Ich lass dich nicht allein im Sterben - Bernard Jakoby - E-Book

Ich lass dich nicht allein im Sterben E-Book

Bernard Jakoby

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Beschreibung

Der bekannte Sterbe-Forscher Bernard Jakoby und die Hospiz-Leiterin Marie-Luise Nieberle machen Angehörigen Mut, Sterbende nicht allein zu lassen. In ihrem praktischen Ratgeber erklären sie alles Wichtige, was man bei der Begleitung eines Sterbenden wissen muss. Ihre tiefe Überzeugung ist: Wer einen Sterbenden begleitet, gewinnt eine ganz neue Sicht auf das eigene Leben. Marie-Luise Nieberle weiß durch 25 Jahre Hospizerfahrung, was man als Angehöriger tun kann, um den Abschied liebevoll und würdevoll zu gestalten. Sie gibt eine Fülle konkreter Hilfestellungen und erzählt berührende Geschichten vom Übergang der Menschen in eine andere Dimension. Bernard Jakoby erklärt die wichtigsten Fakten aus der Sterbe-Forschung, die am Bett eines Sterbenden hilfreich sein können. So verlässt z.B. der Hörsinn als letztes den Menschen, und Sterbende hören, was man sagt, auch wenn sie scheinbar schon weggetreten sind. Das eröffnet Möglichkeiten der Versöhnung, die auch das Leben der Verbliebenen leichter machen. Immer wieder wird deutlich: Das Mysterium des Todes mitzuerleben schenkt tiefe Einsichten und verändert grundlegend die Wertigkeiten des Lebens. Dieser berührende Ratgeber gibt Halt und Kraft in der schweren Zeit des Abschieds und nimmt den Menschen die Angst vor dem Tod.

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Seitenzahl: 230

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Marie Jakoby / Luise Nieberle

Ich lass dich nicht allein im Sterben

Würdevoll Abschied nehmen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der bekannte Sterbe-Forscher Bernard Jakoby und die Hospiz-Leiterin Marie-Luise Nieberle machen Angehörigen Mut, Sterbende nicht allein zu lassen.

In ihrem praktischen Ratgeber erklären sie alles Wichtige, was man bei der Begleitung eines Sterbenden wissen muss. Ihre tiefe Überzeugung ist: Wer einen Sterbenden begleitet, gewinnt eine ganz neue Sicht auf das eigene Leben.

Marie-Luise Nieberle weiß durch 25 Jahre Hospizerfahrung, was man als Angehöriger tun kann, um den Abschied liebevoll und würdevoll zu gestalten. Sie gibt eine Fülle konkreter Hilfestellungen und erzählt berührende Geschichten vom Übergang der Menschen in eine andere Dimension.

Bernard Jakoby erklärt die wichtigsten Fakten aus der Sterbe-Forschung, die am Bett eines Sterbenden hilfreich sein können. So verlässt z.B. der Hörsinn als letztes den Menschen, und Sterbende hören, was man sagt, auch wenn sie scheinbar schon weggetreten sind. Das eröffnet Möglichkeiten der Versöhnung, die auch das Leben der Verbliebenen leichter machen.

Immer wieder wird deutlich: Das Mysterium des Todes mitzuerleben schenkt tiefe Einsichten und verändert grundlegend die Wertigkeiten des Lebens.

Dieser berührende Ratgeber gibt Halt und Kraft in der schweren Zeit des Abschieds und nimmt den Menschen die Angst vor dem Tod.

