Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch - E-Book

Ich hatte einen Schießbefehl E-Book

Paul Küch

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Beschreibung

Gab es den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze oder gab es ihn nicht? Diese Frage beschäftigt Menschen in Ost und West seit Jahren. Für den ehemaligen Grenzer Paul Küch liegt die Antwort klar auf der Hand. Schließlich war er während seiner Dienstzeit im Eichsfeld unterwegs, 'um Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten'. Dieser Befehl schockiert, wenn man ihn das erste Mal bei der Vergatterung hört. Der Gefreite der Grenztruppen der DDR nimmt kein Blatt vor den Mund, beschreibt den Alltag in einer Grenzkompanie, schildert den Umgang mit dem angeblich nicht existierenden Schießbefehl und offenbart dabei schonungslos seine eigenen menschlichen Schwächen. Das offene, ehrliche und aufrichtige Buch stellt jedoch keine wissenschaftliche Abhandlung über den Schießbefehl dar. Vielmehr ist es der Versuch einer Beichte und eine rührende Liebeserklärung zugleich. Der Leser erfährt, wie Paul Küch nach einer behüteten, unbeschwertenKindheit im Elternhaus bereits in Kindergarten und Schule den vorgezeichneten Weg zur sozialistischen Persönlichkeit einschlägt. Bevor er studieren darf, muss er seinen Grundwehrdienst ableisten. Zwei Wochen vor der Einberufung lernt Paul Küch die Frau seines Lebens kennen. Während der monatelangen Trennung voneinander wird diese Beziehung auf eine harte Bewährungsprobe gestellt und droht zu zerbrechen. Ob die Liebe die Zeit bei den Grenztruppen der DDR übersteht, verrät der Autor am Ende seines Buches.

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Über den Autor:

Paul Küch, Jahrgang 1963, wuchs als einziges gemeinsames Kind seiner Eltern in einem kleinen Dorf im Brandenburgischen auf. Nach erfolgreichem Abitur absolvierte er seinen Grundwehrdienst bei den Grenztruppen der DDR, studierte an der Humboldt-Universität in Berlin und ist bis heute in der Lebensmittelindustrie tätig.

PAUL KÜCH

Ich hatte einen Schießbefehl

Gezählte Tage im Eichsfeld

Laumann-Verlag

Die Namen der Handelnden wurden aus rechtlichen Gründen geändert. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Für die freundliche Bereitstellung des Titelbildes danke ich Herrn Jürgen Ritter. Der Fotojournalist hat zu Zeiten der deutschen Teilung die Grenzanlagen vom Westen aus fotografiert und ein Archiv mit mehreren Tausend Motiven aufgebaut. Ein Besuch im Internet unter www.grenzbilder.de lohnt sich.

Satz und Layout erstellt und unverändert übernommen von Paul Küch

Bildnachweis:

Privatfotos von Horst Zbierski, Uwe Vogt und Paul Küch

Buchumschlag:

Polina Graf

2., überarbeitete Auflage 2018

Copyright © 2018 by

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG

Postfach 1461

48235 Dülmen/Westf.

ISBN 978-3-89960-466-5 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-89960-491-7 EPUB

[email protected]

www.laumann-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Frühjahr 1983

Kindheit und Schulzeit

Im wehrpflichtigen Alter

Aller Abschied fällt schwer

Eisenach

Vorgesetzte

Freizeit

Ich schwöre, …

Bewachte Weihnacht

Heimaturlaub

Radieschen

Wie ich Grenzer wurde

Hundeführerausbildung

Ankunft in Weidenbach

An die Grenze

Jungfernschicht

Ungebetener Besuch

TAPI

Ich erhalte den Schießbefehl

Führungsstelle und Kontrollstreife

Sicherheit

EK-Bewegung auf der Huscha

Ausgang

Schweigeschicht

Vertrauen ist gut, Kontrolle besser

Die Unsichtbaren kommen

Zur Reserve an den Kanten

Der Ball rollt wieder

BiWaK

Kaffeekränzchen

Auf den Hund gekommen

Wein, Weib und Gesang

Strafversetzt

Endlich nach Hause

Herbst 2008

Nachwort

Glossar

Für Katharina,

die immer alles genau wissen möchte.

Vorwort

Als ich am 27. April 1984 aus dem Grundwehrdienst bei den Grenztruppen der DDR entlassen wurde, dachte ich, dass dieses Kapitel für immer abgeschlossen wäre. Meine Erlebnisse waren mir damals nicht wertvoll genug, um sie zeitnah aufzuschreiben. Außerdem durfte man solche Erfahrungen im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat nicht veröffentlichen.

Nach der politischen Wende im Jahr 1989 erschienen zahlreiche Bücher zu diesem Thema. Einige Autoren verallgemeinerten die Geschehnisse an der innerdeutschen Grenze. Andere verurteilten unser Verhalten, obwohl sie sich selbst nie in einer ähnlichen Situation befanden. Menschen, die keine Uniform und keine Kalaschnikow trugen, wussten auf einmal ganz genau, wie wir Grenzer damals fühlten, dachten und im Ernstfall gehandelt hätten. Das erschien mir zu oberflächlich und ich begann Vergleiche anzustellen, wie es mir persönlich an der Grenze erging.

Diejenigen, die die Existenz des Schießbefehls leugnen, müssen sich heute fragen lassen, warum es überhaupt Tote an der innerdeutschen Grenze gab. Der Standpunkt der ewig Gestrigen bildete zusätzlichen Ansporn, Aufklärung zu betreiben. Mein Buch sollte keine wissenschaftliche Abhandlung über den Schießbefehl werden. Vielmehr wollte ich zeigen, wie ich als junger Mensch damit umgegangen war. Meine Geschichte soll nachfolgenden Generationen zur Information dienen.

Zufällig entdeckte ich die Bilder auf dem Buchumschlag, zwischen denen mehr als zwei Jahrzehnte liegen. Sie zeigen die Gemeinde Asbach in Thüringen, deren Einwohner besonders unter der Teilung Deutschlands litten, weil sie in Folge des Wanfrieder Abkommens vom 17. September 1945 von Hessen nach Thüringen wechselten. Diese Fotos steigerten mein Bedürfnis, mir die Umgestaltung des ehemaligen Todesstreifens selbst anzuschauen.

Im Jahre 2008 kehrte ich nach Asbach zurück und beschloss, mein Schweigen zu brechen.

Frühjahr 1983

Samstag, 19. März 1983. Wir fahren von Weidenbach in Richtung Staatsgrenze. Die malerische Landschaft im Eichsfeld mit Zäunen und Minen? Für mich unvorstellbar. Ich denke an Corinna und meine Eltern, denen ich keine Schande bereiten will. Das ist leichter gesagt als getan, denn ich bin mit Schießbefehl, Kalaschnikow und genug Munition unterwegs, „um Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten“. Dieser Befehl belastet, wenn man ihn zum ersten Mal bei der Vergatterung hört. Das Kopfsteinpflaster am Ortsausgang von Weidenbach schüttelt mich ordentlich durch.

Der Weg in den ehemaligen Grenzabschnitt heute

Eine verschlossene Schranke am Waldrand verhindert das Passieren fremder Kraftfahrzeuge. Der Fahrzeugverantwortliche, mein neuer Zugführer, springt aus dem Fahrerhaus, öffnet das Schloss und den rot-weißen Schlagbaum. Da wir spät dran sind, bleibt die Schranke nach unserer Durchfahrt oben. Wenn das der Kompaniechef erfährt, gibt es Ärger für den ganzen Zug. Unser Lkw rast mit einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometern den schmalen, holprigen Waldweg entlang. Hoffentlich kommt uns kein Fahrzeug entgegen. Vorbei am Altenstein erreichen wir Asbach. Das hört sich nach feinem, altem Weinbrand an. Doch hier liegt nicht der Geist des Weines, sondern ein provokationsgefährdeter Abschnitt. Was damit gemeint ist, werde ich bald erfahren. Der Lkw stoppt am Ortseingang von Asbach. Mein Postenführer ist längst herunter geklettert und auf dem Weg zum Grenzsignalzaun (GSZ), während ich wie versteinert auf der Ladefläche verharre.

