Ich seh den Wald vor Bäumen nicht - Wolf Stein - E-Book

Ich seh den Wald vor Bäumen nicht E-Book

Wolf Stein

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tree Planter • Planteur d'arbres • Baumpflanzer!! Jedes Jahr, gegen Ende April, beginnt in Kanada die Baumpflanzsaison. Eine Saison, die es in sich hat. Kleine Pflanztrupps ziehen Tag für Tag in die Unendlichkeit der kanadi¬schen Wälder und bringen Tausende und Abertausende Bäume in den Boden. Per Hand! Bei jedem Wetter! Allen Widrigkeiten zum Trotz! Ein knochenharter Job, der Körper und Geist einiges abverlangt. Man kann ihn lieben oder hassen, darin aufgehen oder ihn verfluchen. Am Ende zählt nur eins: Durchhalten! Wer es schafft, weiß, womit er sein Geld verdient hat. Er kann es fühlen in jeder Faser seiner Muskeln. Er kann zurückblicken auf eine einzigartige Zeit. Und er kann davon erzählen. In einem Buch. Einem Buch wie diesem.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 164

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolf Stein

Ich seh den Wald vor Bäumen nicht

Als Tree Planter in Kanada

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Clearwater

Bärenalarm

Das Bäumepflanzen

Der Feind

Hals- und Beinbruch

Die Fahrer

So ein Mist

Die Plage

Day off

Nur nicht aufgeben

Das Liebesnest

Lenzo und Joe

Pleiten, Pech und Pannen

Auf bald

Im Bus

Guy

L’Anse Saint Jean

Weisheiten und Zitate

Das ABC des Baumpflanzers

Impressum neobooks

Vorwort

Tree Planter • Planteur d‘arbres • Baumpflanzer!

Jedes Jahr, gegen Ende April, beginnt in Kanada die Baumpflanzsaison. Eine Saison, die es in sich hat. Kleine Pflanztrupps ziehen Tag für Tag in die Unendlichkeit der kanadischen Wälder und bringen Tausende und Abertausende Bäume in den Boden. Per Hand! Bei jedem Wetter! Allen Widrigkeiten zum Trotz!

Ein knochenharter Job, welcher Körper und Geist einiges abverlangt. Man kann ihn lieben oder hassen, darin aufgehen oder ihn verfluchen.

Am Ende zählt nur eins: Durchhalten!

Wer es schafft, weiß, womit er sein Geld verdient hat. Er kann es fühlen in jeder Faser seiner Muskeln. Er kann zurückblicken auf eine einzigartige Zeit.

Und er kann davon erzählen. In einem Buch.

Einem Buch wie diesem.

Clearwater

Die kleine Stadt Clearwater und der angrenzende Wells Gray Provincial Park - ein wahres Urlaubsparadies im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Türkisfarbene Seen mit schmackhaften Regenbogenforellen laden zum Baden, zum Angeln und zu ausgedehnten Kanutouren ein. Schneebedeckte Berge, wilde Flüsse mit fantastisch anmutenden Wasserfällen und dichtgewachsene Wälder verlocken zum Wandern. Sie betten das Tal in eine Kulisse, wie geschaffen für die Leinwände der Landschaftsmaler. Doch der Genuss dieser atemberaubenden Natur sollte nicht meine Bestimmung sein.

An einem sonnig warmen Tag, Ende April, hielt mein Überlandbus aus Vancouver an einer kleinen Bushaltestelle mit der Aufschrift: Clearwater Bus Station. Als Einziger stieg ich aus. Ich nahm mein Gepäck und wartete, bis der Bus weiterfuhr. Dann sah ich mich um. Weit und breit war kein Mensch in Sicht. Ich ging in das kleine Empfangshäuschen. Hinter dem improvisierten Tresen stand eine ältere Frau. Sie fing gerade damit an, die Postsendungen zu sortieren, die der Busfahrer eben erst bei ihr abgeliefert hatte. Nach einer freundlichen Begrüßung fragte ich sie, wo sich der örtliche Campingplatz befände. Man hatte mir gesagt, das Camp sei direkt neben der Bushaltestelle. Doch ich konnte hier nirgendwo Zelte oder Campingwagen sehen, geschweige denn einen großen Platz.

»Das liegt daran, dass hier kein Campingplatz ist. Den findest du 5 Kilometer die Straße rauf«, antwortete die Frau.