Inhaltsübersicht

EinleitungÜber die Motivation, einen Sterbenden zu begleitenWas für Begleitende hilfreich sein kannDie inneren Vorgänge im SterbeprozessDer einsetzende SterbeprozessDie LebensbilanzSterbebettvisionenDu darfst jetzt gehen!Das letzte Aufbieten der körperlichen ReservenDie Ablösung der ElementeWie können wir unterstützen?Der Augenblick des TodesAbschied nehmenWie die Erfahrung des Sterbens das eigene Leben verändertMeine persönlichen ErfahrungenKritische AnmerkungenSichere medizinische Zeichen des unmittelbar bevorstehenden TodesAugenHautAusscheidungSpracheAtmungSymbolische Anzeichen des unmittelbar bevorstehenden TodesVisionenBettfluchtAuf die Reise gehenDas letzte Aufblühen der KörperkräfteWas ist hilfreich, wenn ich am Bett eines Sterbenden sitze?Grundsätze der SterbebegleitungMitgefühl statt MitleidAussöhnen statt abbrechenVergebungVerstehen statt bewertenLoslassen statt festhaltenSchuld auflösenVerantwortung übernehmenDie Konfrontation mit der eigenen EndlichkeitFühlen statt denkenHadern mit GottAngstWie äußert sich die Angst?Die eigenen Grenzen achtenWenn Sterbe- und Pflegebegleitung an ihre Grenzen kommenNur die Liebe bleibtSterben als existenzielle Bedrohung für das FamiliensystemHilfreiche RitualeDer Umgang mit TrauerDie Phasen der TrauerWas hilft beim Trauern?Die unterschiedlichen TrauertypenDer introvertierte, bewahrende TrauerstilDer introvertierte, verändernde TrauerstilDer Trauerstil des extrovertierten BewegersDer extrovertierte bewahrende TrauerstilBesser mit der Trauer umgehenPraktische Hinweise für die Begleitung TrauernderKinder trauern andersTrauer bei kleinen KindernTrauer im SchulkindalterTrauer bei JugendlichenKindern bei der Trauer helfenResilienz: Gedeihen trotz widriger UmständeResilienz, Sterbebegleitung und Trauer1. Optimismus und Dankbarkeit (Krisen sind zeitlich begrenzt, ich bin zuversichtlich)2. Akzeptanz (Ich erkenne das Problem an)3. Lösungsorientierung (Ich sehe Optionen, um zu handeln)4. Verlassen der Opferrolle (Eigene Anteile anschauen)5. Verantwortung übernehmen (Ich halte die Konsequenz aus)6. Netzwerke aufbauen (Familie, Freundeskreis, Team)7. Zukunftsplanung (Wahlmöglichkeit, eine Vision haben)Ausklang – Märchen in der TrauerarbeitInhalt und Botschaft der MärchenEin Beispiel: Das Märchen »Aschenputtel«Aschenputtel als Weg aus der Trauer, als TrauerprozessDer Tod der MutterAschezeitSehnsucht nach dem LebenTränen – LebensbaumEinladung zum FestDrei TageAnpassen als falscher WegHochzeit – VollendungNeid macht blindHinweise zum Weiterlesen
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Einleitung

»Seit ich meinen Vater im Sterben begleitet habe, begleite ich auch andere mir nahestehende Menschen sehr gern. Das war ein wichtiges Erlebnis für mich, und ich habe viel für mein Leben gelernt. Der Tod schien mir in diesem Moment als ganz natürlicher Bestandteil des Lebens. Und wenn es mir auch noch schwerfällt, das für mich anzunehmen, nähere ich mich dem an. Und ich ermutige auch andere, nicht wegzuschauen, sondern hinzugehen.«

Das ist die Aussage eines jungen Mannes, der seinen Vater begleitet hat. Dem Tod etwas Gutes, ein wertvolles Erleben abringen zu können, klingt erst einmal unverständlich. Und doch, Angehörige sind oft dankbar, dass sie ein schönes und friedliches Sterben erleben durften.

Beide Anteile sind in solchen Momenten präsent: die Chance, sich auf ein unberechenbares Geschehen einzulassen, und die Angst und Verzweiflung, wie ich es tragen kann.

Die meisten Menschen wissen nicht, wie sie mit Sterbenden in der Grauzone zwischen Leben und Tod umgehen sollen. Die Zeit kurz vor dem letzten Atemzug ist mit vielen Tabus und Unwissenheit behaftet. Viele Menschen fühlen sich überfordert und hilflos, wenn sie mit dem Sterben eines nahen Angehörigen konfrontiert sind.

Deshalb war es uns ein Anliegen, ein Buch über das Sterben zu verfassen mit dem Hauptaugenmerk auf begleitende Angehörige.

Es soll praktische Hinweise vermitteln, wie wir einfühlsam und mitfühlend einen Sterbenden begleiten können. Das Buch will dazu beitragen, die Bedürfnisse Sterbender besser zu verstehen, um einen würdigen Abschied zu ermöglichen. Durch viele Beispiele in der Hospizarbeit erfahren wir von den Nöten und Ängsten der Sterbenden. Aber wir erleben auch, wie die Berührungsscheu und Hilflosigkeit angesichts des bevorstehenden Todes überwunden werden können.

Dieses Buch bietet tiefe Einblicke in den inneren Sterbeprozess und zeigt, wie man dabei behilflich sein kann, dass der Sterbende mit sich ins Reine kommt. Es geht um gelingende Kommunikation und Nähe und darum, den Sterbenden nicht allein zu lassen.

 

Sterbende wissen intuitiv von ihrem bevorstehenden Tod, was Angehörige durchaus verstören kann. Häufig wird die symbolische Bildsprache nicht verstanden oder als Verwirrtheit abgetan. Aber in dieser Situation sind Offenheit, Authentizität und Ehrlichkeit seitens der Begleitenden erforderlich, nicht Verleugnen oder Beschönigen. Durch tief gehende Erfahrungen werden wir Zeuge, was würdevolles Sterben bedeutet und wie ein Abschied gestaltet werden kann.