„Achtzig, absitzen!“, dieses Kommando gilt mir, einem 19-jährigen Soldaten der Grenztruppen der DDR, der schwerfällig über die hintere Ladeklappe springt und unsanft auf dem Hosenboden landet. Meine Postentasche liegt neben mir im Dreck. Eine dampfende, dunkle Brühe rinnt aus der Tasche, die unsere Verpflegung für acht Stunden enthält. Zum Glück ist nur eine Thermosflasche zu Bruch gegangen. Mein Postenführer schüttelt mit dem Kopf. Er schaut ausdruckslos und soll mir damit ein Vorbild sein. Das Postenpaar der Frühschicht übergibt uns den Bereich Asbach ohne Anzeichen einer Grenzverletzung. Unsere Vorgänger klettern müde auf den Lkw, der weiter nach Sickenberg braust. Mit einem abgenutzten Ast verwische ich alle Fußabdrücke auf dem 2 m-Kontrollstreifen und verschließe das Tor im Grenzsignalzaun von innen. Über das Grenzmeldenetz (GMN) formuliert der Gefreite den Entschluss, zum Beobachtungsturm (BT) Asbach zu wechseln. Dorthin gelangen wir über die bestgesicherte Straße der Republik, den Kolonnenweg, der hier parallel zum Grenzzaun 1 verläuft. Hinter diesem über drei Meter hohen Monstrum aus Streckmetall erkenne ich eine schwarz-rot-goldene Grenzsäule. Das silberne Blechschild mit dem Emblem der DDR kann man nicht sehen, weil es auf der Rückseite montiert ist, die nach Westen zeigt. Gleich dahinter steht ein weißer Pfahl mit rotem Kopf, der einem Streichholz ähnelt. Auf dem gegenüberliegenden Wirtschaftsweg ist eine Fußstreife vom Bundesgrenzschutz (BGS) unterwegs. Noch nie war ich so nah am Klassenfeind. Wie ferngesteuert straffe ich meine Anzugsordnung und nehme Haltung an, während mein Vorgesetzter wieder mit dem Kopf schüttelt. Im Gegensatz zu uns Grenzern tragen die Beamten saubere Uniformen, die wie angegossen passen. Einer der beiden beobachtet uns neugierig durchs Fernglas als wären wir Außerirdische. Mein Postenführer nimmt die Streife demonstrativ ins Visier der Kalaschnikow. Die Geste ist unmissverständlich. Für einen Moment zweifle ich am Verstand meines Vorgesetzten. Wir befinden uns hier an der Grenze zweier Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, an der Nahtstelle verfeindeter Militärblöcke, wo die kleinste Provokation den Dritten Weltkrieg auslösen kann. Dazu kommt es an diesem Nachmittag zum Glück nicht. Die Männer vom BGS verabschieden sich mit Scheibenwischer und Stinkefinger. Diese abfälligen Handbewegungen gelten meinem Vorgesetzten, der schadenfroh lacht. Ich weiß nicht, ob ich das ganze Theater acht Stunden lang aushalte und gehe schweigend die hellgrauen Betonplatten entlang, die kein Ende nehmen wollen. Tänzelnd versuche ich, den rechteckigen Löchern auszuweichen. Mit meiner normalen Schrittlänge klappt das nicht, denn jede Platte besitzt vier Reihen mit jeweils sieben Stolperfallen.

Von meinem Postenführer erhalte ich Asbach als Beobachtungssektor zugewiesen und verstehe nur Bahnhof. Obwohl der Feind im Westen steht, soll ich nach Osten schauen? Was drüben hinterm Zaun passiert, würde mich viel mehr interessieren, aber Befehl ist Befehl. Gehorsam blicke ich hinüber zum Ort, der wie ausgestorben wirkt. Müsste ich hier wohnen, würde ich mich nicht auf die Straße trauen. Die Fassaden betteln nach Farbe. Das Grau der Fachwerkhäuser scheint auf das Wetter abgefärbt zu haben, dunkle Wolken ziehen auf. Ein einziges Grau in Grau bestimmt das Bild wie vielerorts im Lande. In meinem Heimatdorf hing wenigstens ein knallrotes Banner mit der Aufschrift „Schöner unsere Städte und Gemeinden - mach mit!“ vor dem Büro des Bürgermeisters. Die republikweite Masseninitiative hat es nicht bis nach Asbach geschafft.

Das melodische Plätschern des Alten Hainsbaches wird von lautem Hundegebell aus Richtung Sickenberg übertönt. Einige Trassenhunde winseln. Wahrscheinlich haben die Tiere nur Hunger und Durst. Als Hundeführer hätte ich ihnen gern die Postenbrote überlassen, aber mein Vorgesetzter ermahnt mich zur Eile, weil wir uns von oben auf dem Beobachtungsturm melden müssen, der sich wie ein Koloss vor mir erhebt. Er passt genauso wenig in diese Landschaft wie die beiden Zäune, zwischen denen wir Grenzdienst schieben. Für Vögel gibt es keine Barrieren, sie fliegen von Ost nach West. Vielleicht kehren sie sogar zurück. Mir bleibt leider keine Zeit für die Natur und keine Zeit zum Nachdenken. Wo bin ich nur gelandet?

Blick vom Westen auf Asbach (1984)

Kindheit und Schulzeit

Kaum zu glauben, dass erst ein Flugzeug in unserem Dorf abstürzen musste, um einen Namen für den Berg in der Nachbarschaft zu finden. Ohne den Fliegerberg hätte es mich wahrscheinlich nie gegeben. Nachdem die Rote Armee im Frühjahr 1945 die Oder überquerte und sich auch auf das Gehöft meiner Vorfahren einschoss, hielt dieser Berg viel Unheil von der Familie ab. Wenn mich meine Eltern suchten, spielte ich in der Nähe des Fliegerbergs. Meistens war unser Hund dabei, der mich beschützte. Bello hauchte sein Leben aus, als ihn mein Cousin Hartmut mit dem linken Vorderrad seines Famulus erwischte, weshalb ich besonders wehmütig an diesen Hund zurückdenke. Zum Fliegerberg verirrte sich keiner, um mir etwas zu verbieten. Soweit das Auge reichte, lagen Felder, Gärten, Wiesen und Wälder direkt vor unserer Haustür. Hier konnte ich den ganzen Tag herumtoben, ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Ob wir Ostern buntbemalte Eier durch das Gras trudelten, im Sommer Burgen in der Sandkute bauten, im Herbst Drachen steigen ließen oder im Winter Schlitten fuhren, es störte uns niemand. Selbst der ländliche Atem, der von den Schweineställen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Tierproduktion herüberwehte, konnte uns nicht abschrecken. Als unsere Republik am 7. Oktober 1969 den 20. Jahrestag ihres Bestehens feierte, ging ich längst in den Kindergarten und durfte nicht mehr machen, was ich wollte. Wie an jedem Feiertag gab es Kartoffelsalat mit Bockwurst zum Mittagessen und wer seinen Teller leer aß, bekam noch Pudding zum Nachtisch. Ich mochte keinen Kartoffelsalat, Bratkartoffeln mit Spiegelei wären mir lieber gewesen. Deshalb beförderte ich den ekligen Salat auf den Teller meiner Tischnachbarin Carola, die losheulte. Zur Strafe verfrachteten mich die Erzieherinnen in eine Ecke des abgedunkelten Schlafraumes. Wer sich daneben benahm, musste in der Ecke stehen, sich die kahle Wand besehen und über sein Fehlverhalten nachdenken. In einer anderen Ecke stand Matthias, der beim Festumzug durch die Gemeinde den Namen des mächtigsten Mannes im Staate vergessen hatte. „Walter Ulbricht, er lebe hoch, hoch, hoch!“, „hatten wir oft genug geübt“, entschuldigte sich die Kindergartenleiterin beim Bürgermeister, der noch dazu ihr Ehemann war. Frau Fleischer ärgerte sich, wenn wir die Namen der Politiker unseres Landes nicht wussten, weil das ihre pädagogischen Fähigkeiten in Frage stellte. Zum Glück konnte Matthias die letzten Buchstaben des Alphabetes noch nicht schreiben, sonst hätte er zur Strafe hundertmal Walter Ulbricht notieren müssen wie die Älteren in der Schule. Nach mir kam Gabi in die dritte Ecke, weil sie beim Essen das Messer in die linke und die Gabel in die rechte Hand nahm. Im Kindergarten brachten uns die Erzieherinnen eine Art Gerechtigkeit bei. Bemerkten sie eine Prügelei, durfte der vermeintlich Unterlegene dem Überlegenen eine kräftige Ohrfeige verpassen und der Sieger musste zur Strafe in die Ecke. Die Meinungsverschiedenheiten klärten wir auf dem Nachhauseweg unter uns.

