Paul Valéry: Dialoge und Theater - Paul Valéry - E-Book

Paul Valéry: Dialoge und Theater E-Book

Paul Valéry

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Beschreibung

Band 2 der Gesamtausgabe enthält Valérys Dialoge und Theaterstücke von 1920 bis 1945.

Die dem Sokratischen Dialog nachempfundenen Streitgespräche vermitteln einen Eindruck der weitreichenden Interessen Valérys und loten kontrovers Formen künstlerischen Schaffens aus.

Auf die Dialoge folgen die Fragmente Mein Faust, das Melodram Amphion sowie theoretische Schriften zum Theater. Mit seinen unvollendet gebliebenen Stücken des Faust-Zyklus knüpft Valéry an Goethe an und versetzt die Figuren, mit ihrem Streben nach Erweiterung der rationalen Fähigkeiten und nach totaler Beherrschung von Natur und Welt, ins 20. Jahrhundert. Wie im gesamten Werk Valérys bedingt auch hier die mit philosophischem Gedankengut aufgeladene Sprache die Neuverhandlung des Stoffes.

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Seitenzahl: 681

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PAUL VALÉRY WERKE

Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden

Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt

Suhrkamp

Band 2 Dialoge und Theater

Herausgegeben von Karl Alfred Blüher

Die Originalausgabe erschien 1957 unter dem Titel Œuvres I sowie 1960 unter dem Titel Œuvres II bei Éditions Gallimard, Paris.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5215.

© 1990, Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin

© Éditions Gallimard, 1957 und 1977

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Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-77144-0

www.suhrkamp.de

INHALT

DIALOGE

Eupalinos oder Der Architekt

Die Seele und der Tanz

Sokrates und sein Arzt

Stolz, am stolzesten

Gespräch über den Baum

Inneres Zwiegespräch

Die fixe Idee oder Zwei Männer am Meer

THEATER

»Mein Faust« (Fragmente)

Lust. Das Fräulein von Kristall

Der Einsame oder Die Verfluchungen des Universums

Amphion

THEORETISCHE SCHRIFTEN ZUM THEATER

›Amphion‹, Geschichte eines musikalischen Dramas

Meine Theater

ANHANG

Editorische Nachbemerkung

Verzeichnis der Abkürzungen

Anmerkungen

Nachweise zu den einzelnen Texten

Namen- und Werkregister

DIALOGE

EUPALINOS ODER DER ARCHITEKT

Πρός χάριν1

PHAIDROS

Was machst du da, Sokrates? Ich suche dich seit langem. Ich durchstrich unseren bleichen Aufenthaltsort und habe überall nach dir gefragt. Jedermann kennt dich hier, aber niemand hatte dich gesehen. Warum hast du dich entfernt von den übrigen Schatten, und welcher Gedanke hatte deine Seele zusammengefaßt, abseits von unseren, an den Grenzen dieses durchscheinenden Reiches?

SOKRATES

Warte. Ich kann nicht antworten. Du weißt wohl, daß die Überlegung bei den Toten im ganzen vor sich geht. Wir sind jetzt zu sehr vereinfacht, um nicht die Bewegung irgendeiner Idee gleich bis ans Ende mitzumachen. Die Lebendigen haben einen Körper, der ihnen erlaubt, aus dem Wissen herauszutreten und dorthin zurückzukehren. Sie bestehen aus einem Haus und einer Biene.

PHAIDROS

Herrlicher Sokrates, ich bin still.

SOKRATES

Ich danke dir für dein Schweigen. Indem du’s hältst, hast du den Göttern und meinem Gedanken das härteste Opfer gebracht. Du hast deine Neugierde in dir aufgebraucht und deine Ungeduld meiner Seele geopfert. Sprich jetzt frei, wenn irgendein Wunsch, mich zu fragen, in dir bleibt; ich bin bereit zu antworten, denn ich bin fertig, mich zu befragen und mir selbst zu antworten. – Aber es ist selten, daß eine Frage, die man unterdrückt hat, nicht im Augenblick sich selbst aufzehrt.

PHAIDROS

Warum also dieses Exil? Was machst du, von uns anderen abgetrennt? Alkibiades, Zenon, Menexenos, Lysis2, alle Freunde sind erstaunt, dich nicht zu sehen. Sie reden ohne Ziel, und ihre Schatten summen.

SOKRATES

Sieh und höre.

PHAIDROS

Ich höre nichts, und ich sehe nichts Besonderes.

SOKRATES

Vielleicht bist du noch nicht genug tot. Das ist hier die Grenze unseres Gebiets. Vor dir strömt ein Fluß.

PHAIDROS

Armer Ilissos.3

SOKRATES

Dieser da ist der Fluß der Zeit. Er wirft nur die Seelen auf dieses Ufer; alles übrige nimmt er mühelos mit.

PHAIDROS

Ich beginne etwas zu sehen, aber ich unterscheide nichts. Alles das, was treibt und vorbeigleitet, meine Blicke verfolgen es einen Augenblick und verlieren es, ohne es unterschieden zu haben ... Wenn ich nicht tot wäre, würde mir diese Bewegung Übelkeit verursachen, so traurig ist sie und so unwiderstehlich. Oder ich wäre gezwungen, sie nachzuahmen in der Art der menschlichen Körper: ich würde einschlafen und so mittreiben.

SOKRATES

Dieses große Getriebe besteht allerdings aus allen Dingen, die du gekannt hast oder die du hättest kennen können. Diese ungeheure und bewegliche Oberfläche, die ohne Aufenthalt dahinstürzt, rollt alle Farben, die es gibt, in das Nichts. Sieh, wie sie farblos ist im ganzen.

PHAIDROS

Ich meine jeden Augenblick, daß ich irgendeine Form erkennen würde, aber das, was ich glaubte zu sehen, erweckt niemals die mindeste Ähnlichkeit in meinem Geist.

SOKRATES

Das kommt davon, weil du da wirklich dem Ablauf aller Wesen beiwohnst, du, der du unbeweglich bist im Tod. Wir sehen von diesem so reinen Ufer aus alle menschlichen Dinge und die natürlichen Gestalten bewegt nach der wirklichen Geschwindigkeit ihres Wesens. Wir sind wie der Träumer, in dessen Innern Figuren und Gedanken auf wunderliche Art abwechseln in ihrer Flucht und die Dinge und ihre Veränderungen sich untereinander einrichten. Hier ist alles nebensächlich, und doch zählt alles. Die Verbrechen bringen ungeheure Wohltaten hervor, und die größten Tugenden entwickeln verhängnisvolle Folgen: das Urteil hält sich nirgends auf, die Idee wird Erscheinung unter dem Blick, und jeder Mensch zieht hinter sich her eine Verkettung von Ungeheuern, die sich unauflösbar gebildet hat aus seinen Handlungen und aus den Gestaltungen seines Körpers, von denen eine in die andere überging. Ich denke an die Gegenwart und an die Gewohnheiten der Sterblichen in diesem flüssigen Verlauf; ich war einer von ihnen und suchte alle Dinge so zu sehen, genauso wie ich sie jetzt sehe. Ich verlegte die Weisheit in die ewige Lage, in der wir uns befinden. Aber von hier aus ist alles verkennbar. Die Wahrheit ist vor uns, und wir verstehen nichts mehr.

PHAIDROS

Aber wovon kommt denn, Sokrates, dieser Geschmack am Ewigen, den man manchmal bei den Lebendigen gewahrt? Du verfolgtest das Wissen. Die Allergröbsten versuchen verzweifelt, alles zu bewahren bis auf die Leichen der Toten. Andere bauen Tempel und Grabmäler und strengen sich an, sie unzerstörbar zu machen. Die Weisesten unter den Menschen und die der Eingebung Offensten versuchen es, ihren Gedanken einen Einklang und eine Kadenz zu geben, durch die sie sicher wären vor Abänderung und Vergessen.

SOKRATES

Wahnsinn, Phaidros! Du siehst es deutlich. Aber das Geschick hat es so bestimmt, daß unter den Dingen, die unentbehrlich scheinen für das Geschlecht der Menschen, einige unsinnige Wünsche vorkommen. Es würde keinen Menschen geben ohne die Liebe; noch würde die Wissenschaft bestehen ohne absurde Ambition. Und woher, meinst du, haben wir die erste Idee und die Kraft zu diesen ungeheuren Anstrengungen, die so viele berühmte Städte aufgerichtet haben und so viele überflüssige Denkmäler, die der Verstand bewundert, der unfähig gewesen wäre, sie zu erfinden?

PHAIDROS

Immerhin, der Verstand hat einigen Anteil daran gehabt. Ohne ihn wäre alles umsonst.

SOKRATES

Alles.

PHAIDROS

Erinnerst du dich der Bauten, die wir am Piräus entstehen sahen?

SOKRATES

Ja.

PHAIDROS

Dieser Werkzeuge, dieser Anstrengungen und dieser Flöten, die sie zähmten durch ihre Musik, dieser so genauen Arbeiten, dieser Fortschritte, die zugleich so geheimnisvoll und so klar waren? Welche Verwirrung zuerst, die sich in Ordnung aufzulösen schien! Welche Festigkeit, welche Strenge entstand zwischen diesen Loten an den schwachen Seilen entlang, die ausgespannt waren, um gestreift zu werden von dem Wachstum der Ziegelwände.

SOKRATES

Ich bewahre diese schöne Erinnerung. O Baustoffe, schöne Steine! ... Was sind wir zu leicht geworden im Vergleich mit ihnen!

