Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg - Heike Mayer - E-Book

Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg E-Book

Heike Mayer

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Beschreibung

Innere Konflikte besser verstehen und leichter lösen – einen innovativen und wirksamen Ansatz dazu zeigt die erfahrene Therapeutin Heike Mayer in ihrem psychologischen Praxisbuch zur IFS-Therapie. Kennen Sie das? Sie sind auf jemand wütend und haben gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Sie möchten in einem Meeting etwas sagen, trauen sich aber nicht. Was wir wollen und was wir tun, stimmt häufig nicht überein. Wir stehen uns selbst im Weg. Warum? Weil in jedem Menschen ganz verschiedene Persönlichkeitsanteile aktiv sind. Und die steuern oft unser Leben, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Dieses Buch eröffnet den Zugang zu einem der faszinierendsten Modelle für inneres Wachstum weltweit: IFS oder Internal Family Systems. Die von Richard Schwartz begründete Therapiemethode ermöglicht ein grundlegend neues Verständnis davon, wie unsere Psyche funktioniert. Denn jeder von uns trägt eigentlich eine ganze WG in sich. Daher lädt IFS-Therapeutin und Achtsamkeitslehrerin Heike Mayer Sie auf eine spannende Reise ein: Mithilfe anschaulicher Fallbeispiele, Anleitungen zur Selbsterforschung und einfacher Übungen können auch Sie die WG Ihrer Persönlichkeitsanteile kennenlernen. Dabei steht IFS an der Schnittstelle von Psychologie und spiritueller Transformation. Im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen zur Persönlichkeitsentwicklung bezieht sich IFS immer auch auf unseren unverwundbaren inneren Kern: unser Selbst mit seiner Fähigkeit zu Achtsamkeit und erhöhtem Selbstgewahrsein. Sobald wir uns von dort aus unseren Anteilen zuwenden, können wir gerade auch schwierigere oder ungeliebte Aspekte in uns transformieren. Wir erleben eine ganz neue Form der Selbstakzeptanz, und unsere innere WG kommt in Einklang. - Psychologische Selbsthilfe für alle, die einen wirksamen Weg für den Umgang mit inneren Konflikten suchen. - Völlig neue Lösungsmöglichkeiten durch das Verständnis der Psyche als "innere WG": Jeder Mensch ist aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zusammengesetzt, die man aus ungünstigen Verhaltensmustern befreien kann. - Basiert auf IFS (Internal Family Systems) – einem der innovativsten Ansätze für inneres Wachstum weltweit. - Mit speziellen Hinweisen zum Umgang mit Trauma und vielen Praxisanregungen rund um Achtsamkeit für schwierige Gedanken und Gefühle. - Mit Audio-Übungen als MP3-Downloads auf der Webseite zum Buch "Auf direkte, klare und einfache Weise zeigt dieser praktische Leitfaden zum IFS-Modell einen Weg auf, wie die Leserinnen und Leser zu ihrer inneren Klarheit, Balance und Verbundenheit zurückkehren können." Tom Holmes, Prof. em. für Psychotherapie, Ausbildung im Inneren Familien-System (IFS) und Autor von "Reisen in die Innenwelt"

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Seitenzahl: 435

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Heike Mayer

Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg

Innere Persönlichkeitsanteile erkennen, verstehen und heilen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Innere Konflikte besser verstehen und leichter lösen – einen innovativen und wirksamen Ansatz dazu zeigt die erfahrene Therapeutin Heike Mayer in ihrem psychologischen Praxisbuch zur IFS-Therapie.

Kennen Sie das? Sie sind auf jemand wütend und haben gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Sie möchten in einem Meeting etwas sagen, trauen sich aber nicht. Was wir wollen und was wir tun, stimmt häufig nicht überein. Wir stehen uns selbst im Weg. Warum? Weil in jedem Menschen ganz verschiedene Persönlichkeitsanteile aktiv sind. Und die steuern oft unser Leben, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.

Dieses Buch eröffnet den Zugang zu einem der faszinierendsten Modelle für inneres Wachstum weltweit: IFS oder Internal Family Systems. Die von Richard Schwartz begründete Therapiemethode ermöglicht ein grundlegend neues Verständnis davon, wie unsere Psyche funktioniert. Denn jeder von uns trägt eigentlich eine ganze WG in sich. Daher lädt IFS-Therapeutin und Achtsamkeitslehrerin Heike Mayer Sie auf eine spannende Reise ein: Mithilfe anschaulicher Fallbeispiele, Anleitungen zur Selbsterforschung und einfacher Übungen können auch Sie die WG Ihrer Persönlichkeitsanteile kennenlernen.

Dabei steht IFS an der Schnittstelle von Psychologie und spiritueller Transformation. Im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen zur Persönlichkeitsentwicklung bezieht sich IFS immer auch auf unseren unverwundbaren inneren Kern: unser Selbst mit seiner Fähigkeit zu Achtsamkeit und erhöhtem Selbstgewahrsein. Sobald wir uns von dort aus unseren Anteilen zuwenden, können wir gerade auch schwierigere oder ungeliebte Aspekte in uns transformieren. Wir erleben eine ganz neue Form der Selbstakzeptanz, und unsere innere WG kommt in Einklang.

Psychologische Selbsthilfe für alle, die einen wirksamen Weg für den Umgang mit inneren Konflikten suchen.

Völlig neue Lösungsmöglichkeiten durch das Verständnis der Psyche als »innere WG«: Jeder Mensch ist aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zusammengesetzt, die man aus ungünstigen Verhaltensmustern befreien kann.

Basiert auf IFS (Internal Family Systems) – einem der innovativsten Ansätze für inneres Wachstum weltweit.

Mit speziellen Hinweisen zum Umgang mit Trauma und vielen Praxisanregungen rund um Achtsamkeit für schwierige Gedanken und Gefühle.

Mit Audio-Übungen als MP3-Downloads auf der Webseite zum Buch

Inhaltsübersicht

Wenn das, was wir wollen, und das, was wir tun, nicht übereinstimmt

1. So viele Stimmen und nur ein Kopf ...

Warum passiert mir das nur immer wieder?

Unsere WG-Bewohner steuern uns oft, ohne dass wir es bemerken

Warum hat man Anteile?

Sich selbst auf die Spur kommen

Welche Arten von inneren Anteilen gibt es?

Zur Seite gedrängte Anteile entdecken

»So kenne ich mich gar nicht …«

Mehr Wahlfreiheit entdecken

Auf dem Weg zur inneren Ganzheit

Fallbeispiel: Wenn die Angst ihren Platz haben darf

Q & A – Fragen und Antworten

Ist das nicht irgendwie psychisch gestört, wenn man lauter Teile hat?

Das ist doch keine neue Erkenntnis, dass es in uns verschiedene Teile gibt!

Ist das nicht dasselbe wie das Innere Team von Schulz von Thun?

Teile, Anteile, Subpersönlichkeiten, innere Stimmen – ist das alles dasselbe?

Zusammenfassung Kapitel 1

2. Macht es denn eigentlich Sinn, wie ich bin?

IFS: Das Modell des inneren Familien-Systems

Modelle und Landkarten: The map is not the territory

Die Grundstruktur der Psyche

Das Selbst

Schützer und Beschützte

Manager: Proaktive Schützer für langfristige Sicherheit

Empfindsame und verletzliche Teile

Wie empfindsame Teile in die Verbannung geraten

Manager und Feuerbekämpfer in Aktion

Feuerbekämpfer: Impulsive Schützer für schnelle Erleichterung

Wenn Feuerbekämpfer extrem werden

Fallbeispiel: Migräne als radikaler Lösungsversuch

Suchtverhalten als Versuch, Schmerz zu verringern oder Druck abzubauen

Die Erscheinungsform ist nicht das Wesen

Grundprinzipien unserer WG

Teile entstehen, um mit den Anforderungen des Lebens zurechtzukommen

Nicht alle Teile bereiten uns Schwierigkeiten oder haben extreme Rollen inne

Man kann mit Teilen Kontakt aufnehmen und mit ihnen sprechen

Alle Teile haben eine gute Absicht

Teile können sich verändern

Widerstand lässt Teile oft stärker werden

Wir können unsere Teile nicht loswerden

Teile versuchen, sich Gehör zu verschaffen

Unsere Gedanken sind Perspektiven unserer Teile

Abstand zu schwierigen Gedanken gewinnen

Q & A – Fragen und Antworten

Mich stört das irgendwie, dass alles immer nur an der Kindheit liegen soll. Wir machen doch später auch noch Erfahrungen!

