Ich warte in deinem Schatten - Stella Daviz - E-Book

Ich warte in deinem Schatten E-Book

Stella Daviz

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Beschreibung

Cecilia hat ein schönes Leben. Ihr fehlt es an nichts. Sie ist eine bekannte Pianistin. Nach einer schmerzlichen Trennung lernt sie ihren Mr. Right kennen und lieben. Doch leider darf sie nur kurz ihr Glück genießen, als sie bemerkt, dass sie einen heimlichen Verehrer hat. Er schickt ihr nach jedem Konzert weiße Lilien. Sie fragt sich, woher ihr Verehrer weiß, dass weiße Lilien ihre Lieblingsblumen sind. Als er ihr den verlorenen Ohrring in einem kleinem Kuvert zukommen lässt, kriegt sie es mit der Angst zu tun...

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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Stella Daviz

Ich warte

in deinem Schatten

Impressum

© 2022 Copyright by Stella Daviz

Verantwortlich für den Inhalt:

J.-M. Koch ~ [email protected]

Lektorat/Korrektorat: Sandra Krichling ~ www.text-theke.com

Schlussredaktion/Satz: Sandra Krichling ~ www.text-theke.com

Coverdesign: Stella Daviz ~ [email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Prolog

T

ina lag in ihrem Bett und wälzte sich leise stöhnend hin und her. Die Fußketten klirrten gedämpft unter der Decke, als sie sich im Traum mit aller Kraft gegen ihren vermeintlichen Peiniger wehrte. Fast jede Nacht quälten sie Albträume, aus denen sie nicht erwachen konnte. Sie wimmerte vor sich hin und fing im Schlaf an zu weinen.

Tina versuchte vergeblich, ihre schweißnassen Haare aus dem Gesicht zu wischen. Dann sah sie mit geschlossenen Augen ihre Mutter vor sich, wie sie zuhause an ihrem Schreibtisch saß und ein paar Fotos in der Hand hielt. Auf den Bildern war ein kleines Mädchen verewigt, das übermütig in die Kamera lachte. Tränen liefen ihrer Mutter übers Gesicht, als sie die Fotos zurück in die Schublade legte. Verzweifelt rief Tina nach ihr, als sie sah, wie ihre Mutter den Raum verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Sie wurde unsanft aus ihrem Schlaf gerissen, als es an der Tür klopfte. Tina zuckte zusammen und sah ängstlich zur Tür. Michael kam in ihr Zimmer und begrüßte sie liebevoll. Blanke Angst überfiel sie, als sie bemerkte, wie er mit glühenden Augen ihren Körper betrachtete. Automatisch zog sie die Decke bis ans Kinn hoch, um ihren zitternden Körper zu verhüllen.

Michael glaubte, dass Tina schüchtern war und lächelte ihr liebevoll zu.

„Hallo, mein Schatz, wir können gleich essen“, sagte er zu ihr. „Ich habe eine Überraschung für dich.“

Er schloss die Tür wieder hinter sich und ging in die Küche hinunter.

Sie ließ sich auf ihr Kissen sinken und schloss erschöpft die Augen. Wie konnte das alles nur passieren?, fragte sie sich verzweifelt. Sie erinnerte sich daran, wie sie Michael das erste Mal begegnet war …

Tina war am Tresen des Coffee Shops und bestellte sich einen Latte Macchiato. Er stand direkt hinter ihr und sah sie lächelnd an. Sie drehte sich schnell wieder um, bezahlte und nahm ihr heißes Getränk entgegen.

Sie blickte nicht auf, als sie mit klopfendem Herz den Shop verließ. In letzter Minute sprang sie in den Bus, der bereits an der Haltestelle stand. Sie suchte sich schnell einen Sitzplatz und sah noch, wie er ihr hinterher schaute. Wer war dieser gutaussehende Mann, der im Coffee Shop hinter ihr gestanden hatte?, fragte sie sich aufgeregt.

