Ich hab ein Rad in Kathmandu - Billi Bierling - E-Book

Ich hab ein Rad in Kathmandu E-Book

Billi Bierling

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  • Herausgeber: Tyrolia
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Weil nicht nur der Gipfel zählt Die inspirierende Geschichte einer außergewöhnlichen Frau erzählt von der Faszination des Expeditionsbergsteigens im Himalaya und ihrem Einsatz für Menschen in Not Billi Bierling arbeitet seit fast zwanzig Jahren für die Himalayan Database und gilt als die Expertin für das Expeditionsbergsteigen im Himalaya. Sie ist bekannt dafür, mit ihrem Fahrrad durch Kathmandu zu kreuzen, um Expeditionsbergsteiger aus aller Welt für diese einzigartige Chronik zu interviewen. In ihrem Buch erzählt sie nicht nur von ihren Erfahrungen als Chronistin oder ihren eigenen Achttausender-Expeditionen. Billi spricht auch offen und ehrlich über die Entwicklungen auf den höchsten Bergen der Erde und ihren Begegnungen im weltweiten Einsatz für Menschen in Not.

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Seitenzahl: 370

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Billi Bierling

mit Karin Steinbach

ICH HABEIN RAD INKATHMANDU

Mein Leben mit den Achttausendern

In Andenken an meinenVater Erwin Bierling und an meineMentorin Elizabeth Hawley

Begegnungen mit Menschen

Vorwort von Gerlinde Kaltenbrunner

Als Billi mich fragte, ob ich das Vorwort für ihr Buch schreiben würde, kamen mir unzählige Dinge in den Sinn, da sie wohl einer der vielseitigsten Menschen ist, die ich kenne. Es gibt wenig, was sie nicht ausprobiert, sie sagt selten Nein und ist immer offen für Neues. Manchmal ist es schwierig, mit ihr mitzuhalten und nachzuvollziehen, wo sie sich gerade befindet oder welchen Job sie gerade ausübt. Sie mag Menschen und hat keine Scheu, mit ihnen in Kontakt zu treten. Egal mit wem sie ins Gespräch kommt, sie ist verbindlich, vermittelnd und wohlwollend. Ob in Kathmandu, Kyiv oder Duschanbe, die Menschen erinnern sich an Billi, da sie mit ihrer positiven Einstellung, ihrer Fröhlichkeit und ihren aufmunternden Worten einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Der Beginn einer langen und tiefen Freundschaft: 2012 mit Gerlinde im Basislager des Mount Everest.

Ihre wohlwollende Art durfte ich selbst erleben, als ich 2006 von meiner unglücklichen Dhaulagiri-1-Expedition nach Kathmandu zurückkam. Damals wurde das Lager 2 von einer Lawine verschüttet, aus der ich mich befreien konnte; zwei spanische Freunde im Nebenzelt schafften das nicht und starben. In Kathmandu wollte ich eigentlich mit niemandem darüber sprechen, da ich selbst noch so verzweifelt war. Aber dann kam Billi, die mich für die Himalayan Database von Miss Hawley, die ich bereits seit vielen Jahren kannte und sehr schätzte, interviewen wollte. Anfangs zögerte ich, aber als ich sie sah, wusste ich, dass ich ihr vertrauen und ihr meine Erlebnisse schildern konnte. Sie kam zwar als Journalistin zu mir, jedoch konnte ich in ihr sofort den Menschen Billi erkennen. Sie war eine Frau, die mir einfach nur zuhörte und mich verstand. Einerseits weil sie selbst Bergsteigerin ist, andererseits weil sie ein großes Einfühlungsvermögen hat.

Über die Jahre sind wir sehr enge Freundinnen geworden und haben einiges miteinander erlebt, was uns zusammengeschweißt hat. Sie hat mich in ihre Welt eintauchen lassen und ich sie in meine. Wir teilen viele gemeinsame Interessen, haben ähnliche Passionen, freuen uns beide über Begegnungen mit anderen Menschen und Kulturen und möchten mehr über sie erfahren.

Aus diesem Grund freue ich mich sehr, dass Billi ihre faszinierenden Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten aus der ganzen Welt in Worte gefasst hat. Denn in diesem Buch geht es nicht um die Besteigungen von Bergen, die ja oft sehr ähnlich ablaufen. Es handelt von Billis Begegnungen mit den Menschen rund um die Himalaya-Gipfel und während ihrer Arbeit mit der Humanitären Hilfe der Schweiz. Genau diese Geschichten sind es, die spannend und prägend sind und die uns lange in Erinnerung bleiben.

Attersee, im Dezember 2022

Gerlinde Kaltenbrunner

Inhalt

Ganz unten und ganz oben

Erste Schritte im Himalaya

Das rosa Clipboard

Jenseits der Berge

Von Garmisch in die Welt

Die Chefs am Berg

Abschied von Miss Hawley

Eine neue Ära

Mit dem Bike durch Nepals Hauptstadt

Dank

Ganz unten und ganz oben

AN DIESEN MOMENT ERINNERE ICH MICH, als wäre es gestern gewesen. Es war wohl im Januar, vor ziemlich genau 20 Jahren. Ein Föhntag, blauer Himmel, einzelne Linsenwolken. Die Stadt Bern leuchtete. Ich hatte es in meiner Wohnung in der Wyttenbachstraße nicht mehr ausgehalten und war zu einem Spaziergang aufgebrochen, was auf den Krücken anstrengend war und lange dauerte. Vom Breitenrain humpelte ich am Kursaal vorbei in Richtung Aare. Als ich über die Kornhausbrücke den Fluss überquerte, standen sie direkt vor mir: Eiger, Mönch und Jungfrau, das Dreigestirn der Berner Alpen. Auf ihre Gipfel hatte ich es noch nicht geschafft, obwohl ich in den beiden vergangenen Jahren, seit ich als Journalistin in der Schweiz arbeitete, einige große Bergtouren unternommen hatte mit den vielen netten Menschen, die ich in dieser Zeit kennengelernt hatte.

Ich spreche oft von meinem schönen, bunten Leben, wenn ich von mir erzähle. Meistens empfinde ich mein Leben auch als genau das: reich an Erlebnissen, reich an Begegnungen, reich an Abwechslung. In diesem Moment aber fühlte ich mich am Boden zerstört. Im Sommer zuvor hatte ich beim Joggen immer häufiger einen ziehenden Schmerz in meiner rechten Leiste wahrgenommen. Dazu muss man wissen, dass ich eine leidenschaftliche Läuferin bin und es kaum einen Tag gibt, an dem ich nicht mindestens acht Kilometer jogge; es können aber auch durchaus 15 oder 20 Kilometer sein. Ohne gelaufen zu sein, fühle ich mich nicht wohl. In jenem Jahr hatte ich für den Berlin-Marathon trainiert. Ich hatte den Schmerz ignoriert, mir gesagt, dass es sicher nur eine Muskelverspannung sei, und war weiter gejoggt. Eines Morgens, als ich wieder beim Laufen war, tat die Leiste so heftig weh, dass ich dann doch zum Arzt ging. Der konnte keinen klaren Befund erstellen, gab mir zur Entlastung Krücken und überwies mich, als meine Beschwerden nicht besser wurden, schließlich an einen Sportarzt.