PHAIDROS

Und des Tempels vor den Mauern bei dem Altar des Boreas? Erinnerst du dich seiner?

SOKRATES

Desjenigen der Artemis, der Jägerin?

PHAIDROS

Eben dieser. Eines Tages waren wir dort; wir unterhielten uns über die Schönheit.4

SOKRATES

Ach!

PHAIDROS

Ich war befreundet mit dem, der diesen Tempel gebaut hat. Er war aus Megara und hieß Eupalinos. Er sprach mir gerne von seiner Kunst, von aller Sorgfalt und aller Kenntnis, die dazu gehört. Er machte mir alles verständlich, was ich mit ihm in den Bauhütten sah. Vor allem sah ich seinen erstaunlichen Geist. Ich fand in ihm etwas von der Kraft des Orpheus.5 Er sagte diesen unförmigen Haufen von Steinen und Balken, die um uns herum lagen, ihre gestaltete Zukunft voraus; und diese Stoffe schienen beim Klang seiner Stimme jenem einzigen Platze vorbestimmt zu sein, für den die der Göttin günstigen Geschicke sie bezeichnet hatten. Wahre Wunder waren seine Ansprachen an die Werkleute. In ihnen blieb keine Spur von den schwierigen Erwägungen der Nacht. Er gab ihnen nur Befehle und Zahlen.

SOKRATES

Das ist die Art Gottes selbst.

PHAIDROS

Seine Reden und ihre Handlungen paßten so glücklich aneinander, daß man hätte denken können, diese Menschen seien seine eignen Glieder. Du würdest nicht glauben, Sokrates, welche Freude es für mich war, eine so wohlgeordnete Sache kennenzulernen. Ich kann die Idee eines Tempels nicht mehr trennen von der seiner Auf richtung. Wenn ich einen sehe, sehe ich eine wunderbare Handlung, ruhmreicher noch als ein Sieg und im noch größeren Gegensatz zu der armseligen Natur. Zerstören und Aufrichten sind gleich an Wichtigkeit. Es braucht Seelen für das eine wie für das andere, aber das Bauen ist meinem Geiste teurer. O sehr glücklicher Eupalinos!

SOKRATES

Was für eine Begeisterung eines Schattens für ein Gespenst! – ich habe diesen Eupalinos nicht gekannt. Das war also ein großer Mann? Ich sehe, er erhob sich bis zur äußersten Kenntnis seiner Kunst. Ist er hier?

PHAIDROS

Er ist ohne Zweifel unter uns; aber ich bin ihm noch nie begegnet in diesem Land.

SOKRATES

Ich weiß auch nicht, was er hier bauen könnte. Sogar die Entwürfe sind hier Erinnerungen. Aber so beschränkt wie wir sind auf die bloßen Annehmlichkeiten des Gesprächs, wäre es mir lieb, ihn zu hören.

PHAIDROS

Ich habe einige von seinen Vorschriften behalten. Ich weiß nicht, ob sie dir gefallen würden. Was mich angeht, so bin ich entzückt von ihnen.

SOKRATES

Kannst du mir einige wiederholen?

PHAIDROS

Höre also. Er sagte oft: Es gibt keine Einzelheiten in der Ausführung.6

SOKRATES

Ich verstehe und ich verstehe nicht. Ich verstehe etwas, aber ich bin nicht sicher, ob es das ist, was er sagen wollte.

PHAIDROS

Dein feiner Geist hat gewiß nicht verfehlt, das Richtige aufzufassen. In einer Seele, so klar und so vollständig wie deine, mag es geschehen, daß die Regel eines Ausführenden eine Kraft und eine Ausdehnung annimmt, die völlig neu sind. Wenn sie wirklich scharf ist und der Arbeit unmittelbar abgewonnen durch einen kurzen Griff des Geistes, der seine Erfahrung zusammenfaßt, ohne sich Zeit zu lassen auszuschweifen, ist sie für den Philosophen ein kostbarer Stoff. Sie ist ein Stück rohen Golds, das ich dir überlasse, Goldschmied!

SOKRATES

Ich war der Goldschmied meiner Ketten! – Aber betrachten wir diese Vorschrift. Die Ewigkeit hier lädt uns ein, mit Worten nicht allzu sparsam zu sein. Diese unendliche Dauer sollte entweder nicht sein oder alle die möglichen Gespräche enthalten, die wahren und die falschen. Ich kann demnach sprechen ohne Furcht, mich zu täuschen; denn wenn ich mich jetzt täusche, werde ich im nächsten Augenblick die Wahrheit sagen, oder wenn ich die Wahrheit sage, etwas später auf das Falsche kommen.

Du wirst sicher bemerkt haben, Phaidros, wie in den wichtigsten Reden, mag es sich nun um Politik handeln oder um die persönlichen Interessen des Bürgers, oder sogar in den zarten Worten, die man zu einem Geliebten spricht in den entscheidenden Augenblicken – sicher hast du bemerkt, welches Gewicht und welche Tragweite die geringsten kleinen Worte annehmen, ja sogar die mindesten Pausen, die sich dazwischenschieben. Und ich, der ich soviel geredet habe im unersättlichen Wunsch zu überzeugen, ich habe mich selbst auf die Länge überzeugt, daß die gewichtigsten Gründe und die am klarsten geführten Entwicklungen wenig Wirkung hervorbringen ohne den Beistand dieser scheinbar unbedeutenden Einzelheiten und daß dagegen mittelmäßige Gründe, entsprechend aufgehängt an Worten voller Takt oder vergoldet wie Kronen, die Ohren für lange hinaus verführen können. Diese Zwischenhändlerinnen halten sich an den Türen des Geistes, sie wiederholen ihm, was ihnen gefällt, sie sprechen es ihm mit Vergnügen wieder vor, so daß er schließlich glaubt, seine eigene Stimme zu hören. Das eigentlich Wirkliche einer Rede ist schließlich dieser Singsang; diese Färbung einer Stimme, die wir mit Unrecht für Einzelheiten und Zufälle halten.

PHAIDROS

Du nimmst einen ungeheuren Umweg, lieber Sokrates. Aber ich sehe dich von so weit zurückkommen mit tausend anderen Beispielen und unter Entfaltung aller Kräfte deiner Rede!

SOKRATES

Betrachte auch die Medizin. Der geschickteste Operateur der Welt kann seine geübten Finger an deine Wunde legen, und mögen seine Hände noch so leicht, so weise, so hellsehend sein wie immer; mag seine Sicherheit, was die Lage der Organe und der Venen angeht und ihre Beziehungen und ihre Tiefe, noch so groß sein; wie groß dann auch die Gewißheit der Handlungen sei, die er an deinem Fleische auszuführen gedenkt, um etwas zu beschneiden oder etwas zu vereinen – wenn dann durch irgendeinen Umstand, mit dem er sich nicht abgegeben hat, ein Faden, eine Nadel, die er benutzt, irgend etwas, was er während der Operation gebraucht, nicht durchaus rein ist, nicht hinreichend gereinigt, tötet er dich. Du bist tot ...

PHAIDROS

Glücklicherweise ist die Sache schon getan; und es ist genau die, die mir widerfahren ist.

SOKRATES

Du bist tot, sage ich. Du bist tot und geheilt nach allen Regeln; denn alle Forderungen der Kunst und der Nützlichkeit waren erfüllt worden. Der Gedanke kann sein Werk mit Liebe betrachten, aber du bist tot. Ein klein winziges Fädchen Seide, schlecht vorbereitet, hat die ganze Wissenschaft zum Mörder gemacht. Diese winzige Einzelheit hat das Werk Äskulaps und der Athene scheitern lassen.7

PHAIDROS

Eupalinos wußte das wohl.

SOKRATES

Es ist so in allen Gebieten mit Ausnahme der Philosophen, die das große Unglück haben, daß sie niemals die Welten, die sie erfinden, zusammenbrechen sehen, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht bestehen.8

PHAIDROS

Eupalinos war der Mann seiner Vorschrift. Er vernachlässigte nichts. Er schrieb vor, die Bretter in Richtung der Holzfaser zu schneiden, damit sie, eingelegt zwischen das Mauerwerk und die Balken, die sich darauf stützen, verhindern, daß die Feuchtigkeit in diesen Fibern aufsteige und, einmal aufgenommen, sie zum Faulen bringe. Er wandte eine ähnliche Aufmerksamkeit an alle empfindlichen Punkte des Bauwerks. Man hätte denken können, es handle sich um seinen eigenen Körper. Während der Arbeit am Bau verließ er nicht den Werkplatz. Ich glaube, er kannte jeden Stein. Er überwachte die Genauigkeit ihrer Behauung; er studierte auf das eingehendste alle Mittel, die man erfunden hatte, daß die Kanten sich nicht überschneiden und daß die Sauberkeit der Fugen nicht leide. Er befahl, im Marmor der Außenwände ziselierte und getriebene Arbeiten auszuführen und die Schrägkanten der Gesimse vorzusehen. Er verwendete die größte Sorgfalt auf den Mörtel, mit dem er die Wände aus Rohstein zudeckte.

Aber alle diese Feinheiten, bestimmt, die Dauer des Bauwerks zu sichern, waren eine Kleinigkeit im Verhältnis zu denen, die er gebrauchte, wenn es sich darum handelte, die Erregungen und Schwingungen vorzubereiten, die in der Seele des künftigen Betrachters seines Werks entstehen sollten.