»Dann hat man mir wohl Blödsinn erzählt?«

»Nein, nein, eigentlich nicht. Die Busstation befindet sich direkt neben dem Camp. Doch sie wird momentan von Grund auf neu gebaut. Deshalb halten alle Busse hier. Das ist nur vorrübergehend. Ich kann dir aber ein Taxi rufen. Das bringt dich hin.«

»Kein Problem«, antwortete ich, »das Stück gehe ich zu Fuß.«

Ich wünschte einen schönen Tag, schwang meinen vollgestopften Rucksack auf den Rücken und wanderte los. Die paar Kilometer sollten keine Schwierigkeit darstellen. Schließlich war ich nicht zur Erholung hier, sondern um Bäume zu pflanzen - Tausende Bäume. Dazu musste man fit sein. So nahm ich den Fußweg als Training gern in Kauf. Ich wusste nicht genau, was mich in den nächsten Wochen erwartete, nur, dass es nicht leicht werden würde. Der anstrengende Job als Baumpflanzer ist in Kanada nichts Ungewöhnliches, fast eine Art Lebenseinstellung. Viele haben ihn irgendwann schon mal gemacht oder kennen jemanden, der ihn gemacht hat.

Nach wenigen hundert Metern Asphaltebene führte die Straße zum Camp stetig bergauf.

»Das fängt ja gut an«, dachte ich.

Schwitzend erreichte ich den Campingplatz. Dort herrschte gähnende Leere. Kein einziges Wohnmobil parkte in den Buchten. Kein Hering spannte die Schnur irgendeines Zeltes.

War ich hier falsch?

Ein Kleintransporter fuhr an mir vorbei. Er hielt an einem langgezogenen, weißen Flachbau. Im Inneren schien eine Spur von Leben erkennbar. Ich marschierte hin. Durch eine Schwingtür gelangte ich in das Gebäude, das sich als Rezeption herausstellte - als vermüllte Rezeption. Überall lag Krimskrams. Kisten standen herum. Im Nebenraum, dem Speisesaal, reihten sich Tische und Stühle akkurat gestapelt aneinander. Es klapperte. Ich vernahm Stimmen. Scheinbar waren die Platzbetreiber gerade am Einräumen. Mit meiner linken Hand schlug ich auf die Tresenklingel. Das Klappern und die Stimmen verstummten. Eine blonde Frau kam aus der Küche.

»Ah! Auch ein Pflanzer?« fragte sie mich.

»So sieht’s aus! Wolf mein Name.«

»Hallo Wolf, ich bin Linda. Mir und meiner Familie gehört der Platz hier.«

»Viel ist aber nicht los«, meinte ich.

»Noch nicht! Die Saison startet erst in ein paar Tagen. Deshalb sind wir kräftig am Sortieren. Es gibt noch viel zu tun. Aber jetzt zeige ich dir erst mal alles und gebe dir deinen Zimmerschlüssel.«

»Bin ich der Einzige bis jetzt?«

»Nein. Ein paar Leute sind schon da. Und der Rest müsste morgen oder übermorgen eintrudeln.«

Linda brachte mich zu einer Wohnanlage aus doppelstöckigen Holzbungalows. Auf dem Weg erklärte sie mir die geltenden Spielregeln und die zu beachtende Hausordnung.

»Hier ist dein Schlüssel. Du hast Zimmer Nummer 3. Ich wünsche dir viel Spaß. Falls Fragen sind, einfach zu mir kommen. Jetzt muss ich weitermachen. Wie gesagt, es gibt viel zu tun.«

Zimmer Nummer 3 bestand aus einer kleinen Küche, drei Betten und einem Badezimmer - einfach, aber durchaus gemütlich. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, während der Pflanzsaison so komfortabel untergebracht zu sein. Stattdessen war ich davon ausgegangen, drei Monate bei Wind und Wetter in meinem Zelt verbringen zu müssen. Das hätte ich sicherlich problemlos überlebt, doch ein richtiges Bett ist ein richtiges Bett.

Nach ausführlicher Inspektion meiner Unterkunft begab ich mich auf die Suche nach zukünftigen Weggefährten. Auf dem grünen Rasen hinter den Holzquartieren saß ein junger Mann mit blonder Mähne. Vertieft in ein Buch bemerkte er nicht, dass ich mich an ihn heranschlich.