Ich hasste die Tage, an denen mich meine Eltern vor lauter Arbeit im Kindergarten vergaßen. Dann ging ich mit in die Wohnung von Frau Fleischer, wo es zu meiner Erleichterung keine freien Ecken gab. Überall standen Blumentöpfe herum und es roch stets nach frischer Farbe. Ich war froh, wenn mein Vater am späten Abend vor der Tür stand, um mich abzuholen.

Meine Vorfreude auf die Schule wurde bereits bei der Einschulung getrübt. Ich traf neue Kontrahenten, gegen die ich mich durchsetzen musste. Am ersten Schultag im September 1970 rannte ich deprimiert nach Hause, weil mich ältere Schüler Schweinebacke, Dickwanst oder fette Sau riefen. Alle Schimpfwörter trafen zweifelsohne zu. Ich fühlte mich hässlich und minderwertig. Das ist umso schmerzvoller gewesen, weil ich nicht dumm war, denn das Lernen fiel mir leicht und machte Spaß. Diese Konstellation schuf Minderwertigkeitskomplexe bei mir, was meine Flucht als Kurzschlussreaktion erklärte. Ich kam ganz nach meiner Mutter, die sich nur daheim geborgen fühlte. Außerhalb ihrer vertrauten Umgebung wirkte sie unsicher. Allein die Fahrten zu Ärzten in die Stadt oder lästige Behördengänge bildeten Strapazen für sie. Die Bürokraten auf den Ämtern erteilten uns selten die gewünschten Genehmigungen für Kindergeld und staatliche Subventionen, die der Familie laut Gesetz zustanden. Stattdessen dachten die Amtsschimmel über fadenscheinige Gründe nach, unsere Anträge einfach abzulehnen. Immer wussten andere Menschen besser als wir selber, was gut für uns wäre. Diese Bürokratie machte meiner Mutter so sehr zu schaffen, dass wir oft unverrichteter Dinge nach Hause fuhren. Trotzdem belohnte sie mich und sich selbst mit Muscheleis für Schmerzen, Misserfolge und Wartezeiten. Unser bescheidenes Glück kostete 30 Pfennige pro Portion und bestand aus jeweils einer Kugel Vanille-, Erdbeer- und Schokoladeneis sowie zwei Waffeln in Form einer Muschel.

Mein Vater war aus anderem Holz geschnitzt. Auf Grund seiner Lehre im ehemaligen Landratsamt der Kreisstadt wusste er genau, wie man Beamte bequatscht, um Recht zu bekommen. Davon hätte sich meine Mutter eine Scheibe abschneiden können. Trotz dieses Defizits wird sie ein ganz besonderer Mensch für mich bleiben. Meine Mutter verkörperte Disziplin, Fleiß, Ordnung und erwartete, dass ich instinktiv alles nachmachen würde. Auf ihre Art und Weise vermittelte sie mir moralische Werte wie Bescheidenheit, Dankbarkeit und Respekt vor anderen Menschen. Ich durfte nicht dazwischen reden, wenn sich Erwachsene unterhielten. Sicher spielte auch die Angst meiner Mutter eine Rolle, dass ein Fehlverhalten von mir auf mangelnde Erziehung im Elternhaus zurückfallen könnte. Obwohl sie mich anständig erzog, tanzte ich oft aus der Reihe. Schon als kleiner Junge schoss ich einen Gummiball mit voller Wucht gegen den Hausgiebel und fing die Abpraller wie ein Torwart. Mein Vater verbot mir diesen Spielplatz, weil im Treppenhaus bereits der Putz von der Wand bröckelte. Ich wich auf die Kuhweide vor dem Fliegerberg aus, doch ohne Mitspieler ging es nicht. Mein Freund Hardy zirkelte den Ball aufs Weidegatter, das ich als Torwart hütete. Anfangs fehlte uns die richtige Ausrüstung, aber wir machten das Beste daraus. Ich trug blauweiße Stoffturnschuhe und Wollhandschuhe, die mir meine Mutter für den Winter gestrickt hatte. Hardy spielte barfuß in Gummistiefeln bis er Blasen bekam. Meine ersten Fußballschuhe aus schwarzem Stoff mit roten Nähten und einer Sohle mit Gummistollen hielten zwar nicht lange, man hatte dafür aber ein gutes Ballgefühl in den Tretern. Eines Tages schenkte mir der zwei Jahre ältere Detlef seine ausgedienten Lederschuhe mit Schraubstollen. Da mir diese Töppen drei Nummern zu groß waren, stopfte ich die Fußspitzen mit Watte aus. Von meinem Taschengeld kaufte ich einen braunen Lederball, der viele neugierige Kinder anlockte. Meine Neffen Thomas und Ronny sowie Hardy und ich spielten auf der Dorfstraße gegen ein marodes Scheunentor. Wir waren richtige Straßenfußballer. Nachdem meiner Schwägerin der Verkehr auf der Hauptstraße zu gefährlich wurde, wichen wir auf den Wäscheplatz aus, wenn dort keine Klamotten zum Trocknen hingen. Als Tor diente eine Teppichklopfstange und der Zaun dahinter war das Fangnetz. Bei einem tollkühnen Sprung über die Holzlatten riss sich Ronny seinen Hintern auf, was einen Platzverweis für uns alle zur Folge hatte. Im Sommer 1973 nahm mich Hardy zum ersten Mal mit auf den Fußballplatz des Nachbarortes, wo die Männermannschaft in der Bezirksklasse Frankfurt/ Oder spielte. Das eindeutige 0:5 der Platzherren gegen den überlegenen Spitzenreiter aus der Kreisstadt entfachte meine Fußballleidenschaft. Ich wollte unbedingt in diesem Verein spielen.

Die Betriebssportgemeinschaft (BSG) Traktor kann mit Stolz auf eine lange Tradition zurückblicken. Seit Mai 1930 wurde offiziell gegen den Ball getreten. Im Laufe der Jahre entstand eine gepflegte Anlage mit zwei Rasenplätzen. Dieses herrliche Fleckchen Erde am Sportlerweg wurde mein zweites Zuhause. Unser Biologielehrer und amtierender Vorsitzender des Sportvereins entließ Hardy und mich an den Samstagen eine halbe Stunde früher aus dem Unterricht, sodass wir kein Heimspiel der Männermannschaft verpassten. Auf dem Weg zum Sportplatz kauften wir in der Bäckerei Tubandt Streuselschnecken. Bei den Spielen fieberte ich kräftig mit. Die Position des Torhüters imponierte mir besonders. Nach dem Abpfiff kopierten wir beide die Spielzüge, die zu fünf Gegentoren führten. Abwechselnd schossen wir meinen Lederball auf die großen Tore mit richtigen Netzen und keiner verletzte sich beim Ballholen. Oft kehrten wir erst am späten Abend heim, weil wir noch drei Kilometer mit dem Fahrrad fahren mussten. Nichts gegen Hardy, Thomas, Ronny und alle anderen Straßenfußballer, aber ich habe mir immer gewünscht, dass mein Vater einmal mit mir gekickt hätte, um meine Begeisterung für diesen Sport zu verstehen. Der Wunsch erfüllte sich leider nicht.

