Ich grase meine Gehirnwiese ab - Paul Valéry - E-Book

Ich grase meine Gehirnwiese ab E-Book

Paul Valéry

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Beschreibung

»Vor fünf aufgestanden – um acht scheint es mir, dass ich schon einen ganzen Tag geistig gelebt, somit das Recht erworben habe, bis zum Abend dumm zu sein.« Paul Valérys berühmte Cahiers, seine »Denkhefte«, wurden fast täglich und über ein halbes Jahrhundert lang mit Notizen gefüllt und erst 1945 nach seinem Tod veröffentlicht. Sie sind ein einzigartiges Denklaboratorium des modernen Menschen und ein Paradebeispiel lebensphilosophischer Selbsttherapie.

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Paul Valéry

Ich grase meine Gehirnwiese ab

Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers

Übersetzt von Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bernhard Boeschenstein und Reinhard Huschke

FISCHER E-Books

Ausgewählt und mit einem Essay

von Thomas Stölzel

 

Auf der Grundlage der von Hartmut Köhler

und Jürgen Schmidt-Radefeldt besorgten

deutschen Ausgabe der Cahiers/Hefte in sechs Bänden

Inhalt

Aus den Cahiers von Paul ValéryDie Wissenschaft vom MenschenBlicke auf die eigene PersonIch, Selbst und die IndividualitätSprachliches – AllzusprachlichesNachdenken über das DenkenLeibliches DenkenWahrnehmen und AufmerksamkeitSelbstsorgeSkepsisWas kann ein Mensch?Meine Spezialität, das ist mein GeistAnhangZu dieser AusgabeQuellennachweiseDie Wissenschaft vom MenschenBlicke auf die eigene PersonIch, Selbst und die IndividualitätSprachliches – AllzusprachlichesNachdenken über das DenkenLeibliches DenkenWahrnehmen und AufmerksamkeitSelbstsorgeSkepsisWas kann ein Mensch?Abbildungsnachweise

Aus den Cahiers von Paul Valéry

Um dieses Unternehmen zu verstehen,

müßt ihr alle literatische Gewohnheit abstreifen –

selbst die schlichte Logik – jede Seite –

da fängt etwas an, das mit der vorhergehenden

nur durch das Ziel verbunden ist –

Und es ist dennoch ein einziger durchgehender Satz …

Die Wissenschaft vom Menschen

Valérys Frage nach dem Potential des Menschen brachte ihn immer wieder in Kontakt mit anthropologischen Beobachtungen und Reflexionen, wie sie vornehmlich die sogenannten Moralisten gemacht und nuanciert haben. Ein Moralist ist nach französischer Definition ein Mensch, der über das tatsächliche Verhalten seiner Mitmenschen schreibt; was beinahe in direktem Widerspruch zu der deutschen Begriffsverwendung im Sinne eines ›moralinsauren‹ Sittenpredigers steht. Bei den Moralisten handelt es sich um verschiedene, vor allem in Frankreich bekannt gewordene Schriftsteller-Philosophen, denen es in ihrer science de l’homme darum ging, den Menschen mit möglichst all seinen Ab- und Hintergründen zu erfassen und darzustellen – statt das Fehlen einer bestimmten, idealbildhaften Moral zu beklagen. Valérys Beobachtungsintention und seiner Menschenanalyse ist der Gestus des konstruktiven und dabei stilbildenden Desillusionierens ebenso eigen wie die literarischen Formen, deren er sich dabei bedient: Aphorismus, Maxime, Fragment, Reflexion, Dialog und Essay. Diese bilden die ›offene‹ Basis einer literarischen Menschenbetrachtung, wie sie seit Montaigne und La Rochefoucauld unternommen worden ist. Und dies sind auch die Gattungen, in denen sich Valéry – von der Lyrik abgesehen – in seinem zu Lebzeiten erschienenen ›offiziellen‹ Werk vornehmlich ausgedrückt hat. In seinen verborgenen Cahiers mit ihrer absichtlich fragmentarisch gehaltenen Gestalt praktizierte er noch stärker verschiedene Verkürzungs- und Pointierungsstile, um in fortwährender, skeptischer Umkreisung seines Gegenstandes – dem geistigen Vermögen des Menschen – diesem auf die Spur zu kommen.

… mein philosophisch-literarisches Ziel war es, die verschiedenen Ordnungen, welche die Komplexität des Menschen ausmachen, in Aktion zu zeigen, und zwar gleichzeitig –, Ordnungen, die sich gegenseitig fordern und fördern und die gleichsam die Grundbestimmung des Denkens bilden, seine Elastizität.

*

Was man versuchen muß zu begreifen, ist die Gesamtfunktionsweise des Menschen.

*

Der Mensch sieht, hört, berührt nur sich selbst. Die Physik ist bloß anthropomorph.

*

Wie ich das Lebewesen sehe? – Ich abstrahiere von seiner Entscheidung. Ich sehe weder Pferd noch Mensch – Sondern seltsame Darstellungen davon.

Diese Graphiken notieren »Funktionen«. Ich betrachte das Lebewesen als System von Funktionen – mehr oder weniger unabhängigen Funktionen – jede mit ihrem monotonen Zyklus. Die einen intermittierend, die anderen ununterbrochen. Ihre Resonanzen und Interferenzen. Wie sie sich kombinieren, behindern, erregen, bekämpfen, stützen, fortsetzen, ersetzen, verstärken, zerstören – unterschiedliche Geschwindigkeiten. Wie läßt sich diese Komplexität überschauen? Wie zum Beispiel auf diesem Ozean von sich kreuzenden Reizen und Reizbeantwortungen – einem Interesse, einem festen Vorhaben Dauer verleihen, wo sich doch eine natürliche Erneuerung in ganz bestimmter Richtung vollzieht – ein dominantes Austauschgesetz –

*

Die Wissenschaft vom menschlichen Wesen gäbe es nicht, wenn man es in seiner ganzen Komplexität ernst nähme. Doch der Mensch selbst sieht sich nur in und durch Vereinfachungen.

*

Ein Mensch ist komplizierter – unendlich komplizierter – als sein Denken.

Man müßte wohl dahin kommen – unsere Philosophie auf diese Grundlage zu stellen – daß wir auf einer höllischen Komplikation von Elementen und Elementarvorgängen beruhen.

Ein Geist, der fähig wäre, die Kompliziertheit seines Gehirns zu begreifen, wäre also komplexer als das, was ihn zu dem macht, was er ist …

*

Der Mensch ist ein Versuch, eine extreme Spezialisierung mit einer extremen Anpassungsfähigkeit zu verbinden.

Die Bedingungen seiner Existenz und seiner Fortpflanzung sind sehr eng; doch es ist ihm vergönnt, sich nicht aufs Hinnehmen zu beschränken. Er ist fähig zu verändern – hervorzubringen, wessen er bedarf. Insofern ist er zur Arbeit verdammt. Seine defensive Anpassung wird ergänzt durch eine offensive Anpassung. Dies geht bis zur Erzeugung von Bedürfnissen selbst.

*

Wir sind ein hochkompliziertes Instrument, auf dem die Sinne spielen – die speziellen Sinne und die viszeralen Sinne – und die »Welt« spielt auf den Sinnen, die gesehene Welt, die verspeiste Welt, die geatmete, gerochene, gestoßene Welt oder die sichtbare, eßbare, riechende, widerständige, atembare Welt.

Es gibt auch die wiederkehrende Welt oder Gedächtnis.

*

Solange die Dinge eine Bedeutung und sogar eine Form haben, befinden wir uns im Anthropomorphismus.