Tina war 20 Jahre alt und glücklich in ihrem Beruf als Arzthelferin. Nach der Arbeit ging sie immer gleich nach Hause. Sie war sehr schüchtern und besaß nicht viele Freunde. Ihre Mutter hatte vor sechs Jahren noch einmal geheiratet. Bill, ihr Stiefvater, hatte Tina vier Wochen nach der Hochzeit adoptiert.

Als sie zuhause war, zog sie sich um und ging hinunter in die Küche. Sie wollte ihrer Mutter helfen, das Abendessen vorzubereiten. Sie dachte an den jungen Mann aus dem Coffee Shop und lächelte vor sich hin. Ihre Mutter beobachtete sie schmunzelnd und fragte sie nach ihrem Tag.

Aufgeregt erzählte Tina ihr, wem sie begegnet war.

Sie glaubte, diesen interessanten Mann zu kennen. Sie war fest davon überzeugt, dass sie ihm schon ein paarmal begegnet war. Aber immer, wenn sie sich nach ihm umgesehen hatte, war er plötzlich verschwunden.

Ein paar Tage später ging sie erneut zu dem Shop, weil sie hoffte, ihn dort wiederzusehen. Gerade als Tina enttäuscht das Geschäft verlassen wollte, kam er durch die Tür und begrüßte sie freundlich. Sie sah nicht, dass sie ihren Bus verpasste, als er sie lächelnd ansprach:

„Hallo, ich bin Michael ...“

Tina verdrängte ihre Gedanken und setzte sich im Bett auf. Obwohl sie den ganzen Nachmittag verschlafen hatte, war sie todmüde. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und stand dann mühsam auf. Es klirrte. Sie hasste dieses Geräusch.

Sie ging langsam zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf.

Tina band sich ihr Haar zusammen und ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen. Sie griff nach ihrem Handtuch, trocknete ihr Gesicht ab und sah in den Spiegel. Ihr ehemals hübsches Gesicht sah eingefallen aus. Sie bemerkte dunkle Ringe unter ihren hellblauen Augen, die sie um Jahre älter wirken ließen. Ihr ehemals herzförmiger Mund bestand nur noch aus zwei schmalen Lippen, die sie ständig aufeinander presste. Und ihre blonden Haare fielen glanzlos über ihre schmalen Schultern. Sie war schon immer sehr schlank gewesen, aber seit sie bei Michael lebte, war sie stark abgemagert.

Tina setzte sich wieder auf ihr Bett und sah sich in ihrem Zimmer um.

Der Raum, in dem Michael sie schon ein paar Monate gefangen hielt, wirkte sehr geräumig mit den hohen Decken und dem großen Fenster. An den hellgelben Wänden hingen einige Fotos, die Michael heimlich von ihr aufgenommen hatte.

Heute wusste sie, dass er sie schon lange beobachtet hatte, bevor er sie betäubt und sie in diesem Zimmer einsperrt hatte.

Ihr Doppelbett, der große Kleiderschrank und der Esstisch mit den vier Stühlen waren nun ihr neues Zuhause. Sie hatte mehrmals versucht, die Gardine zu öffnen, die vor dem Fenster hing. Aber ihre Fußkette war nicht lang genug, um das Fenster zu erreichen.

Tina merkte, dass sie ihre Kraft verlor. Und die Hoffnung, jemals wieder nach Hause zu kommen.

Vor allen Dingen, wenn Michael abends zu ihr ins Bett kam und sie in seine Arme nahm. Sie ließ ihn in dem Glauben, dass sie es genoss, wenn er sie küsste und ihren Körper berührte. Angeekelt verzog sie ihr Gesicht, als sie an heute Abend dachte. Sie wusste genau, was es bedeutete, wenn er eine Überraschung für sie bereithielt.

Heute Abend war es wieder so weit. Sie konnte es nur schwer ertragen, seine fordernden Hände auf ihrem Körper zu spüren. Bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Tina wusste nicht, wie lange sie das Leben mit ihm noch ertragen konnte.

„Das Essen ist fertig. Ich komme, mein Schatz“, hörte sie ihn rufen.