Man hört oft vom »inneren Kind«. Wo passt das in dieses Modell vom Aufbau der Psyche?

»Alle Teile haben eine gute Absicht« – damit kann man doch jedes Verhalten rechtfertigen. Ist das nicht ein Freibrief für Gewalt und Bösartigkeit?

Ich verstehe nicht, wie eine so hasserfüllte Stimme wie die, die ich in meinem Kopf höre, eine gute Absicht haben soll. Ich finde sie einfach nur bösartig und will sie endlich los sein.

Zusammenfassung Kapitel 2

3. Das Selbst

Eine psychospirituelle Sicht auf den Menschen

Mit schwierigen Gefühlen umgehen lernen

Selbst-Führung und wie sie verloren geht

Absolute und relative Selbst-Zustände

Was einen Selbst-Zustand kennzeichnet

Wege zum Selbst

Embodiment: Wieder im Körper heimisch werden

Achtsamkeit und Selbst-Energie

Achtsamkeit üben: Umgang mit Herausforderungen

Selbst-Führung und Achtsamkeit

Was tun, wenn …

Der Tempel im Dschungel

Kein Kampf gegen das »Ego«

Aufwachen und erwachsen werden

Sich von den Teilen lösen, um sich ihnen zuzuwenden

Duales Gewahrsein

Wie der zweite Schritt gelingt: Vom Beobachten zum Umsorgen

Übungen für den Zugang zu mehr Selbst-Energie

Q & A – Fragen und Antworten

Ich interessiere mich nicht für Spiritualität. Braucht es das für die Arbeit mit den eigenen Anteilen?

Wenn Teile ihre Lasten ablegen können, verschwinden sie dann?

Stimmt es, wenn Menschen sagen: »So bin ich eben und da ändere ich mich auch nicht mehr«?

Zusammenfassung Kapitel 3

4. Die Kunst, sich selbst zuzuhören

Die fünf Schritte, um ins Gespräch zu kommen

1. Schritt: Die Aufmerksamkeit nach innen wenden

2. Schritt: Einen Teil bemerken

Den Kontakt durch Fragen nach innen vertiefen

3. Schritt: Selbst-Energie überprüfen

Einen Teil bitten, beiseitezutreten und sich so von uns zu lösen

4. Schritt: Einen Dialog beginnen

Nützliche Fragen für den Kontakt mit Teilen

5. Schritt: Sich bedanken und sich verabschieden

Umgang mit Ärger und Konflikten

Fallbeispiel: Wenn der andere mich so aufregt

»Musst du immer so überreagieren?!«

Inneren Kindern begegnen

Kindliche Gefühle anerkennen und Wünsche mit einbeziehen

Wichtige Hinweise für den Kontakt mit verbannten oder sehr verletzten Anteilen

Was sehr verletzte Teile brauchen

Q & A – Fragen und Antworten

Wenn ich versuche, mich Teilen zuzuwenden, komme ich mir auf einmal blöd vor. Ich frage mich, ob das Ganze nicht nur Einbildung ist.

Ich habe keine Zeit, mit all diesen Teilen in mir zu reden und mich um sie zu kümmern!

Kann ich etwas falsch machen, wenn ich mich alleine meinen Teilen zuwende?

Zusammenfassung Kapitel 4

5. Tiefer gehen

Der innere Kritiker

Sich mit dem inneren Kritiker anfreunden

Wege aus Entscheidungsschwierigkeiten

Innere Führungsqualitäten

Zwölf Tipps für innere Führungskräfte

Selbstakzeptanz und Selbstliebe

Abgrenzung, Wut und Nein sagen

Fallbeispiel: Wenn das Nein im Hals stecken bleibt

Kann man sich selbst lieben?

Von innerer Belastung zu Entlastung

Q & A – Fragen und Antworten

Ist es nicht ein totales Klischee, dass unsere Eltern Quelle all unserer Probleme sind?

Die Vorstellung, mir therapeutische Begleitung zu suchen, ist mir einfach peinlich. Man sollte doch als Erwachsener mit sich selbst klarkommen.

Ich weiß nicht, wie ich mit meinen »Teilen« sprechen soll – das alles fühlt sich einfach komplett an »wie ich«.

Zusammenfassung Kapitel 5

6. Innere Anteile im Trauma: Stecken geblieben, nicht zerbrochen

Prävention und Heilung brauchen ein Verstehen der Zusammenhänge

Was bei einem Trauma passiert und was davor schützt

Schocktrauma und Entwicklungstrauma

Welche Folgen hat ein Trauma?

Fallbeispiel: Ich hab nie verstanden, was mit mir los ist

Resilienzfaktoren und Umstände, die ein Trauma verhindern

Vorgänge in Körper, Gehirn und Nervensystem

Die vier Überlebensreaktionen: fight, flight, freeze, fawn

Stecken geblieben im Bedrohungszustand

Unsere Teile versuchen, dem Trauma zu entkommen

Fallbeispiel: Arbeiten bis zum Umfallen

Die kindlichen Anteile und Schritte zur Heilung

Was trägt zur Heilung bei?

Im Überblick: Was bei einem Trauma passiert

Wie hängen diese Abläufe mit unseren Anteilen zusammen?

Welche Rolle spielt das Selbst dabei?

Die Beziehung zu sich selbst wieder aufnehmen

Das Wunder innerer Heilung

Q & A – Fragen und Antworten

Jetzt verstehe ich zwar besser, was durch ein Trauma in mir passiert. Aber davon geht es ja noch nicht weg.

Welche Trauma-Therapie ist für mich geeignet?

Ist Meditation oder Achtsamkeitspraxis gut bei einem Trauma?

Zusammenfassung Kapitel 6

7. Radikale Zugehörigkeit

Akzeptanz und Veränderung

Zeit, aufzuwachen

Danksagung

Anhang

Verzeichnis der Übungen

Webseite zum Buch und Adressen

Informationen zu IFS und Therapeutenverzeichnis

Fort- und Weiterbildungen

Literaturhinweise

Audio-Aufnahmen

Bücher

Wenn das, was wir wollen, und das, was wir tun, nicht übereinstimmt

»Wenn du liebst, was dir im Weg steht, wird es sich verwandeln.«

Richard Schwartz1

Manchmal machen wir uns selbst einen Strich durch die Rechnung und verstehen gar nicht, warum. Ohne es zu wollen, stehen wir uns im Weg. Oder es laufen Dinge in uns ab, die eigentlich nicht so richtig zusammenpassen:

Sie möchten in einem Meeting etwas sagen, können sich aber nicht durchringen, das Wort zu ergreifen.

Sie sind auf jemand wütend, haben aber auch ein schlechtes Gewissen deswegen.

Sie haben sich nach langem Hin und Her zu einer Entscheidung durchgerungen, nur um anschließend sicher zu sein, dass der Entschluss bestimmt falsch war.

Sie wollen eine verständnisvolle Mutter sein, aber bei nächster Gelegenheit verlieren Sie die Nerven und brüllen Ihre Kinder an. Wieder einmal.

Willkommen im Klub!

Als Menschen können wir verschiedene Dinge gleichzeitig fühlen, denken, wollen und tun, die sich gegenseitig zu widersprechen scheinen. Das ist so lange verwirrend, bis man versteht, dass die menschliche Psyche sehr unterschiedliche Aspekte in sich beherbergt, die gleichzeitig aktiv sein können. Der persische Dichter Rumi beschrieb im 13. Jahrhundert das menschliche Dasein als ein Gasthaus, in dem sich die unterschiedlichsten Besucher die Klinke in die Hand geben. Ich sage dazu:

Jeder von uns trägt eine ganze WG in seinem Inneren.

Die menschliche Psyche ist nicht einfach nur ein einheitliches Ding. Sie setzt sich aus unterschiedlichen inneren Anteilen oder Teil-Persönlichkeiten zusammen, so, als hätten wir eine ganze Wohngemeinschaft in uns zu Gast.

Wenn Sie aus dieser Perspektive auf sich selbst blicken, haben Sie auf einmal eine Sprache, ein Vokabular für das, was sonst in uns so verwirrend bleibt: das ganze Durcheinander an widersprüchlichen Gedanken, Gefühlen, Impulsen und Reaktionen. Ohne eine Sprache für das zu haben, was da passiert, ist es schwierig, sinnvoll damit umzugehen. Es bleibt dann einfach ein unverständlicher Wirrwarr.