Er bereitete dem Licht ein unvergleichliches Instrument vor, das es – völlig erfüllt von der verständlichen Form und versehen mit beinah musikalischen Eigenschaften – verbreitete in den Raum, in dem die Sterblichen sich bewegen. Ähnlich jenen Rednern und jenen Dichtern, an die du eben gedacht hast, Sokrates, kannte er die geheimnisvolle Kraft der geringsten Abwandlung. Vor einer mit so viel Gefühl aufgelockerten Masse, die dem Anschein nach so einfach war, wurde keiner gewahr, wie er zu einer Art Glück geführt wurde durch fast unmerkliche Biegungen, durch Wendungen, die kaum merklich waren und zugleich allmächtig; und durch jene tiefe Verbindung des Regelmäßigen mit dem Unregelmäßigen, die er in sein Werk eingeführt und darin verborgen hatte und die ebenso mächtig war wie unbeschreiblich. Sie machten, daß der bewegliche Zuschauer, gelehrig für ihre unsichtbare Gegenwart, von Vision zu Vision fortschritt, von den großen Stillheiten zu den Murmeln des Vergnügens, in demselben Maße, in dem er sich näherte oder zurücktrat oder noch näher herankam, und so lange er sich rührte in dem Umkreis des Werks, von ihm bewegt als Spielzeug seiner eigenen Bewunderung. Ich will, sagte dieser Mann aus Megara, daß mein Tempel die Menschen bewege, wie der geliebte Gegenstand sie bewegt.

SOKRATES

Das ist göttlich. Ich habe, lieber Phaidros, ein Wort gehört, ganz ähnlich und ganz das Gegenteil. Einer unserer Freunde, es hat keinen Sinn, ihn zu nennen, sagte von unserem Alkibiades, dessen Körper so wohlgestaltet war: Wenn man ihn sieht, meint man, Architekt zu werden!... Was beklage ich dich, lieber Phaidros. Du bist noch viel unglücklicher als ich selbst. Ich liebte nur das Wahre, ich habe mein Leben daran gewendet, und in diesen elysäischen Feldern, obgleich ich noch nicht weiß, ob ich nicht einen recht schlechten Tausch gemacht habe, kann ich mir immer noch einbilden, daß mir etwas zu erkennen bleibt. Ich suche gern unter den Schatten den Schatten irgendeiner Wahrheit. Du aber, für den die Schönheit allein alle Wünsche bestimmt hat und alle Handlungen, dir ist hier freilich alles weggenommen. Die Körper sind Erinnerungen, die Gesichter sind Rauch; dieses Licht, so gleichmäßig in allen Teilen, es ist so schwach und so widerwärtig durch seine Blässe. Diese allgemeine Gleichmütigkeit, die es erleuchtet oder vielmehr durchdringt, ohne etwas genauer abzuzeichnen; diese halb durchscheinenden Gruppen, die wir mit unseren Gespenstern bilden; diese abgeschwächten Stimmen, die uns zur Not bleiben und sich anhören, als ob man flüstere in ein dickes Fell oder in die Gleichgültigkeit eines Nebels ... Du mußt leiden, lieber Phaidros, aber noch nicht einmal genug leiden ... Selbst das ist uns untersagt.

PHAIDROS

Ich glaube jeden Augenblick, daß ich im Begriff bin zu leiden ... Aber ich bitte dich, sprich mir nicht von dem, was ich verloren habe; überlaß meine Erinnerung mir selbst. Laß ihr ihre Sonne und ihre Statuen. Oh, was für ein Gegensatz beherrscht mich! Vielleicht gibt es für die Erinnerungen eine Art zweiten Tod, den ich noch nicht erfahren habe. Ja, ich werde wieder lebendig, und ich sehe die vergänglichen Himmel wieder! Das Schönste, was es gibt, kommt nicht vor in der Ewigkéit.

SOKRATES

Wohin verlegst du es denn?

PHAIDROS

Nichts Schönes läßt sich vom Leben abtrennen. Das Leben ist das, was stirbt.

SOKRATES

Man kann so sagen ... Aber die meisten haben von der Schönheit eine irgendwie unsterbliche Vorstellung.

PHAIDROS

Ich will dir sagen, Sokrates, daß die Schönheit nach der Auffassung des Phaidros, der ich war ...

SOKRATES

Platon ist nicht in diesen Gegenden?

PHAIDROS

Ich spreche gegen ihn.9

SOKRATES

Gut also, sprich!

PHAIDROS

... nicht in einigen seltenen Gegenständen wohnt, noch in jenen Vorbildern außerhalb der Natur, in denen die edelsten Seelen gleichsam die Beispiele ihrer Pläne und die geheimnisvollen Grundformen ihrer Arbeiten erkennen; geheiligte Dinge, von denen man mit den Worten des Dichters reden müßte: Gloire du long désir, Idées!10

SOKRATES

Welchen Dichters?

PHAIDROS

Des sehr bewunderten Stephanos11, der so viele Jahrhunderte nach uns erschien. Aber nach meinem Gefühl ist die Idee dieser Ideen, deren Vater unser herrlicher Platon ist, unendlich einfach, zu einfach und gewissermaßen zu rein, um die Vielfalt der Schönheiten zu erklären, den Wechsel der Bevorzugungen bei den Menschen, das Verbleichen von so viel Werken, die bis zu den Wolken erhoben worden waren, die Schöpfungen, die völlig Neues bringen und die Wiederauferstehungen, die vorherzusehen unmöglich ist. Es gibt da noch eine Menge anderer Einwürfe.

SOKRATES

Aber welches ist dein eigener Gedanke?

PHAIDROS

Ich weiß nicht mehr, wie ihn fassen. Nichts umschließt ihn; alles setzt ihn voraus. Er ist in mir wie ich selbst. Er handelt unfehlbar; er urteilt, er wünscht ... Wenn es aber darauf ankommt, ihn auszudrücken, so habe ich ebensoviel Schwierigkeit, wie wenn ich sagen sollte, was mich ausmacht; mich, den ich genau und zugleich so wenig kenne.

SOKRATES

Aber da es von den Göttern aus verstattet scheint, mein lieber Phaidros, daß wir unsere Unterhaltung fortsetzen in dieser Unterwelt, wo wir nichts vergessen haben, wo wir etwas erlernt haben, wo wir Stellen einnehmen, die oberhalb des Menschlichen liegen, sollten wir jetzt wenigstens wissen, was in Wirklichkeit schön ist und was häßlich; was dem Menschen angemessen ist; was ihn in Erstaunen setzen dürfte, ohne ihn gleich zu bestürzen, und Macht über ihn haben darf, ohne daß er darunter zum Toren werde ...

PHAIDROS

Das ist eben das, was ihn ohne Anstrengung über seine Natur hinaushebt.

SOKRATES

Ohne Anstrengung? Über seine Natur hinaus?

PHAIDROS

Ja.

SOKRATES

Ohne Anstrengung? Wie geht das zu? Über seine Natur? Was heißt das? Ich denke unwiderstehlich an einen Menschen, der sich auf seine eigenen Schultern schwingen wollte! ... Angewidert von diesem unsinnigen Bild, frag ich dich, Phaidros, wie soll man aufhören, sich selbst zu sein; und dann zurückkehren zu seinem Wesen? Und wie sollte dies alles geschehen können ohne Gewalt?

Ich weiß wohl, daß das Äußerste in der Liebe, daß die Ausschweifung im Wein oder die erstaunliche Wirkung, die Dämpfe hervorbringen, welche die Seherin einatmet, uns, wie man sagt, außer uns versetzen; und ich weiß noch besser durch meine sehr gewisse Erfahrung, daß unsere Seelen imstande sind, sich im Schoße der Zeit selbst Heiligtümer außerhalb der Dauer zu schaffen, im Innern ewig, vergänglich ihrer Natur nach; wo sie endlich das sind, was sie wissen; wo sie wünschen, was sie sind; wo sie sich geschaffen fühlen von dem, was sie lieben und ihm Licht für Licht zurückgeben, Stille für Stille, sich gebend und sich empfangend, ohne irgend etwas zu entleihen bei dem Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, oder bei den Horen.12 Sie sind dann wie jene schimmernden Stillen, umschrieben von Stürmen, die sich über den Meeren verschieben. Wer sind wir, während diese Abgründe dauern? Sie setzen das Leben voraus, das sie doch unterbrechen ...

Aber diese Wunder, diese Betrachtungen und diese Hingerissenheiten erklären für meinen Blick nicht das seltsame Problem der Schönheit. Ich vermag nicht diese äußersten Zustände der Seele anzuknüpfen an die Gegenwart eines Körpers oder irgendeines Gegenstandes, der sie hervorruft.

PHAIDROS

O Sokrates, du willst immer alles aus dir selber ziehen! ... Du, den ich bewundere unter allen Menschen, der du schöner bist in deinem Leben, schöner in deinem Tode als der schönste Gegenstand in der Sichtbarkeit; großer Sokrates, du anbetungswürdiges Scheusal, allmächtiger Gedanke, der das Gift verwandelt in ein Getränk der Unsterblichkeit, o du, der du, erkaltet und zur Hälfte des Körpers schon Marmor, mit der andern noch sprichst und uns freundschaftlich die Rede eines Gottes hältst, laß mich dir sagen, was vielleicht deiner Erfahrung gefehlt hat.

SOKRATES

Es ist ziemlich spät ohne Zweifel, um mich darüber zu unterrichten. Aber sprich immerhin.