So war es Ende September geworden, der Berlin-Marathon stand vor der Tür. Obwohl an Joggen nicht mehr zu denken war, wollte ich, bevor in der Woche darauf der Termin beim Sportarzt anstand, wie geplant nach Berlin reisen, um wenigstens meine Freunde zu sehen. Am Flughafen in Zürich rutschte ich mit meinen Krücken aus und stürzte zu Boden. Irgendwo in meinen Knochen krachte es, und ich schrie vor Schmerz so laut auf, dass die Leute um mich herum stehen blieben. In meinem Kopf war aber immer noch der Gedanke: »Das ist nur eine Muskelverspannung.« Immerhin bat ich die Stewardess am Gate, mir einen Rollstuhl zu organisieren. Das ganze Wochenende über hatte ich furchtbare Schmerzen. In Berlin wollte ich aber nicht ins Krankenhaus, denn ich war ja in der Schweiz krankenversichert. So lag ich also, während meine Freunde am Marathon teilnahmen, auf dem Sofa und verfolgte den Lauf am Fernseher. Zu den körperlichen Schmerzen kam noch etwas anderes: Auch Mike war von England nach Berlin gekommen, um den Marathon mitzulaufen. Wir waren erst seit drei Monaten kein Paar mehr. Auch wenn ich es gewesen war, die sich von ihm getrennt hatte, tat es trotzdem weh, ihn zu sehen – erst recht, weil er nicht verbergen konnte, wie verliebt er in seine neue Partnerin war.

Am Montagmorgen flog ich zurück in die Schweiz. Ich bat einen Freund, mich abzuholen und zum Arzt zu fahren. Nach dem Röntgen war der Befund klar: Der Oberschenkelhals war durchgebrochen, vermutlich war er vor meinem Sturz im Flughafen schon angebrochen gewesen. Mein Arzt sagte dazu nur: »Ich habe in meinem Leben schon viele Simulanten gesehen, aber eine solche Dis-Simulantin wie Sie habe ich noch nie erlebt.« Ich wurde operiert und der Bruch mit Schrauben fixiert, anschließend standen mir acht Wochen auf Krücken bevor. Unglücklicherweise rutschte ich drei Wochen nach der Operation noch einmal aus. Ich befürchtete, dass sich etwas verschoben haben könnte, und ließ das überprüfen. Trotz der Entwarnung von ärztlicher Seite verließ mich das Gefühl nicht, dass etwas nicht stimmte. Als ich nach zwei Monaten wieder zur Kontrolle ging, wurde festgestellt, dass der Bruch falsch zusammengewachsen war. Ich musste also nochmals operiert werden.

Fast das Schlimmste an dieser niederschmetternden Diagnose war, dass ich noch eine ganze Woche auf den zweiten Operationstermin warten musste, in dem Wissen, dass der Arzt die Schrauben entfernen und den Oberschenkelhals durchsägen würde, um den Bruch neu zu justieren. Und sie bedeutete, dass ich noch einmal von vorn anfangen musste, noch einmal acht Wochen mit Krücken gehen würde, noch einmal ein Jahr lang eine dritte Operation vor mir hätte, um die Schrauben wieder herausnehmen zu lassen. Als ich nach dem Eingriff im Krankenhaus lag, fiel ich psychisch in ein tiefes Loch. Ich hatte keine Geduld mehr, und ich konnte es nicht mehr hören, wenn meine Freundinnen sagten, das habe schon seinen Sinn, mein Körper müsse sich endlich einmal ausruhen. Bei einem Besuch meiner Familie in Garmisch soll ich sogar, auf dem Sofa liegend, den Wunsch geäußert haben, nicht mehr leben zu wollen – eine Aussage, die dann doch eher untypisch für mich ist.

Außerdem fühlte ich mich einsam. In der neunjährigen Beziehung mit Mike hatten wir alles gemeinsam unternommen, es hatte uns eigentlich nur zu zweit gegeben. Wir waren gemeinsam geklettert, hatten gemeinsam unsere Begeisterung für den Himalaya entdeckt, waren Tag und Nacht zusammen gewesen. Mir hatte das Bergsteigen mit Mike Freude gemacht, aber ich hatte mir auch oft die Frage gestellt, ob ich es nur ihm zuliebe machte oder ob ich selbst wirklich Spaß daran hatte. Zuletzt wurde mir unsere Partnerschaft zu eng, ich wollte wieder mehr mein eigenes Leben leben. In dieser Phase der Ablösung lernte ich den Schweizer Bergführer Stéphane Schaffter kennen, der schließlich der Auslöser dafür war, dass ich mich von Mike trennte. Auch er war ein fanatischer Bergsteiger, ein faszinierender, aber sehr vereinnahmender Mensch. Wieder hinterfragte ich, ob die Touren, die ich mit Stéphane unternahm, wirklich meinen eigenen Wünschen entsprachen. Unsere Beziehung hielt nicht lange; als ich das zweite Mal operiert wurde, war ich bereits wieder allein.

So war ich auch auf meinen Krückenspaziergängen meist allein unterwegs. Damals auf der Kornhausbrücke blieb ich stehen und schaute auf die weiß leuchtenden Schneekuppen von Eiger, Mönch und Jungfrau – in Bern liegen die Berge bei Föhn praktisch vor der Türschwelle. Von ihnen ging ein regelrechter Sog aus. Ich empfand eine große Sehnsucht nach den Gipfeln, die nicht nur darauf beruhte, dass ich aufgrund meiner Verletzung schon lange nicht mehr in der Höhe gewesen war. In diesem Moment wurde mir klar, dass es mich in die Berge zog, nicht irgendjemand anderem zuliebe, sondern weil ich sie mochte, weil ich gern dort unterwegs war. Die Frage, die ich mir so oft gestellt hatte, löste sich auf. Ja, ich wollte weiterhin bergsteigen, auch ohne Mike, auch ohne Stéphane, nur für mich.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, welch wichtige Rolle die Berge für mich noch spielen würden. Hätte mir damals, an diesem Tiefpunkt meines Lebens, jemand prophezeit, dass ich eineinhalb Jahre später nach Nepal gehen und mich intensiv mit dem Höhenbergsteigen beschäftigen würde – oder eines Tages selbst auf sechs der höchsten Berge der Welt, einschließlich des Mount Everest, stehen würde –, ich hätte ihn für verrückt gehalten.

