zirp-Fiepen ausstieß. Klang wie ein kastrierter Uhu. Ich blickte durch das Dickicht, suchte das Gestrüpp nach dem Vieh ab, konnte aber nichts entdecken. Die Luft war warm und stickig. Sehr warm. Sehr stickig. Ich übergab mich in ein Gebüsch und inspizierte danach die schiefe Steintreppe, die wie ein Berg vor mir aufragte und sich weit oben in der Botanik verlor. Dann blickte ich auf den Fels vor meinen Füßen. Meinen Rollkoffer.

Ich zog meine Wasserflasche hervor und ließ mich auf die unterste Stufe sinken.

Es war ein Debakel.

Ich war müde und ausgelaugt, hibbelig und aufgeregt.

Tagelanger Schlafmangel und literweise Cola.

Ein Stelldichein und Dünnschiss.

Terminaler Krebs und aufkeimende Liebe.

Leben und Tod.

Furchtbare Kombinationen.

Irgendwie instabil.

Und es brodelte, ja, es brodelte in meinem Inneren. War ich etwa wütend?

Ohhh ja, ich war wütend!

Da saß ich mit meinem Krebs im Urwald, stinkig über beide Ohren, meiner Zeit beraubt.

Ich war hier unten, sie dort oben.

Deswegen war ich hier.

Ein Befehl meines Bauchs.

Lieber ein paar Tage leben als jahrelang sterben.

Das hatte ich doch auf der Fahrt ständig vor mich hin gemurmelt wie so ein Geisteskranker.

Hatte ich Fieber?

Ich schnappte meinen Rollkoffer, schwer wie ein Hinkelstein, und schleppte ihn die Treppen hinauf. Schweißtropfen rannen meinen Hals hinab, als ich oben in einen grob gepflasterten Hof gelangte. Ich knallte das Gepäckstück keuchend auf den Boden. Bäume mit herabhängenden Lianen umrundeten wie bodenlange Vorhänge das Karree. Rechts von mir brannten Räucherstäbchen vor einem Buddha-Schrein, drei Mönche in orangefarbenen Kutten saßen dahinter in einer Art Pavillon mit Palmdach und schauten zu mir herüber. Ich fand alles furchtbar idyllisch. An einem Pfahl war ein Makake angeleint, er kaute auf etwas herum und glotzte mich dabei unverhohlen dumm an. Weit hinten erkannte ich die Umrisse von einigen Hütten. War ich hier richtig?

Ich drehte mich einmal im Kreis, unterdrückte einen Würgereiz und presste mir dabei die Faust auf den Mund. Nichts. Kein Schild, kein Hinweis, keine Rezeption. Ich packte meinen Rollkoffer und zog ihn holpernd hinter mir her. Ich folgte einem verschlungenen Pfad, der sich an knapp zwanzig einfachen Holzhütten vorbeischlängelte. Da entdeckte ich auf einer Rasenfläche eine Yogagruppe, die aus acht Frauen und einem schlanken Yogalehrer mit freiem Oberkörper bestand, auf dessen Muskulatur die Beschreibung »definiert« passte. Alle saßen im Schneidersitz auf Matten, die Augen geschlossen. Eine ausgemergelte Frau schielte argwöhnisch zu mir herüber, immer wieder gerieten nämlich Kiesel in das Räderwerk meines Rollkoffers, sodass ich ihn stellenweise über den Weg schleifen musste, zudem klackerten die Hartplastikräder auf dem steinigen Untergrund wie eine Gewehrsalve.

Eine Frau tauchte plötzlich zwischen den Bäumen auf, keine Thailänderin, sie hatte aber recht dunkle Haut, wirkte orientalisch und trug eine dünne, olivgrüne Leinenhose. Sie war schlank und trainiert. Da sie keinen BH trug, wippten ihre Brüste hinter dem leichten Stoff eines weißen Unterhemds. Ihre dicken schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. In ihrem rechten Nasenflügel steckte ein dünner silberner Ring. Ihre mokkabraunen Augen funkelten mich böse an, als sie stramm auf mich zumarschierte. Sie war mir fast ein wenig unheimlich, hochattraktiv und abgründig. Diese Frau war ein feuchter Alptraum.

»Du störst die Nachmittagseinkehr mit deinem Krach«, fuhr sie mich auf Englisch an, ein Zungenpiercing blitzte in ihrem Mund auf. »Bist du François?«

»Nein«, antwortete ich. »Bin ich hier richtig im Taoga-Camp?«

»Ja. Bist du aus Deutschland?«

»Ja.«

»Dann können wir Deutsch sprechen. Wie kann ich dir helfen?«

»Ich würde gerne einen Yoga-Kurs belegen.«

»Hast du eine Buchung?«

»Nein.«

»Das ist schlecht. Wir sind eigentlich bis ins neue Jahr voll belegt, es ist Hauptsaison. Geht es dir gut, du bist ganz schön blass?«

Mein Herz sank in die Hose, dabei war ich froh, dass da unten gerade einmal Ruhe herrschte. Ich rieb mir die Augen. Sie waren trocken und brannten. »Was heißt eigentlich?«, fragte ich und schluckte. Und schluckte gleich nochmal. Starke Speichelproduktion. Und nochmal. Enorme Speichelproduktion.