Michael stand in der Küche und schob das Fleisch auf die Teller. Dazu gab es etwas Salat und Baguette mit Kräuterbutter. Er pfiff vergnügt sein Lieblingslied, als er das Erdbeereis aus dem Gefrierfach holte. Er hatte Tinas Lieblingseis besorgt und wollte sie damit überraschen. Sie lebte nun schon mehr als drei Monaten bei ihm und Michael war noch nie so glücklich gewesen. Er ging mit dem Tablett die Treppe hinauf und betrat ihr Zimmer. Mechanisch stand Tina vom Bett auf und setzte sich an den Esstisch. Obwohl sie Hunger verspürte, fühlte sich ihr Magen an wie zugeschnürt. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Besteck und probierte das Fleisch.

„Als Überraschung gibt es heute Erdbeereis“, versprach Michael ihr und strahlte sie dabei an.

„Das mag ich am liebsten“, antwortete sie mühsam lächelnd. Sie hob ihren Blick und beobachtete, wie er sein Steak in kleine Stücke schnitt.

Sie überlegte, was ihn dazu gebracht hatte, sie gewaltsam hierher zu bringen. Man sah Michael auf den ersten Blick nicht an, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Obwohl sie ihn hasste, musste sie sich eingestehen, dass er ein gutaussehender Mann war. Seine großen, grünen Augen und seine hellbraunen Locken hatten ihr damals schon gefallen, als er sie das erste Mal angesprochen hatte.

„Ich will, dass du glücklich bist“, sagte Michael zu ihr. Die letzten Tage waren für ihn besonders schön gewesen. Michael glaubte, das Tina ihn genauso liebte, wie er sie. Als Belohnung hatte er Tina die Fesseln von den Händen entfernt.

Er schaute sie liebevoll an.

„Möchtest du noch etwas zu trinken?“

„Ja, danke“, antwortete Tina freundlich und starrte nachdenklich auf das Steakmesser in ihrer Hand.

Das Messer war zwar schmal, aber sehr scharf. Sollte sie es wagen? Abschätzend sah sie Michael von der Seite an. Er war zwar sehr schlank, aber verfügte über einen sportlich durchtrainierten Körper. Hatte sie überhaupt eine Chance, ihn zu überwältigen?

Als er nach der Karaffe griff und ihr etwas Wasser eingießen wollte, sprang sie plötzlich auf und stürzte sich mutig auf ihn. Es war eine Kurzschlussreaktion. Als würde ihre Hand ein Eigenleben führen. Leben. Ja, sie wollte doch einfach nur leben.

Er war so überrascht von ihrem Angriff, dass er das Messer in ihrer Hand übersah, mit dem sie auf ihn einstach.

Der unerwartete Schmerz, der sich in seiner Körpermitte ausbreitete, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er holte aus und schlug ihr hart ins Gesicht.

Die Ketten an ihren Füßen klirrten laut, als sie rückwärts zu Boden fiel. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Heizung und blieb reglos liegen. Als sie langsam wieder zu sich kam, hob sie wimmernd die Hände an ihren schmerzenden Kopf. Bevor sie ihre Augen öffnete, spürte sie seinen heißen Atem über sich. Er kniete neben ihr, weit über sie gebeugt, und starrte sie wütend an.

„Wieso tust du mir das an? Ich dachte, du liebst mich“, rief er verzweifelt.

Tina lachte wild auf und vergaß jede Angst.

„Du sperrst mich hier ein und legst mir Ketten an“, schrie sie hysterisch. „Dafür soll ich dich lieben?“

Sie versuchte, Michaels Gesicht zu zerkratzen, doch diesmal konnte er sie abwehren.

„Wir waren doch so glücklich“, sagte er enttäuscht, als er mühelos ihre Arme festhielt. „Dabei hast du mir nur etwas vorgemacht und mich die ganze Zeit belogen“, regte er sich auf.