Erste Schritte im Himalaya

WENN ICH GEFRAGT WERDE, wie meine Beziehung zu Nepal begann, antworte ich immer, dass ich mich auf meiner ersten Trekkingreise 1998 in das Land verliebt habe. Bewusst geworden ist mir das aber erst im Nachhinein. Lese ich in meinem Tagebuch nach, stehen da durchaus auch kritische Töne. Sie haben allerdings vor allem damit zu tun, dass ich damals, mit Anfang dreißig, körperliche Anstrengungen weit weniger schätzte als heute. Zudem war es meine erste Reise nach Asien, alles war neu für mich. »Kathmandu selbst ist eine erstaunliche Stadt. Es wimmelt dort nur so von Menschen, Autos und Fahrrädern. Die Autofahrer sind ständig am Hupen«, beschrieb ich meine ersten Eindrücke. Das Tagebuch liest sich aus heutiger Sicht recht amüsant, etwa wenn ich froh war, dass wir vom Flughafen abgeholt wurden, denn »in diesem Chaos hätte ich wahrscheinlich gleich Panik bekommen«.

Ich lief mit großen Augen durch das Touristenviertel Thamel mit seinen vielen Shops und fand es unglaublich, dass es in Kathmandu vom Pub bis zum Internet-Café alles gab. Schon am dritten Tag ging es mit dem Bus weiter zum Ausgangspunkt unseres Trekkings, nach Barabise, gute 200 Kilometer östlich von Kathmandu. Unterwegs war ich mit Mike, meinem damaligen Lebenspartner, mit dem ich in England lebte, und dreien seiner Freunde, von denen zwei wie er Mediziner waren. Sie hatten ihr Studium beendet und wollten, bevor der Ernst des Lebens losging, ein halbjähriges Sabbatical einlegen und bergsteigen gehen. Ihr Plan war, drei Monate nach Nepal zu reisen und anschließend, wenn der Monsun begann, für drei Monate nach Südamerika. Irgendwann hatte Mike mich gefragt, ob ich auch mitkommen wollte. Natürlich wollte ich das, ich will ja überall dabei sein! Wie es so meine Art ist, hatte ich mir im Vorfeld keine großen Gedanken gemacht, was da auf mich zukam und was es bedeuten würde, sechs Monate unterwegs zu sein – ich fuhr einfach mal los. Und so machte ich mir auch gar nicht bewusst, dass »normale« Trekkingreisen in Nepal nie so lang dauern: Mike hatte 73 Tage geplant.

Für diese Reise musste ich richtig investieren. An Ausrüstung hatte ich nichts, ich musste mir alles kaufen: Schalenbergschuhe, Steigeisen, Schlafsack, Daunenbekleidung. Mir wurde richtig schwindlig, wie viel Geld ich ausgeben musste. Die großzügigen 500 Mark, die meine Schwester und ich jeweils von meinem Vater zum Geburtstag bekamen, gingen schon nur für die Plastikbergschuhe drauf, die man damals trug. Ich stand bei Sport Conrad in meiner Heimatstadt Garmisch an der Kasse, und mein Herz blutete, als ich bezahlte. Was tat ich hier? Gab so viel Geld aus für eine Unternehmung, von der ich nicht wusste, ob sie mir Spaß machen würde – ich, die in jungen Jahren schon zum Spazierengehen zu faul gewesen war und das Wandern immer gehasst hatte? Ein paar dieser allerersten Ausrüstungsstücke fürs Höhenbergsteigen, eine knallrote Fleece-Latzhose und einen viel zu großen Daunenanorak, habe ich aus einer nostalgischen Anwandlung heraus bis heute behalten. Auch liegen die völlig durchlöcherten Wanderschuhe von dieser ersten Trekkingtour noch immer im Keller meines Elternhauses.

Als es dann losging und wir uns mit unseren Sherpas und mehr als dreißig Trägern ins Rolwaling-Tal aufmachten, wunderte ich mich, dass wir westliche Kunden so zuvorkommend bedient und uns am Morgen heißer Tee und warmes Waschwasser zum Zelt gebracht wurden. Ich brauchte eine Weile, um mich daran zu gewöhnen und dabei kein schlechtes Gewissen mehr zu bekommen. Im Lauf dieser Wochen lernte ich noch einiges andere: etwa die Hierarchie zwischen dem Sirdar – dem Chef der Träger –, den Sherpas und den Trägern selbst. Oder auch, wie lange man überleben kann, ohne zu duschen. Die Landschaft fand ich fantastisch, ich war begeistert von der nepalesischen Bevölkerung, aber mit dem Wandern an sich konnte ich mich nicht so recht anfreunden. Im Tagebuch diskutierte ich auf jeder zweiten Seite, ob es mir nun gefiel oder nicht. »Irgendwie macht mir das Bergaufgehen nicht so viel Spaß. Ich finde es ungeheuer anstrengend – besonders auf 3000 Metern«, schrieb ich am 2. April. Fünf Tage später heißt es hingegen: »Wir sind endlich im Rolwaling-Tal angekommen, und ich beginne das Bergauflaufen zu genießen.« Außerdem hielt ich fest: »Ich glaube, ich war noch nie so weit von einer Straße entfernt wie momentan!«

Mein Trekking-Permit für 1998 war auf ganze 73 Tage ausgestellt – ausreichend Zeit, um Nepal kennenzulernen und meine Liebe für das Land und seine Berge zu entdecken.

Erschöpft, aber glücklich, dass mich meine teuer erstandenen Schalenbergschuhe wohlbehalten die Berge hinauf- und wieder heruntergebracht haben: vor dem Hotel Hama.

Auch von zu Hause war ich weit entfernt, und vor allem für eine lange Zeit. Es dauerte nur ein paar Tage, bis ich meine Familie und meine Freundinnen bereits schrecklich vermisste. Schon in der ersten Trekkingwoche konnte ich es kaum erwarten, endlich mit ihnen telefonieren zu können. Ich wusste allerdings nicht einmal, ob es im Sherpa-Hauptort Namche Bazaar überhaupt ein Telefon gab.

In der Sommersiedlung Na angekommen, auf 4183 Metern, schrieb ich: »So hoch war ich noch nie! Ist schon interessant, wie man die Höhe spürt. Alles geht etwas langsamer.« Hier begann der Aufstieg ins Basislager für unseren ersten Gipfel, den 5900 Meter hohen Ramdung. Bis dorthin war ein Höhenunterschied von 1000 Metern zu überwinden, wobei ich mich völlig verausgabte. Einen Tag nachdem wir das Basislager erreicht hatten, schrieb ich: »Gestern war der schrecklichste Tag meines Lebens! Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so erschöpft. Ich schaffte zehn Schritte und musste dann fünf Minuten Pause machen, um meinen Atem zu fangen. Ich schimpfte und fluchte und wollte eigentlich nur daheim bei meinen Freunden sein. Ich glaube, ich bin einfach kein Bergkind.« Und mit Blick auf den Ramdung schrieb ich weiter: »Ich weiß nicht, wie ich jemals auf den Gipfel dieses Berges kommen soll, und ich weiß auch nicht, ob ich das unbedingt will.«