Ich bin überzeugt, dass das Leben für jeden von uns leichter sein kann, als es sich bisher oft anfühlt. Nicht weil durch Magie alles plötzlich rosarot wird. Sondern weil wir uns in dem Bestreben, gut durch die Herausforderungen des Lebens zu segeln und die schönen Küsten anzusteuern, nicht mehr ständig in der Takelage verheddern. Wer die Prinzipien versteht, wie sich die Mitglieder unserer inneren WG entwickeln und ungünstige Rollen einnehmen, wer entdeckt, wie man mit ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen helfen kann, sich zu verändern, der kann sein eigenes Boot mit sehr viel mehr Flexibilität, Souveränität und im Einklang mit sich und dem Meer manövrieren.

 

Als Therapeutin arbeite ich vor allem mit dem Ansatz der Persönlichkeitsanteile nach dem IFS-Modell. IFS steht für Internal Family Systems oder auch Therapie mit dem Inneren Familiensystem. Es wurde vor vierzig Jahren von dem amerikanischen Psychologen Richard C. Schwartz entwickelt. Von den vielen therapeutischen Ansätzen, die ich kennengelernt habe, erlebe ich die Arbeit mit IFS als am hilfreichsten. Als ich sie zum ersten Mal selbst ausprobierte, habe ich sofort gespürt: Das ist es. Das hilft wirklich und in der Tiefe. So ergeht es vielen meiner Klienten auch, oft schon in der allerersten Stunde. Parallel zu meiner psychotherapeutischen Tätigkeit begleite ich Menschen als Autorin, Meditationslehrerin und Trainerin für Achtsamkeit. Was es mit IFS auf sich hat und vor allem wie Sie selbst von diesem Modell profitieren können, zeige ich Ihnen in diesem Buch.

 

Hier noch zwei Hinweise:

Die Fallbeispiele in den folgenden Kapiteln beruhen auf Prozessen meiner Klientinnen und Klienten bzw. anderen Personen in meinem Umfeld, denen ich für ihr großzügiges Einverständnis danke, etwas von ihren Erfahrungen wiederzugeben. Details wurden verändert, um Rückschlüsse auf die Beteiligten zu verhindern.

Zum zweiten ist mir eine inklusive und geschlechtersensible Sprache wichtig. Zugleich sind mir leichte Lesbarkeit, Klarheit und Sprachästhetik ein Anliegen. Daher wechsle ich in lockerer Reihenfolge weibliche und männliche Formen ab. Es sind immer alle Geschlechter damit gemeint.

 

Kapitel 1

So viele Stimmen und nur ein Kopf …

Die Psyche als innere WG

»Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?«

Unbekannt2

Niemand von uns ist einfach nur »eine Person«: eine einheitliche, kohärente Persönlichkeit, immer eins mit sich. Denn wären wir das, würden unsere Absichten und unser Verhalten ja stets übereinstimmen. Dem ist aber oft nicht so. Wenn man genauer hinsieht, wird klar: Jeder von uns hat verschiedene Persönlichkeitsanteile, die in bestimmten Situationen zum Vorschein kommen.

Wir alle kennen die Erfahrung, uns uneins mit uns selbst zu fühlen. Vielleicht haben Sie eine Essenseinladung bei Ihrem Chef oder zu einem Familientreffen bekommen, und obwohl ein Teil von Ihnen überhaupt keine Lust darauf hat und sich vor einem schrecklich steifen Abend gruselt, findet etwas anderes in Ihnen, dass es ganz einfach nicht geht, dort nicht aufzutauchen. Oder Sie tigern abends zum Küchenschrank, wo die Schokolade und die Chips liegen. »Reiß dich zusammen, du kommst sonst nie von den Kilos runter. Friss nicht so viel!«, schimpft etwas in Ihnen. Aber die lockenden Sirenen in Ihrem Kopf sind stärker: »Ach komm, das hab ich mir nach dem anstrengenden Tag echt verdient! Einmal wird man sich ja wohl noch was gönnen dürfen«, und da ist die Hand schon in der Keksdose.

In jedem von uns lebt eine ganze Truppe WG-Mitglieder, die unser Leben steuern – häufig ohne dass uns das bewusst wäre. Diese inneren Anteile sind die Ursache für plötzliche Stimmungsumschwünge, widerstreitende Impulse und seltsame Reaktionen: »Wenn mich jemand mit einem bestimmten Gesichtsausdruck anschaut, fühle ich mich auf einmal wie ein eingeschüchtertes Kind, so klein mit Hut.« – »Ich kann mich einfach nicht beherrschen und schreie meine Tochter wegen blödsinniger Kleinigkeiten in einer Weise an, die ich selbst total furchtbar finde.« – »So oft habe ich mir schon vorgenommen, mich an die Steuererklärung zu setzen. Aber dann verdaddel ich doch wieder Stunden auf Instagram.« Manchem von uns kommt es sogar vor, als gäbe es einen Feind in unserem eigenen Inneren, der uns laufend sabotiert.

Mein eigener Weg, mit meiner WG Freundschaft zu schließen, begann vor über zwanzig Jahren. Zum damaligen Zeitpunkt, mit Anfang dreißig, fühlte ich mich oft, als sei ich auf irgendeine seltsame Weise grundlegend falsch oder ungenügend. Obwohl von außen betrachtet vieles in meinem Leben in Ordnung war, empfand ich ein nagendes Gefühl innerer Unzufriedenheit, Anspannung und einen tiefen Mangel, den ich mir weder erklären noch in Worte hätte fassen können. Dann geschahen zwei Dinge kurz nacheinander: Ich entdeckte Meditation, und mir fiel ein Buch über innere Persönlichkeitsanteile in die Hände.

Durch die Arbeit mit meinen eigenen Anteilen und den Weg der Achtsamkeit habe ich ein Ausmaß an innerer Freiheit, Lebensfreude und Verbundenheit gefunden, das ich früher für unmöglich gehalten hätte. Es sind Veränderungen in mir geschehen, die mich manchmal immer noch in Erstaunen versetzen, und ich habe von großartigen Lehrern und Lehrerinnen und in fundierten Ausbildungen gelernt, was es braucht, um andere auf einem solchen Weg zu begleiten. Mittlerweile bin ich selbst im Ausbildungsteam des Münchner IFS-Instituts tätig.

Dieses Buch schreibe ich aus einem tiefen Wunsch heraus: Ich möchte dazu beitragen, dass Menschen entdecken, wie hell sie in der Tiefe sind. Ich glaube fest und ohne einen Zweifel daran, dass wir Schritte zu Heilung und innerer Leichtigkeit gehen können, auch wenn wir uns gerade noch so gefangen und verzweifelt fühlen. Dass wir alle dazu gemacht sind, frei, verbunden und mit einem Gefühl unseres inneren Zuhauses durch dieses Leben mit all seinen Freuden und Herausforderungen zu steuern.

Warum passiert mir das nur immer wieder?

Ich möchte Ihnen gerne an einem persönlichen Beispiel zeigen, wie nützlich es sein kann, wenn wir die verschiedenen Teile in uns bemerken und anfangen, bewusster mit ihnen umzugehen.

Mein Mann Lothar und ich haben uns vor vielen Jahren auf einem Wochenendworkshop kennengelernt. Es waren an die fünfzig Teilnehmer und daher kein Wunder, dass ich bei den vielen Leuten am ersten Abend nur mit einigen wenigen ins Gespräch kam. Am nächsten Tag saß ich nach dem Mittagessen beim Kaffee, als er an meinen Tisch kam und mich fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich sei ihm gestern schon aufgefallen, meinte er, und er habe auch versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen, das sei ihm aber nicht recht gelungen. Meine Güte, dachte ich, der ist aber ehrlich und direkt. Ich war geschmeichelt – das fühlt sich natürlich gut an, wenn jemand, der einem grundsätzlich sympathisch ist und den man auch noch attraktiv findet, sagt, dass er sich für einen interessiert. Wir redeten ein bisschen über das Seminar, dabei stieg ich auf seinen flirtenden Ton ein. Das Gespräch machte mir Spaß.