*

Wenn

Der Mensch ist von Wenn umgeben. Wenn ich diese Vase hinunterwerfe, wird sie zerbrechen. Wenn ich diese Schublade öffne, werden Gegenstände erscheinen. – Wenn ich diese Seite anschaue, werde ich dort das und das Gedicht lesen.

Wenn, wenn und wenn …

Die Summe der WENN, oder vielmehr ihre Menge, ist eingegangen in den allgemeinen Akt des Wiederkennens seiner selbst, des Ortes, des Augenblicks; und wir begreifen den Augenblick nur über eine Menge von virtuellen Variationen oder eventuellen Transformationen der Sphäre der gegenwärtigen Gegebenheiten.

*

Für jeden Menschen gibt es ein Kriterium für verlorene Zeit. Jede Dauer, die nicht von einer funktionellen Errungenschaft geprägt und von dem Gefühl begleitet ist, im Innern eine Beute zu ergattern, und zwar kräftigende Nahrung und nicht nur Kostprobe für meine Neugier, ist für mich verlorene Zeit. Was gewisse Konsequenzen nach sich zieht.

Homo trachtet danach, alles Vermögen, das er in sich spürt, auch anzuwenden, wie man an den Kindern sieht, die alles anfassen.

Man denkt, die Dinge ziehen ihn an und er ist neugierig auf sie. Aber es ist eher so, daß die Fähigkeiten des Anfassens, Handhabens und Umänderns ihm keine Ruhe lassen und die Dinge dabei nur Vorwand sind. Das Vermögen arbeitet in ihm und erregt Handlungsbedürfnisse. Was sich an den geschlechtlichen Fragen beobachten läßt, insbesondere in der Pubertät. –

Man sieht es auch am Intellekt – der sich Probleme sucht, die er verschlingen kann – und der seine mathematischen oder anderen Appetitanfälle hat …

*

Das größte Vergnügen ist das Nahen des Vergnügens.

*

Zwischen unserem mentalen Funktionieren und uns gibt es keine Kommunikation. Das Innerste des Menschen sieht nicht menschlich aus.

*

Der Mensch ist nur an seiner Oberfläche Mensch. Blicke unter die Haut, seziere – schon beginnen die Maschinen. Dann verlierst du dich in einer unerklärlichen Substanz, die allem, wovon du weißt, fremd und doch die wesentliche ist.

Ebenso geht es mit deinem Verlangen, mit deinem Fühlen und Denken. Die Vertrautheit und die menschliche Erscheinung alles dessen schwinden bei näherer Prüfung. Und wenn man die Sprache abnimmt und unter diese Haut blickt, so bestürzt mich, was hier zutage tritt.

*

Das Alter des Warum

Die Kinder fragen Warum? – Also bringt man sie in die Schule, die sie von diesem Instinkt kuriert und Neugier durch Langeweile besiegt …

*

Die Macht des Menschen gründet in seinem Blick, in dem Winkel, der Bewegung, der Festigkeit, der Unabhängigkeit, die er sich in seinem Blick bewahrt hat.

*

Eine Erkenntnis, also ein Ensemble von Ideen und Beziehungen, das innerhalb des Machtbereichs des Geistes vom Rest abgetrennt bleibt, die eine abgeschlossene Domäne bildet, derart, daß man diese entleeren und ihren Inhalt außer Gebrauch setzen könnte, ohne irgendwelche Folgen für das allgemeine Funktionieren der »Responsivität«, – die also keinerlei Anteil an der allgemeinen Politik des geistigen Lebens hat – die dem Rest weder Beziehungen noch Ausdrücke eröffnet –, hat ihren maximalen Wert nicht erreicht; und der Mensch, der sie besitzt, ist arm, und hätte er gleich eine Bibliothek im Kopfe.

*

Kein philosophischer Irrtum ist so ungeheuerlich wie der, nur die Philosophen zu den Philosophen zu rechnen, während doch alle Menschen von einer gewissen Größe notwendigerweise ihre eigene Philosophie ausgebildet haben; und wenn sie sie nicht im technischen Sinne und in der technischen Sprache der anerkannten Philosophie ausgedrückt und verdeutlicht haben, dann lag das vielleicht daran, daß sie das Gefühl hatten, ihre Philosophie sei um so mehr philosophisch wahr, als sie nicht als solche deklariert war. Wahr, d.h. genutzt und angewandt – verifiziert.

Der Philosophiespezialist fängt nichts mit seiner Philosophie an: er ist unter allen derjenige, der am wenigsten von ihr Gebrauch macht.

*

An der Stelle jedes Menschen, mit denselben Materialien, sind mehrere »Personen« möglich. Bisweilen koexistieren sie, mehr oder minder gleich. – Bisweilen periodisch. Die einen immer gröber als die anderen – primitiver – ungeschickter. Bisweilen kommt eine kindliche mitten in einem Vierzigjährigen wieder zum Vorschein. Man glaubt, man sei derselbe. Es gibt keinen Selben.

*

Je weiter ich komme, desto mehr messe ich die Menschen an ihren Intentionen. Die allgemeine Absicht zeigt sie am besten – als Figuren der Welt – Nicht die Resultate – nicht einmal – – Sondern die Intention, ihr Öffnungswinkel, ihre Genauigkeit, der Punkt, von dem sie ausgeht, ihre Autorität, Unbeugsamkeit oder Geschmeidigkeit – ihre scheinbare Veränderung usw.

*

Stets wollte ich das Porträt eines Menschen schaffen. Doch nicht so wie die Romanschreiber.

Ein Maler ist stets genötigt, das Ohr anzubringen, Auge, Mund, Nase – Er hat vorgegebene Bedingungen. Für das geschriebene Porträt, das mir vorschwebt, müßte man zuerst die Bestandteile der Person, der Persönlichkeit, der mentalen Mechanik ermitteln, die Besonderheiten, anschließend sie an Ort und Stelle ausführen.

Ein Gedächtnis aufzeichnen können, eine allgemeine Sensibilität, eine Rasse oder Erbanlage, eine Vergangenheit, ein höchstes Ziel, eine Art des Agierens und Reagierens; die Grenzen, die Ressourcen, die Reserven; Scham und Scheu, Geheimnisse, Lücken, Phobien und Manien eines Individuums.

Und zunächst als Dinge, die bei allen Individuen vorkommen. Normalerweise übergehen die Schriftsteller gerade das Wesentliche, sind nur auf das Charakteristische aus.

*

Der innere Mensch, verwirrt und plötzlich seiner innewerdend, nicht mehr wissend, was er ist, statt dessen ein panisch unerträglicher Gedankenausstoß, ein irrendes Insekt auf trocken rieselnder Sandschräge –: so einer ruft sich zur Hilfe den von außen gesehenen Menschen. Der Tiefstinnere, gesichtslose, formlose, ruft nach dem Passanten, nach des Menschen greifbarer Geschlossenheit und Festigkeit. Und er fragt ihn: Was tun die Menschen in solcher Lage? Denn ich bin kein Mensch mehr. Ich erkenne die Grenzen nicht mehr zwischen meinen Gedanken und meinen Handlungen und meinen Dingen. Erinnere mich daran, daß ich umgrenzt bin und aufrecht wie du. Wenn ich bin wie du – so kann es nur ein Teil meines Ichs sein, was mir zusetzt und mich quält. Wirf mir das Bild meiner Ganzheit zurück.

*

Die Autorität, die ein Mensch dank bestimmter Momente von sich oder bestimmter Dinge erworben hat, überlebt diese Momente und verbleibt ihm, verleiht seinen Ansichten, Handlungen und Urteilen, selbst wenn sie noch so nichtig und oberflächlich sind, das Gewicht, das er zu anderen Zeiten mit seiner Person verbinden konnte. Er ist gleichsam der Erbe eines durch jemand anderen erworbenen Vermögens.