PHAIDROS

Eine Sache, Sokrates, eine einzige Sache hat dir gefehlt. Du warst ein göttlicher Mensch, und du hattest vielleicht nicht nötig, was es an stofflicher Schönheit in der Welt gibt; kaum daß du davon gekostet hast. Ich weiß wohl, du verachtest nicht die Anmut der Landschaften oder den Glanz der Stadt oder die lebendigen Wasser oder den zarten Schatten der Platanen; aber das waren für dich nur entfernte Verzierungen für deine Gedanken, gleichsam die entzückende Umgebung deiner Zweifel, eine Gegend günstig für deine inneren Schritte. Das Schönste, was es gab, lenkte dich weit von sich ab; du sahst immer etwas anderes.

SOKRATES

Den Menschen und den Geist des Menschen.

PHAIDROS

Aber hast du unter den Menschen nicht einige getroffen, deren eigentümliche Leidenschaft für die Gestalten und Erscheinungen dich überraschte?

SOKRATES

Ohne Zweifel.

PHAIDROS

Und die doch an Intelligenz und an Tugenden hinter niemandem zurückstanden?

SOKRATES

Gewiß!

PHAIDROS

Hast du sie höher gestellt oder niedriger als die Philosophen?

SOKRATES

Das kommt darauf an.

PHAIDROS

Schien dir ihr Gegenstand mehr oder weniger der Untersuchung und der Liebe wert als der deinige?

SOKRATES

Es handelt sich nicht um ihren Gegenstand. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es mehrere höchste Güter gibt; aber das, was mir dunkel ist und schwer zu verstehen, ist, daß Menschen, so rein ihrer Intelligenz nach, fühlbare Formen nötig haben und körperliche Anmut, um zu ihrem höchsten Zustand zu gelangen.

PHAIDROS

Eines Tages, lieber Sokrates, sprach ich von eben diesen Dingen mit meinem Freund Eupalinos.

– Phaidros, sagte er mir, je mehr ich über meine Kunst nachdenke, desto mehr übe ich sie aus; je mehr ich denke und handle, desto mehr leide und freue ich mich in meiner Eigenschaft als Architekt; – und um so mehr fühle ich mich selbst mit einer Wollust und einer Klarheit, die immer noch an Sicherheit gewinnen.

Ich verirre mich in lange Wartezeiten; ich finde mich wieder in Überraschungen, die ich mir selbst bereite; und mittels dieser allmählichen Abstufungen in meinem Schweigen schreite ich in meiner eigenen Erbauung vor; ich nähere mich einer so genauen Beziehung zwischen meinen Wünschen und meinen Fähigkeiten, daß es mir scheint, als hätte ich aus der Existenz, die mir gegeben wurde, ein Menschenwerk gemacht.

Indem ich baute, warf er lächelnd hin, habe ich mich, glaube ich, selbst erbaut ...

SOKRATES

Sich erbauen und sich selbst erkennen, sind das zwei getrennte Akte oder nicht?

PHAIDROS

... und er fügte hinzu: Ich habe das Richtige gesucht in den Gedanken, damit sie, in klarer Weise hervorgegangen aus der Betrachtung der Dinge, sich wie von selbst verwandeln in die Handlungen meiner Kunst. Ich habe meine Aufmerksamkeiten verteilt; ich habe die Probleme umgeordnet; ich fange an, wo ich früher aufgehört habe, um ein bißchen weiterzugehen ... Ich bin geizig im Träumen. Wenn ich mir etwas vorstelle, ist es schon immer, als führte ich etwas aus. Niemals mehr betrachte ich in dem formlosen13 Raum meiner Seele jene eingebildeten Bauwerke, die in bezug auf wirkliche Gebäude das sind, was die Schimären und Gorgonen darstellen im Verhältnis zu wirklichen Tieren. Aber das, was ich denke, läßt sich ausfuhren; und das, was ich ausführe, hat mit dem Verständnis zu tun ...14 Und dann ... Höre, Phaidros (sagte er mir noch), der kleine Tempel, den ich einige Schritte von hier für Hermes15 gebaut habe, wenn du wüßtest, was er für mich bedeutet! – Wo der Vorübergehende nichts sieht als eine elegante Kapelle–eine Kleinigkeit: vier Säulen in sehr einfachem Stil –, da habe ich die Erinnerung an einen lichten Tag meines Lebens untergebracht. O süße Verwandlung! Dieser zarte Tempel, niemand ahnt es, ist das mathematische Bildnis eines Mädchens von Korinth, das ich glücklich geliebt habe. Er wiederholt getreu die besonderen Verhältnisse ihres Körpers. Er lebt für mich! Er gibt mir zurück, was ich ihm gegeben habe ...

Deshalb also ist er von so unerklärlicher Anmut, erwiderte ich ihm. Man fühlt wirklich in ihm die Gegenwart einer Person, die erste Blüte einer Frau, die Harmonie eines entzückenden Wesens; er erweckt ungefähr eine Erinnerung, die es nicht bis zu ihrem Umriß bringt; und dieser Anfang eines Bildnisses, das du in seiner Vollendung besitzt, genügt, die Seele zu locken und zugleich zu bestürzen. Wenn ich mich meinen Gedanken überlasse, so möchte ich ihn, weißt du, vergleichen mit einem Hochzeitsgesang, in den sich Flöten mischen, und ich fühle ihn in mir aufkommen.

Eupalinos sah mich mit einer Freundschaft an, die bestimmter schien und zärtlicher.

– Oh, sagte er, was bist du gemacht, mich zu verstehen. Niemand hat sich mehr als du meinem Daimon genähert. Ich wollte dir alle meine Geheimnisse anvertrauen; aber von den einen wüßte ich dir selber nicht angemessen zu sprechen, so sehr entziehen sie sich der Sprache; die anderen laufen Gefahr, dich zu langweilen, denn sie beziehen sich auf die Verrichtungen und die besonderen Kenntnisse in meiner Kunst. Ich kann dir nur andeuten, welche Wahrheiten, wenn nicht Geheimnisse du da eben gestreift hast, da du mir von Musik sprachst, von Gesängen, von Flöten im Hinblick auf meinen jungen Tempel. Sag mir (da du so empfänglich bist für die Wirkungen der Architektur), hast du nicht beobachtet, wenn du dich in dieser Stadt ergingst, daß unter den Bauwerken, die sie ausmaeben, einige stumm sind; andere reden; und noch andere schließlich, und das sind die seltensten, singen sogar? – Diese äußerste Belebtheit geht nicht von ihrer Bestimmung aus oder von ihrer allgemeinen Gestalt, ebensowenig wie das, was sie zum Schweigen zwingt. Das hängt ab von dem Talent des Erbauers oder vielmehr von der Gunst der Musen.

– Jetzt, da du mich darauf aufmerksam machst, merke ich es selbst in meinem Geist.

– Gut. Diejenigen von den Bauwerken, die weder sprechen noch singen, verdienen nichts als Verachtung; das sind tote Dinge, geringer im Range als jene Haufen von Bruchsteinen, die die Karren der Unternehmer ausspeien und die wenigstens durch die zufällige Verteilung, die sie im Falle annehmen, das neugierige Auge unterhalten ... Was die Denkmäler angeht, die sich begnügen zu reden, so habe ich, wenn ihre Rede nur klar ist, alle Achtung für sie. Sie sagen zum Beispiel: hier vereinigen sich die Händler. Hier halten die Richter ihre Überlegungen ab. Hier seufzen die Gefangenen. Hier können die, die die Ausschweifung lieben ... (ich sagte da zu Eupalinos, daß ich in dieser letzten Art recht beachtenswerte gesehen hätte. Aber er hörte mich nicht). Diese Kaufhallen, diese Gerichtshöfe, diese Gefängnisse reden, wenn die, die sie erbauen, sich darauf verstehen, die genaueste Sprache. Die einen ziehen sichtlich eine bewegte, immerfort sich erneuernde Menge an, sie bieten ihnen Vorhallen und Eingänge dar; sie laden sie ein, durch Türen und durch die leicht zugänglichen Stiegen einzutreten in ihre geräumigen und wohlerleuchteten Säle, Gruppen zu bilden und sich den Gärungen der Geschäfte zu überlassen ... Die Wohnungen der Gerechtigkeit aber sollen den Augen Strenge und Gerechtigkeit unserer Gesetze vorstellen. Was ihnen wohl ansteht, ist die Majestät der bloßen Massen und die ungeheure Geschlossenheit der Mauern. Das Schweigen dieser öden Wandlungen ist nur von Zeit zu Zeit unterbrochen durch die Drohung einer geheimnisvollen Tür oder durch die traurigen Zeichen, die die Dunkelheit eines engen. Fensters macht, das von schweren Eisen vergittert ist. Alles hier fällt Urteil, spricht von Strafe. Der Stein spricht gewichtig aus, was er umschließt. Die Mauer ist unerbittlich, und dieses Werk, der Wahrheit so genau entsprechend, bekennt seine strenge Bestimmung.

SOKRATES

Mein Gefängnis war nicht so schrecklich ... Es scheint mir, als sei das ein trübseliger Ort gewesen. An sich selbst gleichgültig.

PHAIDROS

Wie kannst du das sagen.

SOKRATES

Ich gestehe, ich habe ihn wenig angesehen. Ich sah nur meine Freunde, die Unsterblichkeit und den Tod.

PHAIDROS

Und ich war nicht bei dir.

SOKRATES

Platon war auch nicht da, Aristipp16 auch nicht ... Aber der Saal war voll, die Mauern waren mir verstellt. Das Abendlicht färbte die Steine der Wölbung im Ton des Fleisches ... In Wirklichkeit, lieber Phaidros, gab es nie ein anderes Gefängnis für mich als meinen Körper. Aber komm zurück auf das, was dir dein Freund gesagt hat. Ich glaube, er war im Begriff, dir von den köstlichsten Bauwerken zu sprechen, und das würde ich gerne anhören.