Mit den Worten: »Hallo! Bist du auch als Pflanzer hier?« gab ich mich zu erkennen.

»Ich bin Ben. Hallo! Ja, ich bin auch ein Tree Planter. Allerdings ist dies meine erste Saison.«

»Meine auch«, antwortete ich.

Wir waren also beide Rookies, wie die Neulinge genannt werden - eine erste Gemeinsamkeit. Bens französischer Akzent verriet mir, dass es sich bei ihm um einen Mitstreiter aus dem östlichen Kanada handeln musste. Und so war es auch.

»Ich stamme aus Quebec, wie die meisten der Pflanzer, die noch kommen. Normalerweise studiere ich Literatur.«

»Literaturstudent und Bäume pflanzen, wie geht denn das zusammen?« dachte ich.

Aber hatte ich richtig gehört, die meisten der Tree Planter kamen aus Quebec? Das hieße ja, alle würden hauptsächlich französisch sprechen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Kein Wort würde ich bei Teambesprechungen verstehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon ausgegangen, dass englisch gesprochen werden würde. Wenig später, als alle Kollegen eingetroffen waren, bestätigte sich mein Verdacht. Bis auf mich als Deutschen sowie drei Pflanzern aus British Columbia stammten alle aus Quebec und sprachen vornehmlich mit Quebecer Zunge. Mit uns wurde in gebrochenem, aber trotzdem gutem Englisch kommuniziert. Wenn sich die Quebecer jedoch in der Gruppe unterhielten, hatten die englischsprachigen Kanadier und ich als Ausländer keinen blassen Schimmer, worüber. Mit der Zeit lernten wir ein paar Wörter. Am Ende beherrschten wir sogar ganze Sätze. Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Zwei Teams lebten von nun an im Camp und fuhren täglich raus in die Wildnis, um Bäume zu pflanzen - 1,3 Millionen Bäume insgesamt, wie ich bald erfahren sollte. Unser Oberboss hieß Steve. Ihm gehörte die Wiederaufforstungsfirma Celtic Reforestation mit Hauptsitz in Prince George. Diese bekam ihre Aufträge von den hiesigen Forstwirtschaftsbetrieben oder direkt vom Staat. Steve unterstellt waren Audrey und Matt, unsere Vorarbeiter. Jede Crew bestand aus vierzehn Pflanzern. Einige kannten sich bereits aus ihrer Heimat oder aus den Vorjahren. Ich wurde Audreys Team zugeteilt. Es setzte sich zusammen aus den Quebecern Caissy, Vince, Sara, Carol, Jenn, Maude, Jerome, Dominic, Ben, Pierre und Joe, aus den Vancouveranern Emily und Chris und aus mir, Wolf, Wolf from Germany. Eine tolle Truppe, in der ich viele Freunde fürs Leben finden sollte.

Gleich vier Frauen in meiner Crew - das hatte ich nicht erwartet.

»Die müssen ganz schön zäh sein, um diesen Job durchzuhalten«, dachte ich.

Auch in Matts Team gab es Pflanzerinnen. Wie zäh sie waren, zeigte sich bald.

Die erste Gelegenheit, meine Mitstreiter näher kennenzulernen, ergab sich bei einem gemeinsamen Spaziergang zu den nahegelegenen Helmcken Wasserfällen. Es war der letzte Tag der Ruhe. Danach ging sie los, die Knochenarbeit:

Das Tree Planting!