Dafür fuhren wir am 13. März 1974 zu einem Länderspiel nach Berlin, wo die DDR-Elf gegen Belgien für die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft probte. Als einer von 30.000 Zuschauern erlebte ich, wie Joachim Streich zum 1:0-Sieg einköpfte. Auf der Heimfahrt diskutierten wir eifrig über das Spiel und ich merkte, dass mich mein Vater als gleichberechtigten Gesprächspartner akzeptierte. Fußball symbolisierte in meinen Augen das wahre Leben. Wer gut war, der eroberte den Ball, schoss ihn ins Tor oder daneben. Wer noch besser war, dachte vorausschauend, spielte ab und bekam den Ball wieder zurück. Das Leben funktionierte nur gemeinsam, nicht im Alleingang. Nach dieser Devise spielten sich mein Vater und ich die Bälle gegenseitig zu. Wir einigten uns, dass unsere Nationalmannschaft als krasser Außenseiter zum Turnier ins Nachbarland fuhr. Es war die erste Fußballweltmeisterschaft, die ich bewusst miterlebte. Den 22. Juni 1974 werde ich nicht vergessen, weil ich noch Bier für das Spiel am Abend holen musste. Der Sommer gehörte zu den Feinden der Getränkeindustrie, denn die Hitze machte selbst um unser kleines Land keinen Bogen. Im Dorfkonsum waren sämtliche Getränke ausverkauft. Nachschub kam frühestens in drei Tagen, denn die Brauerei lieferte zwecks Transportoptimierung dienstags und donnerstags. An diesen Tagen musste man sich mit Getränken bevorraten, wollte man nicht auf dem Trockenen sitzen. Notgedrungen fuhr ich mit einer Emaillekanne los, um Fassbier zu kaufen. Die Dorfgaststätte hatte wegen Urlaub geschlossen und der Wirt der Bahnhofskneipe machte Betriebsferien. Solche Zustände gab es nur bei uns. Die Zeit drängte, denn ich wollte das innerdeutsche Duell unter keinen Umständen verpassen. Als ich mit der leeren Kanne heimkehrte, rastete mein Vater aus. „Dann fährst du eben ins Nachbardorf!“, schnauzte er mich an. Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben, aber mein alter Herr meinte es ernst. „Beeil dich, sonst entgeht dir der Anpfiff!“ Mir blieb nichts anderes übrig, als mit dem Fahrrad ins drei Kilometer entfernte Nachbardorf zu radeln. Zum Glück war das marode Kopfsteinpflaster bereits mit einer Asphaltschicht überzogen. Auf dem Weg zur Gaststätte beleidigte ich meinen Vater mit übelsten Schimpfwörtern, die mir gerade einfielen. Ständig dachte er sich Schikanen aus, die mich vom Fußball ablenkten. Ich weiß bis heute nicht, warum er das tat. Die geöffnete Kneipe und das vorhandene Bier vom Fass im Nachbarort ließen meinen Ärger nicht abebben. Um meinem Vater einen kleinen Denkzettel zu verpassen, habe ich die halbe Kanne ausgetrunken, im Vorgarten mit Wasser aus der Regentonne aufgefüllt und ordentlich geschüttelt. Hätte er über die Blume gemeckert, wäre kein Tropfen Bier im Gefäß geblieben. Bei der Direktübertragung vom Spiel aus Hamburg schlief mein alter Herr dünnbierselig vor dem Fernseher ein. Als Sparwasser zum 1:0 einschoss, begann das große Zittern. Eine Viertelstunde später sprang ich vor lauter Freude aus dem Sessel, denn ich hatte das Ergebnis nie und nimmer für möglich gehalten. Es war nicht der Sieg der sozialistischen DDR gegen die kapitalistische BRD, wie es am Montag danach in unseren Zeitungen stand. Diese Propaganda habe ich in dem Alter noch nicht verstanden. Aber ich begriff, dass man mit festem Willen, höchstem Einsatz und hartem Kampf jeden Gegner schlagen konnte.

Diese Erkenntnis prägte mein weiteres Fußballerleben, denn ich habe stets 100 Prozent für die Mannschaft gegeben, in der ich spielte. Es war eine Auszeichnung, das blaue Trikot mit dem gelben Bruststreifen zu tragen, mit dem mein Heimatverein im Jahre 1966 den Pokal „Goldener Traktor“ des Bezirkes Frankfurt gewann. Darin fühlte ich mich dem Verein und den Zuschauern gegenüber verpflichtet. Ich wollte den Menschen, die uns bei Wind und Wetter die Treue hielten, unbedingt etwas zurückgeben. Da das nicht immer klappte, stiegen wir in die Kreisliga ab. Doch wir kämpften bis zum Umfallen, wofür uns die Einwohner auf Biegen und Brechen unterstützten. Manchmal blieb sogar ein Krückstock am Knie eines gegnerischen Spielers hängen, um dessen Tatendrang zu stoppen. Für die Zuschauer in meiner Heimat ist Fußball eine Art Weltanschauung oder zweite Religion gewesen. Ich erinnere mich an eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen den eigenen Schlachtenbummlern und unserem Trainer während eines Punktspiels. Wir lagen deutlich hinten und fanden keine Mittel, das Spiel noch zu drehen. Laut Meinung unserer Fans hatte der Übungsleiter die falschen Leute aufgestellt und bezog dafür eine ordentliche Abreibung. Das Spiel musste vom Schiedsrichter unterbrochen werden, um die Prügelknaben auseinander zu bringen. Jede Partie werteten unsere Kritiker abends in der Gaststätte aus. Im Falle einer Niederlage brauchten wir uns dort nicht blicken lassen. Mir gefiel es im Nachbardorf besser als in unserer 500-Seelen-Gemeinde, die im tiefen Dornröschenschlaf schlummerte. Dieser Stillstand sah auf den ersten Blick romantisch aus, befriedigte mich jedoch nicht. Drei Kilometer weiter östlich ging die Post ab. Der Nachbarort stellte eine Republik mit eigenen Gesetzen dar, wozu die Dorfbewohner im patriotischen Sinne standen. Auswärtigen war es bei Strafe verboten, Annäherungsversuche gegenüber einheimischen Mädels zu starten. Meine Mitgliedschaft im Fußballverein brachte mir automatisch den Status der Zugehörigkeit im Ort ein.

Früh entwickelte ich eine Schwäche für das weibliche Geschlecht. Leider stieß meine Neugier nicht auf Gegenliebe bei den Mädchen. Vielleicht war ich den meisten zu pummelig und daher auffällig, anderen wiederum zu unauffällig, weil ich immer in den gleichen Klamotten herumrannte. Ich musste die abgelegten Sachen meines Vaters tragen, denn meine sparsame Mutter konnte sich von keinem Stück trennen. Sie fragte ständig, ob das nicht alles zu teuer wäre und wozu ich denn ihr Geld bräuchte. Dabei begnügte ich mich mit nachgemachten Westjeans und -nickis vom Markt im polnischen Stettin. Meine Fahrten mit dem Zug dorthin gestalteten sich zu unvergesslichen Erlebnissen. Bei der Ankunft auf dem Bahnsteig sah ich zum ersten Mal richtige Bettler, die es im real existierenden Sozialismus gar nicht geben durfte. Arme Menschen, die da vor uns auf Knien hockten, verfrachtete man hinter das Gebäude, wo sie nicht gleich ins Auge fielen. Aus Mitleid bot ich einem alten Mann meine Frühstücksbrote an. Auf die Idee, mein Taschengeld zu verschenken, kam ich nicht. Beim illegalen Geldumtausch auf der Straße wurden wir oft übers Ohr gehauen. In dunklen Fluren drehte man uns alte, ungültige Zloty-Noten an. Auf dem Markt konnten wir mit Ostmark bezahlen. Die Händler nahmen unser Spielgeld gern, um damit in der DDR einzukaufen. So schloss sich der Kreis und die Alu-Chips, die kaum etwas wogen und genauso wenig wert waren, landeten wieder im Inland.