Wenn wir alles getan haben und dem Sterbenden mitfühlend und ohne Wertung zuhören, uns also ganz auf seine Bedürfnisse einlassen, kann der Sterbende seine Gefühle offen zum Ausdruck bringen. Das führt dazu, dass er seinen nahenden Tod annehmen kann. Und dies gilt auch für die begleitenden Angehörigen. Wir begegnen der eigenen Endlichkeit und werden gleichzeitig mit dem Transzendenten konfrontiert.

In einer offenen Kommunikation von Herz zu Herz spüren wir das zeitlos Ewige, was dazu führen kann, dass sich unsere Sichtweise auf das Leben – vor und nach dem Tod – für immer verändern kann. Wir erkennen den größeren Sinnzusammenhang des menschlichen Lebens: Sterben ist der Prozess des Erwachens in die Liebe, ins Unendliche, eine Transformation in die andere Welt, in einen körperlosen Bewusstseinszustand. Viele Begleitende berichten später, dass durch eine intensive Begleitung die Angst vor dem eigenen Tod abgebaut werden konnte.

 

Marie-Luise Nieberle und Bernard Jakoby

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1

Über die Motivation, einen Sterbenden zu begleiten

»Ich sitze nur den ganzen Tag am Bett, kann nichts mehr tun, das kann ich nicht aushalten.«

Dieser Satz von Angehörigen begegnet uns im Hospiz tagtäglich. Darin ist eine große Not zu spüren, aber auch, dass die Motivation, beim Sterbenden zu bleiben, eine andere ist, als wenn es noch was zu tun gibt.

Zu kochen, was ein Kranker gerne isst, alle Wünsche erfüllen, die er ausspricht, Bedürfnisse befriedigen, egal wie aufwendig – dahinter steht die Motivation, etwas Gutes tun zu können, einen Beitrag leisten dürfen auf dem letzten Weg. Ein klarer Auftrag, etwas Sinnvolles zu gestalten.

Doch wie sieht die Motivation aus, wenn es nichts Pragmatisches mehr zu tun gibt? Wenn es nur noch darum geht, als Angehörige am Bett zu verweilen und auszuhalten?

Viele Menschen sind so konditioniert, im Machen und Funktionieren ihren Wert, ihre Aufgabe und Daseinsberechtigung im Leben zu sehen. Niemand hat uns gelehrt, in der Stille, der Ruhe, der Gelassenheit, im Annehmen Sinn zu finden.

Die Stille kurz vor dem Tod macht viele hilflos.

 

Schwer kranke und sterbende Menschen vermitteln den Eindruck, dass sie nicht mehr hier sind – hier, im Jetzt, in diesem Moment, dem heutigen Tag. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht mehr dem Tagesgeschehen, der Aktualität.

Wenn wir das Jetzt als unsere Ebene, die Ebene der Lebenden betrachten, das Jenseits aber das Reich der Verstorbenen ist, dann gibt es für mich noch eine Dimension, einen dritten Raum des Seins: die Welt dazwischen, ein Zwischenleben auf dem Weg vom Hier ins Jenseits.

Da und doch nicht mehr da.

Da und noch nicht tot.

Diese Welt ist uns fremd. Wir Sterbliche haben im Alltag keinen Zugang, keine Möglichkeit, uns dort einzurichten, um unsere Sterbenden besser verstehen zu können. Wir sind nicht vorbereitet auf diesen Prozess. Das Sterben ist ein Tabuthema, das uns in der Intensität und Heftigkeit so sehr trifft, weil wir uns nie damit konfrontiert haben.

Der Tod ist immer nur nebenan und kommt nicht zu mir. In vielen Todesanzeigen können wir es lesen: »Völlig unerwartet und plötzlich …« Dabei wissen wir doch schon seit unserer Geburt, dass das Leben endlich ist.

Wenn wir uns auf diese Zwischenwelt einlassen, gibt der oder die Sterbende den Weg, das Tempo und die Intensität für die begleitenden Angehörigen vor.

Wir dürfen mitgehen, teilhaben an einem großen Moment, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Das Gehör des Sterbenden und der Geruchssinn sind bis zum letzten Atemzug aktiv. Sie sind am Ende unsere einzigen mentalen Zugänge.

Was heißt das, wenn ich am Bett meines Angehörigen sitze, was motiviert mich, bei diesem scheinbar leblosen Körper zu bleiben?