PHAIDROS

Gut, ich fahre fort.

– Eupalinos entwickelte mir ein prachtvolles Bild von den gewaltigen Bauten, die man an den Häfen bewundert. Sie erstrecken sich hinaus ins Meer. Ihre Arme von einer reinen und harten Weiße umschreiben die besänftigten Becken, deren Ruhe sie schützen. Sie bewachen sie in Sicherheit, friedlich erfüllt mit Galeeren, geschützt durch künstliche Klippen und dröhnende Dämme. Hohe Türme, wo jemand wacht, wo die Flamme der Pinienzapfen in undurchdringlichen Nächten tanzt und wütet, überschauen die Weite vom Rande der beschäumten Mole ... Solche Werke zu wagen, heißt Neptun selbst herausfordern. Man muß die Gebirge karrenweise in die Wasser schütten, die man so einfassen will. Man muß die starren Trümmer, die man den Tiefen der Erde entrissen hat, entgegensetzen wider die bewegliche Tiefe des Meeres und die Anstürme seiner eintönigen Reiterei, die der Wind drängt und überspringt ... Diese Häfen, sagte mir mein Freund, diese geräumigen Häfen, welche Klarheit vor dem Geist! Wie sie ihre Teile entfalten! Wie sie sich herablassen zu ihrer Aufgabe! – Aber die Wunder, die dem Meer eigentümlich sind, und die zufälligen Gestaltungen der Ufer sind von den Göttern dem Architekten gnädig angeboten. Alles trägt zu der Wirkung bei, die diese edlen Gebilde, halb der Natur entstammend, auf die Seele ausüben: die Gegenwart des reinen Horizontes, das Heraufkommen und Verschwinden eines Segels, die Erregung, die mit der Ablösung von der Erde gegeben ist, der Beginn der Gefahren, die schimmernde Schwelle unbekannter Gegenden; und selbst die Habgier der Menschen, ganz bereit, sich zu verwandeln in eine abergläubische Furcht, so wie sie ihr nachgeben und den Fuß auf das Schiff setzen ... Das sind in der Tat wunderbare Schauplätze; aber die Gebäude der eigentlichen Kunst sind noch höher zu stellen. Sollten wir auch gezwungen sein zu einer für uns reichlich schwierigen Überwindung, muß man doch fähig sein, sich dem Zauber des Lebens und dem unmittelbaren Genuß zu entziehen. Das Schönste, das es gibt, ist notwendigerweise tyrannisch ...

– Ich aber sagte Eupalinos, daß ich nicht einsähe, warum es so sein müsse. Er antwortete mir, daß die wirkliche Schönheit genau ebenso selten sei, wie unter den Menschen derjenige, der imstande ist, eine Anstrengung gegen sich selbst zu unternehmen, das heißt ein bestimmtes Selbst zu wählen und sich aufzuerlegen. Darauf, den goldenen Faden des Gedankens wieder aufnehmend: Ich komme jetzt, sagte er, auf jene Meisterwerke, die ganz und gar einem zu verdanken sind und von denen ich dir eben gesagt habe, daß sie aus sich selbst zu singen scheinen.

War das ein eitles Wort, Phaidros? Waren das Ausdrücke, leicht hingeschaffen vom Gespräch, die schnell schmücken, aber nicht aushalten, bedacht zu sein? Gewiß nicht, Phaidros, nein, sicher nicht! ... Und da du sprachst (zuerst und unwillkürlich) von Musik bei Gelegenheit meines Tempels, so war es eine göttliche Analogie, die dich berührt hat. Diese Hochzeit der Gedanken, die sich von selbst vollzogen hat auf deinen Lippen als zerstreute Handlung deiner Stimme; diese scheinbar zufällige Verbindung so verschiedener Gegenstände beruht in einer wunderbaren Notwendigkeit, die in ihrer Tiefe auszudenken fast unmöglich ist, aber deren überredende Gegenwart du dunkel empfunden hast. Stelle dir also mit Stärke vor, was ein Sterblicher wäre, rein genug, verständig genug, fein und zähe genug, überdies mächtig ausgerüstet von Minerva17, um bis an den Rand seines Wesens durchzudenken, bis an den Rand der Wirklichkeit, diese seltsame Annäherung der sichtbaren Formen mit der hinschwindenden Ansammlung sich vollendender Töne; bedenke, zu welchem heimlichen und allgemeinen Urgrund er vordringen würde, an welchem köstlichen Punkt er anlangen müßte; welchen Gott er finden würde in seinem eigenen Fleisch! Und sich in Besitz nehmend endlich in diesem Zustand göttlicher Zweideutigkeit, würde er sich dann vornehmen, ich weiß nicht was für Denkmäler aufzurichten, deren verehrungswürdige und anmutige Gestalt unmittelbar teilnehmen würde an der Reinheit des Tones in der Musik oder der Seele mitteilen müßte die Erregung eines unerschöpflichen Einklangs – denke, Phaidros, was für ein Mann, stell dir vor, was für Gebäude! ... Und was für Genüsse!

– Und du, sagte ich ihm, du begreifst das?

– Ja und nein. Ja, als Traum; nein, als Wissenschaft.

– Ziehst du irgendwelchen Nutzen aus diesen Gedanken?

– Ja, als Stachel. Ja, als Urteil. Ja, als Qual ... Aber ich habe nicht die Mittel, eine Analyse, wie es notwendig wäre, mit einer Entzückung zu verbinden. Manchmal nähere ich mich dieser kostbaren Fähigkeit ... Einmal war ich ganz dicht daran, sie zu ergreifen, aber nur, wie man im Schlaf einen geliebten Gegenstand besitzt. Ich kann dir nur sprechen von der Annäherung an eine so große Sache. Wenn sie sich ankündigt, lieber Phaidros, unterscheide ich mich schon so sehr von mir selbst, wie sich eine gespannte Saite unterscheidet von ihrem eigenen lockeren und gebogenen Zustand. Ich bin ein ganz anderer, als ich bin. Alles ist klar und scheint leicht. Meine Kombinationen folgen einander, erhalten sich in meinem inneren Licht. Ich fühle, wie mein Bedürfnis nach Schönheit meinen unbekannten Fähigkeiten18 entsprechend und imstand ist, aus sich selbst die Gestalten hervorzubringen, die ihm Genugtuung sind. Ich sehne mich mit meinem ganzen Wesen ... Die Mächte kommen herbeigestürzt. Du weißt wohl, daß die Mächte der Seele in seltsamer Weise aus der Nacht hervorgehen. Sie rücken vor durch Täuschung bis an die Grenzen des Wirklichen. Ich rufe sie, ich beschwöre sie durch mein Schweigen ... Da sind sie, ganz beladen mit Klarheit und mit Irrtum. Das Wahre, das Falsche, sie glänzen gleich hell in ihren Augen, in ihren Kronen. Sie erdrücken mich mit ihren Gaben, sie belagern mich mit ihren Flügeln ... Phaidros, dies ist die Gefahr! Das ist das Schwierigste auf der Welt! ... O Augenblick von äußerster Wichtigkeit, o Zerrissenheit ohnegleichen! ... Diese unzähligen und geheimnisvollen Begünstigungen! – ich bin weit entfernt, sie so, wie sie sind, annehmen zu können: Abgeleitet einzig aus der ungeheuren Sehnsucht und fast einfältig geformt durch die grenzenlose Erwartung der Seele, muß ich sie aufhalten, o Phaidros, und mich so benehmen, daß sie auf mein Zeichen warten. Und nachdem ich sie hervorgerufen durch eine Art Unterbrechung meines Lebens (anbetungswürdige Ausschaltung der gewöhnlichen Dauer), geht mein Wille so weit, daß ich auch noch das Unteilbare teile und daß ich mäßige und unterbreche die Geburt selbst der Ideen ...

– O Unglücklicher, sagte ich ihm, was willst du tun in der Zeit eines Blitzes?

– Frei sein! Es gibt eine Menge Dinge, fuhr er fort, es gibt ... alle Dinge in diesem einen Augenblick; und alles, was die Philosophen beschäftigt, geht vor sich zwischen dem Blick, der einen Gegenstand trifft, und der Erkenntnis, die daraus hervorgeht ... um immer vorzeitig zu Ende zu sein.

– Ich verstehe dich nicht. Du strengst dich also an, diese Ideen zu verlangsamen.

– Ich muß, ich hindere sie daran, mich zu befriedigen, ich schiebe das reine Glück hinaus.

– Warum? Woher nimmst du diese grausame Kraft?

– Eines ist wichtig vor allem: zu erreichen, daß das, was sein wird, mit der ganzen Kraft seiner Neuheit genüge den vernünftigen Anforderungen dessen, was gewesen ist. Wie soll man da nicht dunkel sein? ... Hör zu: ich habe eines Tages einen bestimmten Strauß Rosen gesehen, und ich habe davon ein Wachsbild gemacht. Da dieses Wachs fertig war, habe ich es in eine Sandform getan. Die eilende Zeit macht die Rosen zunichte; und das Feuer gibt das Wachs sofort seiner ungestalteten Natur zurück. Aber dieses Wachs, indem es ausfloß aus seiner Form, erlaubte der blendenden Flüssigkeit der Bronze, in dem verhärteten Sand das geringste Blütenblatt in einer hohlen Ebenbürtigkeit nachzuformen.