„Dich kann man nicht lieben“, stellte Tina verächtlich klar. „Du bist ein Ungeheuer!“, schrie sie ihm wütend ins Gesicht.

„Ich habe dich geliebt und dir vertraut“, sagte er leise zu ihr, sein Griff blieb unerbittlich fest um ihre Handgelenke. „Keine Sorge, das passiert mir kein zweites Mal“, prophezeite er ihr.

Mit großen angsterfüllten Augen starrte sie in sein wutverzerrtes Gesicht, als er ihr die Nadel in den Hals jagte ...

Kapitel 1

~ drei Jahre später ~

D

ie Türen wurden geöffnet und der Saal füllte sich mit den unterschiedlichsten Menschen. Sie hielten ihre Konzertkarten in der Hand und suchten ihre reservierten Plätze. Die Musiker spielten leise ihre Instrumente ein. Es wurde gelacht, getuschelt und geflüstert.

Michael war alleine hergekommen und setzte sich voller Vorfreude auf seinen Platz. Neben ihm saß eine ältere Frau, die laut in ihr Handy sprach. Auf der anderen Seite saß ein Pärchen, das sich wild küsste.

Er hasste Menschen, die unsensibel waren und auf andere keine Rücksicht nahmen. Gerade in diesem Konzertsaal, wo die schönsten Opern der großen Meister gespielt wurden, benahmen sie sich wie Barbaren. Das fiel Michael immer wieder auf, wenn er ungeduldig auf seinem Platz saß und es nicht abwarten konnte, sie zu sehen.

Wenn Cecilia spielte, konnte er seiner Fantasie freien Lauf lassen und von ihr träumen. Niemandem würde es auffallen, wenn er sie mit glühenden Augen anstarrte.

Er registrierte jede kleinste Bewegung von ihr, nichts entging ihm. Wenn sie verzückt die Augen schloss und ihre Hände sich gefühlvoll dem Klavierspiel hingaben, machte er die schönsten Fotos von ihr. Ein überwältigendes Glücksgefühl durchströmte seinen Körper. Michael wusste, dass seine unendliche Geduld sich bald bezahlt machen würde. Er war davon überzeugt, dass sie füreinander bestimmt waren. Seit dem Moment, als er sie das erste Mal gesehen hatte, war er verzaubert von ihr. Diesmal wollte er alles richtigmachen. Er konnte sich keine Fehler mehr leisten.

Noch musste er Cecilia mit allen anderen teilen. Aber er hatte nur noch einen Wunsch, der ihn beherrschte: Er wollte sie ganz für sich alleine und ihr die Welt zu Füßen legen. Durch sie würde seine Familie erst wieder vollständig. Und jeden, der sich ihm in den Weg stellte, würde er vernichten.

Michael wurde gewaltsam aus seinen Gedanken gerissen, als das Licht anging und die Leute sich von ihren Plätzen erhoben. Er stand ebenfalls auf und klatschte voller Begeisterung in die Hände.

Voller Stolz glaubte er, dass jedes Lächeln von Cecilia nur ihm galt. Sie verneigte sich vor ihrem Publikum und ging von der Bühne. Gleich würde sie seine Blumen finden und die Karte lesen, die zwischen den einzelnen Blüten steckte.

Mit der Kamera in der Hand ging er zum Ausgang. Er konnte es nicht erwarten, die neuen Fotos von ihr zu bewundern.

***

Als Cecilia die Tür zu ihrer Garderobe öffnete, kam Julie ihr entgegen.

„Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, meine Liebe.“ Sie nahm ihre Freundin in die Arme und drückte sie fest an sich.

„Nun mal langsam, warten wir doch erst mal die Kritiken ab.“ Cecilia lächelte geschmeichelt. „Du bist voreingenommen, was mich angeht, weil du mich kennst und magst.“

„Ja, das stimmt, aber die Kritiker werden meiner Meinung sein“, stellte Julie entschieden fest. Cecilias Blick fiel auf einen Strauß weißer Lilien, der auf ihrem Tisch stand. Sie liebte den Geruch der einzelnen Blüten. „Schau dir das an. Die sind wieder von deinem heimlichen Verehrer“, informierte Julie sie.