Der Sterbende kann meine Stimme wahrnehmen, meinen Klang, mein Timbre, meine Poesie, mein Gefühl und meine Liebe, die ich in jedes meiner Worte lege.

Alles, was ich kundtue, auch wenn es keinen Dialog mehr gibt und nur ein Monolog möglich ist, ist Kommunikation und kommt an. Alles, was mir im Leben oft nicht möglich war auszudrücken, dafür gibt es jetzt einen Platz.

Meine Gefühle, meine Angst, meine Trauer haben Raum, angesprochen und gelebt zu werden. Es gibt kein Tabu mehr, das zu sagen, was mich beschäftigt.

Als ich dies einer älteren Frau vorschlug, die ihren Mann im Sterben begleitete, meinte sie: »Jetzt kann er auch nicht mehr widersprechen und muss es sich anhören.«

 

Es war Anfang Dezember. Frau R.s Zustand verschlechterte sich täglich, sie lag bis kurz vor Weihnachten im Koma. Die Familie war sehr verzweifelt, war doch offensichtlich, dass der Körper im Sterbeprozess war, die Mutter aber nicht gehen konnte. Nach vielen Gesprächen fragte ich die Tochter, ob sie glaubte, dass es noch etwas zu erledigen gäbe, dass vielleicht jemand aus der Familie noch nicht da war oder ihre Mutter auf jemanden wartete. Alles wurde verneint, bis die Tochter sagte, dass es einen Bruder gäbe, den sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hätte. Sie hätten sich im Streit getrennt. Ich bat sie, ihn anzurufen, doch es war unwahrscheinlich, so die Familie, dass er kommen würde, außerdem wohne er weit weg und es wäre eine Tagesreise mit dem Zug, die er sicher nicht auf sich nehmen würde.

Trotzdem wurde der Bruder angerufen. Er sagte, dass er mit dem nächsten Zug käme, und bedankte sich, dass er verständigt worden war. Er kam am 23. Dezember an. Die Familienangehörigen sprachen sich aus und schlossen Frieden. Am 24. am Morgen konnte seine Schwester friedlich einschlafen. Weihnachten, ein Fest der Familie.

 

Wir haben eine andere Stimmfarbe, wenn wir beten, sind selbst berührt beim Vorlesen eines Gedichtes oder einer Geschichte. Dieses Gefühl, diese Stimme, die mit dem Herzen spricht, kommt bei dem Sterbenden genau als das an, was es sein soll: ein Gespräch von Herz zu Herz.

Ein Gebet zu sprechen heißt, mit Gott sprechen – um Geleit bitten, große Kräfte mögen mittragen, was so schwer ist. Das ist ganz unabhängig von der Konfession, es ist die Bitte um Unterstützung.

Wenn wir mit dem Herzen, mit unserem Gefühl sprechen, dann gibt es nichts Falsches, keine Sorge, die Worte könnten nicht oder falsch verstanden werden.

 

Was heißt das, mit dem Herzen sprechen?

Der Sterbende spürt, ob wir ehrlich sind oder ob wir ihm etwas vormachen oder verheimlichen. Wenn wir nicht ehrlich sind, stimmt der Ton nicht mit dem Inhalt überein, die Mimik nicht mit dem Gesagten. »Es geht dir bald besser, du wirst wieder gesund«, mit Tränen in den Augen gesagt, ist nicht authentisch. Der Sterbende spürt die Unwahrheit. Er fühlt sich in seiner Not nicht angenommen, nicht verstanden und reagiert oft mit Rückzug. Manche schließen die Augen oder sprechen nicht mehr. Wie soll der Sterbende etwas klären können, wenn er keine Bereitschaft beim Gegenüber spürt, wenn er sich sorgen muss, ob der Angehörige das tragen kann?

Wir sind für den Sterbenden da und nicht der Sterbende für uns. Er hat keine Ressourcen mehr, solche Unebenheiten zu kompensieren. Und er bringt auch nicht mehr die Energie auf, das Nichtgesagte zu interpretieren.

Der Sterbende benötigt all seine Ressourcen, um zu klären, was ihm wichtig ist, wozu er im Leben keine Möglichkeit fand. Um dem Sterbenden den Schritt zu ermöglichen, bedarf es eines hohen Maßes an Authentizität, Ehrlichkeit, bewertungsfreiem Zuhören und Respekt. Wir achten die Freiheit des Sterbenden, damit auch wir frei sind in unserem Tun. Es gibt keinen Zwang. Das MUSS macht dem DÜRFEN, SOLLEN, KÖNNEN Platz. In diesem Miteinander kann die Liebe erwachen, geklärt werden, und die Gefühle, wie Schuld, Rache und Hass haben Platz, ohne Vorwurf angeschaut zu werden. Eine neue Dimension tut sich auf, zu vergeben und zu verzeihen. Ohne diese Haltung ist ein gutes und friedliches Sterben nicht möglich.