Jedoch bemerkte ich nach einiger Zeit, dass ich mich angestrengt fühlte. Obwohl ich geschmeichelt war, gab es auch das unbestimmte Gefühl, unter Druck zu stehen. Eigentlich war mir Lothars Tempo zu forsch. Nachdem er unser Gespräch mit so viel Offenheit begonnen hatte, machte es mir das leichter, selbst etwas von mir zu zeigen, und so sagte ich: »Ich merke, dass meine Wegläufer gerade anspringen.« Er sah mich fragend an. Was ich damit meinen würde? Ich antwortete: »Ich finde es ganz schön mutig und eindrucksvoll, dass du so offen Kontakt aufnimmst. Das gefällt mir. Gleichzeitig passiert das alles gerade so direkt und schnell. Und es gibt Teile in mir, denen geht das zu schnell. Ich merke, dass die sich gerade zurückziehen wollen. Das finde ich eigentlich schade, denn mir macht das Gespräch mit dir Spaß, und ich hätte Lust, dich näher kennenzulernen. Aber es wäre gut, wenn du vielleicht ein bisschen Tempo rausnimmst, denn dann können meine Wegläufer dableiben und müssen nicht abhauen.« Er lachte: »Ja, klar, das macht Sinn. Was wäre denn dann jetzt das Beste für dich und deine Wegläufer?«

Wow, ich war echt erstaunt – erstaunt über mich, denn ich hatte noch nie jemandem in einem ersten Gespräch von meinen inneren Teilen erzählt. Und erstaunt darüber, wie frappierend die Wirkung war. Denn in dem Moment, in dem ich die Gegenwart meiner Wegläufer nicht nur bemerkt, sondern sie auch offen angesprochen hatte, hatte sich das Gefühl von unangenehmem Druck in mir aufgelöst. Die Persönlichkeitsanteile, die ich meine »Wegläufer« nannte, waren auf einmal nicht mehr bloß als vage Anspannung in mir spürbar, sondern ich hatte ihnen im Gespräch Raum gegeben und ihre Gegenwart öffentlich gemacht. Durch diese schlichte Anerkennung, dass es sie gab, konnten sie sich beruhigen. Interessanterweise machte dieses offene Aussprechen es auch für Lothar leichter, mit meinen Wegläufern umzugehen. Wenn es von nun an ambivalente Reaktionen von meiner Seite gab – ich zum Beispiel einerseits auf seinen flirtenden Ton einstieg, gleichzeitig aber Rückzugstendenzen zeigte –, war für ihn klar, woran das lag.

Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Kontakt zwischen Lothar und mir unter einem guten Stern stand. Wir wurden bald nach unserem Kennenlernen ein Paar und haben einige Jahre später geheiratet. Es könnte jedoch sein, dass all das nicht möglich gewesen wäre, hätte ich meine Wegläufer nicht bemerkt und ihnen von Anfang an Raum gegeben. Möglicherweise hätten sie dann im Untergrund das Gefühl von Unwohlsein immer stärker anwachsen lassen, bis ich mich irgendwann unter einem Vorwand aus dem Gespräch zurückgezogen hätte. Ich hätte Lothar dann womöglich als »nett, aber zu aufdringlich« abgespeichert, und er hätte vermutlich gedacht, dass sein Annäherungsversuch nicht gut angekommen sei.

Leicht möglich, dass viele potenziell wunderbare Begegnungen nicht über die ersten Meter hinauskommen, weil wir nicht bemerken, dass unser Gegenüber Teile in uns wachruft, die uns auf etwas hinweisen wollen. Im Fall meiner Wegläufer war das beispielsweise mein Bedürfnis nach einem für mich angemessenen Tempo in der Kontaktaufnahme. Hätte ich das nicht erkannt und dafür gesorgt, dass sich das Tempo im Miteinander zwischen Lothar und mir veränderte, hätten meine Wegläufer mich vermutlich dazu gebracht, mich zurückzuziehen – so wie es mir bis dahin schon so oft passiert war. Bei meinem Treffen mit Lothar war ich nämlich bereits seit sieben Jahren Single. Im Nachhinein kann ich sehen, wie oft meine Wegläufer im Zusammensein mit Männern aktiv gewesen waren. Hätten sie auch diesmal wieder von mir unbemerkt auf ihre Weise Nähe und Distanz reguliert, hätte ich mich später vermutlich dafür verurteilt, dass ich »immer so spröde bin« oder »die interessanten Männer vergraule«. Oder ich hätte die Erfahrung als weiteren Beleg dafür genommen, dass ich mich ja in Wirklichkeit gar nicht auf jemanden einlassen will.

Unsere WG-Bewohner steuern uns oft, ohne dass wir es bemerken

Wenn wir die unterschiedlichen Teile in uns nicht bemerken und ihnen keine Aufmerksamkeit schenken, geschieht es leicht, dass sie unser Verhalten lenken, ohne dass wir es mitbekommen. Das war beispielsweise lange bei mir und meinen Wegläufern so, das passiert aber auch in ganz alltäglichen Situationen. In der Regel geht es so schnell, dass uns kaum auffällt, wie viele verschiedene WG-Bewohner in uns an einer Reaktion beteiligt sind.

Stellen Sie sich vor, eine Person geht durch ein Kaufhaus, nennen wir sie Julia. Julia braucht eine neue Hose. Eine fällt ihr ins Auge, und sie bleibt stehen, um sie näher zu betrachten. In Julias Kopf entwickelt sich vielleicht ein Dialog dieser Art:

»Hey, die sieht gut aus … Aber an mir? Mein Hintern ist echt so fett geworden (kritischer innerer Anteil). Und wann geh ich schon mal auf eine Party, wo man so was anziehen könnte? (trauriger Teil). Ich brauche ja auch eigentlich was Praktischeres, die weiten Beine bleiben beim Radfahren bestimmt in den Speichen hängen (vernünftiger Teil). Was kostet die überhaupt? Wow! Da müsste ich mir zu Hause von Tom wieder anhören, wie viel Geld ich für Klamotten ausgebe! (Teil, der sich an frühere Kritik erinnert). Dabei geht Tom das überhaupt nichts an, ich verdiene mir mein Geld schließlich hart genug und kann mir immer noch kaufen, was ich will! (rebellischer Teil, der die eigenen Grenzen und Bedürfnisse verteidigt). Und jetzt leiste ich mir mal was, das hab ich mir echt verdient!«

In diesem Beispiel setzt sich der Teil, der Julias Autonomie verteidigen will und sich Ausgleich für die viele Arbeit wünscht, durch. So könnte es passieren, dass Julia mit einem Kleidungsstück nach Hause kommt und sich am nächsten Tag ärgerlich fragt, warum sie für so etwas so viel Geld ausgegeben hat. Die Antwort lautet: weil wir in vielen unserer Gedanken, Gefühle, Handlungen und Reaktionen unbewusst von inneren Anteilen gesteuert werden. Der Teil, der sich über den Kauf ärgert, ist nicht derselbe wie der, der ihn initiiert hat.

Warum hat man Anteile?

Vielleicht fragen Sie sich mittlerweile, wozu es denn all diese verschiedenen Anteile in der WG der Psyche gibt und warum sie sich in diesem manchmal verwirrenden Nebeneinander entwickeln. Meine Sicht auf diese Frage erläutere ich Ihnen ausführlich im zweiten Kapitel. Versprochen! Die kurze Antwort lautet:

Persönlichkeitsanteile entstehen in jedem von uns in Anpassung an unsere Erfahrungen und Lebensumstände, vor allem während unserer Kindheit und Jugend. Sie entwickeln sich nicht zufällig, sondern sind, wenn man sich mit dem Zeitpunkt und den Umständen ihrer Entstehung beschäftigt, nachvollziehbare Strategien oder Bewältigungsversuche, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt unserer psychischen Entwicklung geholfen haben. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Copingstrategien (von englisch to cope with: »bewältigen, mit etwas umgehen«). Je öfter wir bestimmte Copingstrategien anwenden, desto stabiler werden sie, sodass sie sich zu wiedererkennbaren Anteilen unserer Persönlichkeit entwickeln. Die meisten von uns haben einerseits Teile, die unser Leben mit ihren Fähigkeiten und Qualitäten bereichern, aber auch solche, die in ungünstige Verhaltensmuster geraten sind oder unverdaute schmerzliche Gefühle in sich gespeichert haben.

Verschiedene Teile auszubilden ist nicht nur normal, sondern unumgänglich. Es ist die Weise, wie wir in der Welt Gestalt gewinnen, uns entfalten, und der Weg der Psyche, um sich auf prägende Erfahrungen, äußere Umstände und die Menschen in unserer Umgebung einzustellen. Mal ist diese Form der Anpassung langfristig hilfreich, mal zeigt sich im Laufe der Zeit, dass die gefundene Strategie auf Dauer mehr Probleme schafft, als sie löst. Doch grundsätzlich haben Teile immer eine positive Absicht. Sie entwickeln sich, um zu helfen oder etwas, was schmerzlich fehlt, auszugleichen. Allerdings stecken sie mitunter in Verhaltensweisen fest, die zwar früher in bestimmten Situationen nützlich waren, um uns zu schützen oder mit einer Herausforderung umzugehen, uns jetzt aber Schwierigkeiten bereiten. Dann haben sie sich aber schon so verfestigt, dass wir sie nicht einfach durch eine willentliche Entscheidung loswerden oder abstellen können – sie sind eben ein Teil von uns!