„Bitte nicht schon wieder. Langsam nervt das ganz schön, dass der Typ sich nicht zu erkennen gibt“, antwortete Cecilia augenrollend. „Und immer schickt er weiße Lilien.“ Sie griff zwischen die Blumen und zog eine kleine Karte heraus:

Mein kleiner Engel, du warst wieder

wunderbar. Ich zähle die Stunden bis

wir uns wiedersehen.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Karte aus der Hand legte.

„Vergiss den Kerl und zieh dich schnell um. Ich habe einen Tisch bei unserem Italiener reserviert“, drängte Julie sie.

Cecilia Wood hatte schon als 4-Jährige Klavierstunden bekommen. Ihre damalige Lehrerin, Sina Winters, hatte schon früh erkannt, dass in dem kleinen Mädchen großes Potential steckte. Sie unterrichtete und förderte Cecilia jahrelang. Und glaubte an ihr außergewöhnliches Talent. Winters schlug ihren Eltern vor, Cecilia nach der Schule an der Gillians School in New York anzumelden.

Sophia Wood, die Mutter von Cecilia, hatte selbst seit ihren Kindertagen Klavier gespielt. Sie hatte die Werke der großen Meister geliebt und jeden Tag am Flügel gesessen. Ihre Tochter sollte in diese Richtung gefördert und unterstützt werden.

Herr Wood, eher rational veranlagt, wollte für seine Tochter eine konservative Berufsausbildung. Er war der Meinung, dass Cecilia sich erst einmal selbst entfalten sollte. Wenn sie in dem entsprechenden Alter war, sollte sie selbst entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten würde. Doch Sophia war hartnäckig geblieben und überredete ihn, seine Tochter dort anzumelden. Das Aufnahmegremium der Gillians School war begeistert von Cecilia und bot ihr einen Platz an der Universität an.

Nach drei Jahren intensiven Studiums und glänzendem Abschluss an der Gillians war Cecilia als Solopianistin sehr erfolgreich geworden. Ihre Konzerte waren immer so gut wie ausverkauft.

Julie und ihre Freundin saßen in ihrem italienischem Restaurant Angelo mit Blick auf Manhattans beliebteste Einkaufsstraße. Während sie aßen, plauderte Cecilia munter über ihre nächsten Konzerte. Nach einer Weile bemerkte sie, dass Julie immer stiller wurde.

„Hey du, was ist los mit dir?“, fragte sie ihre Freundin.

„Wieso, was soll mit mir sein?“, wich Julie ihrer Frage aus. Doch Cecilia merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte und ließ nicht locker. Dafür kannte sie Julie zu lange. Schweigend saß sie ihrer Freundin gegenüber und sah ihr in die Augen.

Eigentlich wollte Julie nicht über das Thema reden, dass sie seit Tagen beschäftigte. Aber Cecilia konnte da sehr hartnäckig sein und ließ nicht locker. Normalerweise gab es keine Geheimnisse zwischen den beiden, denn sie vertrauten sich alles an. Doch dieses Mal tat sich Julie schwer, über ihr Problem zu reden. Aber Cecilia ließ ihr keine Wahl. Julie gab sich einen Ruck und erzählte ihr von dem Gespräch mit ihrem Vater.

Paul Barton hatte seine Tochter vor ein paar Tagen ins Wohnzimmer gebeten. Ihre Mutter hatte auf dem Sofa gesessen und ihr aufmunternd zugelächelt. Ihr Vater begann über die finanziellen Schwierigkeiten in seiner Firma zu sprechen. Und von dem Vorschlag seines Partners, wie sie die Krise überstehen konnten.