*

Sich selbst gefallen ist Stolz; dem anderen Eitelkeit.

Es gibt ihn nicht, den Menschen, der stark genug wäre, sich selbst so zu behandeln, wie er die anderen behandelt – sich selbst gegenüber so gleichgültig zu sein, so loyal, so mißtrauisch.

*

Ein wirklicher Mensch, ich, du – ist stets nur ein Fragment; wie immer sein Leben sein mag, es ist stets nur ein Probestück, ein Hinweis, ein Muster, ein Entwurf – mit einem Wort: etwas in seiner Gesamtheit Geringeres als das Wesen, das mittels dieses gegebenen Menschen möglich ist.

Ungeheuere Rolle, die in den menschlichen Beziehungen die zurückgehaltenen Worte spielen, die Eloquenz und die Präzision der verdrängten Dinge, der abgewiesenen Erwiderungen, Vorwürfe, Verurteilungsenergien …

*

Ein äußerstes Erkennen seiner selbst würde der Mensch nicht aushalten. Denn Was sein will und Was erkennen will vernichten sich gegenseitig.

Man kann noch so oft sagen: meine Verzweiflung ist nur … eine Verzweiflung. Sie ist aus den und den Teilen zusammengesetzt; sie hat ihr Rezept und ihre Verfahren; sie schwächt sich zu der und der Zeit ab – –

*

Ein Mensch fühlt sich dumm – verstört, nicht mehr präsent, geistlos, und er wird sich dessen bewußt. Wo ist denn der, der etwas taugt/taugte/, fragt er sich? – Er betrachtet seinen abhanden gekommenen Witz so, wie er seinen kranken oder müden Körper betrachten würde. Wo ist meine Kraft? Wo mein Mut? Wo sind meine Worte, meine gewohnten Einfälle? Geist und Kraft wären also geliehene Fähigkeiten, wie äußerliche Güter, Juwelen oder Waffen, die verlorengehen.

*

Sehr wichtig im Menschen ist der Affe, der ihm dazu dient, sich selbst nachzuäffen. Schließlich sind wir derjenige, den wir am häufigsten nachahmen – und wohl auch am besten.

*

Der Mensch: Vater und Sohn der Gedanken, die ihm kommen.

*

Ich wundere mich darüber, daß man nicht versucht hat, das Maximum unserer Erkenntnis festzulegen, das Eichmaß – des Wissens oder des Verstehens und Begreifens. In welchem Fall und unter welchen Bedingungen sind wir über irgendeinen Punkt vollständig befriedigt?

*

Das erste Lächeln des Kindes, etwa mit 2 Monaten, ist ein einfaches Aufgehen … welches eine unvorstellbare Organisation des Ausdrucks, selbst in statu nascendi, voraussetzt. Denn dies ist der erste Luxus des Menschenwesens – Es ist nicht mehr das Bedürfnis, welches weint und schreit – Es ist die Ouvertüre des unnützen Bedürfnisses, für etwas anderes als die Befriedigung eines Durstes zu kommunizieren – – – Von diesem Lächeln bis zu Herrn von Talleyrand.

*

Hauptfrage meiner Psychologie.

Was bewahrt sich durch alle Zustände? was erhält sich im Schlaf, im Traum, in der Trunkenheit, im Entsetzen, dem Liebestaumel? dem Irrsinn?

*

Was bleibt von Zustand zu Zustand erhalten?

Hängt ein Zustand von dem unmittelbar vorangehenden ab – oder von früheren Zuständen? – Wo hält sich der frühere Zustand auf, bevor er in der Gegenwart wirkt? Muß der frühere Zustand unbedingt wieder auftauchen oder kann er versunken bleiben?

Muß ich die Kontinuität mit Gewalt einführen und dazu vielleicht einen geschickteren Begriff entwickeln als das Unbewußte?

*

Man soll nur an das glauben, was man selbst erfunden hätte.

*

»Zufall oder Genie«

Was bei den einen als Zufall gilt, wird bei den anderen dem Genie zugeschrieben. Die ersteren sind bei weitem zahlreicher.

Genie: einer Person angetragener sehr günstiger Zufall. Es kann sein, daß die Arbeit des Geistes in ihren diversen Formen (Aufmerksamkeit, Neugier oder innere Unruhe) die Zahl der Spielrunden ungeheuer steigert, und damit auch die Gewinnchancen. Doch ebensosehr wie die Herstellung der Kombinationen ist bei dieser Sache das Auswählen von Bedeutung, das Empfinden für die Werte dessen, was der Kopf dem Bewußtsein und dem Augenblick hinwirft. Und hinzu kommt noch jene Fähigkeit, ohne welche das übrige nur ein Strohfeuer ist – nämlich das Vermögen, dem Augenblicksfund aufs rascheste eine nutzbare, ausbau- und übertragungsfähige Form zu geben. Es muß etwas da sein, womit man ihn fassen kann (und bisweilen erzeugt diese Fähigkeit, zu erfassen, aus schierem Betätigungsdrang den Fund sogar selbst).

*

Die größten Aktionen waren das Werk von Leuten, die im Grunde an nichts glaubten, es sei denn an die Leichtgläubigkeit derer, die sie führten.

Caesar, Friedrich, Napoleon.

*

Wie der Schatten dem Körper folgt, so folgt die Dummheit der Macht.

*

Es sind keineswegs die »Bösen«, die das größte Unheil in dieser Welt anrichten.

Es sind die Unbeholfenen und die Leichtgläubigen. Die Bösen wären machtlos ohne viele Gute.

*

Schaffung »künstlicher« Bedürfnisse. Der Mensch ist ein Tier, das sich nicht lediglich an Umstände anpaßt, sondern Umstände schafft, um das Vergnügen zu haben, sich an sie anzupassen – Er träumt im Wachen, und er träumt beim Handeln. Er kann gar nicht längere Zeit befriedigt sein. Das Natürliche ist seine Natur nicht. Wenigstens der westliche Mensch ist so. Dies rührt von einer Besonderheit seines Systems her – in welchem jede Antwort sich leicht in eine neue Frage verwandelt.

Die Zivilisation geht hervor aus der Zunahme der Anpassung, welche unaufhörlich annulliert wird durch die Zunahme der Anpassungsfunktion selbst, wie beim Vorgang des Koitus.

*

Die, denen es an Geist fehlt, an Vorstellungskraft, an Eindringlichkeit und Tiefe, brauchen Emotionen, Leidenschaften, Erhabenes und Katastrophen. Von der Scheingröße der Phänomene, ihrer Intensität lassen sie sich packen und messen ihnen Bedeutung bei in Funktion der Intensität.

Es gibt eine Sucht nach Heftigkeit, nach Gram und Jammer, nach Gemütsaufwallung und sogar nach Wirrsal.

Und doch ist diese Unordnung unendlich weniger reich, weniger bedeutsam, weniger groß als die Phänomene, die unsere Klarheit erhalten und uns instand setzen, den Schein vom Sein unterscheiden und die Ordnungsbereiche in uns selbst gesondert zu wahren.

*

Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.

*

Die Formel: Der Staat bin ich hat die Formel erzeugt: Der Staat ist ein Ich – das war die schreckliche politische Neuheit. Nachdem der König-als-Mensch abgeschafft war, blieb ein monströser Egotismus zurück.

*

Was die »Konservativen« ruiniert hat, war die schlechte Wahl dessen, was zu konservieren war.