Diese Entscheidung wurde mir abgenommen, denn es schneite an den nächsten Tagen so intensiv, dass wir auf die Gipfelbesteigung verzichteten. Stattdessen setzten wir unseren Weg zum 5750 Meter hohen Pass Tashi Lapcha fort, um den Parchamo (6273 m) zu besteigen und anschließend nach Namche Bazaar zu wandern. Wieder war ich unschlüssig, ob mir der Gipfel die Anstrengung wert war: »Ich weiß noch nicht, ob ich so richtig Lust dazu habe, allerdings kann ich dann behaupten, auf einem Sechstausender gewesen zu sein.« Schon einen Tag später jubelte ich dann, einen Berg mit mehr als 6200 Metern bestiegen und dafür sogar einen richtigen Eisfall bezwungen zu haben. »Wir saßen um 8 Uhr morgens auf dem Gipfel und hatten ein atemberaubendes Panorama – Mount Everest, Lhotse und viele andere Achttausender. Ich hätte nie gedacht, dass mich so etwas jemals vom Hocker reißen könnte, aber es hat mich absolut umgehauen!«

Auf der anderen Seite des Passes stiegen wir in zwei Tagen nach Namche Bazaar ab, wo erst einmal die Erholung im Vordergrund stand. Dazu gehörte neben einer ausführlichen Dusche auch, so viel wie möglich zu essen, denn ich hatte durch die Anstrengungen der letzten Wochen ziemlich abgenommen. Ich muss so erschöpft gewesen sein, dass mir sogar das Bier schmeckte, denn trotz meines vielversprechenden Nachnamens halte ich von dem Gerstensaft gewöhnlich Abstand. Das Wichtigste war mir aber, endlich mit meiner Mutter und meiner engen Freundin Elke telefonieren zu können. Erleichtert hatte ich festgestellt, dass es in Namche ein Telefon gab – aber eben nur eines. So stand ich stundenlang an, um ein Gespräch führen zu können. Ich wollte meiner Mutter von meinen Erlebnissen berichten, aber es fiel mir schwer, ihr das alles auf Deutsch zu erzählen, weil ich vier Wochen lang nur englisch gesprochen hatte. All meine Erfahrungen und Gefühle waren in meinem Kopf auf Englisch gespeichert.

Jeder normale Mensch hätte hier seine Trekkingtour beendet und wäre nach Kathmandu zurückgekehrt. Aber nicht wir: Für uns war erst Halbzeit, denn wir hatten noch ein höheres Ziel, den 6476 Meter hohen Mera Peak. Mike hatte alles genau geplant, darin war er großartig, und er wollte dieses halbe Jahr bis zum Letzten auskosten, bevor er sich in seine Karriere als Anästhesist stürzte. Im Lauf der Jahre sollte er es bis zum Professor of Anaesthesia and Critical Care Medicine an der University of Southampton bringen. Aus Begeisterung für das Höhenbergsteigen spezialisierte er sich auch auf die Höhenmedizin; inzwischen gilt Mike Grocott als Koryphäe auf diesem Gebiet. Das führte dazu, dass er 2007 die Caudwell Xtreme Everest Expedition organisierte, um am höchsten Berg der Welt medizinische Forschung zu betreiben. Dafür schleppten die Sherpas sogar ein Fahrradergometer bis zum Südsattel, auf fast 8000 Meter! Mike erreichte einen Tag nach seinem 41. Geburtstag den Gipfel des Mount Everest, was mich sehr freute, denn das war seit seiner Kindheit sein größter Wunsch gewesen.

MIKE HATTE ICH KENNENGELERNT, während ich in England als Assistant Teacher arbeitete. Nach meinem Au-pair-Jahr in den USA war ich von Garmisch nach München gezogen, um an der Fachakademie für Fremdsprachenberufe die Ausbildung zur Dolmetscherin und Übersetzerin für Englisch und Spanisch zu absolvieren. In meinem dritten Jahr an der Sprachenschule brachte mich meine Freundin Andrea, die einen Job als Assistant Teacher in England hatte, auf die Idee, ich könnte auch für ein Jahr aussetzen und nach England gehen. Mal etwas anderes zu sehen und gleichzeitig mein Studentenleben ein wenig zu verlängern erschien mir reizvoll, denn die Vorstellung, schon in ein geregeltes Arbeitsleben eintauchen zu müssen, erfüllte mich mit Angst und Bange. Als ich meiner Mitbewohnerin Elke, die ich in den USA kennengelernt hatte, von meinen Plänen erzählte, wies sie mich darauf hin, dass ich für so einen Job wohl das Abitur bräuchte. Damit stach sie mir einen Dolch ins Herz, denn ich schämte mich ohnehin dafür, kein Abitur zu haben wie alle anderen um mich herum. Vor lauter Minderwertigkeitskomplexen schwindelte ich sogar manchmal und behauptete, ich hätte Abitur. Das brachte mich oft in eine schwierige Lage, denn ich wusste weder, was ein Leistungskurs war, noch hatte ich mir ein Thema für meine vermeintliche Facharbeit überlegt und hätte nicht darüber berichten können, wenn mich jemand gefragt hätte.

Ich ließ mich nicht entmutigen und bewarb mich einfach ohne Abitur. Und siehe da, ich wurde genommen! Ab dem Sommer 1991 unterrichtete ich für ein Jahr Deutsch an der Sutton High School, einer Privatschule südlich von London, wo es mir so gut gefiel, dass ich meinen Aufenthalt um ein weiteres Jahr verlängerte. Außerdem war das die beste Gelegenheit, meinen Start in ein geregeltes Arbeitsleben um ein weiteres Jahr zu verzögern. Ich wollte aber nicht mehr im Vorort Sutton, sondern in London leben und suchte mir ein WG-Zimmer. Eines der infrage kommenden Zimmer lag in einem ziemlich chaotischen Haus, das fünf Medizinstudenten bewohnten, die gerade ihr Examen machten. In dem Moment, in dem ich das Zimmer sah, machte ich auf der Stelle kehrt. Es hatte kein Fenster, roch vermodert und war düster und kalt. Ich war schon zurück auf der Straße, da rannte mir einer der angehenden Ärzte nach und rief: »Hey, das Zimmer von Simon, oben, wird in einem Monat frei!« Meine Freundin Elke, die mich zu dieser Zeit in London besucht hatte und mitgekommen war, meinte nur: »Na, die wollen dich aber wirklich in ihrer WG haben.«

Einer der Mediziner in diesem Haus war Mike Grocott. Wir verstanden uns gut, aber da er meist rund um die Uhr arbeitete, blieb kaum Zeit, ihn näher kennenzulernen. Nach einem Jahr löste sich die WG auf, und ich ging zurück nach München auf die Sprachenschule. Mike reiste mit ein paar Freunden nach Südamerika, um dort bergzusteigen; damit hatte er gerade angefangen. Er war schon als Kind vom Himalaya fasziniert gewesen und wusste alles über das Höhenbergsteigen. Immer mal wieder erhielt ich Postkarten von ihm, unter anderem eine vom Aconcagua, auf der lediglich »Mi amiga ùnica« stand. Da hätte ich schon hellhörig werden sollen, aber ich freute mich einfach und dachte nicht darüber nach, was Mike mit »Meine einzige Freundin« meinen könnte. Zurück in London, rief er mich an und eröffnete mir, dass er mich gern in München besuchen wollte. Ich hatte in der folgenden Woche jeden Tag eine Prüfung und antwortete ohne große Begeisterung: »Na ja, du kannst schon kommen.« Und dachte mir immer noch nichts dabei. Mike kam typisch englisch in München an, in kurzen Hosen und Schläppchen, und das mitten im Winter. Als wir uns abends in mein Zimmer zurückzogen – die Wohnung in der Steinstraße war sehr klein, und wir hatten kein Gästezimmer –, sagte er: »Weißt du, ich wachte in Südamerika eines Morgens auf und dachte mir: ›I’m in love with Billi.‹« Ah, das war also der Grund für die vielen Postkarten.