Sicher haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass Sie sich vornehmen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten (»Ich werde ganz ruhig bleiben und mich nicht aufregen«), diese Absicht aber nicht umsetzen können. Der Persönlichkeitsanteil in Ihnen, der beispielsweise wütend reagiert, wenn jemand Ihre roten Knöpfe drückt, führt gleichsam ein Eigenleben und bestimmt dann Ihr Denken und Handeln, sodass Sie automatisch reagieren, fast wie ferngesteuert, ob Sie das nun wollen oder nicht.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, unsere inneren Anteile nur als Anpassungsstrategien zu sehen. Wenn wir uns auf einen Kontakt mit ihnen einlassen, stellen wir fest, dass sie wie eigenständige Wesen in uns wirken, ihre ganz eigenen Gefühle, Erinnerungen und Empfindungen haben – und darauf warten, von uns gesehen, gehört und verstanden zu werden.

Im Normalfall schämen wir uns aber eher für die Verhaltensweisen von Teilen, die wir nicht mögen oder einfach nicht verstehen. Wir kritisieren uns dafür (und werden manchmal auch von anderen dafür kritisiert). Das ist nicht nur schmerzlich und anstrengend, sondern bringt uns auch nicht weiter. Denn leider ändert sich durch Selbstkritik – oder Kritik von außen – in der Regel überhaupt nichts. Wir fühlen uns nur noch schlechter.

Wenn wir unsere bislang ungeliebten Teile jedoch kennenlernen, können wir anfangen zu verstehen, warum sie sich so und nicht anders entwickelt haben, welche Absicht sie eigentlich mit ihrem Verhalten verfolgen und was sie brauchen, um sich zu verändern oder Heilung zu finden. Dann wird es möglich – gemeinsam mit ihnen, nicht gegen sie! –, einen Transformationsprozess einzuleiten. So kann das Zusammenleben in der WG harmonischer und kooperativer werden, und wir fühlen uns wohler mit uns selbst.

Übung: Einen inneren Anteil ausfindig machen

Vermutlich haben Sie beim Lesen an der ein oder anderen Stelle gedacht: »Ah ja, das kommt mir bekannt vor«, oder Ihnen sind eigene WG-Bewohner bewusster geworden. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, sich etwas Zeit zu nehmen, um einen Ihrer Teile ein bisschen näher kennenzulernen.

Machen Sie es sich an einem ruhigen Ort bequem. Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge und kommen Sie ein wenig zur Ruhe.

Wenn Sie nach der Lektüre bereits einen Anteil im Auge haben, dem Sie sich zuwenden möchten, gut. Ansonsten schauen Sie sich nach einem eigenen Verhalten, einer Eigenschaft, Gefühlsregung oder Angewohnheit um, wo Sie sich selbst im Weg stehen oder bei der Sie neugierig sind, was dahinterstecken könnte. Vielleicht gibt es einen perfektionistischen Anteil in Ihnen. Oder einen, der in bestimmten Situationen mehr isst, als Ihnen lieb ist. Oder ein Teil in Ihnen wird manchmal wahnsinnig wütend, wenn jemand anderes etwas Bestimmtes sagt oder tut.

Entscheiden Sie sich dafür, welchem Thema Sie sich zuwenden wollen, und dann erinnern Sie sich an eine konkrete Situation dazu. Nehmen Sie sich Zeit und tauchen Sie in die Erinnerung ein. Wo waren Sie? Was ist passiert? Je mehr Details Sie in sich hochkommen lassen, desto besser. Wie haben Sie sich in diesem Moment gefühlt? Wie haben Sie sich verhalten oder was haben Sie gedacht?

Bemerken Sie, was sich in Ihnen verändert, wenn Sie die Situation innerlich noch einmal wachrufen. Wie wirkt sich das auf Ihren Körper aus? Vielleicht kommt irgendwo Anspannung auf, Druck oder Schwere. Vielleicht wird Ihnen heiß, etwas fühlt sich kribbelig oder flatterig an. Oder Sie fühlen sich auf einmal wie taub. Was auch immer Sie bemerken, lassen Sie es möglichst einfach so sein, wie es ist, ohne es anders haben zu wollen.

Stellen Sie sich nun vor, das, was da in Ihnen auftaucht, wäre wie ein eigenständiges Wesen, mit dem Sie Kontakt aufnehmen und mit dem Sie sprechen könnten. Angenommen, Ihr perfektionistischer Teil (oder um welchen inneren Anteil auch immer es geht) hätte eine Gestalt – wie würde er aussehen?

Falls sich kein inneres Bild dazu einstellt, dann macht das nichts. Dann richten Sie Ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die körperlichen Empfindungen und gehen einfach von der Hypothese aus, dass sich darüber ein bestimmter Anteil in Ihnen zeigt. Und nun sagen Sie diesem Persönlichkeitsanteil gedanklich, dass Sie ihn gerne etwas näher kennenlernen möchten. Auch wenn es sich vielleicht komisch anfühlt, etwas in Ihnen als Du, als Gegenüber anzusprechen: Probieren Sie es einfach einmal aus.

(Es könnte auch sein, dass Sie nicht nur einen Teil bemerken, etwa den, der eine Packung Chips in sich reinschaufelt, wenn Sie gestresst sind, sondern auch noch einen weiteren, der sich darüber aufregt und den anderen dafür beschimpft. Dann könnten Sie sich nacheinander mit beiden unterhalten.)

Die Grundannahme in der Arbeit mit inneren Anteilen lautet, dass alle eine nützliche Absicht für die Person haben, zu etwas beitragen wollen oder aus gutem Grund da sind. Fragen Sie den Teil: Was würde passieren, wenn du nicht tun würdest, was du tust? Warum ist es wichtig, dass du da bist? Was könnte sonst geschehen?

Hören Sie mit so viel Respekt und Offenheit zu wie möglich. Versichern Sie dem Anteil, dass es nicht Ihre Absicht ist, ihn loszuwerden, zu »reparieren« oder seine Bedenken abzutun. Und fragen Sie weiter: Was möchtest du, das ich von dir weiß? Kann ich etwas für dich tun? Brauchst du etwas von mir?

Danken Sie ihm am Ende, dass er Ihnen erlaubt hat, ihn ein klein wenig besser kennenzulernen.

Es könnte sein, dass der erste Kontakt eher holprig verläuft. Das wäre nicht ungewöhnlich. Wir werden im Lauf der folgenden Kapitel sehen, was es braucht, damit die Kommunikation leichter gelingt.

Sich selbst auf die Spur kommen

Viele Menschen, denen ich das Bild von der inneren WG vorstelle, können intuitiv etwas damit anfangen. Es passt damit zusammen, wie sie sich häufig fühlen. Und es hilft, weil wir dann eben neugierig darauf werden können, welcher der Bewohner daran beteiligt ist, dass das geplante Fitnessprogramm wieder mal ausfällt. Wer dafür sorgt, dass wir den Mund halten, obwohl wir eigentlich ganz und gar nicht damit einverstanden sind, was die Abteilungsleiterin gerade von sich gibt. Oder wer in uns sich die spitze Bemerkung nicht verkneifen kann, obwohl uns vollkommen klar ist, dass wir in einen Streit mit unserem Partner geraten, wenn wir sie loslassen.

Lassen Sie uns einmal genauer betrachten, wie so eine innere WG zusammengesetzt ist und wer vielleicht in Ihrer wohnt.

Da gibt es Charaktere, die deutlich in Erscheinung treten. Sie stehen in unserer WG oft mitten im Wohnzimmer und bestimmen die Szene. Andere wiederum sieht man kaum, sie halten sich eher im Hinterzimmer oder sogar im Keller auf. Einige kommen vielleicht nur zu ganz bestimmten Situationen aus ihren Zimmern, zum Beispiel während eines Konflikts oder wenn Sie im Stress sind. Manche Ihrer inneren Bewohner verstehen sich vermutlich gut, andere können sich überhaupt nicht leiden und wünschen sich vielleicht sogar, die Störenfriede von gegenüber würden endlich ausziehen.