Meine übrige Kleidung stammte von der volkseigenen Stange unserer Jugendmodeläden. Die Klamotten fand ich praktisch und mich störte es nicht, dass andere in den gleichen Sachen herumliefen. Auf Modelle unserer Jeansklassiker Boxer und Wisent verzichtete ich, weil sie den Eindruck vermittelten, dass der Träger keinen Hintern in der Hose haben durfte. Die mir fehlende Attraktivität versuchte ich mit netten Gesten und Geschenken auszugleichen.

Während der Jugendstunden zur Vorbereitung auf die Jugendweihe absolvierte ich einen Knigge-Grundkurs, um den Mädchen jeden Wunsch von den Augen ablesen zu können. Ich lernte, freundlich und hilfsbereit zu sein, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Außerdem brachte man mir die Standardtänze bei.

Auf einer Klassenfahrt zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte nach Buchenwald machte ich eine äußerst unangenehme Erfahrung, als ein Mitschüler versuchte, mir näher zu kommen. Wir übernachteten in der Jugendherberge auf dem Ettersberg. Bei der Vorstellung, in einer ehemaligen SS-Kaserne zu schlafen, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Während die anderen in den Fernsehraum zogen, um sich abzulenken, blieb ich mit Dirk im Zimmer. Wir saßen auf dem Bett, quatschten miteinander und leerten eine Flasche Rosenthaler Kadarka. Dabei muss ich irgendwann eingenickt sein. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht meines Klassenkollegen, der auf mir lag. Sein Herz raste. Bevor er mich küssen konnte, packte ich den schmächtigen Kerl an den Oberarmen und schubste ihn von der Matratze. Dirk verkroch sich vor Scham unter seiner Bettdecke, wo ich ihn schluchzen hörte. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass ich seine Zärtlichkeiten erwidern würde. Der Mensch tat mir echt leid, weil er sich falsche Hoffnungen machte. Ich blieb im Zimmer und hörte mir Dirks Entschuldigung an, die auf Erlebnissen aus dem Konfirmandenunterricht basierte. Der Pfarrer seiner evangelischen Kirchengemeinde nutzte die Nachmittage, ihn und die anderen Jungen des Seminars unsittlich zu berühren. Aus dem Verhalten des kirchlichen Würdenträgers schloss er, dass die Kontakte völlig normal seien. Ich konnte meinen Mitschüler nicht trösten und musste ihm versprechen, diese Vorkommnisse zu verschweigen. Heute weiß ich, dass mein Schweigen ein Fehler war. Ich hätte bestimmt einige Jungen vor Übergriffen schützen können, denn der Pfarrer blieb weitere Jahre in Amt und Würden.

Während eines Besuches auf der Leipziger Frühjahrsmesse lernten Hardy und ich Rosemarie kennen, die uns mit ihren weiblichen Argumenten fast erschlug. Die waschechte Sächsin aus der Provinz flüsterte uns ständig zu, was ich anfangs für einen Sprachfehler hielt. Aus dem Wortfetzen „… Dreier“ schloss ich, dass Rosemarie für die Staatliche Lottogesellschaft arbeitete und uns zum Glücksspiel einladen wollte. Erst als das Mädel Westgeld verlangte, war mir klar, dass Rosemarie einem Gewerbe nachging, welches laut Staatsbürgerkundeunterricht nur im faulenden, parasitären und menschenfeindlichen Kapitalismus angeboten wurde. Rosemaries Irrtum bestand darin, dass sie uns Milchbubis in den nagelneuen Jugendweiheanzügen mit reichen Westlern verwechselt hatte. Unser Klassenlehrer klärte die peinliche Situation, indem er uns wieder auf die andere Straßenseite zurückholte, wo der übliche Gruppenzwang herrschte. Nach Leipzig wussten wir, was sozialistisch lernen, lieben und arbeiten in unserem Lande bedeuteten. Meine Jugendweihe 1978 bildete den Abschluss einer unbeschwerten Kindheit. Wir wurden feierlich in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen und die Lehrer siezten uns von nun an im Unterricht. Die Deutsche Volkspolizei stellte zur gleichen Zeit den Personalausweis aus. Die Geschenke am Tag des Gelöbnisses hatten es in sich, weil die Jugendweihe ein einmaliges Ereignis im Leben darstellte. Von lieben Verwandten und Bekannten bekam ich das nötige Bargeld, um mir ein Moped vom Typ S 50 zu kaufen, mit dem ich übers Land zur Disko fuhr. Für den Preis von 1500 Mark hätte meine Mutter ganze vier Monate arbeiten müssen. Ein Levis-Jeansanzug von Tante Doris aus dem Westen verschaffte mir mehr Aufmerksamkeit. Unser Klassenlehrer verteilte am Tag der Jugendweihe Blumen, Urkunden und die obligatorischen Buchbände „Der Sozialismus - Deine Welt“. Der junge Erzieher brachte frischen Wind in unsere verstaubte Bildungseinrichtung. Er gründete einen für diese Zeit revolutionären Schulfunk, leitete viele Jahre den Fotozirkel und begleitete uns zu Konzerten sowie zum Fußball. Damit weckte er in uns die Lust auf das Leben und begeisterte indirekt für die Schule. Leider stieß mein Klassenlehrer mit seinen fortschrittlichen Erziehungsmethoden an Grenzen, die der Direktor unserer Schule bestimmte. Herr Klippenroder zog daraus die Konsequenzen. Auf Grund seines chronischen Heuschnupfens, wie später von offizieller Seite zu hören war, siedelte er an die Ostsee um, wo er heute mit seiner Familie ein kleines Eiscafé betreibt. Er schuf Arbeitsplätze und bereitet kleinen und großen Naschkatzen viel Freude.

Doch zurück zu mir. Im Sommer 1978 delegierte mich der Direktor an die Erweiterte Oberschule (EOS) der Nachbarkreisstadt. Ich war zwar ein ausgezeichneter Schüler, aber die Lehrer übertrieben die positive Benotung bei mir. Im Grunde genommen musste man nur genau das sagen, was die Pauker von uns hören wollten. Der Lehrer, der uns in die sozialistische Produktion einführte, verlangte alle Definitionen Wort für Wort, als käme es in der Praxis nur darauf an. Manchmal war es mir regelrecht peinlich, dass man mich mit Einsen überhäufte. Sogar in den Kopfnoten Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung standen nur sehr gute Zensuren. Meine Lehrer entschieden damit, dass ich Abitur machen durfte. Die Anzahl der Abiturienten, die sich nach volkswirtschaftlichem Bedarf richtete, bestimmte der Staat. Mit Beginn der neunten Klasse sollte ich mich zwei Jahre lang an die höheren Anforderungen der Abiturstufe gewöhnen. Da man mich in der Penne nicht mehr wegen meiner Leibesfülle hänseln konnte, prangerten die Älteren meine Herkunft an. Ich kam nicht vom Lande, sondern man nannte mich den Bauern. Das war eines der schlimmsten Schimpfworte im Osten und folgte gleich hinter Assi, dem Kürzel für asoziale Elemente, die keiner geregelten Arbeit nachgingen und täglich zehn Mark für Verpflegung vom zuständigen Amt bekamen. Von diesem Geld konnte ein DDR-Bürger auf Grund staatlich subventionierter Preise für Grundnahrungsmittel satt werden. Wer wenig Alkohol vertrug, wurde sogar besoffen davon. Die armen Menschen tauchten in keiner Arbeitslosenstatistik auf, weil es die im Sozialismus nicht gab.