William Evans war seit der Gründung der Im- und Exportfirma Partner ihres Vaters und sehr vermögend. Für ihn war es kein Problem, das erforderliche Kapital in die Firma einzubringen, dass sie dringend benötigten. Doch Julies Vater konnte seine neue Einlage nicht aufbringen. Er legte seinem Partner offen dar, dass ihm die finanziellen Mittel dazu fehlten. Daraufhin unterbreitete William Evans ihm einen Vorschlag. Wenn Julie seinen Sohn Niklas heiraten würde, wollte er für das nötige Kapital alleine aufkommen. Denn durch die Heirat ihrer Kinder würde alles in der Familie bleiben. Herr Evans unterrichtete Niklas über die prekäre Lage seines Partners. Er erzählte ihm, wie praktisch es für die Firma wäre, wenn er und Julie heiraten würden. Nach einer kurzen Bedenkzeit stimmte sein Sohn der Heirat zu.

Jetzt lag es an Julie, ihren verzweifelten Vater zu unterstützen. Sie liebte ihn sehr und wollte ihn nicht enttäuschen. Sie erzählte Cecilia von ihren Bedenken, als sie ihrem Vater versprochen hatte, Niklas zu heiraten. Sie kannte ihn schon seit ihrer Kindheit. Er war schon immer ihr bester Freund gewesen. Julie war sich nicht sicher, ob ihre freundschaftlichen Gefühle für Niklas ausreichten, um eine glückliche Ehe zu führen.

Cecilia war entsetzt über das, was ihre Freundin ihr soeben erzählt hatte. Sie konnte einfach nicht begreifen, wieso Herr Barton seine Tochter so unter Druck setzte. Sie war empört darüber, dass Julie die finanziellen Probleme ihres Vaters lösen sollte. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Aber ihr war auch bewusst, wie sehr Julie ihren Vater verehrte.

„Ist die Hochzeit schon beschlossene Sache?“, fragte sie ihre Freundin vorsichtig, bedacht darauf, ihre Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen.

„Ja. Ich glaube schon“, antwortete Julie kläglich.

Die Familie Evans erwartete Julie mit ihren Eltern am nächsten Samstag zum Essen. Dabei sollte die Verlobung zwischen ihr und Niklas beschlossen werden.

„Kann ich irgendwas tun?“, fragte Cecilia und sah Julie prüfend an.

„Nein, danke. Du musst mir nur helfen, das alles durchzustehen.“

„Ich werde mein Bestes geben“, versicherte Cecilia ihrer Freundin und drückte sie fest an sich.

Cecilia wechselte das Thema und versuchte, Julie von ihrer bevorstehenden Heirat abzulenken. Sie behielt ihre Meinung für sich, doch insgeheim beschäftigte es sie sehr. Heiratete man nicht aus Liebe?, fragte sie sich verwirrt. Wieso sollte Julie dem Wunsch ihres Vaters nachgeben und auf ein wahres Glück verzichten? Aber Cecilia wusste genau, dass Julie ihre Entscheidung schon getroffen hatte. Und dass sie nichts mehr tun konnte, um diese Hochzeit zu verhindern.

Julie war das zweite Kind von Melissa und Paul Barton. Während Cecilia an die Gillians gegangen war, hatte Julie Betriebswirtschaft studiert, so wie es der Wunsch ihres Vaters gewesen war. Julie tat alles, um ihm zu gefallen. Nachdem bei ihrem Bruder Theodor im Alter von zwölf Jahren Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt worden war, war für ihren Vater eine Welt zusammengebrochen. Ted hatte einen großen Tumor an seiner Bauchspeicheldrüse und die Ärzte gaben ihm nur eine fünfprozentige Überlebenschance.

Sie begannen mit einer radikalen Chemotherapie und Bestrahlungen. Die Ärzte hofften, dass der Tumor so weit schrumpft, dass er später durch eine Operation entfernt werden konnte. Der einstmals sportliche, gesunde Junge verlor stark an Gewicht und war nach Monaten der Behandlungen nur noch ein Schatten seines Selbst. Wenn sein Vater Paul nicht im Büro saß, war er bei Ted und versuchte ihn immer wieder aufzurichten. Er bat seinen Sohn stark zu bleiben und durchzuhalten. Ted liebte seinen Vater so sehr, dass er mutig jede schmerzhafte Behandlung über sich ergehen ließ. Tatsächlich verbesserte sich sein Zustand mit der Zeit, sodass der Tumor operativ entfernt werden konnte. Nach drei Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und ging später auch wieder zur Schule. Die Familie hoffte, dass Ted die Krankheit besiegen würde.