*

Es gibt kaum etwas Dümmeres, als von Lektionen der Geschichte zu sprechen. Von der Geschichte erfahren wir nur etwas über die Historiker, ob sie Stil haben, ob sie Geist haben usw. Und über jene, die sich ernst nehmen, müssen wir lächeln.

*

Das wirkliche Handeln kann nichts anfangen mit guten Schülern. Noch weniger mit brillanten Kandidaten; die behalten von ihren Anfängen vor allem einen Überlegenheitsdünkel zurück –

*

Der Mensch verbirgt – zwangsläufig, was er nicht sagen kann, und freiwillig, was er mit den anderen gemeinsam hat und was die anderen niemals sagen. Er imitiert ihr Geheimnis. Das Identischste, was die Menschen haben, ist auch das Verborgenste – Sie verbergen ihre Ähnlichkeit …

*

Man redet ungeheuer viel über Moral. Aber ich behaupte, daß keiner wirklich seine eigene kennt, also streng aufzeigen kann, nicht was er an schaumigen Meinungen hat, sondern was das Gesetz seiner Handlungen ist.

*

Der Mensch hat Wert nur insofern, als er sich nicht manövrieren läßt von der Natur, von seinen Instinkten, von der Gesellschaft, von der Nachahmung, von der Eitelkeit – kurz, von dem, was war, vielmehr einzig durch die Überlegung dessen, was sein kann oder nicht sein kann.

*

FURCHT VOR SICH SELBST ist der Auftakt zur Moral. Nicht wagen, das zu sein, was man ist.

*

Es ist schwer und es ist hart, zu sein, was man ist – nicht das zu sein, was man gern wäre. – Hart vor allem für die »gebildeten« Leute.

Hart und schwer, weil … kein augenfälliger Vorzug oder hinreichender Reiz darin liegt, gerade so zu sein – Das ist niemals etwas Besonderes.

Jeder »große Mann« ist nicht eigentlich er selbst – sondern er hat es geschafft, sich nach einem Modell oder einem gegebenen Maßstab zu erschaffen.

Was da er selbst ist, sein »Genie« – das ist ebenjenes Vermögen, sich neu zusammenzusetzen, und nicht das, was er war, und ebensowenig das, was er schließlich geworden ist.

*

Alle Moral ist künstlich – ist sie doch darauf aus, einen Teil der ursprünglichen Regungen zu unterdrücken, einen anderen zu entwickeln. Gäbe es ein Wesen, das von Natur aus diese Veranlagung böte und spontan einem erfolgreich moralisierten Wesen gliche, so wäre es nicht moralisch, denn es würden ihm Kunstgriff und Zwang abgehen. In dem Augenblick, in dem es den Kunstgriff gibt, muß es ein Ziel geben. Ist dieses Ziel aber enthüllt, geklärt, kontrollierbar – so verliert die Moral alles Prestige. Der Diebstahl etwa kann nur in einer Gesellschaft geächtet sein, in der die Besitzenden herrschen und über ehrbar und ehrlos bestimmen. Ihr Interesse ist es, zu erniedrigen, was ihnen schadet. In einer anderen Gesellschaft, wo es ehrlos wäre, zu besitzen, ist der Räuber ein Gendarm.

*

Moralvorschriften sind äußerst unwirksam – Daher sieht sich jeder Begründer oder Verbreiter von Moral auf zusätzlichen Wirkungszauber angewiesen. Furcht und Exaltation bei den Römern. Beim Protestanten Überlegenheit und auch Sicherheit.

Diese Monstren sind wirksam, wohingegen die nackte Vorschrift gleichsam nichts ist.

*

Ein seines Denkens sehr »bewußter« Mensch kann sein moralisches Bewußtsein nur schwer ernst nehmen – Skrupel, Hindernisse, Hin und Her – usw.

Er erleidet die Triebregung – beurteilt sie als schlecht – sieht sich gedrängt, zurückgehalten, lacht darüber, sich zwischen Gut und Böse zu sehen, findet sich selbst weiter als die Alternative, macht sich über sich selbst lustig – und über die Mechanik seiner Tugendhaftigkeit – Wenn er ihr nämlich folgt und sich ihr folgen sieht, kann er nicht umhin, sie dem Automaten gutzuschreiben – in den alles eingeht, was sowohl gesehen als auch vollendet ist.

*

Es gibt wechselseitige Antipathien, und es gibt einseitige. Ich habe gesehen, wie große Freundschaften sich aus anfänglicher Abneigung entwickelten.

Sympathie und Antipathie lassen sich, wenn sie wesentlich sind, nicht erklären, ebensowenig wie Gleichheit des Geschmacks, der Bildung.

Ich habe an mir selbst beobachtet, daß unter den Menschen, denen ich begegnete, die einen in mir so etwas wie Energie erregten, spontane Wärme und eine vertrauensvolle Öffnung; die andern den gegenteiligen Effekt, so daß man sich verschließt, sich einschließt und entfernt.

*

Das Gedächtnis würde uns nichts nützen, wenn es in striktem Sinne treu wäre.

*

Was mich am Gedächtnis am meisten frappiert, ist nicht so sehr, daß es das Vergangene zurückruft – sondern daß es das Gegenwärtige ernährt.

*

Ständig vergißt der Mensch – sein Gedächtnis. Das Gedächtnis ist das, was wir am leichtesten vergessen.

*

Beim Erwachen findet man seine Gedanken, seine Angelegenheiten, seine Bedürfnisse, seine Kleider wieder – man nimmt die unterbrochene Tätigkeit wieder auf, man nimmt wieder seinen Platz ein in einem System, in dem Gegenstände, Projekte, Vorstellungen, Gefühle und Kräfte miteinander verzahnt sind. Man wird wieder zum Bürger, zum Ehemann, Kranken, Aktionär von – – man schreitet zur Veränderung und Konservation dieses Systems in der Folge – so als wäre man das Zwischenstück, das Bindeglied oder das Tier bzw. Organ, das einen Faden spinnt zwischen gestern und morgen. Gestern und morgen sind Eigenschaften des Systems, und heute ist Eigenschaft des »Ich«.

*

Ein Mensch, der erwacht, ist (so scheint mir) während einer sehr kurzen Zeit vor der Erinnerung, im Stande der Reinheit des Ich, denn er hat auf den Aufruf seiner Präsenz, auf die Neuheit seiner Glieder, seines Gewichts, seines Atems und des Lichtes noch nicht geantwortet, er sei das, was er war und was er sein wird. Er stößt sich an dem, was er ist; und aus dem Schock geht hervor, was er war, welches in sich birgt, was er sein und tun wird.

*

Empfinden beginnt alles, geht allem voraus, begleitet und beendet alles.

Und ist folglich alles.

Weshalb es denn unmöglich ist, unterhalb dieses Wortes zu verharren oder darüber hinauszugehen – – ein Wort, das ein Grenzpunkt ist – oder ein Totalreflektor, der alles zurückspiegelt und nichts absorbiert.

*

Die Sensibilität ist das wichtigste Faktum von allen – es umfaßt alle anderen, ist allgegenwärtig und all-konstituierend. Das, was man Erkenntnis nennt, ist nur eine Komplikation dieses Faktums.

*

Die Würde des Menschen liegt ganz und gar in jenen Augenblicken begründet, in denen er für die Gegenstände der Reflexion ohne praktischen Nutzen und sogar ohne Reiz und ohne Zukunft ebensoviel Aufmerksamkeit und Hingabe aufbringt, wie er seiner Existenz zukommen läßt.

*

Der Mensch, beweglicher Posten – in einem Energiefeld.