– Ich verstehe, Eupalinos, dieses Rätsel ist mir durchsichtig; der Mythos ist leicht zu übersetzen.

Diese Rosen, die frisch waren, und die vor deinen Augen hinschwinden, bedeuten sie nicht alle Dinge, ja, das bewegliche Leben selbst? – Dieses Wachs, das du modelliert hast, ihm einprägend deine geschickten Finger, während deine Augen an den Blütenkelchen saugten und mit Blumen beladen zurückkamen zu deinem Werk – ist das nicht ein Gleichnis deiner täglichen Arbeit, reich durch den Umgang deiner Handlungen mit deinen neuen Beobachtungen? – Das Feuer, das ist die Zeit selbst, die völlig zerstören würde oder zerstreuen in der weiten Welt sowohl die wirklichen Rosen wie die Rosen aus Wachs, wenn nicht dein Wesen in einer gewissen Weise, ich weiß nicht wie, bewahren würde die Form deiner Erfahrung und die geheime Dauer ihrer Ursache. Was das flüssige Erz angeht, so bedeutet es gewiß die außergewöhnlichen Mächte deiner Seele und den aufgeregten Zustand eines Dings, das sich gebären will. Dieser glühende Strom würde sich vergeblich in Wärme und Glanz verschwenden und würde nur Barren zurücklassen oder unregelmäßige Gußstücke, wenn du nicht verstündest, ihn zu führen durch geheimnisvolle Kanäle, daß er erkalte und sich verteile in den genauen Gußmulden deiner Weisheit. So ist es also notwendig, daß dein Wesen selbst sich teile, im gleichen Augenblick heiß werde und kalt, flüssig und fest, frei und gebunden – Rosen, Wachs und Feuer; Gußform und Metall von Korinth.

– Genau das. Aber ich habe dir gesagt, daß ich nur versuchsweise darangehe.

– Wie stellst du’s an?

– Wie es eben geht.

– Aber sag mir, wie versuchst du es?

– Höre also weiter, da du es wünschest ... Ich weiß nicht, wie ich dir klarmachen soll, was mir selber nicht klar ist. – O Phaidros, wenn ich eine Wohnstätte erfinde (sei es für die Götter, sei es für einen Menschen), und wenn ich diese Form suche mit Liebe, mich bemühend, einen Gegenstand hervorzubringen, der den Blick erfreue und sich mit dem Geiste unterhalte, der in Einklang sei mit der Vernunft und mit den zahlreichen Bedingungen, die üblich sind, ... so muß ich dir eine befremdliche Sache sagen: es scheint mir, als sei mein eigener Körper mit dabei ... Laß mich dir sagen, dieser Körper ist ein wunderbares Instrument, und ich überzeuge mich immer mehr, daß die Lebendigen, die ihn in ihrem Dienste haben, ihn nicht völlig ausnutzen. Sie gewinnen ihm nur Vergnügen ab, Schmerzen und die unerläßlichen Anwendungen, wie eben zu leben. Manchmal verwechseln sie sich mit ihm; gelegentlich vergessen sie einige Zeit seine Existenz; und abwechselnd zu stumpf, abwechselnd reine Geister, wissen sie gar nicht, über welche allseitigen Beziehungen sie verfügen19, aus was für einem unerhörten Stoff sie gemacht sind. Eben durch ihn nehmen sie teil an dem, was sie sehen, und an dem, was sie berühren; sie sind Stein, sie sind Bäume; sie tauschen Berührungen und Hauche aus mit dem Stoff, der sie enthält. Sie berühren, sie sind berührt; sie sind schwer, und sie heben Gewichte; sie rühren sich und tragen mit sich herum ihre Tugenden und ihre Laster; und wenn sie in Träumerei verfallen oder in den unbestimmten Schlaf, so wiederholen sie die Natur der Wasser, werden Sand und Wolken ... Bei anderen Gelegenheiten versammeln sie in sich den Blitz und schleudern ihn! ...

Aber ihre Seele weiß nicht mit Genauigkeit, was mit dieser Natur, die ihr so nahe ist und die sie durchdringt, zu beginnen. Sie eilt voraus, sie bleibt zurück, sie scheint den Augenblick selbst zu fliehen. Sie erhält von ihm den Anstoß und die Antriebe, die es mit sich bringen, daß sie sich von sich selbst entfernt und sich in der eigenen Leere verliert, wo sie Dünste zur Welt bringt. Ich dagegen, unterrichtet durch meine Irrtümer, ich sage im hellsten Licht und wiederhole mir jeden Morgen:

»O mein Körper20, der du mir jeden Augenblick zum Bewußtsein bringst dieses Temperament meiner Neigungen, dieses Gleichgewicht deiner Organe, diese richtigen Verhältnisse deiner Teile, die es mit sich bringen, daß du bist und dich immerfort erneuerst im Schoße der beweglichen Dinge: wache über meinem Werk; flöße mir dumpf die Forderungen der Natur ein, und übertrage mir diese große Kunst, mit der du ausgestattet bist, so wie du bestehst durch sie, die Jahreszeiten zu überdauern und dich zurückzunehmen aus den Zufällen. Gib mir, daß ich in deiner Verbindung das Gefühl der wirklichen Dinge erkenne; mäßige, bestärke, sichere meine Gedanken. So vergänglich du bist, du bist es um vieles weniger als meine Träume. Du dauerst ein wenig länger als eine Einbildung; zu zahlst für meine Handlungen, du büßest für meine Fehler: Instrument des Lebens, das du bist, du bist für jeden von uns der einzige Gegenstand, der sich mit dem Weltall vergleichen läßt. Der ganze Himmelsumkreis hat dich zur Mitte; o Gegenstand der gegenseitigen Aufmerksamkeit eines ganzen gestirnten Himmels! Du bist das Maß der Welt21, von der meine Seele mir nur das Äußere vorstellt. Sie kennt sie nur oberflächlich und so unzulänglich22, daß sie manchmal imstande ist, sie unter die Träume zu stellen; sie zweifelt an der Sonne ... Von sich eingenommen durch ihre vergänglichen Hervorbringungen, glaubt sie sich fähig, eine Unzahl verschiedener Realitäten zu schaffen; sie bildet sich ein, es gäbe andere Welten, aber du rufst sie zurück zu dir, wie der Anker das Schiff zu sich zurückruft ...

Meine Intelligenz, besser unterrichtet, wird nicht aufhören, teurer Körper, dich von jetzt ab zu sich zu rufen; noch wirst du, hoffe ich, unterlassen, ihr deine Gegenwart, dein Drängen, deine greifbaren Bindungen zur Verfügung zu stellen. Denn endlich haben wir das Mittel gefunden, du und ich, uns verbunden zu halten, und den unauflösbaren Knoten unserer Unterschiede: ein Werk soll unsere Tochter sein. Wir haben jeder nach unserer Seite hin gehandelt. Du lebtest, ich träumte. Meine weiten Träumereien führten zu einer grenzenlosen Ohnmacht. Aber das Werk, das ich jetzt hervorbringen will und das nicht von selbst geschieht, möge es uns zwingen, uns gegenseitig zu antworten, und einzig aus unserem Einverständnis hervorgehen. Aber dieser Körper und dieser Geist, aber diese Gegenwart, unbezwinglich gegenwärtig, und diese schöpferische Abwesenheit, die sich um das Wesen streiten und die man endlich zusammenfassen muß; aber dieses Begrenzte und dieses Unendliche, das wir hinzu bringen, jeder nach seiner Natur, jetzt müssen sie sich verbinden in einer wohlgefügten Ordnung23; und wenn sie durch die Gnade der Götter verständigt arbeiten, wenn sie untereinander das Überkommene und die Gnade austauschen, die Schönheit und die Dauer, die Bewegungen gegen die Linien und die Zahlen gegen die Gedanken, so wäre es so weit, daß sie endlich ihre wirkliche Beziehung entdeckt hätten, ihre Handlung. Mögen sie sich verabreden, mögen sie einander verstehen mittels des Stoffs meiner Kunst. Die Steine und die Kräfte, die Profile und die Massen, die Lichter und die Schatten, die künstlichen Zusammenfassungen, die Täuschungen der Perspektive und die Wirklichkeiten der Schwerkraft, solches sind die Gegenstände ihres Umgangs, dessen Gewinn endlich jener unverderbliche Reichtum sei, den ich Vollendung nenne.«

SOKRATES

Was für ein beispielloses Gebet! ... und dann?

PHAIDROS

Er schwieg.

SOKRATES

Alles das klingt seltsam an diesem Ort. Nun, da wir des Körpers beraubt sind, müssen wir uns offenbar beklagen und jenes Leben, das wir verlassen haben, mit demselben neidischen Aug betrachten, mit dem wir früher hinübersahen nach dem Garten der seligen Schatten ... Weder die Werke noch die Wünsche folgen uns hierher nach; aber es ist Platz für die Reue.

PHAIDROS

Diese Anlagen sind voll von unseligen Ewigen.

SOKRATES

Wenn ich diesem Eupalinos begegnete, so würde ich gerne noch etwas von ihm erfahren.

PHAIDROS

Er muß der Unseligste unter den Seligen sein. Was würdest du noch von ihm erfahren wollen?

SOKRATES

Sich etwas klarer auseinanderzusetzen in bezug auf jene Bauwerke, von denen er sagte, daß sie singen.

PHAIDROS

Ich sehe, dieses Wort geht dir nach.

SOKRATES

Es gibt Worte, die sind Bienen für den Geist. Sie haben die Zudringlichkeit von Fliegen und bedrängen ihn. Diese da hat mich gestochen.24

PHAIDROS

Und was sagt der Stich?