Er befand sich im zweiten Jahr der Remission, als die Ärzte bei ihm Metastasen in der Leber und den Nieren fanden. Ted benötigte erneut eine Chemo und wurde weiter bestrahlt. Aber dieses Mal konnte er den Kampf nicht gewinnen. Seine Organe waren zu schwer belastet. Ein paar Monate später starb er.

Paul konnte den Tod seines Sohnes nicht verkraften. Seine einzige Hoffnung galt nun Julie, die damals gerade sechs Jahre alt war. Sie tat alles, was ihr Vater verlangte, um ihn wieder lächeln zu sehen. Sie wurde in der Schule Klassenbeste und begleitete ihren Vater oft in seine Firma. Während ihres Studiums musste sie ihn zu seinen Konferenzen begleiten. Nachdem sie ihren Bachelor in Wirtschaft bestanden hatte, fing sie an, in der Firma ihres Vaters zu arbeiten.

Oft hatte Julie mitangehört, wie ihre Eltern sich stritten, weil ihre Mutter Melissa nicht verstehen konnte, wie hart der Vater mit seiner Tochter umging. Sie hatte befürchtet, dass Julie seinen Forderungen nicht gewachsen war. Aber Julie hatte schnell gelernt, sich in die Firma ihres Vaters einzuarbeiten.

Sie war glücklich, wenn er zufrieden mit ihrer Arbeit war und sie weiter anspornte, noch besser zu werden.

Die Beziehung zu ihrem Vater war so eng, dass sie ihm widerspruchslos gehorchte.

***

Im Restaurant hatte sich Michael an einen Tisch gesetzt, von dem aus er Cecilia und ihre Freundin ungestört beobachten konnte.

Als die Kellnerin kam, bestellte er sich eine Kleinigkeit zu essen. Er griff nach der Zeitung und las die neuesten Nachrichten. Er genoss es, in ihrer Nähe zu sein und ihrer Stimme zu lauschen. Vor Erregung fingen seine Hände an zu zittern. Michael stellte sich vor, wie es wäre, mit ihr an einem Tisch zu sitzen. Und wie Cecilia den restlichen Abend mit ihm am Kamin verbringen würde. Er stellte sich vor, wie er sie in seine Arme nehmen und sie leidenschaftlich verführen würde ...

Viola brachte Michael sein Essen, ging zum Tresen zurück und grinste ihre Kollegin Gloria an.

„Guck mal, dein schüchterner Verehrer ist wieder da“, bemerkte sie und zwinkerte ihr zu.

Gloria betrachtete den Gast, der wieder einmal alleine am Tisch saß. Er sieht eigentlich ganz gut aus mit seinen hellbraunen Locken, dachte sie. Seine ausdrucksvollen, grünen Augen beherrschten sein Gesicht mit der geraden, leicht gebogenen Nase und den vollen Lippen. Gloria stellte sich ihn mit einem moderneren Haarschnitt vor. Und neuen Klamotten. Der Typ hatte keinen Geschmack, was seine Kleidung betraf. Mit der richtigen Frau an seiner Seite konnte sich das alles ändern, überlegte sie weiter.

„Gib du ihm doch deine Nummer und schnappe dir den Kerl“, schlug Gloria lachend ihrer Kollegin vor. „Der sieht nicht so aus, als würde er den ersten Schritt wagen.“

***

Als Cecilia die Rechnung beglich und mit Julie das Lokal verließ, saß Michael bereits in seiner Limousine und wartete auf sie. Die beiden riefen ein Taxi, stiegen ein und fuhren los. Auch er startete seinen Wagen und fuhr hinterher. Zuerst wurde Julie nach Hause gefahren. Kurze Zeit später war auch Cecilia zuhause.