Der neue Schulleiter hätte es gern gesehen, wenn alle Pennäler in den gleichen Uniformen herumgelaufen wären. Morgens stand er auf der Treppe vor dem Eingang und musterte jeden Schüler von oben bis unten. Lange Haare und Ohrringe bei den Jungen mahnte er an, spitze Kanülen verschwanden sofort vom Kragen. Die Spritzenaufsätze wurden getragen, um zu zeigen, dass man sich den Sozialismus nicht einimpfen lassen wollte. Herr Doktor hatte Spaß, Pins der Rolling Stones einzusammeln. Wenn wir Glück hatten, durften die beschlagnahmten Abzeichen am Ende des Schuljahres im Sekretariat wieder abgeholt werden. Bei einem Pfarrerssohn aus meiner Klasse beanstandete der Direktor den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ am Ärmel. Das Zitat aus der Bibel, das für Frieden und Abrüstung stand, wurde seit 1980 zum Symbol der Friedensbewegung in unserem Lande. Propagandaträchtig setzte sich die DDR international für den Weltfrieden ein, aber Frieden schaffen ohne Waffen wollte unser Staat nicht. Aus dem Grund zwang der Direktor meinen Mitschüler, den Aufnäher abzutrennen. Der Schulleiter quälte nicht nur Schüler, sondern auch die Mitarbeiter der Schule. Von den Reinigungsfachkräften verlangte er, ihn stets mit „Herr Doktor“ anzusprechen. Die klugen Putzfrauen revanchierten sich, indem sie den Titel mehrmals in einem Satz verwendeten. „Herr Doktor, wünschen Herr Doktor, dass wir die Aula putzen, Herr Doktor?“ Diese Provokation schien dem Direktor zu gefallen. Der einzige Mensch, der dem Oberpauker Paroli bot, war unser Hausmeister. Sobald der alte Egon das Lied „Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund!“ durch seine dritten Zähne pfiff, verschwand der Schulleiter mit bösem Blick im Lehrerzimmer.

In der EOS galt unter den Schülern eine spezielle Hackordnung. Wer die Rolling Stones nicht mochte, wurde als Weichei verschrien. Also beschäftigte ich mich intensiv mit dieser Musik, ohne die Texte richtig zu verstehen. Nächtelang überspielte ich mit einem befreundeten Schallplattenunterhalter die Lieder der rollenden Steine vom Tonband auf meine Kassetten. Ich trug das Abzeichen der Gruppe am Kragen und die herausgestreckte Zunge am Ärmel meiner Jeansjacke, denn mit meiner Vorliebe für die City-Rockband aus Ostberlin wäre ich weit weg vom Fenster gewesen.

Als Jüngling zählte man ebenfalls zu den Außenseitern. Deshalb bevorzugte ich ältere Mädchen, die Erfahrung mitbrachten und nicht von der Penne stammten, um späterem Getratsche vorzubeugen. Ich wollte nicht, dass die Mädels in der Schule erzählten, was gelaufen war und was nicht.

Nach Unterrichtsschluss lernte ich zufällig eine hübsche Verkäuferin kennen, die zu den freundlichen ihrer Zunft gehörte. „Haben wir heute leider nicht, bitte fragen sie morgen wieder nach!“, lautete eine ihrer versierten Alibiantworten. Anstelle von Alkohol kaufte ich täglich 200 Gramm Kokosflocken mit Schokoladenüberzug, wenn Kirsten am Süßwarenstand bediente. Ich schaute ihren spröden, zierlichen Händen gern beim Eintüten zu. Mit einer kleinen, silbern glänzenden Schippe transportierte sie leckere Süßigkeiten in eine spitze Papiertüte mit dem Aufdruck „Gut gekauft - gern gekauft“. Jeden Tag fielen mehr Pralinen daneben. Ich merkte der errötenden Verkäuferin an, dass ich sie mit meinem Schmunzeln zur Verzweiflung brachte. In ihrer Verlegenheit fragte sie stets, ob es denn ein wenig mehr sein dürfte. Natürlich wollte ich mehr von ihr als kalorienreiche Süßigkeiten, aber sollte ich deshalb gleich mit der Wahrheit herausrücken? Das gehört sich doch nicht. Nach genau zwei Wochen, zwei Kilogramm Kokosflocken und 14 Mark weniger in der Geldbörse, traute ich mich endlich, Kirsten einzuladen. Ich überraschte sie beim Sortieren in der Leergutannahme. Während mich Kirsten anstarrte, zerschellten einige Flaschen auf dem Steinfußboden. Das Scherbenaufsammeln beruhigte mich. Als leidenschaftlicher Kinogänger schlug ich für den Abend einen Besuch im Filmtheater vor, weil der schummrige Kinosaal eine hervorragende Kulisse zum Näherkommen bot. Sie schien sprachlos, willigte aber sofort ein. Meine Freude war riesig. Gleich nach Ladenschluss holte ich Kirsten ab. Dem Glaskasten am Eingang der „Uckermärkischen Lichtspiele“ konnten wir entnehmen, dass ein preisgekrönter sowjetischer Heimatfilm auf dem Programm stand. Die Vorstellung fiel aus, weil der Filmvorführer das Gerät für vier Leute nicht anwerfen wollte. Kamen weniger als fünf Besucher ins Kino, durfte die Veranstaltung abgesagt werden.

Ersatzweise knutschten wir auf einer ramponierten Parkbank, während eine Gruppe alkoholisierter Rentner nebenan darüber stritt, ob die Erde eine Kugel oder ein Diskus wäre. Da die Verkäuferin zwei Jahre älter war, bekam sie von meinen Erzeugern keine faire Chance. Ich schlich mich abends aus dem Haus und fuhr zu Kirsten, um die Nächte mit ihr zu verbringen. Wenn meine Eltern morgens von der Arbeit aus dem Stall kamen, saß ich müde am Frühstückstisch. Den fehlenden Schlaf holte ich im Unterricht nach, was auf Dauer nicht gut gehen konnte. Obwohl wir einander nicht treu waren, verlobten wir uns heimlich. Wahrscheinlich fühlten wir uns beringt erwachsener, dabei waren wir eigentlich noch Kinder. Irgendwann begannen Streitereien, bei denen wir ständig aneinander vorbeiredeten. Über die Monate trennten wir uns einige Male und rauften uns wieder zusammen. Unsere Beziehung endete im Fiasko. Wir warfen uns nicht nur schmutzige Wörter an den Kopf, sondern auch die für Ostverhältnisse teuren Verlobungsringe. Trotzdem blieben wir sprichwörtlich gute Freunde und grüßen uns noch heute. Um im Falle einer Entlobung nicht ohne Freundin dazustehen, hielt ich parallel Kontakt zu einem Mädchen aus dem Nachbarort. Jana verkörperte in meinen Augen den Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Sie hörte verständnisvoll zu, wenn ich meine Probleme schilderte und tröstete mich über die beschriebenen Misserfolge hinweg. In der Woche arbeitete Jana im Halbleiterwerk der Bezirksstadt, wo sie Mikrochips nach japanischem Vorbild fertigte. An den Wochenenden halfen wir ihren Eltern und dem Opa in der Landwirtschaft. Die Freizeit verbrachten wir entweder in der freien Natur oder in der Disko. Leider kamen wir uns körperlich kein bisschen näher. Außer kuscheln und küssen passierte nichts. Jana wies all meine Bemühungen energisch in die Schranken und pochte vehement auf das Recht der ersten Nacht. Das fand ich zum Kotzen, doch meine Freundin blieb eisern. Angeblich waren wir nie allein, was ich nicht kapierte, da ich die Gelegenheiten stets günstig abpasste. Eines Tages hieß es, dass ihre Mutter das Essen vorbereitete, in der Küche war aber niemand. Deshalb durchsuchte ich die Wohnung, um den wahren Grund für Janas Zurückhaltung zu finden. Wie erwartet blieb meine Suche erfolglos. Der einzige Mensch, der kochte, war ich, allerdings innerlich. Enttäuscht über diese Begebenheit habe ich mich einfach aus dem Staub gemacht. So verloren wir uns drei Wochen vor meiner Einberufung für immer aus den Augen. Derart beschäftigt, fiel es mir schwer, mich auf den Lehrstoff zu konzentrieren. Mein Zensurendurchschnitt sank von 1,0 in der achten Klasse auf 3,0 in der Abiturstufe. Diese Note galt als die Eins des kleinen Mannes, mit der ich mich leider zufrieden gab. Ich ähnelte einem Pferd, das nur so hoch sprang wie es unbedingt musste. Statt Anschluss an die Leistungsspitze in der Klasse zu suchen, sammelte ich fleißig Tadel für undiszipliniertes Verhalten und wäre um ein Haar von der Penne geflogen.