So begann unsere gemeinsame Geschichte. Die folgenden Monate führten wir eine Wochenendbeziehung, und ich war überglücklich, als ich endlich meine Abschlussprüfungen hinter mir hatte und zu Mike nach London ziehen konnte. Nach ein paar Wochen rief mich meine Freundin Bernadette an und erzählte mir niedergeschlagen, sie sei durch die Abschlussprüfung gefallen. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass eine Prüfung machen und eine Prüfung bestehen nicht zwangsläufig dasselbe ist. Auch wenn ich mir meiner Sache recht sicher war, rief ich Elke an und bat sie, den Brief von der Schule zu öffnen, der inzwischen in der Steinstraße angekommen sein musste. Nervös saß ich neben dem Telefon; es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, bis sie endlich zurückrief. »Billi, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, begann sie. »Du bist durchgefallen.« Diese Hiobsbotschaft bedeutete, dass ich zurück nach Deutschland musste, um die Prüfung zu wiederholen.

Nachdem ich weitere sechs Monate die Schulbank gedrückt hatte, kehrte ich mit meinem Diplom in der Tasche nach London zurück und übersetzte von zu Hause aus für verschiedene Auftraggeber. An den Wochenenden waren wir fast immer unterwegs, außer Mike musste arbeiten. Lake District, Peak District, North Wales, manchmal auch Schottland: Überall, wo man in Großbritannien klettern kann, kletterten wir, meistens Mehrseillängenrouten und immer im traditionellen Stil, also mit mobilen Sicherungsmitteln. Mike hatte alle möglichen Lehrbücher studiert und sich die Klettertechnik selbst beigebracht. Wenn wir am Freitagabend um 18 Uhr losfuhren, waren wir beispielsweise bis Fort William, dem Ausgangspunkt für den Ben Nevis, acht Stunden unterwegs. Wir kamen um 2 Uhr morgens an, kletterten zwei Tage und fuhren wieder zurück nach London. Dabei waren wir meist eine ganze Gruppe, üblicherweise mit Mikes Freunden Steward, Chris und Mark. Später zog ich mit meiner deutschen Freundin Dagmar, die ebenfalls in London lebte, auch allein los, was immer ein Riesenspaß war. Damals kam es noch selten vor, dass man am Fels zwei Frauen ohne männliche Begleitung sah.

Besonders gefiel mir, wenn Mike und ich das Klettern mit Urlaubsreisen verbanden, etwa nach Mallorca. Eines meiner Highlights war unsere Reise nach Südafrika. Am Table Mountain kletterten wir »African Crag«, eine Route, die gar nicht schwierig war, uns aber trotzdem die Bewunderung der Touristen einbrachte, als wir oben auf der Aussichtsplattform ausstiegen. Außerhalb von Johannesburg besuchten wir das Gebiet Waterval Boven, von dem Mike im Bergmagazin High gelesen hatte, ein traumhaftes und überhaupt nicht überlaufenes Kletter-Mekka mit Felsen in leuchtendem Orange. Wenn ich zwischendurch mal in Deutschland war, ging ich weniger zum Klettern, sondern unternahm etwas mit meinen Freunden und meiner Familie. Ich zeigte Mike meine Heimat, wir besuchten auch manchmal Klettergärten, aber in den heimischen Alpen kletterten wir nur selten. So muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich noch nie im Oberreintal war, dem Garmischer Kletter-Hotspot im Wettersteingebirge.

Mike (rechts) und ich waren fast jedes Wochenende in den Bergen oder am Fels unterwegs: mit Freunden in den Dolomiten.

Ich war sehr gern am Fels unterwegs, aber weil Mike eine Zeitlang ein Auge auf eine schottische Ärztin geworfen hatte, die sehr gut kletterte – ihretwegen hatten wir uns für kurze Zeit getrennt –, stand ich dabei immer etwas unter Druck. Überhaupt fühlte ich mich schnell minderwertig, vor allem neben Mike, dem erfolgreichen Arzt. Ich begleitete ihn mehrmals zu Konferenzen, denn er hatte mich gern dabei. Dort kamen mir alle Teilnehmer so wahnsinnig gescheit vor, und ich fühlte mich oft wie eine Landpomeranze, die nichts konnte und nichts wusste. Das hatte auch damit zu tun, dass ich beruflich in England noch nicht viel erreicht hatte und unzufrieden war. Insgeheim beneidete ich Mike um seinen spannenden Job. Ich übersetzte unter anderem Zeitungsartikel, und irgendwann dachte ich mir, dass ich die eigentlich auch selbst schreiben könnte. Als ich mich nach journalistischen Ausbildungsmöglichkeiten umschaute – ich interessierte mich am meisten fürs Radio, da man dort viel reden darf –, entdeckte ich einen Aufbaulehrgang in International Journalism an der City University, der im September 1998 beginnen sollte. Mir fehlten jedoch die Voraussetzungen für diesen Kurs, da ich weder Abitur noch einen Universitätsabschluss hatte. Alles, was ich bieten konnte, war mein Wald- und Wiesendiplom von der Münchner Sprachenschule. Mike schlug mir vor, an der City University vorbeizuradeln und mich zu erkundigen. Gleich am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg dorthin und hatte Glück: Die Leiterin der Abteilung hatte zufällig Zeit für eine Tasse Tee. Sie bestätigte mir, dass mein Abschluss wohl nicht ausreichend sei, schlug mir aber vor, mich trotzdem zu bewerben. In England wird vor der Vergabe von Studienplätzen ein Bewerbungsgespräch geführt. Ich bat deshalb in meiner Bewerbung, mich noch vor März 1998 zum Interview einzuladen, weil ich zu diesem Zeitpunkt mit Mike auf unsere halbjährige Reise aufbrechen würde. Im Februar 1998 erhielt ich einen Brief mit der Nachricht, dass ich aufgenommen sei und es gar kein Gespräch mehr brauche. Wie entscheidend es doch sein kann, mit der richtigen Person im richtigen Moment eine Tasse Tee zu trinken … Nach der langen Reise nach Nepal und Südamerika erwartete mich also ein wichtiger neuer Schritt. Doch das war für mich noch weit weg, jedenfalls verlor ich in meinem Reisetagebuch kein Wort darüber.