 

Motivation kann auch sein, da- und dabeizubleiben, auszuhalten.

Ich lass dich nicht allein im Sterben, ich bleib an deiner Seite, verlässlich, standhaft, trotzend dem Argen – das ist nicht nur eine Zusage oder ein Versprechen, es ist eine Haltung.

Eine Haltung aus meinem Menschenbild heraus, von welchem es auch immer bestimmt wird. Annehmen, was ist, im Vertrauen bleiben können, dass alles Sinn hat, auch wenn der Sinn nicht offensichtlich zu erkennen ist. Was macht beim Sterben auch Sinn? Und doch, wir kommen auf die Welt, bestimmt von einem göttlichen Gedanken, wir sterben, weil es ein Teil, der Abschluss unseres Lebens ist. Niemand kommt auf die Welt mit der Zusage, ewig auf der Erde leben zu dürfen.

 

Das Verharren am Bett eines Sterbenden kann auch die Chance bieten, für mich nachzudenken, zu reflektieren: Was bleibt übrig, wäre ich in der Situation des nahenden Todes? Was muss noch erledigt werden? Mit wem habe ich noch etwas zu klären, um Frieden zu finden? Wen müsste ich um Verzeihung bitten, damit ich gut gehen kann? Wem würde ich gerne ein Dankeschön ausrichten, wer sollte noch umarmt werden? Welche Botschaften werden mir deutlich, damit ich in meiner Sterbestunde erfüllt vom Hier ins Jenseits gehen kann?

 

Bei all dem, was geschieht, gibt es für mich als Angehörigen immer zwei Aspekte: Auf der einen Seite ist das Hadern, die Weigerung, das Leidvolle auf diesem Weg und in dieser Situation zu akzeptieren, wie es ist. Das ist eine der größten Herausforderungen in der Sterbebegleitung. Eine Herausforderung für alle Abschnitte des Lebens, in denen ich nicht gefragt werde, ob ich einverstanden bin. Die andere Seite ist die Dankbarkeit: etwas, was mich nährt, mich bereichert, trotz aller Schwere.

Am Bett von Sterbenden zu sitzen, sich einzulassen auf diesen besonderen Moment, diese unvergleichliche Stimmung des Geschehenlassens – das ist ein großes Geschenk, eine Gnade, wenn ich die Chance erkenne und für mich nutze. Der Wert, der Nutzen wird für den Sterbenden anders definiert als für den Angehörigen. Doch auf beiden Seiten ist Begleitung ein tiefes, unwiederbringliches und nachhaltiges Erleben.

Der Sterbende spürt die Anwesenheit, die Nähe, die Berührung, auch wenn es keine Reaktion mehr gibt. Wir erleben oft, wenn Angehörige den Raum verlassen, dass der Sterbende unruhig wird. Er legt die Stirn in Falten, die Atmung wird hektischer – alles ist sichtbar, obwohl der Sterbende nicht die Augen öffnet.

 

Wir wollen Ihnen Mut machen, Sie animieren, am Bett zu sitzen, teilzuhaben, auszuhalten, was auch immer in welcher Zeit und wie geschieht. Ich habe viele positive und dankbare Rückmeldungen bekommen, wenn Angehörige sich nach langem Zögern entschließen konnten zu bleiben.

Sie als Angehöriger haben die wichtige Aufgabe, den Sterbenden im Leben zu verabschieden. Schließlich sterben wir nicht über einen bestimmten Zeitraum, sondern leben bis zum letzten Atemzug.

Ein Lohn für das Aushalten ist das gute Gefühl, dass ich alles getan habe, was mir möglich war. Und dieses Gefühl stärkt in der kommenden Zeit der Trauerarbeit. Es nicht getan zu haben, wird oft als Vorwurf an sich selber gewertet: »Hätte ich doch …« – »Wäre ich doch geblieben …« – »Sicher fühlte er sich von mir verlassen …« – »Ich habe ihn allein gelassen und bin schuldig geworden …«.

Ich habe auch oft erlebt, dass Angehörige tagelang am Bett saßen, kurz aus dem Raum gingen, und als sie zurückkamen, war der geliebte Mensch tot. Angehörige machen sich dann Vorwürfe: Wäre ich nur geblieben, dann hätte ich das nicht versäumt.