Bärenalarm

Bevor es zum ersten Mal in den Wald geht, findet eine ausführliche Sicherheitseinweisung statt. Alle Gefahren und Risiken beim Arbeiten in der Wildnis, alle zu beachtenden Richtlinien und Vorschriften, alle Vorgehensweisen, Hilfsmaßnahmen und Arbeitsabläufe werden besprochen, vorgeführt, erläutert und dargestellt. Der Arbeitsvertrag wird überreicht und unterschrieben sowie die eidesstattliche Erklärung, dass man sich diesen verrückten Baumpflanzjob freiwillig und ohne äußeren Zwang selbst ausgesucht hat. Nachdem das Wichtigste geklärt und alles ordnungsgemäß signiert wurde, folgt das Allerwichtigste: das Bärenvideo! Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine preisgekrönte Tierdokumentation, sondern um auf Zelluloid gebannte Verhaltenstipps für den Fall einer unerwarteten Bärenbegegnung. Zu solch einer Begegnung kommt es nur selten, doch wenn, dann muss jeder wissen, wie er sich seinem pelzigen Gegenüber zu präsentieren hat. Sollte er sich Meister Petz widerstandslos zum Fraß vorwerfen oder die Situation lieber in aller Ruhe ausdiskutieren und versuchen, einen für beide Seiten akzeptablen Nichtangriffspakt zu schließen? Für alle Leute, deren Gewissen sich ernsthaft mit dieser Frage plagt, ist das Bärenvideo. Der erfahrene Pflanzer weiß natürlich, wie er dem Bären auf dessen Territorium gegenüberzutreten hat. Oder doch nicht? Zugegebenermaßen gibt es kaum die Gelegenheit, das eigene Verhalten zu proben. Denn normalerweise gehen Bären dem Menschen aus dem Weg. Und falls man doch einen zu Gesicht bekommt, guckt er einen in der Regel nur kurz an und verduftet. Was aber, wenn dem Bären dein Äußeres nicht passt oder er denkt, du hättest irgendetwas von Interesse an beziehungsweise bei dir? Was, wenn er gerade stinksauer ist und sich ausgerechnet an dir abreagieren möchte? Und was, wenn er einfach nur auf ein Bier vorbeikommt? Es gibt schlichtweg viel zu viele offene Fragen und unvorhersehbare Situationen. Aber mal ganz im Ernst - geraten Mensch und Bär aneinander, geht die Sache in 99 Prozent der Fälle harmlos aus. Doch manchmal hat man eben Pech und die Situation eskaliert, egal ob dann das Tier die Schuld trägt oder der Mensch. Frei nach Klaus Lages `Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert, tausend und eine Nacht und es hat Zoom gemacht´ kann es eben auch mal `Zoom´ machen.

In British Columbia gibt es sowohl Schwarz- als auch Grizzlybären. Das wusste ich bereits vor Betrachten des Bärenvideos. Nachdem dieses intensiv studiert worden war, stand eines fest: Es gibt mehrere Bärentypen. Je nach dem, welchem Typ man begegnet, ist man entweder in größeren Schwierigkeiten oder hatte einfach nur eine faszinierende Tierbegegnung. Einige Bären sind recht neugierig. Sie wollen deshalb nur mal nach dem Rechten schauen und gucken, was so abgeht. Andere, besonders junge Bären, tun nur so, als würden sie angreifen, um zu zeigen, was sie alles auf dem Kasten haben, drehen dann aber kurz vorm Zusammenprall ab. Manchen Bären jedoch sitzt irgendein Furz verquere. Die legen es oftmals wirklich darauf an. Und dann gibt es noch diejenigen, die überhaupt keinen Spaß verstehen: Bärenmütter mit ihren Jungen. Denen sollte man nicht in den Weg geraten. Sobald die Mutter denkt, man stelle auch nur die geringste Gefahr für ihren Nachwuchs dar, schaltet sie auf Angriff und Verteidigung - im Prinzip wie beim Menschen. Die harmlosesten Pelzträger sind selbstverständlich jene, die bereits von vornherein einen großen Bogen um uns zweibeinige Waldbesucher machen.

Das wäre somit geklärt. Aber wie verhalten Mann und Frau sich nun, wenn es tatsächlich darauf ankommt?