Sie musterte mich misstrauisch. Längere Zeit verharrte ihr Blick auf meinem Rollkoffer, sie schaute das Gepäckstück an wie einen Kernreaktor. »Du bist nicht ernsthaft mit diesem Ding nach Thailand geflogen?«

Ich überging ihre Frage. »Was heißt eigentlich?«

»Was meinst du?«

»Du hast doch gerade gesagt, dass ihr eigentlich ausgebucht seid, das Wort impliti…, implitizie…, impliziert doch irgendwie, dass es … Keine Ahnung, weißt du nicht, was ich meine?«

»Ach so, doch, es ist so, dass die Kurse gestern begonnen haben und ein französisches Pärchen nicht anreiste. Es sind also eigentlich zwei Plätze frei, du müsstest allerdings den Preis für einen Doppelbungalow bezahlen. Und wenn die noch auftauchen, dann haben wir ein Problem.«

Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Ich zahle auch einen Doppelbungalow, kein Thema, und wenn das Pärchen auftaucht, dann sehen wir weiter – versprochen!« Die Worte galoppierten durch meinen Mund. »Nur noch eine Sache, kann ich bitte zu Freya in den Kurs?«

Sie kratzte sich am Hals.

Gott, ließ sie sich Zeit beim Antworten.

Das Einzige, das ich nicht mehr hatte.

Zeit.

»Bist du Anfänger?«, fragte sie schließlich.

»Ja«, antwortete ich seelenruhig, aber mein Körper fühlte sich wie ein Motor an, der im Leerlauf aufheulte. Herzrasen. Stoßatmung. Schweiß. Ich zog den Saum meines Shirts nach oben, wischte mir die Stirn ab.

»Dann bist du bei mir besser aufgehoben. Ich gehe in meiner Gruppe mehr auf Dehnung und Meditation.« Sie kniff ein Auge zu und lächelte.

»Durch alle Widerstände fließt derselbe Strom.«

»Was?«

»Das ist eine Reihenschaltung«, sagte ich und hatte das Gefühl, dass der Boden wankte. »Ich bin Fortgeschrittener.«

»Ja, was denn nun? Du hast doch gerade gesagt, dass du Anfänger bist.«

»Sorry, da habe ich dich falsch verstanden«, antwortete ich, als eine Schar von acht Personen des Weges kam. Sie umrundeten uns. Dann entdeckte ich Freya. Sie war barfuß, mit roten Wangen, leicht außer Atem. Sie trug eine schwarze Leggins und ein hellblaues Shirt mit Emblem des Camps. Um ihren Nacken hatte sie ein Handtuch geschlungen. Sie unterhielt sich mit zwei Leuten, wahrscheinlich Schüler ihrer Gruppe, die anderen sechs schwärmten aus und verschwanden in Bungalows. Die Frau winkte Freya herbei. Sie kam lächelnd auf uns zu. In meinem Bauch begann es zu brodeln, ich hatte das Gefühl, dass sich mein Magen auflöste, sich selbst verdaute, was für alle hier recht unangenehm werden dürfte.

»Da bin ich«, sagte ich euphorisch, aber mir war nicht gut.

Sie lächelte immer noch. »Entschuldigung?«

»Wir saßen vor zwei, drei Tagen nebeneinander in der Praxis von Dr. Bischoff. Erinnerst du dich?«

Die Frauen starrten mich erwartungsvoll an.

Ich wartete auf eine Antwort, aber sie antworteten nicht.

Hatte ich meinen Satz etwa nur gedacht?

»Wir saßen vor zwei, drei Tagen nebeneinander in der Praxis von Dr. Bischoff. Erinnerst du dich nicht?«, wiederholte ich laut.

Freya runzelte die Stirn, lächelte zaghaft. »Oh.«

»Ich – will – in – diesem – Leben – kein – Oh – mehr – hören.«

»Was?«

»Was?«, wiederholte ich. Irgendwo schlugen sanft die Klangröhren eines Windspiels aneinander, die Töne streichelten meine angespannten Nerven. Ich klopfte meine cremefarbene, kurze Hose und mein weißes Shirt aus. Hatte plötzlich das Gefühl, meine Klamotten seien schmutzig. Ich hörte mich flöten: »Ich habe jedenfalls deine tolle Idee überdacht und mir eine Auszeit genommen.«

»Oh, okay«, sagte Freya und blickte auf meinen Rollkoffer.