 

Eine junge Frau lag im Sterben und war seit Tagen kaum ansprechbar. Sie sagte mir, dass sie bewusst die Augen schließe, damit ihre Familie in »Ruhe« vom Bett weggehen könne. Sie wolle nicht mehr berührt und aufgehalten werden, und ich solle dafür sorgen, dass sie alleine sterben kann und niemand bei ihr sitzt. Es fiel ihr so schwer, zu gehen, wenn ihr Mann oder ihre kleinen Töchter in ihrer Nähe waren, und sie wusste, dass ihre Zeit vorbei ist und sie gehen muss. Der Ehemann ging mit den Kindern auf den Spielplatz, und als er zurückkam, war sie eingeschlafen, mit einem friedlichen Gesichtsausdruck und einem Lächeln um die Lippen. Ich habe ihm von unserem Gespräch erzählt, weil er sich den Vorwurf machte, nicht da gewesen zu sein. Er verstand ihren Beweggrund und war dankbar, dass sie friedlich einschlafen konnte.

 

Alles getan zu haben, auch wenn es offensichtlich nichts mehr zu tun gibt, ist ein hehrer Anspruch, eine große Aufgabe und sollte für Sie als Angehöriger die Essenz sein, wenn der letzte Atemzug aus dem Körper flieht.

Lassen Sie sich ein auf die große Geschichte des Sterbens und werden Sie Teil eines tiefen Erlebens.

Ein kleines Stück würden wir Sie mit diesem Buch gerne begleiten und an Ihrer Seite sein.

Was für Begleitende hilfreich sein kann

Für Sie als Angehörige ist es entlastend, am Bett zu sitzen und etwas tun zu können, um den Sterbenden auf dem letzten Weg zu unterstützen.

Bei Unruhe oder auch wenn der Sterbende friert, die Arme und Beine mit warmem Öl einreiben, ganz zart und sacht. Besonders eignen sich beruhigende Öle wie z.B. Lavendel oder Rose. Öl kann auf der Heizung oder im Wasserbad erwärmt werden.

Zur Mundpflege die Flüssigkeit in kleine Sprühflaschen füllen, die der Sterbende bevorzugt getrunken hat, z.B. Kaffee, Bier, Wein, Säfte. Die Fläschchen gibt es in der Apotheke zu kaufen, mit Pipette oder Sprühaufsatz. Durch das Sprühen wird der Mund angefeuchtet, und ein Verschlucken durch zu viel Flüssigkeit wird vermieden. Gleichzeitig erlebt der Sterbende einen ihm angenehmen Geschmack.

Bei permanenter Atmung durch den offenen Mund weiche Butter oder Honig, je nach Geschmacksvorliebe, auf die Zunge streichen, damit sie nicht so sehr austrocknet.

Bei geschlossenem Mund vorsichtig die Unterlippe anheben und mit einer Pipette oder einem kleinen Löffel die Flüssigkeit vor die Zahnreihe geben.

Gerüche werden bis zum Schluss wahrgenommen. Sprühen Sie ein wenig Parfüm oder Duftöl auf das Kopfkissen oder einen Schal, den Sie in die Nähe des Kopfes legen.

Duftlampen mit ätherischen Ölen helfen bei übel riechenden Ausscheidungen oder großflächigen Wunden, den Geruch zu binden, sodass wir gut sitzen bleiben können. Dazu verwenden Sie Grapefruit, Zitrone oder Mandarine. Für die Stimmung des Abschiedes passt Lavendel, Rose, Geborgenheit oder Heimkommen. Verwenden Sie nur reine ätherische Öle, keine synthetischen Duftöle. Und nehmen Sie nicht zu viel Duftstoff.

Als Angehörige dürfen Sie Bachblüten zu sich nehmen, Notfallglobuli oder Tropfen. Bachblüten sind Blütenessenzen, die auf emotionaler Ebene unterstützen. Sie helfen, mit dem Ausnahmezustand besser zurechtzukommen, kanalisieren die Angst und die Panik.

Ruhige, unaufdringliche Musik kann als wohltuend empfunden werden. Denken Sie auch an Musik, die der Sterbende immer gerne gehört hat.

Wenn es ein Haustier gibt, lassen Sie es am oder im Bett verweilen. Ich habe öfter beobachtet, dass unruhige Menschen ganz ruhig wurden, wenn die Katze oder der Hund am Fußende lag. Die Tiere blieben oft so lange dort, bis der Mensch verstorben war.

Es ist alles richtig, wie Sie es machen, es gibt kein »Falsch«. Seien Sie achtsam, schauen Sie genau hin, wo Ihre Grenze überschritten wird, und zwingen Sie sich zu nichts. Niemand ist Richter, und es müssen keine Erwartungen erfüllt werden. Das einzige MUSS ist, dass jemand stirbt. Dafür gibt es keine Gebrauchsanweisung, nur der innere, eigene Wegweiser ist bedeutsam.