SOKRATES

Er reizt mich, über die Künste zu schwätzen. Ich halte sie aneinander, ich suche die Unterschiede; ich möchte den Gesang von Säulen25 hören und mir im klaren Himmel das Denkmal einer Melodie vorstellen. Diese Einbildung führt mich leicht dazu, auf die eine Seite die Musik zu stellen und die Architektur, auf die andere die anderen Künste. Eine Malerei, lieber Phaidros, bedeckt nur eine Oberfläche, die einer Bildtafel oder einer Mauer; und auf ihr täuscht sie Gegenstände vor oder Personen. Selbst der Bildhauer schmückt immer nur einen Teil unseres Ausblicks. Aber ein Tempel, wenn man an ihn heran tritt, oder gar das Innere dieses Tempels, bildet für uns eine Art von vollständiger Großheit, in der wir leben ... Wir sind dann, wir begegnen uns, wir leben im Werk eines Menschen! Es gibt keinen Teil innerhalb dieser dreifachen Ausdehnung, der nicht erkannt und überlegt worden wäre. Wir atmen hier gewissermaßen den Willen und die Vorliebe eines bestimmten Menschen. Wir sind ergriffen und gemeistert von den Verhältnissen, die er gewählt hat. Wir können ihm nicht entgehen.

PHAIDROS

Ohne Zweifel.

SOKRATES

Aber siehst du nicht, daß uns das Gleiche auch in anderen Bedingungen geschieht?

PHAIDROS

Welches Gleiche?

SOKRATES

Im Werke eines Menschen zu sein wie die Fische in der Welle, vollständig in ihm zu baden, in ihm zu leben, ihm zu gehören.

PHAIDROS

Ich errate es nicht.

SOKRATES

Wirklich! So hast du dies niemals erfahren, wenn du einer feierlichen Versammlung beiwohntest, wenn du teilnahmst an einem Gastmahl und wenn das Orchester den Saal mit Tönen erfüllte und mit Erscheinungen? Kam es dir dann nicht vor, als ob der ursprüngliche Raum ersetzt worden wäre durch einen verständlichen und veränderlichen Raum; oder vielmehr als ob die Zeit selbst dich auf allen Seiten umgäbe? Lebtest du nicht in einem beweglichen Gebäude, das immerfort erneuert war und wieder erbaut in sich selbst, völlig hingegeben an die Verwandlungen einer Seele, welche eine Raumseele war? War das nicht eine immerfort wechselnde Fülle, gleich einer unaufhörlichen Flamme, die dein Wesen erleuchtete und erwärmte, indem sie in dir immerfort Erinnerungen verzehrte, Vorgefühle, Rückblicke und Voraussichten und dazu eine Unzahl unbestimmterer Erregungen? Und diese Augenblicke und was ihnen zum Schmucke diente; diese Tänze ohne Tänzerinnen, diese Statuen ohne Körper und ohne Gesicht (und dennoch so fein gezeichnet), schien es dir nicht, als ob sie dich umgäben, dich, der wie ein Sklave unter die verteilte Gegenwart dieser Musik geraten war? Diese unerschöpfliche Entstehung von Zaubereien, warst du nicht mit ihr eingeschlossen und gezwungen, darin zu sein wie eine Pythia in der Kammer voll Dämpfen?

PHAIDROS

Ja, gewiß. Und ich habe sogar beobachtet, daß man in einer solchen Eingeschlossenheit und in der Welt, die die Töne hervorbringen, da oder dort, außer sich ist.

SOKRATES

Mehr noch! Hast du diese ganze Bewegung nicht wie etwas Unbewegliches empfunden, gemessen an der noch größeren Beweglichkeit deines Gedankens?

Hast du nicht in gewissen Augenblicken, gewissermaßen bei dir selbst, diesen ganzen Zusammenhang von Erscheinungen, Übergängen, Widersprüchen und unbeschreiblichen Ereignissen als eine Sache empfunden, von der man sich abwenden und zu der man zurückkehren kann; auf einem Weg gewissermaßen, auf dem man sie immer wieder als die gleiche wiederfindet?

PHAIDROS

Ich gestehe, es ist mir geschehen, mich abzulösen von der Musik, ohne daß ich es recht wußte, sie sozusagen zu lassen, wo sie war ... Es zerstreut mich, sie im Stich zu lassen auf ihre eigene Aufforderung hin. Später finde ich mich dann zu ihr zurück.

SOKRATES

Diese ganze Beweglichkeit bildet also etwas wie ein Festes. Sie scheint für sich zu bestehen wie ein Tempel, der um deine Seele gebaut ist; du kannst heraustreten und dich entfernen; du kannst zurückkehren durch eine andere Tür.

PHAIDROS

Das ist richtig. Man kommt sogar niemals durch dieselbe Tür zurück.

SOKRATES

Es gibt also zwei Künste, die den Menschen in den Menschen einschließen, oder vielmehr die das Wesen einschließen in sein Werk und die Seele einschließen in seine Handlungen und in die Ergebnisse seiner Handlungen. So wie unser Körper einstmals völlig eingeschlossen war in die Schöpfung seines Auges und ganz umgeben von dem, was er sah. Durch zwei Künste umgibt er sich also auf verschiedene Arten mit Gesetzen und inneren Willensakten, die sich in dem einen oder anderen Stoff darstellen, im Stein oder in der Luft.

PHAIDROS

Ich sehe wohl, Musik wie Architektur besitzen jede diese tiefe Verwandtschaft mit uns.

SOKRATES

Alle beide erfüllen sie einen anderen Sinn in seiner Ganzheit. Wir entgehen der einen nur durch einen inneren Einschnitt; der anderen durch Bewegungen; und jede von ihnen erfüllt unsere Erkenntnis und unseren Raum mit künstlichen Wahrheiten und mit Gegenständen von vorzüglich menschlicher Bedeutung.

PHAIDROS

Eine und die andere also, indem sie sich unmittelbar auf uns beziehen ohne Zwischenglied, müßten zueinander eigentümlich einfache Beziehungen eingehen.

SOKRATES

Ganz richtig. Du sprichst es aus: ohne Zwischenglied. Denn die sichtbaren Gegenstände, welche die übrigen Künste und die Poesie für sich gebrauchen: die Blumen, die Bäume, die lebenden Wesen (und selbst die unsterblichen) hören nicht auf, wenn sie im Werk eines Künstlers vorkommen, sie selbst zu sein und ihre Natur und ihre eigene Bedeutung mit den Plänen desjenigen zu mischen, der sie anwendet, um mittels ihrer seinen Willen auszudrücken. So zum Beispiel setzt ein Maler, welcher wünscht, daß an einer bestimmten Stelle seines Bildes Grün vorkomme, einen Baum dorthin; er sagt damit eine Kleinigkeit mehr, als er im Grunde hatte sagen wollen. Er fügt seinem Werk alle die Ideen hinzu, die von der Idee eines Baumes abgeleitet sind, und kann sich nicht auf das beschränken, was an sich genügt. Er kann die Farbe nicht trennen von irgendeinem Wesen.

PHAIDROS

Darin liegt der Vorteil und auch das Übel, den wirklichen Gegenständen unterworfen zu sein; jeder von ihnen enthält eine Mehrheit der Dinge für die Menschen und kann eintreten in eine Mehrheit verschiedener Nützlichkeiten für sein Vorhaben ... Was du da vom Maler sagst, läßt mich auch an die Kinder denken, von denen ein Pädagoge verlangt, sie möchten nachdenken über Achilles und die Schildkröte und die Zeit feststellen, die ein Held braucht, um dieses schwerfällige Tier einzuholen.26 Statt nun die Fabel aus ihrem Geist zu verdrängen und einfach nur die Zahlen und die arithmetischen Verhältnisse zu behalten, stellen sie sich einerseits die geflügelten Füße vor, anderseits die langsame Schildkröte; sie kriechen nach und nach in beide Wesen hinein, denken das eine, denken das andere; und so schaffen sie zwei Zeiten und zwei Räume, die miteinander unverträglich sind, und geraten niemals in jenen Zustand, in dem es weder Achilles noch die Schildkröte gibt, noch selbst die Zeit; keine Schnelligkeit, aber Zahlen und Gleichungen von Zahlen.

SOKRATES

Aber die Künste, von denen wir sprechen, sollen im Gegenteil mittels Zahlen und Zahlenbeziehungen in uns nicht so sehr eine Fabel hervorbringen als vielmehr die heimliche Macht, aus der alle Fabeln hervorgehen. Sie erheben die Seele in die schöpferische Tonart, machen sie widerhallend und fruchtbar. Sie antwortet auf diese stoffliche und reine Harmonie, die sie ihr mitteilen, durch einen unerschöpflichen Überfluß von Auslegungen und Mythen, die sie ohne Anstrengungen erzeugt, und sie schafft aus dieser unwiderstehlichen Bewegung, welche die überlegten Formen und die richtigen Intervalle ihr auferlegen, eine Unendlichkeit eingebildeter Ursachen, die sie in Stand setzen, tausend wunderbar fertige und wie im Guß geschaffene Leben zu leben.

PHAIDROS

Weder Malerei noch Dichtung haben diese Vorzüge.