NACH UNSEREN RUHETAGEN IN NAMCHE trekkten wir Anfang Mai nach Lukla und dann über den Zatwra La ins Basislager des Mera Peak. Meine Gefühle waren weiterhin gemischt: Mal gefiel mir das »harte Leben« als Höhenbergsteigerin, mal hasste ich es. Jedenfalls konnte ich am 12. Mai jubeln: »Ich hab’s geschafft! Ich war auf Nepals höchstem Trekking-Gipfel (6476 m), und der Weg dorthin war grausam.« Wir hatten durch Neuschnee stapfen müssen, es war eiskalt gewesen und am Gipfel so windig, dass wir die Aussicht nicht genießen konnten. Wieder einmal notierte ich, dass »der Aufstieg keinen Spaß machte«. Wir stiegen ins Hinku-Tal ab, das noch einsamer als das Rolwaling war und das ich traumhaft schön in Erinnerung habe, mit einem atemberaubenden Panorama. Dann mussten wir, um wieder ins Khumbu zu kommen, den Mingbo La südlich der Ama Dablam überqueren. Der Aufstieg zu diesem Pass fiel mir schwer (»ich hasse diese Hatscherei«), und der Abstieg war nur mit Abseilen zu bewerkstelligen. Entsprechend zog er sich in die Länge. Ich schleppte mich »mit meinen letzten Kräften« ins Ama-Dablam-Basislager. Von dort erreichten wir über Pangboche wieder Namche Bazaar.

Einer der wunderbarsten Plätze im Khumbu-Tal: Tschörten mit Blick auf die Ama Dablam knapp über Namche Bazaar.

Noch bevor wir unsere letzte Tour ins Gokyo-Tal und auf den 5357 Meter hohen Gokyo Ri angingen, verkündete ich: »Wir sind nun schon 55 Tage unterwegs, und ich muss zugeben, dass mir die ganze Trekkerei schon ziemlichen Spaß gemacht hat.« Ende Mai waren wir zurück in Lukla, doch anstatt von dem berüchtigten kleinen Flughafen mit der nur gut 500 Meter langen, steilen Start- und Landepiste in Richtung Kathmandu abzuheben, saßen wir erst einmal fest. Das Wetter war so schlecht, dass schon mehrere Tage kein Flugzeug mehr gelandet war. Wir hatten uns so lange in den Bergen aufgehalten, und ich konnte es nicht mehr erwarten, endlich wieder in Kathmandu anzukommen, mich zu duschen, eine Jeans anzuziehen und eine Pizza zu essen. Nach zwei Tagen, in denen sich an der Wetterlage nichts änderte, entschlossen wir uns, nach Jiri zu laufen. Dort endete damals die Busverbindung von Kathmandu; heute führt die Straße weiter, bis nach Shivalaya. Wir verkauften unsere Flugtickets an andere Touristen, schulterten unsere Rucksäcke und liefen los – vor lauter Ungeduld so schnell, dass wir für diese Strecke, die man normalerweise in vier bis fünf Tagen zurücklegt, nur 48 Stunden brauchten. Im Endeffekt erreichten wir Kathmandu noch vor den Leuten, an die wir unsere Tickets verkauft hatten.

Ein paar Tage später waren wir schon wieder unterwegs und radelten zusammen mit zwei Freunden aus England mit Leihrädern nach Pokhara. Heute sieht man nur noch wenige Radfahrer auf dieser Straße, und ich frage mich immer noch, wie wir das damals gemacht haben. Der Verkehr ist horrend, die Luft verpestet und die Abgründe, in die man ohne Weiteres von einem Lastwagen geschubst werden kann, sind sehr tief. Nach zwei Tagen kamen wir in Pokhara an und starteten gleich zu unserer viertägigen Rafting-Tour. Anschließend nahmen wir an einer Jeep-Safari im Chitwan-Nationalpark teil, wo wir Panzernashörner und Elefanten zu Gesicht bekamen – das volle touristische Programm also. Weil wir noch Zeit hatten, flogen wir im Rahmen einer organisierten Gruppenreise von Kathmandu nach Lhasa, wo wir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten besuchten und manches über den Buddhismus lernten. Die Rückreise von Tibet nach Nepal im Jeep führte dann am Rongbuk-Kloster auf der Nordseite des Mount Everest vorbei. Als Mike und ich außerhalb von Tingri auf einen Hügel wanderten, brachte ich es endlich übers Herz, Mike zu sagen, was mich schon während der ganzen Reise beschäftigt hatte. Ich wollte nicht, wie geplant, am 9. 9. 1999 heiraten. Nicht, dass ich mich von ihm trennen wollte, aber ich schreckte vor dem Endgültigen einer Heirat zurück, vor dem Lebensentwurf einer Familie, den sie bedeuten würde. Das war nichts für mich. Ich stellte Mike vor vollendete Tatsachen, was ihn betrübte, aber da er mir wie immer jeden Wunsch erfüllen wollte, nahm er es hin.

Mikes optimierte Planung sah vor, dass wir zwischen Nepal und Südamerika nur eine Nacht in London verbrachten. Am Flughafen erwartete mich eine große Überraschung: Meine Freundinnen Elke und Evi waren eigens für mich aus Deutschland angereist, damit wir uns wenigstens kurz sehen konnten. Ich freute mich riesig, denn der Kontakt zu ihnen hatte mir in den Wochen zuvor gefehlt – ich war die einzige Frau gewesen und hatte zudem mit niemandem deutsch sprechen können. Dagmar hatte für den Tag unserer Ankunft ein riesiges Picknick im Tooting-Common-Park organisiert, all unsere englischen Freunde waren ebenfalls da, und ich war rundum glücklich. Als wir am Abend unsere müden Häupter in Dagmars Wohnung niederlegten, war Mike sehr bedrückt. Der Grund dafür war, dass ich den ganzen Tag kaum mit ihm geredet hatte. Dabei hatten wir doch drei Monate lang Tag und Nacht miteinander verbracht und waren drauf und dran, in den kommenden drei Monaten dasselbe zu tun!

Am nächsten Tag flogen wir schon wieder ab, am übernächsten landeten wir in La Paz. Unser erstes Ziel in Bolivien war der Titicacasee, danach ging es in die Berge, auf den Sechstausender Huayna Potosí. In Ecuador gelang uns der Fünftausender Iliniza Norte, bevor wir nach Peru weiterreisten, wo wir meine Freundin Duska in Urubamba besuchten und auf dem Inka-Trail in die Ruinenstadt Machu Picchu wanderten. Während ich in Nepal meine Eindrücke sehr ausführlich im Tagebuch festhielt, brechen die Berichte in Bolivien recht bald ab. Vermutlich gab es dafür praktische Gründe, aber für mich ist es auch ein Zeichen, dass mich Südamerika weniger berührte als der Himalaya. Wobei mich 1998 noch weniger die Berge faszinierten, sondern vielmehr das Land. Natürlich war es sehr eindrucksvoll, als ich das erste Mal den Everest sah oder auch die Ama Dablam, aber die Berge waren damals noch nicht das für mich, was sie heute sind. Damals war ich vor allem damit beschäftigt, Mike und seinen Freunden zu beweisen, dass ich mit ihnen mithalten konnte, und noch gar nicht fähig, die Schönheit der Berge in mich aufzunehmen. Das entwickelte sich erst mit der Zeit.