Ihre innere WG-Belegschaft ist in ihrer Art, die Welt zu betrachten und sich zu verhalten, nicht einheitlich. Ihre Teile haben unterschiedliche Bedürfnisse, Eigenschaften und Perspektiven, die sich mitunter diametral entgegenstehen. Da gibt es eher Zuversichtliche und eher Ängstliche. Solche, die in bestimmten Situationen gerne das Wort ergreifen und die Aufmerksamkeit von anderen genießen, und solche, die sich zurückziehen und ihre Ruhe haben wollen. Da gibt es welche, die schnell wütend werden, wenn man ihre roten Knöpfe drückt, und andere, denen wichtig ist, dass um sie herum Harmonie herrscht. Wenn wir anfangen, unsere eigene Psyche aus dieser Perspektive zu sehen, können wir uns selbst besser verstehen, und auch die Beziehungen mit den Menschen um uns herum können sich verbessern. Wir erkennen dann, warum Kommunikation so oft schiefläuft, und brauchen uns selbst nicht mehr so verquer zu fühlen.

So hat es einmal ein Klient einer Kollegin beschrieben, nachdem er sich eine Zeit lang intensiver mit seinen Persönlichkeitsanteilen befasst hatte: »Die Arbeit mit meinen Teilen ist für mich der Schlüssel, meine für mich oft sehr komplizierte Innenwelt besser zu verstehen und mich mit all meinen Anteilen zu entspannen. Das Modell der inneren Teile lässt zu, dass bisher widersprüchlich erscheinende Strömungen oder ›Launen‹ nebeneinanderstehen und da sein dürfen, ohne dass ich mich falsch fühle. Wie in einer großen Hausgemeinschaft gibt es da eben in mir alle möglichen Anteile: laute Angeber und leise, empfindsame Feingeister; Mutige und Ängstliche; Sicherheitsbedürftige, aber auch furchtlose Haudegen; kraftvolle Gestalten und graue Mäuse. Und auch welche, mit denen ich manchmal lieber nicht so gerne was zu tun haben würde. Alle sind Teil dieser Hausgemeinschaft, wohnen in meinem Haus, gehören dazu, ja haben sogar lebenslanges Wohnrecht!«

Auch wenn es sich für uns vielleicht so anfühlt: Keiner unserer inneren Anteile ist ein Hausbesetzer, den man besser rauswerfen sollte. Alle sind legitime Bewohner, und wir tun gut daran, sie besser kennenzulernen.

Welche Arten von inneren Anteilen gibt es?

Von manchen Persönlichkeitsanteilen haben Sie vermutlich schon gehört, weil sie mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind: etwa das innere Kind, der innere Kritiker, der Antreiber. Es gibt jedoch sehr viel mehr Teile in jedem von uns und auch nicht nur ein inneres Kind. Damit Sie anfangen können, Ihre eigenen aufzuspüren, folgt hier als Anregung ein kleiner Überblick an Persönlichkeitsanteilen, die in vielen WGs zu finden sind.

Teile können übrigens unabhängig vom eigenen Geschlecht als weiblich oder männlich in Erscheinung treten, und für manche Aspekte unserer Persönlichkeit passt als Pronomen auch eher »es« als »er« oder »sie«. Manche haben gefühlt unser derzeitiges Alter, manche sind, wenn man sie näher kennenlernt, aber deutlich jünger, mitunter auch älter. Der Einfachheit halber ist in der folgenden Grafik die männliche Form gewählt, in der anschließenden die weibliche.

Beispiele für innere Anteile und ihre Absichten und Beweggründe.3

Vielleicht kennen Sie manche der Haltungen auf der vorherigen Seite von sich oder von Menschen in Ihrem Umfeld? Weitere WG-Bewohner könnten beispielsweise die folgenden sein:

Manche Persönlichkeitsanteile haben eine innere Verwandtschaft miteinander, während sie zu anderen in größerer Distanz stehen.

Übung: Eigenen Teilen auf der Spur

Haben Sie Lust, Ihre eigene WG ein bisschen zu erforschen?

Machen Sie es sich an einem ruhigen Ort bequem. Legen Sie sich ein Blatt Papier (mindestens DIN A4) und etwas zu schreiben oder auch zu malen zurecht.

Ein paar tiefe Atemzüge können helfen, ein wenig zur Ruhe zu kommen und Kontakt mit sich selbst aufzunehmen: Atmen Sie ein und bemerken Sie, wie die Luft einströmt. Atmen Sie aus und verfolgen Sie mit, wie sie Ihren Körper verlässt. Bleiben Sie einige Momente bei dieser Erfahrung des bewussten Atmens. Sie ist wie eine Brücke, die dabei unterstützen kann, Ihre Aufmerksamkeit von der Außenwelt hin zu Ihrer eigenen Innenwelt zu verlagern.

Nehmen Sie nun einen möglichst neugierigen und interessierten Blick ein, als wären Sie eine Forscherin, die sich auf Entdeckungsreise macht. Welcher Ihrer Persönlichkeitsanteile taucht auf, wenn Sie sich innerlich umschauen?

Denken Sie an Gefühle, Stimmungslagen oder Verhaltensweisen von sich, die Sie als typisch oder auch als anstrengend erleben, und zwar nicht als vorübergehende zufällige Erscheinungen, sondern als gäbe es ein eigenständiges Wesen in Ihnen, das diese Gefühle oder Verhaltensweisen zeigt. Also nicht: »Ich bin ungeduldig«, sondern eher: »der ungeduldige Teil in mir«; nicht: »Ich bin immer so schüchtern«, sondern: »die Schüchterne«.

Erkennen Sie einige der auf den vorherigen Seiten abgebildeten Teile in sich wieder? Oder noch ganz andere? Schreiben Sie sie auf Ihr Blatt.

Die oben verwendeten Namen sind nur Wegweiser für Richtungen, an die Sie beim Erforschen denken könnten. Finden Sie gerne andere, die Ihnen passender erscheinen. Wenn es in Ihnen einen Teil gibt, der oft mürrisch ist, könnte der zum Beispiel Griesgram, Miss Missgelaunt oder Motzi heißen. Statt mit Namen können Sie auch mit Symbolen, Farben oder einfachen Strichzeichnungen arbeiten.

 

Folgende Fragen können beim Entdecken von Teilen helfen:

 

Denken Sie an eine Entscheidungsschwierigkeit. Welcher Anteil in Ihnen plädiert für das Pro, welcher für das Kontra?

Erinnern Sie sich an einen Streit. Welche Ihrer Persönlichkeitsanteile waren vor dem Konflikt aktiv, welche sind vielleicht plötzlich währenddessen aufgetaucht? Gab es welche, die sich danach gezeigt haben?

Bemerken Sie dieselben oder andere Teile in sich, wenn Sie mit Ihrer Familie zusammen sind oder wenn Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz befinden?

Welche Anteile von Ihnen bekommen nur sehr eng vertraute Menschen zu Gesicht?

Wer taucht auf, wenn Sie kritisiert werden? Wer, wenn Sie mit einem kleinen Kind oder Haustier zusammen sind? Wer, wenn Sie eine Präsentation vortragen oder eine Rede halten sollen?

Welche Teile in sich mögen Sie?

Welche mögen Sie gar nicht?

Wenn Sie noch einmal betrachten, was Sie aufgeschrieben oder gemalt haben: Gibt es Anteile, die zu bestimmten Zeiten in Ihrem Leben deutlicher in Erscheinung getreten sind als heute? Sind Sie darüber froh oder wünschen Sie sich, dass sie wieder mehr Raum hätten? Gibt es welche, die Ihnen richtiggehend fremd vorkommen?

Zur Seite gedrängte Anteile entdecken

In jeder Psyche gibt es eine ziemliche Bandbreite an unterschiedlichen Eigenschaften, Ansichten und Einstellungen – eben weil wir unterschiedliche Teile haben. Je mehr wir diese Unterschiedlichkeit in uns anerkennen und zulassen können, desto leichter ist es zu sagen: Ich bin okay, wie ich bin. Für manche von uns ist es jedoch sehr schwer zuzulassen, dass es auch Teile in uns gibt, die uns quasi »gegen den Strich gehen«.

Entsprechend hat jeder von uns bestimmte innere Anteile, mit denen wir uns stärker identifizieren, während wir andere in uns ablehnen. Und in der Regel gibt es auch welche, die uns kaum oder überhaupt nicht bewusst sind. Hal und Sidra Stone, zwei der Pioniere in der Erforschung unserer inneren Teile-Landschaft, nennen Erstere unsere primären Selbst-Anteile. Sie treten in unserer WG sehr häufig in Erscheinung, und es sind die Teile in uns, die wir meinen, wenn wir »Ich« sagen. Bei vielen Menschen sind das beispielsweise der Vernünftige, der Leistungsbereite, der verantwortungsbewusste Elternteil, der Es-den-anderen-recht-Macher, der Perfektionist, der Kümmerer, der Kreative oder der Rebell. Dabei stehen häufig in beruflicher Hinsicht nicht genau dieselben Teile im Vordergrund wie im Privaten. Oft zeigen wir beispielsweise von unseren romantischen, verspielten oder gefühlvollen Teilen am Arbeitsplatz wenig, obwohl sie im Zusammensein mit Menschen, mit denen wir uns wohlfühlen, durchaus sichtbar werden.