*

Die Macht des Menschen wird durch die Tatsache vervielfacht, daß seine gedankliche Reichweite nicht durch seine unmittelbaren Fähigkeiten begrenzt wird – und davon unabhängig ist.

*

Der »Determinismus« ist die einzige Weise, sich die Welt vorzustellen. Und der Indeterminismus die einzige Weise, in ihr zu existieren.

*

Ich bin Fatalist. Ich glaube, daß unsere Ideen bei den »Ereignissen«, selbst in den Fällen, die in unserer Sicht am meisten von ihnen regiert werden, nur eine scheinbare oder aber lächerlich geringfügige Rolle spielen.

Der Mensch kann zwar »wissen, was er macht«; er kann aber weder wissen, was da macht, noch was das macht, was er macht. Der Zufall läßt ihn auf die Welt kommen; richtet sein Leben aus; verheiratet ihn, gibt ihm seine Gedanken ein, tötet ihn. Wenn er will – so ist sein Wille, quantitativ über sein ganzes Leben hin, doch immer nur kümmerlich wenig.

Es würde sich herausstellen, daß er dann, wenn er »frei« ist und zuweilen sich als »Ursache« vorkommt, doch bloß einen Augenblick in diesem Zustand verweilen kann. Er geht nur hindurch, und noch dazu äußerst selten – (wenn die Hypothese denn gilt).

*

Jeder Mensch macht seinem Ich Angst. Jemand zu sein erstaunt, verwundert, bestürzt das universale Organ dieses Jemand, das, worin er nicht Jemand ist, und das sich, wo es doch ein Ganzes ist, in seinem Teil enthalten sieht, und als Eigenschaft seiner Eigenschaften. Reflexive Verben.

*

Der Mensch ist ein System von Begierden, das durch ein System von Ängsten temperiert wird.

*

Je stärker bei den Menschen der Besitztrieb ist – (Landwirte), desto mehr erachten sie Diebstahl als verabscheuenswert oder geben dies zumindest vor – Eigentum ist eine Angelegenheit der Sensibilität.

Generell verhält sich der Abscheu, der sich an eine Übertretung heftet, proportional zu einem Instinkt, dem diese zuwiderläuft, und er ist daher aufschlußreich für das betrachtete Volk oder die Gruppe.

Beim Besitztrieb nun, der als solcher recht abstoßend ist, frage ich mich, ob er nicht identisch ist – mit dem Sinn für das Ego, mit der Persönlichkeit – Man hätte dann Völker mit markanter Persönlichkeit – sehr eigentumsbezogen – die dies in ihren Gewohnheiten, ihren Ansichten von Ehre und Unehre ausdrücken.

*

Der Tod ist ein Gedanke des Lebenden. Er ist fürchterlich durch die Menge an Leben, die der Lebende dort hineinlegt.

*

In bestimmter Hinsicht ist der Tod etwas schrecklich Unzugängliches. Man würde alles mögliche tun, um ihm zu entgehen. Der ganze mögliche Schrecken bildet ein grenzenloses und grenzenlos zu fürchtendes Land, das zwischen ihm und uns liegt, das heißt zwischen uns und uns.

In anderer Hinsicht jedoch ist er ganz klar, ja klarer als alles, wird plötzlich Ziel aller Mühen, so sehr, daß man unweigerlich an die Absurdität denkt, sich zu töten, um nicht zu sterben, und daß man diesen zweiten Tod für eine Unterstützung gegen den ersten hält, welcher doch derselbe ist. Aber der zweite ist ausschließlich definiert durch einen einfachen, klar gelungenen Akt, der erste durch eine Leidenschaft und einen Zwang.

*

Wer träumt, ähnelt dem, der in einem Boot aufrecht geht. Das Boot fährt rückwärts, und der Mensch bleibt am selben Punkte des Meeres stehen. Am Bug des Bootes angekommen, muß er entweder ins Wasser springen oder zurückgehen. Und das Boot kommt wieder und der Gehende kommt von seinem absoluten Ort nicht weg. Ist das Boot unendlich lang, ist die Kette der Bilder und der Emotionen unendlich, so kann er unbegrenzt marschieren und sich abmühen, ohne voranzukommen.

Er sieht zur gleichen Zeit den gleichen Punkt des Meeres und eine Folge von verschiedenen Punkten des Ufers, und schlösse er die Augen, er glaubte voranzuschreiten.

*

Das Ziel des Menschen ist die Synthese des Menschen – das Wiederfinden seiner selbst als der äußerste Punkt seiner Suche.

*

Jedes Leben ist ein emporgeworfener Stein. Beim Herabfallen aber geschieht es, daß mancher Stein eine schöne Frucht vom Baum im Garten Eden mit herabholt.

*

Für den Geist gibt es keine letzte Anstrengung. Das bleibt dem Herzen vorbehalten, dessen letzte Zuckung allem ein Ende setzt.

Es gibt keinen »letzten Gedanken«. Denn es gibt keine Ordnung in den Gedanken, die nicht zufällig wäre.

Blicke auf die eigene Person

Das immer wieder in den Cahiers aufscheinende Interesse Valérys an einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Person scheint zunächst – allerdings nur bei vordergründiger Betrachtung – im Widerspruch zu seiner persönlichen Ablehnung der in Frankreich hoch angesehenen Form der literarischen Autobiographie zu stehen. Valéry glaubte nach eigener Aussage nicht daran, daß man sich selbst auf diese Weise zutreffend darstellen könne. Um so mehr lassen sich die entsprechenden Cahiers-Einträge als Protokollfragmente einer kritischen Eigenrecherche lesen, die Blitzlichter auf die eigene Individualität werfen und in der Zusammenschau eine Art »fragmentarisches Autoportrait« bilden, wie dies der Valéry-Forscher Karl Alfred Blüher genannt hat. Dem Leser eröffnet sich dabei ein vielschichtiges Variationsfeld der potentialerkundenden Valéry-Frage: Wie genau – das heißt, wie realistisch, zutreffend oder gar ›richtig‹ – kann ein Mensch sich selbst überhaupt sehen bzw. wahrnehmen? Dabei geht Valéry in seiner kritischen Selbstbeobachtung sogar noch einige Schritte weiter, beispielsweise, wenn er herauszufinden versucht, was es eigentlich bedeutet, mit dem eigenen Anfang anzufangen.

Was mich von manchem unterscheidet, ist, daß ich von meinem Anfang ausgehen wollte.

*

Bisweilen scheint mir, ich sei ein Mann ohne Datum. Es gibt in mir ein undatiertes Wesen, und im Album der Kostüme und der Sitten – genannt Geschichte – fühle ich mich als niemandes Zeitgenosse.

*

Ich habe vor langer Zeit schon festgestellt, daß es meine Manie oder mein Gesetz ist, immer mit dem Anfang anfangen zu wollen.

Und ich merke heute, daß es nichts gibt, woran ich treuer festgehalten habe.

Ich sehe, daß ich nur das als erworben betrachte, was ich selber erworben habe, durch Vorantasten und Fehlschläge.

*

Ich baue kein »System« – Mein System – bin ich.

*

– Jeder hat seine Asymmetrie.

Es ließe sich eine Biographie denken, die so angelegt wäre:

Ein Strahlenfeld, in dem sich das Wesen von einem Punkt aus ungleichmäßig in die verschiedenen Richtungen entwickelte. – Windstriche usw.

*

Meine Natur verabscheut alles Vage.

*

Nie habe ich den Gedanken ertragen können, daß ich, ich, unter einen Begriff zu fassen wäre. Ich bin allen Akten ausgewichen, die dem Wesen eine Idee von Selbstdefinition geben könnten.