Den ersten Tadel gab es fürs Schulschwänzen, so formulierte es der Klassenlehrer später. Dabei war ich am Tag der vierstündigen Matheklausur krank, was ein Attest bestätigte. Die ganze Woche blieb ich zu Hause und hütete das Bett. Da ich am Sonntag Fußball spielen wollte, fuhr ich am Samstag zur Penne in der Annahme, dass die Klausur längst geschrieben wäre. Auf dem Schulhof traf ich einen Streber aus meiner Klasse, der mir mitteilte, dass die Klausur genau auf diesen Tag verlegt wurde. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Sicherheitshalber machte ich mich wieder auf den Heimweg, denn die Mathematikarbeit wollte ich nicht verhauen. Mein Mitschüler verpetzte mich, sodass ich am nächsten Montag vor die Klasse treten durfte, um Farbe zu bekennen. Als ich meine kurzfristige Anwesenheit an dem besagten Samstag leugnete, erhob sich der Streber vom Platz und widerlegte meine Version der Geschichte. So stand Aussage gegen Aussage und es blieb dem Klassenlehrer nichts anderes übrig, als mich zu bestrafen. Den zweiten Tadel zog eine Nichtteilnahme am Sportunterricht, meinem Lieblingsfach, nach sich. Unser Lehrer hatte in der Vorwoche versprochen, mit uns Hallenfußball zu spielen. Als die Sportstunde anbrach, wollte er nichts mehr von seinem Versprechen wissen. Er jagte alle Schüler aus der Turnhalle nach draußen auf den Sportplatz, wo sie Ausdauerlauf trainierten. Nur der harte Kern der Klasse wehrte sich gegen diese Verfahrensweise. Gemeinsam mit drei anderen Jungs blieb ich in der Halle sitzen. Unsere Sturheit wurde zu einem regelrechten Politikum aufgebauscht, das sich angeblich am 1980 begonnenen Streik auf der Lenin-Werft in Danzig orientierte, aus dem später die freie Gewerkschaft Solidarnosc entstand. Der dritte Tadel war politisch noch brisanter als der zweite. Ausgangspunkt der Strafe bildete der 60. Geburtstag meines Vaters, wofür ich an diesem Freitag schulfrei bekam. Am folgenden Samstag hätte ich wieder zur Penne gemusst, doch ich lag verkatert im Bett und dachte überhaupt nicht ans Aufstehen. Meine Mitschüler hatten an diesem Samstag unterrichtsfrei, weil sie am Vortag in Berlin eine Delegation aus Laos verabschieden mussten, die vom 11. bis 16. April 1981 am

X. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) teilnahm. Natürlich hätte ich mit in die Hauptstadt fahren müssen, aber die aufgezwungene Stimmungsmache ging mir mächtig gegen den Strich. Freiwillig beteiligte sich niemand aus der Klasse am Personenkult, da dieser von ganz oben befohlen wurde und mit hohem Aufwand verbunden war. Im Kunstunterricht bastelten wir rote Nelken, weiße Friedenstauben und blaue Papierfähnchen. Mit diesen Winkelementen wedelte man in der Luft herum bis das Flugzeug abhob. Im Bus nach Berlin wurden Verpflegungsbeutel verteilt. Sie waren mit einem Kakaotrunk, zwei trockenen Brötchen, einer Wurstkonserve, einem Riegel Schmelzkäse und einem Apfel bestückt. Jeder Abiturient erhielt eine Spalierkarte mit genauer Platzangabe, um sich auf dem großen Rollfeld nicht zu verlaufen. Dabei konnte man sich bei dem Aufgebot an Sicherheitskräften überhaupt nicht verirren, wie mir meine Mitschüler berichteten. Wahrscheinlich befürchteten die Genossen, dass man bei dieser Gelegenheit ein Flugzeug in den Westen besteigen könnte.

Meine Mitschüler fuhren mit in die Hauptstadt, um am Samstag nicht zur Penne zu müssen. Keiner gab offen und ehrlich zu, was er über derartige Pflichtveranstaltungen dachte. Nur ich tanzte wieder aus der Reihe. „Ich fahre doch nicht nach Berlin, nur um dort den Haufen zu vergrößern“, prahlte ich in einem benachbarten Partykeller, wo wir uns nach Tanzveranstaltungen trafen und gemeinsam feierten. Die Tochter des Hauses war mit einem Stasi liiert, flüsterte man sich im Dorf. Diese Bezeichnung für Nachwuchskader des Ministeriums für Staatssicherheit ist üblich gewesen bei uns. Schon als Kind hielt ich ihn für ein unbeschriebenes Blatt, denn er war ruhig und zurückhaltend. Mit seinem unauffälligen Äußeren konnte der Stasi keinem Menschen Angst einflößen. Als ich die neunte Klasse der Penne besuchte, legte er dort gerade das Abitur ab und gab mir wertvolle Tipps über einzelne Lehrer und deren Klassenarbeiten. Den wahren Grund seines Kriminalistikstudiums, die Karriere im obersten Kontrollorgan des Staates, erwähnte der Stasi nicht. Der Freund der Tochter des Hauses reagierte verzögert auf meine Prahlerei, was wohl am Alkohol lag. Schwankend erhob er sich vom Stuhl und blickte mich vorwurfsvoll an. Der Stasi zog seinen Ausweis aus der Tasche, hielt mir diesen vor das Gesicht und fragte, ob ich den Satz wiederholen würde. Was folgte, war Totenstille. Niemand traute sich, etwas zu sagen. Ich hatte mit meinem unüberlegten Satz eine Linie überschritten und keiner wusste, wie damit umzugehen war. Alle schwiegen, versteckten sich, um die Angst vor den Folgen einer eigenen Meinungsäußerung zu ertragen. Ich sah dem Stasi in die Augen und spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Während die Gastgeberin noch versuchte, ihren Freund zu besänftigen, stichelte dieser munter weiter. Anscheinend erwartete er eine Reaktion von mir. Die anderen Gäste schauten still auf den Fußboden, um den Blicken des Stasi auszuweichen. „Das wird mir jetzt zu heiß hier“, antwortete ich wütend und lief die paar Schritte nach Hause. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich Angst davor hatte, dass man mich in der Penne verpfeifen würde. Dann wäre mein Abitur dahin und ohne Abi durfte man nicht studieren. Ich befürchtete Verhaftung, Jugendwerkhof oder Knast. Den ganzen Vormittag lag ich im Bett und grübelte. Mittags besuchte mich mein Kumpel Hardy, der als Augenzeuge alles mitbekommen hatte. „Du hast doch nur ausgesprochen, was du gedacht hast, Paule!“ Genau da lag mein Problem. Man durfte nie offen sagen, was man wirklich dachte. Schweigen wäre besser gewesen, das hatte ich für einen Moment vergessen. „In der DDR existieren zwei Wahrheiten“, predigte mein Vater stets. Die erste, die man im Herzen trug, kursierte in den eigenen vier Wänden und durfte nicht nach außen dringen. Die andere Wahrheit galt für Schule, Arbeitsstelle und Partei. Überall traf man diese Doppelzüngigkeit bei uns an. Etwas zu wissen und nicht darüber reden zu dürfen, die eigene Meinung zurückhalten und lieber schweigen oder nur das Geforderte sagen. Man hatte eine Rolle zu spielen und viele machten mit. Bereits als Jugendlicher war ich genauso verlogen wie Erwachsene. Entweder belogen wir uns gegenseitig oder man belog sich selbst und hielt damit das kaputte System in unserem Staat am Leben. Das wurmt mich noch heute. Die politische Wende in der DDR wäre früher gekommen, wenn mehr Menschen den Mut gehabt hätten, sich die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Der Stasi wird dich nicht verpetzen“, meinte Hardy. Sein ehrliches, aber naives Mitgefühl konnte mich nicht aufheitern. Würde mich der Stasi anzinken, um Pluspunkte für seine Laufbahn zu sammeln? Ich war mir nicht sicher und rechnete mit dem Schlimmsten. Der folgende Montag sollte endgültig Klarheit bringen.