SOKRATES

Sie haben die ihrigen, gewiß! Diese aber wohnen sozusagen in der Gegenwart. Ein schöner Körper will an sich selbst angesehen sein und bietet uns einen wunderbaren Augenblick: es ist eine Einzelheit der Natur, die der Künstler wie durch ein Wunder festgehalten hat ... Aber die Musik und die Architektur lassen uns an etwas anderes denken als an sie selbst; sie sind mitten in dieser Welt wie Denkmäler einer anderen Welt oder vielmehr wie da und dort verstreute Beispiele einer Struktur und einer Dauer, die nicht den Wesen zukommt, sondern den Formen und den Gesetzen. Sie scheinen bestimmt, uns ohne Umweg zu erinnern, die eine an die Bildung des Weltalls, die andere an seine Ordnung und Beständigkeit; sie rufen die Gebilde des Geistes hervor und seine Freiheit, die dieser Ordnung nachgeht und sie wiederherstellt auf tausend Arten; sie vernachlässigen also die besonderen Erscheinungen, mit denen die Welt und der Geist im allgemeinen beschäftigt sind: Pflanzen, Tiere und Leute ... Ich habe sogar zuweilen beobachtet, daß, wenn es mir geschah, Musik anzuhören mit einer Aufmerksamkeit, die ihrer Vielgestaltigkeit gleichkam, ich die Töne der Instrumente gewissermaßen nicht mehr als Eindrücke meines Gehörs wahrnahm. Die Symphonie selbst ließ mich den Sinn des Hörens vergessen. Sie verwandelte sich so rasch und so vollkommen in belebte Wahrheiten, in Abenteuer des Weltalls oder in abstrakte Zusammenhänge, daß ich das sinnliche Mittel, den Ton, überhaupt nicht mehr wahrnahm.

PHAIDROS

Du willst sagen, nicht wahr, daß die Statue an die Statue denken macht, daß man aber bei Musik nicht an die Musik denkt oder vor einem Bauwerk nicht an ein anderes. Gerade deshalb kann, wenn du recht hast, eine Fassade singen. Aber ich frage mich umsonst, wie diese seltsamen Wirkungen möglich sind.

SOKRATES

Mir will scheinen, das haben wir schon herausgefunden.

PHAIDROS

Ich habe nur ein unklares Gefühl davon.

SOKRATES

Was haben wir gesagt? – Dem Stein und der Luft verständliche Formen mitteilen; sehr wenig dabei von den wirklichen Dingen entlehnen, die Welt so wenig wie möglich nachahmen; das wäre also das, was die beiden Künste gemein haben.

PHAIDROS

Ja. Diese Negation haben sie gemein.

SOKRATES

Aber nun im Gegenteil wesentlich menschliche Gegenstände hervorbringen; fühlbare Mittel anwenden, die nicht auf Ähnlichkeiten mit fühlbaren Dingen beruhen, die nicht Doppelgänger sind bekannter Wesen; den Gesetzen Gestalt verleihen oder von den Gesetzen selbst ihre Gestalt herleiten – ist auch nicht das Sache der einen wie der andern?

PHAIDROS

Ja, auch darin kann man sie vergleichen.

SOKRATES

Das Geheimnis steckt also in diesen wenigen Ideen. Die Analogie, die wir verfolgen, beruht in diesen Gestaltungen, in diesen halb greifbaren, halb abstrakten Geschöpfen, die in den beiden Künsten eine so große Rolle spielen: Es gibt eigentümliche Erscheinungen, wahrhafte Schöpfungen des Menschen, die Anteil haben am Gesicht und am Tastsinn – oder aber am Gehör –, zugleich aber auch am Verstand, an der Zahl und am Wort.

PHAIDROS

Du meinst die geometrischen Figuren?

SOKRATES

Ja. Und die Gruppen von Tönen oder Rhythmen oder Tonarten. Der Ton an sich, der reine Ton, ist eine Art Schöpfung. Die Natur kennt nur den Lärm.

PHAIDROS

Sind aber nicht alle Figuren geometrisch?

SOKRATES

Nicht mehr, als der Lärm musikalisch ist.

PHAIDROS

Aber wie unterscheidest du die einen von den andern; die geometrischen Figuren von denen, die es nicht sind?

SOKRATES

Laß uns vorher diese betrachten ... Nimm an, lieber Phaidros, wir seien noch lebendig, mit Körpern ausgestattet und von Körpern umgeben. Nimm einen Griffel, würde ich sagen, oder einen scharfen Stein und zeichne auf irgendeine Mauer, ohne weiter daran zu denken, irgendeinen Strich. Zieh ihn in einem Zug. Tust du’s?

PHAIDROS

Ich tu’s, obwohl ohne Stoff, indem ich mich auf meine Erinnerungen verlasse.

SOKRATES

Was hast du getan?

PHAIDROS

Mir scheint, als hätte ich eine Linie aus Rauch gezogen. Sie läuft, sie bricht sich, sie kommt zurück, sie verschlingt sich, sie macht eine Schleife. Sie verwickelt sich in sich selbst, sie gibt mir das Bild einer Laune ohne Ziel, ohne Anfang und Ende, ohne andere Bedeutung als die Freiheit meiner Gebärde innerhalb des Umkreises meines Arms.

SOKRATES

Gut. Deine Hand wußte selber nicht, da sie an einem bestimmten Ort war, wohin sie dann gehen würde. Sie war einfach getrieben von dem ungenauen Bestreben, den Ort, den sie einnahm, zu verlassen. Anderseits war sie auch wieder zurückgehalten und gewissermaßen verlangsamt durch die wachsende Entfernung von deinem Körper ... Und schließlich kam der Stein dazu, der den anderen Stein nicht mit gleicher Leichtigkeit nach allen Richtungen hin ritzte, und er fügte seinen Zufall hinzu zu deinen übrigen ... Ist das nun eine geometrische Figur, Phaidros?

PHAIDROS

Gewiß nicht. Aber ich weiß nicht warum.

SOKRATES

Aber wenn ich dich nun bäte, mit diesem Stein oder Stichel den Umriß einer Sache zu zeichnen, den einer Vase zum Beispiel oder das stumpfe Profil des Sokrates, würde dieser Strich geometrischer sein, als was du da dem Zufall nach in die Mauer eingekratzt hast?

PHAIDROS

Nein; an sich nicht.

SOKRATES

Du antwortest, wie ich selbst würde geantwortet haben: »an sich nicht.« Du fühlst also irgendein Mehr bei dem Vorgang, der einem Vorbild unterworfen war, gegenüber dem anderen, früheren, bei dem es sich nur darum handelte, den Bewurf einer Mauer zu ritzen. Und doch ist die so gezeichnete Figur – die Rundung einer Vase oder die bizarre Ausbuchtung der Nase des Sokrates – nicht geometrischer an sich als die zuerst blindlings gezogene Linie. Jeder Moment deiner Bewegung ist allen übrigen Momenten fremd. Es besteht keine Notwendigkeit, die die Aushöhlung meiner Nase verbände mit der Rundheit meiner Stirn. Immerhin, deine Hand ist nicht mehr frei, auf der Mauer herumzufahren; jetzt »willst du« etwas, du unterwirfst deine Zeichnung diesem äußeren Gesetz: sie soll eine gegebene Form wiederholen. Du verpflichtest dich zu diesem Bestimmten, du hast sogar das Gesetz, das du dir auferlegst, zusammengefaßt in den Worten »den Schatten vom Kopf des Sokrates auf einer ebenen Fläche darstellen«. Dieses Gesetz ist selbst nicht hinreichend, um deine Hand zu führen, du brauchst dazu die Gegenwart des Modells, aber es beherrscht ihre Handlung; es bildet daraus ein Ganzes, das sein Ziel hat, seine Berechtigung und seine Grenzen.

PHAIDROS

Wahrhaftig, ich könnte also sagen, daß ich eine geometrische Handlung vollziehe, aber daß die Figur selbst, die daraus hervorgeht, nicht geometrisch sei?

SOKRATES

Ganz und gar. Oder du kannst sagen, sie sei es sogar in bezug auf die Ähnlichkeit, aber sie sei es nicht an sich selbst.

PHAIDROS

Komm jetzt auf die wirklich geometrische Figur.

SOKRATES

Sofort; aber ich glaube nicht besser sagen zu können, was sie ist, als indem ich die übrigen Figuren, die es nicht sind, ausschließe.

PHAIDROS

Du mußt es aber doch sagen.

SOKRATES

Ich nenne also »geometrisch« jene Figuren, welche die Bewegung darstellen, die wir in wenigen Worten ausdrücken können.

PHAIDROS

Wenn du also jemandem befiehlst zu gehen, so bringt dieses Wort allein schon geometrische Figuren hervor?

SOKRATES

Nein. Wenn ich sage: geh!, so ist die Bewegung durch diesen Befehl nicht genügend bestimmt. Der Mensch kann vorwärts gehen, rückwärts, schräg oder quer ... Dazu gehört, daß durch eine einzige Gegebenheit die Bewegung in so genauer Weise bestimmt sei, daß der bewegliche Körper keine andere Freiheit behalte, als diese zu vollziehen, und nur sie allein, und alle einzelnen Momente dieser Bewegung müssen dieser gegebenen Bedingung sich unterwerfen, so daß die Teile der Figur ein Einziges bilden im Gedanken, obwohl sie sich unterscheiden in der Ausdehnung. Wenn ich dir also sage, zu gehen, indem du immerfort den gleichen Abstand zu zwei Bäumen einhältst, so bringst du eine dieser Figuren hervor, vorausgesetzt, daß du in deiner Bewegung immerfort die Bedingung einhältst, die ich dir gegeben habe.

PHAIDROS

Und? Was ist so Wunderbares an dieser Hervorbringung?

SOKRATES