Ich bin ausgewichen vor dem Dichter, dem Philosophen, dem Mann mit einem Beruf, was doch alles in mir angelegt war. Ich bin ausgewichen vor dem Gutsein und vor dem Schlechtsein.

Ich liebe mich, solange ich nicht das Gefühl haben muß, der und der zu sein: Menschen. Ich hasse mich, wenn ich mich wiedererkenne, wenn ich den Menschen mit seiner Eigenheit bei mir spüre; ich will niemand sein.

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Ich habe die mißliche Angewohnheit, mich in der hohlen Hand zu wägen, einer monströsen mentalen Hand; und was gar nicht im Augenblick ist, wägt den Augenblick und befindet ihn als leicht …, wo doch all meine Zeit dorthinein paßt.

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Mein Charakter erheischt, daß ich in erster Linie mein Inneres erforsche, und diese Forschungen münden in ein endliches System, das als Ganzes immer schon bekannt ist und bei dem es nur darum geht, es besser zu ordnen, besser auszuprägen, besser zu meistern; während physikalische Forschungen überraschenden Umstürzen unterworfen sind – so wie auch der Globus plötzlich seine Gestalt und die Landkarte verändern kann, während der Mensch sich nur selbst aufzuheben oder sehr langsam zu wandeln vermag.

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Variation über Descartes:

Manchmal denke ich; und manchmal bin ich.

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Etwas anderes sehr Bemerkenswertes, leider! – Immer in höchster Eile – Kann mir nie Zeit nehmen, um … Zum Beispiel, gründlich aufzuräumen – Ausführliche Toilette. Um mich herum Ordnung zu schaffen. Ich habe das Gefühl verlorener Zeit. Und leide dann darunter.

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Die Unordnung, die mich umgibt, ist mir ziemlich gleichgültig – Mich beherrscht der Augenblick, auf Kosten der Zukunft – daher all die Fragmente oder momentanen Sachen! Ich esse zu schnell, spreche zu schnell, denke zu schnell – (woraus sich gänzlich andere Gedanken ergeben als aus langsamem Denken).

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Ich glaube nicht an das, was ich sehe.

Darin einem »Mystiker« ähnlich, wie man sagt.

– Ich sehe was ich sehe mit einem Blick, der »gleichzeitig« mit den dargebotenen oder aufgenötigten Gegenständen ihren Feldbereich, ihre Tangentialpunkte, ihre Gruppenzugehörigkeit, ihr Referenzsystem und auch die Freiheiten dabei wahrnimmt.

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Ich bin ein lebender Protest gegen das, was man von mir denkt – gegen alles, was man von mir denken kann / gegen das, was ich von mir denke/, und mich selbst!

Und alle Menschen sind wie ich.

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Jedes Urteil über mich, das mich als homme de lettres betrachtet, ist von Grund auf verfehlt.

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Einige Seiten aus Gides Tagebuch gelesen. Ich komme darin auch vor, auf recht wunderliche Art. Sehr nett behandelt. Sehr gefährlich wohl auch. Einiges erstaunt mich und ist unerklärlich, bei ihm, der doch mein Leben kennt – etwa, ich hätte es mir bis ins kleinste vorausüberlegt und gestaltet wie ein Schachspieler!! Dabei gibt es keinen äußeren Lebenslauf, der mehr dem Zufall überlassen worden wäre. Alle Ereignisse meines Lebens, Karriere, Ehe – usw., alles war das Werk der anderen. Meine einzige Politik bestand stets darin, meine unendliche Suche so gut wie möglich zu schützen – auf Kosten von mancherlei und zum Preis eines mittelmäßigen Lebens. Gide denkt nicht daran, daß ich mir stets »meinen Lebensunterhalt verdienen mußte, und den anderer dazu« – worin offensichtlich kein Adel liegt. Allein schon diese Worte auszusprechen ist unedel.

Mehr noch: er scheint keinen Augenblick lang zu ahnen, wie unermeßlich diese meine Erforschungsarbeit war – welche mein »Verhalten« weitgehend erklärt – das unliterarischste Verhalten, das sich ausmalen läßt.

Davon hat Gide keine Ahnung. Er lebt in einer ganz andern Welt – einer Welt, in der die emotionalen Fragen beinahe die einzigen sind, die es gibt, und in der der »Wille zur Macht« nur jene Macht meint, die Gefühle der anderen zu erschüttern, und nicht Macht, zu dem zu finden, was man vor sich selbst sein möchte, so WIE MAN IST – aber zu dem geworden, der ein für allemal ist.

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Manchmal bin ich trunken, überwältigt, wenn ich gewahr werde, wie potentiell unendlich meine Gedanken sind – ich halte inne, verzage angesichts all dieser Ideen, die sich abzeichnen, aufblitzen und wieder vergehen, so wie die riesige Anzahl der Schößlinge vergeht, um den Wald in seiner Seltenheit emporwachsen zu lassen – und das Schicksal trifft die Auswahl.

Diese unnütz wimmelnde, wogende Fülle, in der ich mich einen Augenblick lang verliere und die sich in demselben Augenblick eben dadurch verliert, daß ich mich darin verliere – ich gewinne ihr dennoch einen Gedanken ab (ich verliere eine Million und gewinne einen einzigen, den Gedanken dieses Verlierens), nämlich daß ich erkannt habe: In der unmittelbaren natürlichen Zeugung dieser Keime ist der Geist wie eineBLINDE NATUR. Ich denke an die Vielzahl der erzeugten Spermien oder Samenkörner, oder an das Getümmel der Atome und ihre Zusammenstöße. Nur ein Teil gelangt jeweils dazu, an die Wände des Gefäßes zu stoßen. Nur ein Teil – zu leben.

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Für mich bedeutet Liebe Rückkehr zu oder Wiederaneignung meiner conditio als Lebewesen, Erinnerung an den Preis dieser Bedingtheit, Zustimmung zum Wirklichen, zum Trüben, zu einer außerhalb gelegenen Energiequelle. Sie setzt einen Schiffbruch voraus, in dem und durch den eine Planke, ein Balken, ein Floß mit einem Schlag zu einem entscheidenden Gegenstand werden. Sie ist auch die Erfahrung, einen Anderen wie ein Selbst wahrzunehmen und dort dasselbe Hindernis vorzufinden wie bei sich, dasselbe reale Nichts, dasselbe latente Alles wie in sich.

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Ich liebe irrsinnig – und plötzlich erlahmt das Interesse.

Ich war am Äußersten, und mit einem Mal spüre ich, daß in mir, gleich daneben, etwas ist, wodurch ich auf andere Gedanken komme.

Mitten durchs rasende Toben geht ein Strahl von Ist-mir-doch-egal. Im Angesicht Gottes, im höchsten Himmel wandelt mich die Lust an, zu rauchen, der Wunsch, ruhig zu schlafen, Freude an den Dingen, mithin Freiheit.

Also

Unsere eigene Gleichgültigkeit überkommt uns inmitten unseres wahnwitzigen Eiferns und verblüfft und empört uns. – Mir wird deutlich, wieviel Leidenschaft in meinem Schrei war, das läßt mich erkalten, und diese Kälte wiederum schämt sich ihrer selbst. Man sehnt sich zurück nach jenem Maximum, das gerade war.

Etwas wird emporgehoben wie ein Korken. Die Fesseln des Lebendigen spannen sich zum Zerreißen, dann abnehmende Phase.

Und es gilt, die Periodizität des energetischen Lebens zu gewahren. Energetisches Leben – Unabhängigkeit dieses Lebens von dem strukturellen Leben, dem sichtbaren, dem vorherigen, dem wahrgenommenen Leben.