 

 

Zwischen den Welten

Im Zwischenleben des Sterbens,

im noch hier sein

und noch nicht drüben sein,

wird der Augenblick des Jetzt geboren,

das zeitlos Ewige.

Wir stehen an den Marken der Zeit,

der Endlichkeit,

die sich in Unendliches verwandelt.

In der Kommunikation

von Herz zu Herz

offenbart sich Unausgesprochenes,

ohne Tabus,

selbst wenn kein Dialog mehr möglich ist.

Wir werten nicht länger,

und aufrichtige, bedingungslose Liebe

kann niemals missverstanden werden.

Lieben heißt annehmen, wie es ist,

wodurch sich Ängste, Zweifel und Hadern auflösen.

Dann können wir das Sterben geschehen lassen,

ein Abschied, der Frieden bringt,

da alles getan wurde,

was möglich war,

und uns nicht leer zurücklässt.

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2

Die inneren Vorgänge im Sterbeprozess

Wenn Sie als Angehöriger ein Familienmitglied oder einen engen Freund begleiten wollen, ist es überaus sinnvoll, sich mit den inneren Vorgängen im Sterbeprozess vertraut zu machen.

Durch die zahlreichen medizinischen Möglichkeiten, das Sterben hinauszuzögern, ist es sehr schwer geworden, zu bestimmen, wann genau das Sterben einsetzt. Sterben kann sich mitunter über Wochen oder Monate hinziehen. Bei der nun folgenden Darstellung des inneren Sterbeprozesses handelt es sich um das finale Sterben. Jeder stirbt auf seine Weise, und jeder durchläuft den Prozess geprägt von seiner Persönlichkeit, seinen Bedürfnissen oder Annahmen.

In der Beschreibung des inneren Sterbeprozesses geht es mir vor allem darum, auf die Phänomene und Umstände hinzuweisen, die auf die langsame Loslösung der Seele vom Körper zurückzuführen sind. Sie helfen dabei, das Sterbegeschehen transparent zu machen. Wir haben es hier nicht mit einem Phasenmodell zu tun, das durchlaufen werden muss, sondern es geht um wiederkehrende Aspekte, die auf Beobachtungen in der Sterbebegleitung zurückzuführen sind.

All diese Einsichten sind dabei behilflich, das Wandlungsgeschehen im Sterben zu verstehen. Durch die Praxis hospizlicher Sterbebegleitung, der Palliativstationen und auch aus Nahtoderfahrungen wissen wir heute mehr als jemals zuvor darüber, was mit uns geschieht, wenn wir sterben. Dieses Wissen kann äußerst tröstlich und hilfreich sein, wenn wir Sterbenden auf ihrer letzten Wegstrecke beistehen wollen.

 

Das Allerwichtigste bei einer Sterbebegleitung ist es, einfach da zu sein, ins Mitgefühl zu gehen, um sich einzig auf die Bedürfnisse der Sterbenden einzustellen. Die wohl schwierigste Aufgabe ist es, nicht zu werten oder zu urteilen. Das ist eine der größten Herausforderungen überhaupt, da die Akzeptanz des Sterbens leider nicht so einfach ist. Für Angehörige ist es wichtig, den Sterbenden dabei zu unterstützen, den bevorstehenden Tod anzunehmen. Nur dann kann der Sterbende loslassen. Er fühlt sich frei und will nicht länger den Verlauf des Geschehens beeinflussen oder verhindern.

Sterbende haben eine veränderte Wahrnehmung. Je weiter die Loslösung der Seele voranschreitet, desto mehr erweitert sich das Bewusstsein. Die Reaktionen darauf sind sehr unterschiedlich. Als Begleitende können wir bereits im einsetzenden Sterbeprozess erkennen, ob der Widerstand gegen das Sterbenmüssen sehr ausgeprägt ist oder ob jemand seinen bevorstehenden Tod annehmen kann. Wenn die Gegenwehr sehr groß ist, kann sich das Sterben hinziehen. Wer die Bereitschaft aufbringt loszulassen, findet Frieden und wirkt gelassen.

Sterbende wissen intuitiv von ihrem nahenden Tod, obwohl das nicht jeder zum Ausdruck bringt. Aufgrund der Individualität jedes einzelnen Menschen erlebt jeder seinen Tod auf seine ureigene Weise. Wer verhaftet bleibt und sich nicht lösen kann – von seiner Familie, den Freunden, dem Irdischen oder seinem Besitz –, lehnt sich gegen sein Sterben auf. Auch wenn Angehörige nicht loslassen können, kann sich das Sterben hinausdehnen.