Heute kann mich die Schönheit der Bergwelt sogar zu Tränen rühren. 2015 zum Beispiel, bei meinem ersten Versuch, den Broad Peak zu besteigen, war ich bereits im Lager 2, als am frühen Morgen der ecuadorianische Bergsteiger Ivan Vallejo aus dem Lager 1 aufstieg. Ivan hatte auf allen vierzehn Achttausendern gestanden, ich kannte ihn aus Nepal. Es war erst 5 Uhr morgens, und ich kam gerade aus meinem Zelt, als er daran vorbeiging. Ich freute mich sehr, ihn zu sehen. Wir umarmten uns, schauten uns um und waren beide von dem Naturschauspiel ergriffen: Die Sonne ging auf und beschien die obersten Spitzen der Gipfel um uns herum, vor allem die des majestätischen K2. In solchen Momenten fühle ich mich privilegiert, dass ich so etwas erleben darf, ganz unabhängig davon, ob ich auf den jeweiligen Gipfel komme oder nicht. Wir standen beide da und weinten. Diesen Moment werde ich nie vergessen.

IN MEINEM TAGEBUCH VON 1998 beklagte ich zwar manchmal, wie anstrengend das Trekken war, dennoch war diese Nepalreise der zündende Funke dafür, dass ich anfing, Ausdauersport zu treiben und jeden Tag zu joggen. Ich merkte, welch gutes Gefühl es war, fit zu sein, das wollte ich nie mehr verlieren. Ich fand mehr und mehr Gefallen daran, mich anzustrengen, und ich lernte die Müdigkeit, die Erschöpfung hinterher richtig schätzen. Außerdem hatte ich in Nepal die Erfahrung gemacht, wie gut es tut, einmal weit weg zu sein von der Zivilisation. Man lernt die kleinen Annehmlichkeiten im Leben ganz anders zu schätzen, wenn man eine Zeitlang darauf verzichtet. Es geht mir heute noch so, dass ich nach einer Expedition gern wieder nach Kathmandu zurückkomme. Meistens dauert es aber nicht lange, bis mich erneut die Sehnsucht nach den Bergen packt und ich die nächste Expedition plane.

Bevor wir 1998 nach London zurückflogen, schrieb ich in mein Tagebuch: »Unser letzter Tag in Kathmandu, und ich bin richtig traurig, dass ich dieses Land verlassen muss.« Ich fühlte mich erfüllt von den Wochen im Himalaya. Ich war stolz auf mich und darauf, dass ich mich in den Bergen so gut geschlagen hatte. Nepal faszinierte mich. Ich wusste, dass ich dorthin zurückkehren wollte.

AN EINER ENGLISCHEN UNIVERSITÄT ZU STUDIEREN genoss ich sehr. Ende der Neunzigerjahre steckte die Digitalisierung noch in den Kinderschuhen, so lernte ich etwa im Bereich Rundfunk noch, wie man Tonbänder mit dem Teppichmesser schneidet. Die Ausbildung dauerte ein Jahr, und als ich 1999 ganz klassisch im schwarzen Umhang und mit Hut mein Master-Abschlusszeugnis erhielt, waren Mike und meine Familie sehr stolz auf mich. Im Anschluss arbeitete ich für verschiedene Auftraggeber, koordinierte und produzierte eine Firmenzeitschrift und erledigte weiterhin Übersetzungen. Wir lebten inzwischen im Südwesten Londons, in einem kleinen, klassisch englischen Reihenhaus in Streatham, das Mike gekauft hatte. Ich liebte dieses Haus, die Villa Kunterbunt: Jeden Raum hatte ich in einer anderen Farbe gestrichen. Das Schlafzimmer war gelb, die Küche himmelblau, das Esszimmer so giftgrün, dass es die Leute, die sich dort aufhielten, blass aussehen ließ. Für das winzige Arbeitszimmer hatte ich Knallorange gewählt, für das Gästezimmer Grellgelb, und das Wohnzimmer war ganz im deutschen Stil weiß und somit ein wenig farblos. London, unsere Villa Kunterbunt und Mike waren meine Heimat, und ich gewöhnte mir eine tägliche Routine an. Jeden Morgen machte ich Mike ein Sandwich und begleitete ihn zur U-Bahn, wenn er in die Klinik fuhr. Danach joggte ich oder ging schwimmen, denn gleich um die Ecke lag das Tooting Bec Lido, ein Freibad mit einem 100 Meter langen Becken. Bis Mike nach Hause kam, übersetzte ich, und am Wochenende fuhren wir zum Klettern. Wir machten alles gemeinsam; mit den Jahren waren wir keine Einzelpersonen mehr, sondern wurden zu »Mike und Billi«.

Stolz mit Doktorhut und Robe. Nach einem Jahr an der City University hatte ich 1999 meinen Master of Arts in der Tasche.

Natürlich verbrachten wir auch unsere Urlaube gemeinsam. Im Frühjahr 1999, noch bevor ich das Studium abgeschlossen hatte, reisten wir ein zweites Mal nach Nepal. Wieder wollten wir einen Sechstausender besteigen, den Island Peak. Diesmal ging die Initiative nicht nur von Mike aus, sondern auch von mir, da ich unbedingt wieder nach Nepal wollte. Ich reiste sogar eine Woche vor ihm nach Kathmandu, weil ich Interviews für meine Abschlussarbeit an der City University führen wollte. Für die fünfzehnminütige Radio-Dokumentation ging ich der Frage nach, wie sich der Tourismus auf die Kultur der Sherpas in der Everest-Region ausgewirkt hatte. Ich freute mich auf diese Woche, auch weil ich es genoss, einmal etwas allein zu unternehmen, ohne Mike. Grundsätzlich bin ich eher jemand, der mitmacht und anderen Menschen folgt, ob das nun beim Bergsteigen ist oder sonst im Leben. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich davon ausgehe, die anderen können es besser als ich. Ich plane nicht gern und vermeide es, für die Organisation verantwortlich zu sein, doch ich bin die Erste, die überall dabei ist. Mike hingegen übernahm gern die Planung, und so musste ich mich nie um etwas kümmern.