Zunächst grüßt man das Tier freundlich. Man stellt sich höflich und mit ruhiger Stimme vor. Wie sich das gehört, wenn man gut erzogen wurde. Das ist kein Witz! Damit zeigt man dem Bären, dass es sich bei dem, was ihm da so ängstlich gegenübersteht, um ein menschliches Wesen handelt. Dann hat der meist schon die Schnauze voll und geht weiter seines Weges. Sollte der Bär trotz höflicher Vorstellung beginnen, wild auf einen zuzurennen, gilt es, Ruhe zu bewahren, stehen zu bleiben, die Arme in die Luft zu strecken, sich größer erscheinen zu lassen, als man ist, und mit fester, lauter Stimme auf den Bären einzureden. Dieses Verhalten muss man jedoch erst mal an den Tag legen können, ohne sich in die Hose zu machen. Einfach ruhig stehen zu bleiben, wenn so ein Koloss heranstürmt, dazu gehören starke Nerven. Tritt dennoch der Fall ein, dass sich hinter dem vermeintlichen Scheinangriff eine echte Attacke verbirgt, um Himmels Willen nicht umdrehen und weglaufen. Da ist der Bär eindeutig im Vorteil. Wer zufällig Bärenspray dabei hat, sollte spätestens jetzt davon Gebrauch machen. Doch Vorsicht, nicht gegen den Wind sprühen! Aus welchem Grund? Genau aus demselben Grund, aus dem man nicht gegen den Wind pinkelt. Ansonsten schnell auf den Bauch fallen lassen, tot stellen, mit den Händen den Nacken schützen und mit den Armen die Eingeweide. Somit hat man immer noch die Chance, als Appetithäppchen nicht attraktiv genug zu sein und nur kurz beschnuppert zu werden. Ist der Mörderinstinkt des Bären jedoch ausgeprägter als seine Vernunft und er beginnt damit, sein Opfer anzuknabbern, gibt es nur noch eins: Beten und sich mit allem, was man hat und finden kann, verteidigen! Gehört man zu den Glückspilzen, überlebt man, gehört man zu den Pechvögeln, ist der Arm ab. Schnell folgt das Bein, danach der Kopf und immer so weiter. Das geht einem Bären im Blutrausch leicht von der Hand oder, besser gesagt, von der Tatze. Dann hat das Bärenvideo letzten Endes auch nichts gebracht, aber man scheidet wenigstens mit der Gewissheit dahin, sich richtig verhalten zu haben.

Ich war überrascht. Viele meiner Baumpflanzkollegen aus Quebec hatten weniger Bärenerfahrung als ich. Dank einer früheren sechsmonatigen Reise durch Westkanada und Alaska, konnte ich auf viele großartige Bärensichtungen zurückblicken. Im Osten Kanadas hingegen schienen sich die pelzigen Vierbeiner regelrecht zu verstecken. Doch wie auch immer, über eine tödliche Attacke von Meister Petz machte ich mir keine Sorgen. Was hingegen ein leicht besorgtes Runzeln auf meine Stirn trieb, war die Tatsache, dass auch Pumas die weiten Wälder um Clearwater ihr Zuhause nennen. Während du dich mit einem Bären wenigstens noch unterhalten kannst, bevor er auf dich losgeht, schleicht sich die Großkatze lautlos von hinten an und packt zu. Ein Biss direkt ins Genick und das war es. Bei einem Tree Planter hat sie damit leichtes Spiel. Dieser guckt die meiste Zeit nur nach unten und achtet nicht auf seine Umgebung.

Ich dachte: »Sollte ich wirklich auf dem Speiseplan eines Pumas stehen, merke ich das erst, wenn es bereits zu spät ist. Na Prost-Mahlzeit!«

Aber einem Puma über den Weg zu laufen, war noch viel unwahrscheinlicher als ein Bärenangriff. Die Tiere sind zu scheu. Allerdings gilt auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wird ein Bär gesichtet, pflanzen ab Sichtungszeitpunkt mehrere Leute dicht beieinander. Niemand treibt sich für den Rest der Schicht allein auf seinem Pflanzstück rum. Das ist ausreichender Schutz. Kein Bär ist so dumm und legt sich mit vier oder fünf Baumpflanzern gleichzeitig an. Bei einer Pumasichtung sieht die Sache schon anders aus. Findet diese statt, werden schnellstmöglich die Sachen gepackt und das Gebiet von allen verlassen. Da wird kein Risiko eingegangen. In den kanadischen Zeitungen war berichtet worden, dass ganz in der Nähe ein Kind von einem Puma angefallen wurde. Es hatte mit seiner Mutter Beeren im Wald gesammelt. Doch die Geschichte ging glimpflich aus, denn die Mutter warf sich wagemutig zwischen ihr Kind und die Großkatze. Mit leichten Verletzungen kamen beide davon. Ob der Puma allerdings den Angriff der Mutter überlebt hat, ist fraglich. An diesem Beispiel sieht man es wieder. Egal ob Mensch oder Tier, wer es auf das Kind einer schützenden Mutter abgesehen hat, sollte zweimal überlegen, was er da vorhat. Die Chance ist groß, dass man vom Jäger zum Gejagten wird. Audreys Freund Matt wusste ebenfalls von einer brenzligen Situation zu berichten. Vor Jahren passiert. Nichtsahnend pflanzte er damals in der brütenden Hitze vor sich hin. Dabei bewegte er sich auf einen langen umliegenden Baum zu. Zum Glück war Matt nicht allein auf seinem Stück, sondern pflanzte zusammen mit einem Freund.