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Zu fühlen, wie fremd man ist – –

Will sagen, wie sehr das, was man am meisten als man selbst empfindet, sein Geschmack, sein Wohl und sein Übel, sein Körper, wie man ihn wahrnimmt, oder sein Äußeres, oder der Körper als Verborgenes, eigentümlich sind, so und warum nicht anders? Der Eindruck, was man ist, nur zufällig zu sein, – so daß man zu der Auffassung kommt, man ist das, was schlecht erträgt zu sein, was es ist. Ich bin mehr noch derjenige, der nicht sein will, was er ist, oder nicht nur sein will, was er ist, als ich der bin, der ich bin! Doch Vorsicht vor dem verräterischen Schein, dem Wort Sein.

– Oder auch – kommt es mir vor, als könnte irgendeine keineswegs phantastische Modifikation das, was ich über mich weiß, leichterdings auf der Stelle in eine Einbildung verwandeln, die wie irgendeine andere über mich kommt, eine Minute anhält und wieder verschwindet.

Und alles, was mir das gegenteilige Gefühl vermittelt, der Druck der Eigentümlichkeit, die Definiertheit, die Person, die ich bin usw., ist mir ganz allgemein beschwerlich.

Und das geht bis hin zu Komplimenten. »Ich will nicht sein, was ich bin« ist ein äußerst starkes Gefühl bei mir – und übrigens unabhängig von diesem »was ich bin«. Welcher ich auch sei, ich weise ihn zurück. Wie entgegengesetzte Stromladungen stoßen Ich und Ich selbst sich gegenseitig ab!

Das ist ein Fall. »Krankheit« vielleicht – das heißt: selten.

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August 40

Schlaflosigkeit – Heute nacht in »Racine et Shakespeare« gelesen. Einiges sehr Gute hier und da. In den Fußnoten stieß ich auf Luden Leuwen – und durchlebte wieder meine große Liebes-Geistes-Krankheit von 91–92 und einigen Jahren danach – erinnerte mich, wie sehr der Leuwen in Mittys Darstellung von 94 mich in dieser ultra-luziden Phase durch die außergewöhnlich zart geschilderte Liebe Leuwen-Chasteller gepackt hatte. Ich wette, es gibt in keiner anderen Literatur Vergleichbares an Leichtigkeit bei innigster Intensität des Fühlens. Nichts dergleichen bei Balzac –. Das hat wahrhaftig wunderbar in mir widergehallt. Und heute nacht kommen mir meine Erinnerungen zurück – (was höchst selten geschieht) – Frau von Rovira. Ich habe mich selber für Jahre verrückt und schrecklich unglücklich gemacht – über der Vorstellung dieser Frau, an die ich nie auch nur das Wort gerichtet habe! Aus solchen Sachen kann ich absolut keine Literatur machen – (aus dieser und anderen – weit jüngeren). Die Literatur ist für mich ein Gegenmittel gegen diese Giftphantasien der Liebesregung und der Eifersucht. Literatur, oder eigentlich alles, was geistig ist, hatte stets einen Anti-Lebens-Zweck, war mein Antiästhesiakum. Allerdings wurden diese Empfindungen zu einem mächtigen intellektuellen Exzitans – das Übel trieb sein Heilmittel voran – Eupalinos21, Der Tanz22, in aufgewühltem Zustand geschrieben. Wer würde das vermuten?

Hier müßte geklärt werden, was bei diesen Lebensengen auf meinen Charakter geht. Bei solchen Gelegenheiten, solchen Konjunkturen erbitte ich vom Schicksal, da es ja nun einmal den Zufall der Begegnung und Erfahrung heraufgeführt, die beiden Wesen in einem Punkt zusammengebracht hat, einen Austausch von Lebensenergie und ein Quantum Freiheit, bei Erregung des Geistes und, in eins damit, Besänftigung des übrigen. Doch stets noch fand ich am Ende (besonders bei den Frauen, die mich am meisten fesselten) eine sonderbare Neigung, gerade den auf die Probe zu stellen, von dem ihnen doch Augen und Verstand sagen mußten, daß er ganz verrückt nach ihnen war. Sie fordern Dinge, die sich unmöglich gewähren lassen und die für sie kein anderes Interesse haben, als ihre Macht zu erweisen. Ich aber möchte, daß diese Macht für mich da ist – Und Beweise zu fordern ist mir unerträglich. Damit verderben sie alles.

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Ich wache auf, so wie ein Taucher nach oben kommt.

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Traum

Traum – ich träume, daß ein Verleger mir 5000 Franken für ein paar Seiten gibt – er gibt mir einen unverschlossenen Umschlag, in dem die Scheine zu sehen sind. Ich finde die Summe ungeheuer, bin betreten. Beim Nachdenken darüber wache ich halb auf. Ich sehe den Umschlag wieder, und ich merke, daß diese Scheine nicht das Blau der Tausendfrankenscheine haben, sondern die Farbe der Zehnfrankenscheine.

Beobachtungen: a) Warum habe ich nicht von dem Blau der Tausendfrankenscheine geträumt und Zehnfrankenscheine gesehen, wo es sich um 1000er handelte? Da ist ein Irrtum.

c) Indem ich diesen Traum notiere, schreibe ich ihn wie eine Geschichte auf. Ich resümiere, gebe die Zusammenfassung einer Geschichte aus der Erinnerung. Dies ist der grundlegende Irrtum bei der Traumaufzeichnung. Bedauerlicherweise kann man es gar nicht anders machen. Um die Synthese eines Traums zu erlangen, müßte man ihn in seinen »atomaren« Konstituenten ausdrücken. Denn die Geschichte, an die man sich erinnert, ist lediglich eine Sekundärfabrikation über einem ursprünglich nicht chronologischen, NICHT RESÜMIERBAREN, nicht integrierbaren Zustand.

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Bisweilen habe ich die Gabe der seltsamen Sicht. Sie zu erklären fällt mir nicht leicht. Diese Begabung ist, was mir als Besonderheit eignet – Ich erlebe sie bei anderen nicht. Sie haben andere Gaben. –

Sie besteht darin, die Dinge plötzlich mittels der Einbildung als zu einer Vielheit gehörig wahrzunehmen – das Ding nicht mehr in den »Kategorien«, sondern als besonderen Gegenstand und als besonderen Zustand eines besonderen Gegenstandes, – wobei diese Tatsache das wahre Ding ist –; und dann zeigt mir dieses wahre Ding die Vielfalt seiner »Rollen«.

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Gewisse Wahrnehmungsweisen, so scheint mir, kennzeichnen mich. Zuweilen erkenne ich mein eigenes Denken wieder. Nicht alle meine Gedanken erscheinen mir charakteristisch oder grundlegend, aber einige, derentwegen, wenn sie fehlten, ich ein anderer wäre. Doch sind sie nicht zahlreich. Ich bin manchmal ich; und den Rest der Zeit irgendjemand. Neben diese charakteristischen Gedanken mögen noch die Schmerzen und die ganz starken Empfindungen treten. Alles übrige ist Blattwerk, leichtes Rauschen, Oberfläche.

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Erstaunen, du machst mein Wesen aus …

Immer erwache ich überrascht.

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In der Sonne

In der Sonne auf meinem Bett nach dem Wasser –

In der Sonne und im riesigen Widerschein der Sonne auf dem Meer,

Unter meinem Fenster

Und im Widerschein und im Widerschein des Widerscheins

Der Sonne und der Sonnen auf dem Meer

In den Spiegeln

Nach dem Bad, dem Kaffee, den Ideen,

Nackt in der Sonne auf meinem ganz hell erleuchteten Bett

Nackt – allein – toll –

Ich!