Andere Teile hingegen bleiben unserem Bewusstsein eher verborgen. Carl Gustav Jung, der einflussreiche Schweizer Psychiater und frühere Schüler von Sigmund Freud, nannte sie den Schatten, bei Hal und Sidra Stone heißen sie verleugnete Selbst-Anteile: Es sind un- oder teilbewusste Anteile unserer Persönlichkeit – oft diejenigen, die in unserer Familie oder Kultur nicht akzeptabel waren. Wir verdrängen sie im Laufe der Zeit, sodass sie nicht mehr in unserem Selbstbild enthalten sind, negieren sie in uns oder projizieren sie auf andere. Sobald wir etwas Ähnlichem in anderen Menschen begegnen, werten wir diese häufig ab und fühlen uns besser als sie. Manchmal sind wir auch von ihnen fasziniert und halten sie für besonders großartig und ganz anders als uns selbst. Diesen Vorgang nannte schon Sigmund Freud »Projektion«: Wir sehen Eigenschaften von uns selbst wie auf der »Leinwand«, die uns ein anderer Mensch bietet. Phänomene wie Vorurteile und pauschale Abwertung in Form von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie oder Sexismus liegen nicht zuletzt in diesem Vorgang begründet. Was wir an uns selbst verleugnen, verabscheuen wir oft in den anderen. Oder umgekehrt: Wir bewundern an anderen, was wir selbst nicht leben können.

»So kenne ich mich gar nicht …«

Manchmal geschieht es auch, dass Anteile von uns, die wir weit aus unserem Bewusstsein weggedrängt haben, plötzlich auftauchen. Je nachdem, ob es sich dabei um eine unangenehme oder eine angenehme Erfahrung handelt, wird uns unser innerer Kritiker dafür verurteilen oder wir werden uns wünschen, wir könnten öfter so sein. Vielleicht sind Sie normalerweise eher eine ruhige, zurückhaltende Person. In einer ungewohnten Umgebung, beispielsweise im Urlaub, oder mit ein paar Gläsern Alkohol mehr als üblich tauchen plötzlich Teile von Ihnen auf, die wild tanzen und ungehemmt flirten. Wenn das Hochkommen Ihres inneren Partytiers oder Ihrer erotischen Powerfrau dazu führt, dass Sie sich großartig amüsieren und einen tollen Abend haben, werden Sie anschließend bedauern, wenn diese wieder von der Bildfläche verschwinden. Oft ist die Überzeugung dann, dass es eben genug Alkohol braucht, sich so frei zu fühlen. Tatsächlich sorgen Alkohol oder andere bewusstseinsverändernde Substanzen unter anderem dafür, dass die Teile, die sonst für unsere »Wohlanständigkeit« sorgen, also die Wächter, Kontrolleure und Kritiker, schachmatt gesetzt werden, sodass Teile, denen sie andernfalls nicht erlauben aufzutauchen, freie Bahn haben.

Falls jedoch durch die mangelnde Hemmung der Wächter der Abend im Nachhinein peinlich verläuft oder Sie Ärger mit Ihrem Partner bekommen, wird das vermutlich dazu führen, dass die Wächter die wilden und vitalen Teile in Zukunft noch weiter wegsperren.

Sobald wir deutlicher wahrnehmen, welche Teile unser Leben steuern und welche bislang ein Schattendasein führen, können wir beginnen, bewusster zu wählen, wem in uns wir wie viel Raum geben wollen.

Mehr Wahlfreiheit entdecken

Das Teile-Modell kann einerseits helfen, uns bewusst zu werden, was wir bislang vielleicht wenig leben, aber mehr leben möchten – also welchen Teilen wir zukünftig mehr Raum im Wohnzimmer unserer WG geben möchten. Zugleich wird es damit aber auch möglich, mit problematischem Verhalten konstruktiver und weniger selbstabwertend umzugehen.

Denn ich bin nicht einfach ein gieriger Vielfraß, weil ich eine komplette Tafel Schokolade verschlinge. Ich bin eben auch manchmal gierig und habe einen Teil, der Essen nutzt, um mit Stress klarzukommen oder mich vor schwierigen Gefühlen zu schützen.

Ich bin keine schlechte Mutter, weil ich mein Kind anbrülle. Sondern ich habe einen Teil, der an seine Grenzen kommt und sich dann nicht mehr anders zu helfen weiß, als laut zu werden.

Ich bin nicht faul oder ein hoffnungsloser Fall, weil ich Ziele oder Vorsätze, etwa in Bezug auf Sport oder meine Gesundheit, immer wieder nicht erreiche. Sondern es gibt zwar einerseits Teile in mir, die gesundes Verhalten anstreben. Sonst wäre es mir ja nicht wichtig. Doch andererseits gibt es offensichtlich auch Teile in mir, die dieses Verhalten oder die Veränderung dahin bislang unterlaufen. Und dafür haben sie – das werden wir im Verlauf des Buches immer wieder sehen – garantiert einen guten Grund, den es zu verstehen gilt, wenn wir wirklich nachhaltig etwas ändern wollen.

Das bedeutet nicht, dass es nicht meine Verantwortung wäre, wie ich mit meinen Persönlichkeitsanteilen umgehe, damit sie mir und anderen möglichst keinen Schaden zufügen. Aber es sind eben Teile von mir, die ein problematisches Verhalten zeigen. Nicht an mir als gesamte Person ist etwas falsch.

Von meinem Mann stammt in diesem Zusammenhang der epische Satz:

»Ich bin kein Arschloch, ich habe nur einen Arschloch-Teil.«

Das ist ebenso wahr wie weise. Jeder von uns hat, mit Verlaub, »Arschloch-Teile«: Teile, die beispielsweise engstirnig, rechthaberisch und kleinherzig sind. Teile voller Vorurteile anderen gegenüber, nachtragend, grenzüberschreitend und auf den eigenen Vorteil bedacht. Natürlich kommen diese Seiten in ganz unterschiedlichem Maße in unserem Verhalten zum Tragen. Nur weil man entsprechende Teile mit ihren jeweiligen Impulsen und Ansichten hat, muss man sich noch nicht ihnen gemäß verhalten. Doch mit dem, was uns überhaupt nicht bewusst ist, mit dem können wir eben auch nicht achtsam umgehen. Es wirkt dann verdeckt und umso einflussreicher aus dem Untergrund. Daher sind auch Menschen, die meinen, sie wären über solche menschlichen »Niederungen« erhaben, häufig besonders anstrengend. Wenn wir nämlich unangenehme Aspekte wie Geiz, Eifersucht oder andere Gefühle oder Verhaltensweisen, die wir lieber nicht hätten, in uns verleugnen, entstehen schnell Bigotterie, Selbstgerechtigkeit oder das Phänomen, dass jemand die Schuld immer bei anderen sucht. In Jenseits von Gut und Böse beschreibt Friedrich Nietzsche sehr treffend, was dabei geschieht: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.«4

Doch es sind nicht nur »Arschloch-Teile«, die wir lieber nicht haben wollen. Viel schlimmer ist, dass im Verlauf unseres Lebens Teile von uns aus Scham, Angst, Unwissenheit und aufgrund von schmerzhaften frühen Erfahrungen in ein inneres Verlies gesperrt werden.

Auf dem Weg zur inneren Ganzheit

Viele Menschen leiden unnötig, weil sie glauben, dass sie nur ein bestimmter Typ Mensch sein dürfen oder dass nur bestimmte Teile ihrer Persönlichkeit akzeptabel sind. So versuchen sie, die widersprüchlichen Gedanken, Gefühle und Perspektiven ihrer anderen Teile zu unterdrücken.

Der amerikanische Dichter und Autor Robert Bly nennt den Schatten im Sinne von C.G. Jung »den langen Sack, den wir hinter uns herziehen«. Bis ins Erwachsenenalter verbringen wir unser Leben damit zu entscheiden, »welche Teile von uns wir in den Sack stecken, und den Rest unseres Lebens versuchen wir, sie wieder herauszuholen.«5 Die verdrängten Teile in uns zu entdecken und sie in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren heißt, wieder ganz zu werden. Uns der Anteile in uns bewusst zu werden, die bislang ein Schattendasein führen, macht uns entspannter, innerlich reicher und lebendiger. Es müssen dann nämlich nicht mehr andere Teile beständig dafür sorgen, dass sie unsichtbar bleiben, was enorm viel Energie verbraucht.