Der einsetzende Sterbeprozess

Irgendwann stellt sich bei den Angehörigen die Wahrnehmung ein, dass der Sterbende am Ende seiner Kräfte ist. Seine Energie nimmt deutlich ab, und er ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Er kann nicht mehr eigenständig aufstehen oder Dinge festhalten. Das ist der Beginn einer Veränderung, die auf den nahenden Tod und das Einsetzen des finalen Sterbeprozesses hinweist.

Sie können von außen erkennen, ob der Sterbende seinen bevorstehenden Tod annehmen kann oder nicht. Manche reagieren mit Angst und wehren sich auch gegen die veränderten Bewusstseinszustände. Andere sind bereit loszulassen und sind überaus gelassen. Die Seele beginnt sich vom Körper zu lösen. Je mehr Widerstand oder Gegenwehr vorhanden ist, desto schwieriger gestaltet sich das Sterbegeschehen. Die Ablösung der Seele bewirkt einen erweiterten Bewusstseinszustand, unabhängig davon, ob der Sterbende sich im Koma befindet, im Wachbewusstsein oder ob er bewusstlos ist. Dadurch bekommt er alles mit, was um ihn herum geschieht, und er befindet sich teilweise außerhalb des Körpers. Der Sterbende nimmt Gedanken und Gespräche der Anwesenden wahr wie auch jede Nuance von Hilflosigkeit oder Resignation.

In Todesnähe zeigen sich alle Ängste, vor denen wir im Leben davongelaufen sind: schutzlos ausgeliefert zu sein, mangelndes Vertrauen, Schuldgefühle oder Mangel an Liebe. Lebenslange Zwänge, Ausflüchte oder Verdrängungen brechen zusammen. Das ist für Angehörige eine große Herausforderung, da zwiespältige Gefühle zwischen Urangst und Urvertrauen auftreten können, die zudem eigene Ängste widerspiegeln können. Wer diese Bedrohung aushält, macht die Erfahrung, dass Angst niemals die letzte Wahrheit ist, sondern ein Durchgangstor zur Freiheit. Wer weitergeht und sein Sterben annehmen kann, erreicht einen Zustand von Licht und Frieden. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass der Sterbeprozess ein Wandlungsgeschehen ist. Für Begleitende ist dieses Wissen um die inneren Vorgänge in diesem Grenzbereich besonders wichtig, da der Sterbende auf die Einfühlungsfähigkeit seiner Umgebung angewiesen ist.

Untersuchungen haben aufgezeigt, dass eine spirituelle Öffnung bei den meisten Sterbenden zur letztgültigen Erfahrung wird, da dieses Erleben alle vorangegangenen Ängste übersteigt. Je mehr sich das Bewusstsein eines Sterbenden erweitert, desto mehr stellen sich Frieden und Schmerzlosigkeit ein. Wir werden durch eine einfühlsame Sterbebegleitung zu Zeugen der geistigen Transformation.

 

Meine Mutter lag schon eine Woche im Koma und reagierte nicht mehr auf Ansprache. Am Sonntagnachmittag, zur Kaffeezeit, wenn sich oft alle Kinder bei ihr trafen, saß sie aufrecht im Bett, schaute in die große Runde ihrer Kinder und Enkelkinder und nickte jedem lächelnd zu. Sie sprach im Stakkato, abgehackte, kurze Sätze, die nicht jedem persönlich galten, sondern ganz allgemeine Äußerungen wie zum Beispiel »Schön, dass alle da sind«. Ihr Gesichtsausdruck war wie modelliert, es gab keine Muskelbewegung und keine Veränderung der Mimik. Ihr Lächeln war immer gleich, wie festgefroren, sie strahlte, und ich hatte den Eindruck, dass sie nicht wirklich hier war und sich schon von dieser Welt entfernt hatte. Wenn jemand sie ansprach, reagierte sie nicht. Alle gingen dankbar und sehr erfüllt nach diesem Ereignis nach Hause. In der gleichen Nacht schlief sie friedlich ein.

 

Sterbende sind geistig wacher als je zuvor. Das zeigt sich auch im inneren Wissen um ihren bevorstehenden Tod. Jetzt ist es besonders wichtig, authentisch und ehrlich zu sein. Alles Beschönigende und alles Verleugnen des wahren Zustandes sollten unterlassen werden. Es ist von zentraler Bedeutung, noch einmal Wesentliches zum Ausdruck zu bringen, vor allem Dankbarkeit und Liebe. Statt über Blumen oder das Wetter zu sprechen oder einander vorzumachen, dass der Sterbende bald wieder zu Hause sein wird, geht es darum, ihn dabei zu unterstützen, mit sich ins Reine zu kommen.