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Ich bin traurig – aber da ich es schon einmal gewesen bin – sehe ich gleichermaßen den Inhalt und die Wiederkehr – und verachte mich.

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Ich kann die Vergangenheit nicht leiden –

Ich meine die Vergangenheit im »historischen« Sinne, die sich in Szenen, Situationen –, Berichten von handlungs- und wortreichen Augenblicken bekundet.

Ich kann, was absolut nicht mehr ist, nicht als aktuellen Wert akzeptieren.

Ich sage absolut nicht mehr, weil es eine Vergangenheit gibt, die nur relativ nicht mehr ist, die Vergangenheit derjenigen Elemente, welche, da sie in jedwedem Zusammenhang wiederauftauchen und immer verfügbar sein müssen, von der Psychologie des Geistes aus der Chronologie herausgenommen werden. Die Wörter, die wir eines Tages erlernten, haben die Erinnerung an jenen Tag verloren.

Ich empfinde nicht wie ein Romancier.

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Wie ich es auch anstelle, mich interessiert alles.

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Strenge der Phantasie ist mein Gesetz.

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Ich bin nicht immer meiner Meinung.

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Hofmannsthal, der österreichische Dichter, mit dem ich gestern bei Bassianos zum Essen war – plaudert und mustert mich und findet meine Physiognomie typisch Franzose 18. Jh. Er ist sicher der x-te Ausländer, der das zu mir sagt – zu mir, in dessen Adern auch nicht ein Tropfen französischen Blutes fließt.

Es muß wohl etwas Wahres an diesem Eindruck sein – Denn ich nehme an mir Sympathien und Antipathien wahr, – Dinge, die mir liegen, und solche, die mir nicht liegen –, Neigungen und Abneigungen/Schamgefühle und Schamlosigkeiten/, Nobles und Niedriges, was anscheinend ohne weiteres aus mir einen Bürger des Paris jener Zeit machen würde, und dann auch dies, dieses Aus-der-Zeit-und-doch-gegenwärtig-Sein – das mich fremd und vertraut macht, zum Engel und zum bösen Geist, streng und erzskeptisch, schwach und absolut – unruhig und tragisch, aber spöttisch, locker und unbeteiligt, unfähig, etwas ernst zu nehmen, was menschlich ist, und alles aufs Menschliche zurückführend. Et cetera! –

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Korsisch-italienische Mischung, genährt, aufgezogen in französischem Milieu.

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Ein äußerst mittelmäßiger Schüler war ich. Griechisch fiel mir sehr schwer, auch Latein, ganz zu schweigen von der Mathematik! Meine Lehrer (mit einer Ausnahme) unterrichteten nur mit Gewalt.

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Meine »Skepsis« und mein Zurückweichen vor den Dingen der Wirklichkeit oder meine Geringschätzung dieser Dinge, der Tat usw. hängen sicherlich mit meinen Muskeln zusammen. Die Muskeln betont einzusetzen war mir stets verhaßt, und obgleich ich körperlich relativ gut proportioniert bin und auch eine »athletische« Veranlagung habe, nämlich ein Gefühl für die Eleganz der Bewegungen – hat das Gefühl der Muskelschwäche, ob wirklich oder eingebildet, eine entscheidende Rolle in meiner Entwicklung gespielt.

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Meine erste Liebe war die Architektur, ebenso die der Schiffe wie die der Bauwerke zu Land. Die Gestaltung des Raums in festen Körpern vorzunehmen, die Strukturierung, die Abstützung in großen Höhen, die wechselseitige Ausbalancierung von Kräften in der Phantasie durchzuspielen; die Kunst, einen Übergang zu schlagen oder eine steinerne Decke einzuziehen; die Kunst, von einer Gebäudeseite zur nächsten überzuführen, der Rausch der Tektonik, der anschaulichen Beziehungen … davon war ich besessen. – Das Pittoreske zunächst – dann habe ich mich davon gelöst und dem Organischen zugewandt.

Ich kann noch nicht richtig ausdrücken, was ich an den Bauten liebte. Mir scheint, ich habe darin vage eine Vorstellung von edlen Taten entdeckt, – von Maschinen – von übermenschlichen und ins Wirkliche eingegangenen Bewegungen. Die Werkstoffe waren in Bewegung gewesen, bis sie in eine bestimmte Stellung gerieten, wo sie sich gegenseitig hemmten. Nichts fesselt mich mehr als Herrschaft, ja Willkür und sogar Machtmißbrauch, wenn die darin waltende Freiheit sich dem aufzwingt, was nicht frei ist; wenn sie es durchherrscht und sich mit den Gesetzen mißt.

Über nichts dachte ich lieber und angeregter nach als über Bauwerke. Sie mir vorzustellen erfüllte mich mit Behagen. Aus dieser Befriedigung heraus begann ich den Menschen, den Baum, das Pferd zu erfassen.

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Aus einer hitzigen Regung des Stolzes heraus, einer merkwürdigen Anwandlung, die mich mit 19/20 Jahren ergriff, – Reaktion einer unerweislichen Kraft, wie ein Glaube an irgend etwas in mir – angesichts eindeutiger, offen zutage liegender Schwächen meines Geistes –, Vergleichen, die niederschmetternd für mich ausfielen – usw., und in einer Phase der Transformationen, autogenen Bewertungen, habe ich mir ein Wesen, ein Dogma, eine Staatsraison, eine Intoleranz, einen Willen, eine Insularität geschaffen, die auf sonderbarste Weise einhergingen mit einer zärtlichen Zuwendung, einer Mühelosigkeit der Beziehungen und der »Sympathie« – einem Sinn für anhaltende und ausgebaute Freundschaften – aber auch mancher Verachtung und großer Scheu, was jene Teile meines sinnlichen und psychischen Implex betraf, die entweder sehr verletzlich waren oder die ich für besonders kostbar hielt.

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Seauton

Ich fasse meine Vorzüge und Schwächen zusammen; bezeichnend ist vielleicht folgendes: die Unmöglichkeit, vollständig in einem Objekt aufgehen zu können … oder in einem Subjekt. Ein rasches Sichlösen, das mehr oder weniger – oder anders – durch sich selbst kompensiert wird und mich prompt zum prompt Verlassenen zurückführt.

Alle meine denkerischen Unglücks- und Glücksfälle darauf verbucht. Das Überraschende dieser Vibration für die andern. Was ich vertieft habe, ist es durch sukzessive Blitze geworden.

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Denn mein wirkliches Thema ist die Liebe zu dem, was im Geist ist.

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Die anderen machen Bücher. Ich mache meinen Geist.

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Mir liegt daran, für mich zu behalten, was mir das Gefühl vermittelt, ich zu sein, und es gern zu sein.

Wie lange habe ich nicht jene meiner Ideen für mich behalten, die mir am meisten meine eigenen schienen; manchmal auch, weil sie mir wohl sehr wichtig und einleuchtend vor mir schienen, gleichzeitig jedoch zerbrechlich oder absurd vor dem zu erwartenden Blick des Anderen.

Ich dachte, sie taugten einzig für mich, und wünschte auch, sie sollten nur für mich taugen, hegte freilich dabei in mir den Hintergedanken, sie könnten auch für sich selbst etwas taugen, seien vielleicht bloß in einer allzu eigentümlichen Sprache ausgedrückt.

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Meine Verfehlungen sind mir wichtiger als meine Ideen.

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Ich bin viel mehr Erfinder von Ideen – oder von Sichtweisen als etwas anderes.

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Ich existiere, um etwas zu finden.

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