Meine Eltern waren morgens im Stall, als ich meine Garderobe auswählte. Ich kleidete mich seriös, wollte die erwarteten Anfeindungen umgehen und verzichtete auf Jeans, Abzeichen und Aufnäher. Stattdessen entschied ich mich für eine braune Anzughose aus Präsent 20, einem Stoff aus Chemiefasern, den man zum 20. Geburtstag unserer Republik kreiert hatte. Dazu trug ich ein helles Oberhemd und eine beigefarbene Cordjacke von Jumo, dem Ausstatter für Jugendmode in unserer Republik. Die braunen Halbschuhe polierte ich, bis ich mich darin spiegeln konnte. Mir fehlte nur der Schlips und ich wäre selbst als Pauker durchgegangen. Die neugierigen Blicke auf dem Weg zum Bahnhof, die meine ungewohnte Verkleidung anzog, verunsicherten mich noch mehr. Ich spürte, dass dieser Montag nicht mein Tag werden würde. Im Zug geriet ich prompt in eine der eher seltenen Kontrollen und stellte entsetzt fest, dass meine Wochenkarte bereits abgelaufen war. Wütend warf ich das alte Ticket auf den frisch geölten Fußboden des Abteils. Mein rowdyhaftes Verhalten veranlasste den Schaffner, die Bahnpolizei am Zielbahnhof zu verständigen. Auf dem letzten Bahnsteig trainierte ein freundlicher Ordnungshüter mit mir, wie man einen ungültigen Fahrausweis zielsicher in den Papierkorb wirft. Der Bahnpolizist entließ mich mit der Maßgabe, eine neue Wochenkarte zu kaufen. Nun musste ich noch an den asozialen Elementen vorbei, die an der Ecke vorm Intershop auf milde Gaben der Kundschaft lauerten. Abwechselnd hielt einer der Gelegenheitstrinker seine Bierflasche gegen das erwachende Sonnenlicht und prüfte, ob der Inhalt noch für einen Schluck ausreicht. Sein Kumpel wedelte mit einem lilafarbenen Forumscheck, um seinen Reichtum zu zeigen. Ich bog um die Ecke in die Heinrichstraße und erkannte von weitem unseren Direktor, der auf der obersten Treppenstufe thronte wie Lenin vorm Olympiastadion in Moskau. Alle Schwerter samt Pflugscharen passierten den Schulleiter, sogar die rollenden Steine durften dieses Mal rein. Herr Doktor ignorierte sämtliche Embleme, denn er wartete nur auf mich. Obwohl ich auffällig unauffällig gekleidet war, verwehrte er mir den Zutritt ins Schulgebäude. „Küch, folgen sie mir ins Lehrerzimmer!“, fuhr mich der Pauker energisch von der Seite an. Im Sekretariat redete ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, auf den Parteisekretär unserer Schule ein, der Geschichte und Staatsbürgerkunde lehrte. Mein Eintreffen beendete den lauten Monolog. Der Unbekannte trug eine Kombination aus abgewetztem, grauem Cordstoff, ein weißes Oberhemd und eine weinrote Krawatte. Mit seiner grünen Studentenkutte konnte er nur ein Mitarbeiter unserer Sicherheitsorgane sein. Ich musste mich an die Stirnseite des Lehrertisches setzen, die mir wie eine Anklagebank vorkam. Mir schwante Böses, als der Unbekannte dem Doktor ein Blatt Papier übergab. Es handelte sich um das Protokoll von Samstagnacht, eine Seite in DIN A4, mit Schreibmaschine getippt. Der Ordnung halber erhielt ich eine Kopie auf Durchschlagpapier. Nach Verlesen des Tatbestandes verlangte der Direktor eine Stellungnahme von mir. Zunächst schwieg ich, weil ich nicht wusste, ob mit dem Begriff Vorkommnis die Nichtteilnahme an der Berlinfahrt oder die verbale Rechtfertigung dafür gemeint war. Mein Schweigen werteten die Richter wie ein Schuldeingeständnis. Die Äußerungen konnte ich nicht leugnen, die Anklageschrift lag vor mir auf dem Tisch. Die Unterschrift vom Stasi aus unserem Dorf fehlte. Stattdessen las ich einen anderen Namen mit Dienstgrad unter dem Bericht.

Innerlich triumphierend begann der Direktor, die Strafe gemäß Schulordnung vom 29. November 1979 zu verlesen. Danach verbot mir der Unbekannte unter Androhung ernsthafter Konsequenzen, den wahren Tatbestand offen kundzutun. Mit meinem Verhalten hätte ich genug Schaden für Eltern, Schule und Staat angerichtet. Meine Verfehlung war keineswegs die Nichtteilnahme allein, sondern auch die Begründung. Angeblich hätte ich meinen Platz in der sozialistischen Gesellschaft noch nicht gefunden. Nach der Moralpredigt geleiteten mich Direktor und Parteisekretär zum Klassenraum. Meine Mitschüler, die nichts Konkretes wussten, schauten mich fragend an, während ich offiziell getadelt wurde. Mit diesem Strafmaß bin ich glimpflich davongekommen, man hätte mich auch von der Schule verweisen können. Beim harten Kern der Klasse erntete ich Anerkennung für mein wiederholtes Anecken. Die Streber wandten sich demonstrativ von mir ab, wollten die eigene Karriere nicht gefährden. Ich habe zu wenig über die Konsequenzen meines Verhaltens nachgedacht, hatte leichtfertig Abitur und Studium aufs Spiel gesetzt. Insofern waren die drei Tadel die berühmten Schüsse vor den Bug, die mich zum Zurückrudern zwangen. Man handelte ständig in Angst vor negativen Folgen für sich selbst und andere. Diese Furcht war so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass man sich dessen oft nicht mehr bewusst war.

Im wehrpflichtigen Alter

Der Druck auf uns Jugendliche, sich für einen längeren Armeedienst zu verpflichten, nahm ab der neunten Schulklasse immer mehr zu. Wir wurden ständig agitiert, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen oder wenigstens drei Jahre als Unteroffizier zu dienen. Einige Lehrer verbogen sich regelrecht, um Nachwuchs für die NVA zu gewinnen. Konnte ich mich bis zur zehnten Klasse erfolgreich vor Arbeitsgemeinschaften wie Flugmodellbau, Kraftsport und Schießen drücken, gab es in der Abiturstufe keine Ausreden mehr, eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die das Sprungbrett zur Armee bildete, zu verweigern.