Der schrie plötzlich aus der Ferne: »Vorsicht Matt! Vor dir!«

Matt hob den Kopf und sah die schlängelnde Bewegung eines Pumaschwanzes hinter dem Baumstamm hervorblitzen. Das Raubtier lag also bereits in Lauerstellung und hatte ihn ins Visier genommen. Nur ein paar Meter trennten die beiden noch voneinander. Während Matt zu Stein erstarrte, trillerte sein Freund kräftig mit der Pfeife und rannte auf ihn zu, um zu helfen. Vom Pfiff aufgeschreckt verschwand der Puma im dunklen Dickicht.

Die Trillerpfeife ist für jeden Tree Planter überlebenswichtig. Bei Gefahren jeglicher Art und schwerwiegenden Problemen wird losgepfiffen - egal ob man gestürzt ist und sich verletzt hat oder eine Bärensichtung zu Grunde liegt. Da die zu bepflanzenden Stücke sehr groß sind und manchmal so weit auseinanderliegen, dass selbst laute Hilferufe nicht bis zum Nachbarn durchdringen würden, muss jeder eine Pfeife am Mann tragen. Dies lernt man selbstverständlich auch während der Sicherheitseinweisung. Gibt jemand einen Pfiff ab, heißt das für alle anderen: Sofort alles stehen und liegen lassen und in Richtung des Pfiffes rennen! Einer für alle, alle für einen!

Mit der Sicherheitseinweisung im Gedächtnis, dem Inhalt des Bärenvideos vor Augen und der Trillerpfeife um den Hals ging es Morgen für Morgen mit dem Truppentransporter in den Wald. Doch wie schon vermutet, hielten sich die Begegnungen mit Bären in Grenzen, von Pumas ganz zu schweigen. Einzig während der Fahrten im Morgengrauen konnten wir hin und wieder Schwarzbären am Wegesrand bewundern. Die nahmen allerdings immer Reißaus, sobald sie Wind von uns bekamen. Genau wie die Elche und das Rotwild. Alles, was uns auf den riesigen, neu zu bepflanzenden Waldblöcken auf die Präsenz der Bären hinwies, waren ihre ebenfalls riesigen Haufen, die überall herumlagen. Bis auf zwei Ausnahmen. Denn zwei Zusammenstöße mit Bären gab es tatsächlich. Caissy lief während der Ausübung seiner Tätigkeit als Baumkontrolleur eine Bärenfamilie vor die Nase.

»Oh, oh! Eine Mutter mit zwei Jungen. Das werde ich nicht überleben!« dachte er.

Doch er überlebte es. Die Bärin nahm keinerlei Notiz von ihm, da er noch weit genug entfernt war und sich leise von dannen schlich. Die zweite Begegnung gestaltete sich dagegen schon intensiver. Gegen Mittag drückte Jenns Blase. Sie signalisierte ihr, dass eine baldige Entleerung dringend nötig wäre. Jenn machte gerade Pause, hatte also alle Taschen, die Schaufel und sogar ihre Pfeife abgelegt und war auf dem Weg zum nächstbesten Busch. Genau dort geschah es. Plötzlich stand ein stattlicher Bär vor ihr und sah sie verdutzt an. Jenn stierte mit weit geöffneten Augen zurück. Was sollte sie nun tun? Wie sie es gelernt hatte, redete sie auf das Tier ein, um ihm damit zu signalisieren, dass sie ein Mensch ist und nicht ins Beuteschema passt. Das interessierte den schweren Jungen überhaupt nicht. Er bewegte sich langsam auf sie zu. Der Bär sah jedoch nicht aggressiv aus. Jenn bekam verständlicherweise trotzdem leichtes Herzflattern und überlegte, was nun das Beste sei. Die Schaufel lag weit entfernt, die Pfeife ebenso. Also stieg sie auf einen abgeholzten Baumstamm und fing an, laut mit den Füßen zu stampfen. Linker Fuß! Rechter Fuß! Linker Fuß! Rechter Fuß! Ihr stampfender Tanz brachte den Bären so aus der Fassung, dass er verschwand.

Wahrscheinlich dachte er sich: »Was für eine Verrückte, tanzt vor mir auf einem Baumstamm rum. Ich haue lieber ab.«