So gibt es beispielsweise Menschen, die angefangen haben, Teile ihrer Persönlichkeit zu unterdrücken, weil sie glauben, sie dürften keine Gefühle wie Wut, Ablehnung oder Begehren empfinden. Sie schämen sich für Teile ihres eigenen Innenlebens, weil sie zu der Überzeugung gelangt sind, etwas in ihnen wäre schlecht oder falsch, wenn sie das empfinden. Doch wenn wir unsere natürlichen Impulse, wie etwa Erotik und Sinnlichkeit oder Durchsetzungs- und Abgrenzungsfähigkeit, dämonisieren, wird es sehr anstrengend. Wut ist eine natürliche Reaktion, wenn Grenzen überschritten werden. Wie wir unsere Grenzen dann deutlich machen, auf eine hilfreiche oder schädliche Art und Weise, ist eine ganz andere Frage. Ebenso gehören sexuelle Gefühle zu jedem Menschen, unbenommen, ob und wie wir sie ausleben. Doch das zu unterdrücken, was ein natürlicher Teil jedes Menschen ist, bedeutet, dass uns wertvolle Kräfte fehlen.

Übung: Teile-Landkarte

Vielleicht möchten Sie aus dieser Perspektive noch einmal auf Ihre WG schauen und eine erweiterte Teile-Landkarte erstellen.

Nehmen Sie sich reichlich Zeit und bereiten Sie Material vor, was auch immer Ihnen zusagt: Papier, Stifte, Farben aller Art. Zudem vielleicht Schere, Klebestift sowie Fotos, Zeitschriften, Comics oder Kataloge zum Ausschneiden von Bildern für eine Collage. Das Internet bietet einen unerschöpflichen Bilder-Fundus, um Teile zu versinnbildlichen, die dann ausgedruckt und ausgeschnitten werden können. Sie können eine Mindmap gestalten, eher grafisch, symbolisch oder bildlich arbeiten.

Bitte machen Sie sich keine Gedanken über Ihre künstlerischen Fähigkeiten und lassen Sie den Anspruch los, es sollte etwas Perfektes, Abschließendes oder besonders Schönes herauskommen. Sie fangen einfach an, Ihre Teile und deren Beziehungen untereinander ein bisschen besser kennenzulernen. Strichmännchen, grobe Skizzen … Jede Form der Gestaltung ist okay.

 

Sie können sich bei der Arbeit an Ihrer Teile-Landkarte von folgenden Fragen inspirieren lassen:

Welche Teile stehen in Ihrer WG weit vorne? Wer ist oft sichtbar? Mit wem identifizieren Sie sich besonders?

Wer ist deutlich spürbar, wird aber vielleicht von Ihnen bzw. anderen Teilen in Ihnen eher kritisch beäugt? (z.B. die Kritikerin, die Aufbrausende, das traurige Mädchen)

Welche Anteile führen ein Schattendasein und sollen möglichst überhaupt nicht auftauchen?

Wer darf nur unter ganz bestimmten Umständen da sein? Wann oder mit wem dürfen diese Persönlichkeitsanteile zum Vorschein kommen?

 

Stellen Sie sich vor, dass Ihre innere WG in einem Haus lebt, das verschiedene Bereiche hat.6

Wer in Ihrer WG hält sich eher im Wohnzimmer, wer eher im Dachgeschoss auf? Wer muss im Keller hausen?

Gibt es Anteile, die nahe beieinanderwohnen, weil sie vielleicht ähnliche Absichten verfolgen oder Einstellungen teilen? (z.B. der Perfektionist, der Wächter über Aussehen und Gewicht und der Karrierebewusste. Oder aber die Heute-kein-Bock, der Trotzkopf, der innere Punk und der kreative Freigeist …)

Falls Sie sich schwertun, »Schatten-Teile« zu entdecken, schauen Sie einmal so auf Ihr Inneres:

All das, was zu einer wichtigen Zeit in Ihrem Leben, besonders in Ihrer Herkunftsfamilie, nicht willkommen war, hat sich vermutlich nicht zu einem strahlenden, entspannten Bewohner Ihrer WG entwickelt. Wahrscheinlicher ist, dass es eher ein abseitiges Dasein führen muss oder Kritik von anderen Mitbewohnern abbekommt, sobald es sich doch einmal zeigt.

Manchmal geschieht es auch, dass wir das, was zu Hause unerwünscht war, umso extremer zum Ausdruck bringen. Wer zum Beispiel in einem streng religiösen Umfeld aufgewachsen ist, entwickelt dann möglicherweise extrem freiheitsliebende Teile, die gegen jede Regel aufbegehren, während Teile im eigenen System, die sich für Spiritualität oder philosophische Fragen interessieren, abgedrängt werden.

 

Sie können sich fragen:

 

Welche Gefühle, inneren Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen waren in meiner Herkunftsfamilie gern gesehen? Was war hingegen verpönt, tabu oder Kritik ausgesetzt?

Wofür wurde ich beschämt oder lächerlich gemacht? Teile, die damit in Verbindung stehen, leben vielleicht eher im Keller.

War es für mich als Kind erlaubt, Traurigkeit, Angst oder Schwäche zu zeigen? Durfte ich wütend, wild oder eigensinnig sein? Um Hilfe bitten? Meine Meinung sagen? War es in Ordnung, unbeschwert, lebendig oder ganz in meinem Körper zu Hause zu sein?

Wo in mir stehen sich vielleicht sehr unterschiedliche Anschauungen wie zwei Gegenpole gegenüber?

 

Erlauben Sie sich beim Zeichnen oder Schreiben, mit Größenverhältnissen, der Anordnung oder der Positionierung auf dem Papier zu experimentieren.

 

Sind Teile sichtbar geworden, die Sie zuvor noch nicht bemerkt haben? Überrascht, befremdet oder freut Sie etwas an Ihrem Bild? Gibt es Teile, auf die Sie neugierig sind oder die Sie näher kennenlernen möchten? Sie können Ihre Teile-Landkarte im Laufe der Zeit weiter ergänzen oder immer wieder ganz neu gestalten.

 

Im Folgenden sehen Sie einige Beispiele für Teile-Landkarten. Manche zeigen ganze WGs, andere eine bestimmte innere Dynamik. Ihre eigene Zeichnung kann völlig anders aussehen.

Eine Teile-Landkarte verschafft einen Überblick über verschiedene Persönlichkeitsanteile, die in uns lebendig sind.

Diese zwei Bilder hat Martina zu unterschiedlichen Zeiten beim Kennenlernen ihrer inneren WG gemalt.

Anja nimmt ihren Zurückhalter als Last wahr, die an ihrem Rücken hängt und ihr einschränkende Botschaften sendet. Kindliche Anteile sind darunter spürbar.

Gina muss als Freiberuflerin kreative Inhalte quasi auf Knopfdruck liefern. Beim Erforschen ihrer Anteile hat sie diese vier entdeckt, die dabei oft aktiviert werden.

»Mein Ohr ist überfordert«: Eva hat Teile gemalt, die mit ihrem Tinnitus in Verbindung stehen.

Fallbeispiel: Wenn die Angst ihren Platz haben darf

Im folgenden Fallbeispiel möchte ich Ihnen zeigen, was sich verändern kann, wenn zuvor beiseitegedrängte Teile der Psyche wahrgenommen und anerkannt werden. Zugleich bekommen Sie einen genaueren Eindruck, wie man sich seinen Anteilen annähern und einen Dialog mit ihnen beginnen kann.

Markus ist Abteilungsleiter in einer Logistikfirma. Er hat beruflich viel erreicht und noch jede Menge Pläne. Nun ist ein konkurrierendes Unternehmen auf ihn zugekommen, das ihn abwerben möchte: eine höhere Position, mehr Personalverantwortung, ein attraktives Gehalt. Und noch mehr Druck. Markus ist sich nicht sicher, ob er das Angebot annehmen soll. Seine Frau ist aktuell schon unzufrieden damit, wie spät er nach Hause kommt. Ist er nicht die letzten Jahre ohnehin zu wenig für seine Familie da gewesen? Auf der anderen Seite: Das Angebot ist eine Riesenchance und eine, die vielleicht nie wiederkommt. Sein Gesprächspartner wartet auf eine Antwort. Wie soll er sich bloß entscheiden? Die ganze Sache liegt ihm im Magen.