Mit den Interviews hatte ich nun etwas Eigenes, das tat mir gut. In Kathmandu führte ich einige Gespräche, unter anderem mit Pertemba Sherpa, der den Everest dreimal bestiegen hatte. Er war bei der Erstdurchsteigung der Südwestwand 1975 im Rahmen einer Expedition mit den britischen Bergsteigern Chris Bonington und Doug Scott dabei gewesen und konnte einen langen Zeitraum überblicken. Einem Zufall verdankte ich das Interview mit dem damals 81-jährigen Toni Hagen, einem Schweizer Pionier der Entwicklungshilfe, der in den 1950er-Jahren als Geologe bei der nepalesischen Regierung angestellt war. Anfang der Sechzigerjahre, nach der Annexion Tibets durch China, setzte er sich für die Aufnahme tibetischer Flüchtlinge in Nepal und auch in der Schweiz ein. Er hielt sich gerade für Dreharbeiten zu seinem Film Der Ring des Buddha in Kathmandu auf und war bereit, mir ein paar Fragen zu beantworten. Den Tourismus generell zu verurteilen hielt er für den falschen Ansatz: »Wäre der Tourismus nicht gewesen, hätten die Sherpas ihre Region verlassen müssen, weil sie kein Einkommen mehr hatten, nachdem der Einmarsch der Chinesen den Handel mit Tibet verunmöglicht hatte«, erklärte er mir.

Nachdem Mike in Kathmandu angekommen war, machten wir uns zu Fuß auf den Weg von Jiri nach Lukla, um die Strecke, die wir im Vorjahr in Rekordzeit zurückgelegt hatten, in Ruhe genießen zu können. Je näher wir dem Khumbu kamen, desto nervöser wurde ich. Ich hoffte, dass ich mich trauen würde, die Menschen anzusprechen und um ein Interview zu bitten. Für das Radio-Feature hatte ich viele Ideen, aber keine Ahnung, wie ich sie realisieren sollte. Auf dem Weg von Lukla nach Namche verbrachten wir einen halben Tag in Phakding, wo mir verschiedene Leute bereitwillig meine Fragen beantworteten, und so hörte ich langsam auf, mir Sorgen wegen der Interviews zu machen. In Namche angekommen, konnte ich es kaum glauben, dass uns manche Bewohner wiedererkannten. Im Dorf hatte sich seit unserem letzten Besuch einiges verändert: Es gab mittlerweile weit mehr als ein Telefon, im Sagarmatha Pollution Control Committee konnte man sogar E-Mails herunterladen und verschicken (Sagarmatha ist der nepalesische Name des Mount Everest, in der Sprache der Sherpas lautet er Chomolungma). Fließendes Wasser gab es allerdings immer noch nicht.

Da ich den Trubel und die Atmosphäre in Namche Bazaar sehr genoss und mir weitere Interviews erhoffte, blieben wir ein paar Tage im Sherpa-Hauptort. Ich nutzte die Zeit, um mich mit Menschen zu unterhalten, mehr über ihre Kultur zu erfahren und Hintergrundgeräusche für meine Dokumentation aufzunehmen. Im Nachbardorf Khumjung befand sich die erste Schule, die Sir Edmund Hillary in den Sechzigerjahren über seine Stiftung Himalayan Trust hatte bauen lassen, aus dem Wunsch heraus, den Sherpas nach seiner gemeinsam mit Tenzing Norgay geglückten Erstbesteigung des Everest etwas zurückzugeben. Den Direktor dieser Schule wollte ich unbedingt interviewen. Während unseres Gesprächs erzählte er mir so ganz nebenbei, dass Hillary selbst in zwei Tagen komme, weil er einmal im Jahr die Schule besuche. Was für ein Zufall! Ich konnte mein Glück kaum fassen, und so blieben Mike und ich noch zwei weitere Tage in Namche.

Sir Edmund Hillary flog mit dem Helikopter ein, begleitet von seiner zweiten Frau June und seinem Sohn. Es war eindrücklich, mitzuerleben, wie sehr er von den Sherpas verehrt wurde, weil er ihnen so viel Gutes getan hatte. Eine Khata nach der anderen bekam er umgehängt, den traditionellen Begrüßungsschal, mit dem man Gästen seine Ehrerbietung zeigt. Am Ende war er kaum mehr zu sehen, so viele Schals hatte er um den Hals! Die Schüler führten eine Darbietung für ihn auf, und ich saß mit meinem Minidisc-Rekorder im Publikum und hoffte auf ein Zitat. Es wäre so schön gewesen, eine Originalaufnahme von dem Mann zu bekommen, der am Everest gemeinsam mit Tenzing Norgay Geschichte geschrieben hatte, aber mir fehlte der Mut, ihn anzusprechen. Die Frau, die neben mir saß, bemerkte meine Unruhe. Als ich ihr von meiner Misere erzählte, ermutigte sie mich und schubste mich fast schon in Richtung Sir Edmund. Schließlich stand ich vor ihm, doch seine Frau blockte sofort ab und sagte, sie müssten so schnell wie möglich zurück, weil ihr Mann die Höhe nicht mehr vertrage. Hillary mischte sich ein und sagte: »No, no, let the young lady tell me what she wants.«

Der Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary mit seiner zweiten Frau June bei den Festlichkeiten in der Schule von Khumjung.

Ich fragte ihn, wie er den Einfluss des Tourismus auf die Kultur der Sherpas einschätze. In seinen Augen überwogen die Vorteile die Nachteile: »Der Tourismus im Khumbu hatte viele gute Effekte. Er verbesserte den Lebensstandard der lokalen Bevölkerung, schaffte Arbeitsplätze, durch ihn lernten sie die englische Sprache. Einer der Nachteile ist, dass wir ihnen in einem gewissen Maß die westliche Kultur aufgedrängt haben, was nicht immer gut ist. Aber die Sherpas sind auf der anderen Seite sehr stark in ihrer Kultur verwurzelt. Sie besuchen religiöse Zeremonien, und im Winter übernehmen sie innerhalb der Familie die traditionellen Aufgaben. Sie haben noch immer eine starke Bindung zu den Klöstern. Natürlich bringt der Tourismus die Sherpas mit der Moderne und dadurch mit vielen Verbesserungen in Berührung, aber sie sind sehr traditionell eingestellte Menschen, und ich habe keine Angst um die Sherpa-Kultur.«

Mit Mikrofon und Minidisc-Rekorder auf der Pirsch nach Interviewpartnern für mein Radio-Feature, hier vor dem Pumori in der Everest-Region.

Ich war überglücklich, denn ich hatte eine Minute und 20 Sekunden Originalton von Sir Edmund Hillary, mit denen ich meine Dokumentation wunderbar abschließen konnte. Meinem Master of Arts in International Journalism stand nichts mehr im Wege!

Anschließend machten Mike und ich uns mit Pasang Sherpa, mehreren Trägern und einem Koch auf den Weg nach Chukhung, um von dort den Island Peak zu besteigen. Unsere Kleinstexpedition verlief relativ unspektakulär. Inzwischen soll der Island Peak technisch schwieriger geworden sein, weil das Eis so stark zurückgegangen ist. Zu unserem Glück hatten wir damals sehr gute Bedingungen, denn wir hatten ja noch nicht sehr viel Erfahrung. Wir freuten uns, dass wir diesen klassischen Sechstausender im Khumbu-Gebiet besteigen konnten; er war zwar niedriger als der Mera Peak, aber viel interessanter.