Er sah noch, wie das Taxi in die private Einfahrt der Woods fuhr und Cecilia ausstieg.

„Schlaf schön, meine Kleine“, flüsterte er und fuhr weiter.

Als Michael nach Hause kam, ging er gleich in sein Büro, um die neuesten Fotos von ihr auszudrucken. Er schob eine CD in seinen Player, drehte die Musik lauter und wendete sich wieder seiner Kamera zu.

Mit der Speicherkarte in der Hand ging er zu seinem Laptop und schob sie vorsichtig in den Schlitz. Wenig später sah er in Cecilias große, blaue Augen, die seinen Blutdruck in die Höhe trieben. Er war unfähig sich zu bewegen. Sein Atem ging schwer, als er so dasaß und die Fotos fasziniert betrachtete. Er kannte jedes Detail ihres geliebten Antlitzes. Die kleinen Lachfalten um ihren Mund, den Schönheitsfleck neben ihrer Nase ...

Mit einem Stapel neuer Fotos ging er später in ihr Zimmer. Als er die Tür öffnete, kam ihm der Duft von Lavendel entgegen. Die Wände ihres Zimmers waren in zartem Lila gestrichen. Hier hingen die Großaufnahmen seines Lieblings.

An der rechten Seite vom Fenster stand ein Bett. Darüber war ein Regal mit Büchern und CDs angebracht. Auf dem Schreibtisch vor der Heizung standen zwei Bilderrahmen. Das erste Bild zeigte Cecilias Eltern. Auf dem zweiten war er mit Cecilia zu sehen. Er streichelte den Rahmen und flüsterte zärtlich:

„Bald ...“

Michael verließ den Raum und ging den Flur entlang. An den Türen der nächsten zwei Zimmer waren kleine Schilder angebracht.

„Hallo Nina, hallo Lea“, flüsterte er automatisch die Namen, die auf den Schildern standen. Er öffnete eine schwere Holztür und verschloss sie sorgfältig hinter sich, bevor er hinunterging.

Am Treppenaufgang stand die Pflegerin Rita und wartete auf ihn. Ihre Schicht war zu Ende und sie wollte gleich nach Hause. Rita wusste, dass der Hausherr nur angesprochen werden wollte, wenn es um die Pflege seiner Mutter ging. Er lehnte es kategorisch ab, über private Angelegenheiten zu sprechen. Das hatte er den beiden Pflegerinnen deutlich gezeigt, als sie angefangen hatten, für ihn zu arbeiten. Sie sollten sich nur um seine kranke Mutter kümmern und sie pflegen. Wolden konnte sehr unangenehm werden, wenn sie sich nicht an die Regel hielten. Trotzdem hätte Rita zu gerne gewusst, wieso niemand das obere Stockwerk betreten durfte. Und warum die Tür im ersten Stock immer verschlossen war.

„Hallo, Herr Wolden. Ich habe gleich Feierabend und wollte wissen, ob Sie noch etwas benötigen?“, fragte sie ihn, als er die Treppe herunterkam. Als Rita sein grimmiges Gesicht sah, wusste sie, dass er verärgert war.

„Ein Tee wäre schön. Und vielleicht noch einen Joghurt für meine Mutter, damit die Tabletten besser rutschen“, antwortete er mit fester Stimme.

Rita ging zurück in die Küche und setzte Teewasser auf. Danach holte sie den Joghurt aus dem Kühlschrank.

Seine Mutter Mona Wolden war eine nette und liebenswerte Patientin, die sie nur ungern im Stich lassen wollte. Rita war schon ein paarmal kurz davor gewesen, ihren Job zu kündigen. Mit Michael Woldens Art kam sie nicht gut zurecht. Er war ihr gegenüber oft unhöflich und seine herrische Art jagte ihr manchmal Angst ein.

In diesem Haus herrschte eine bedrückende Stimmung. Sie sprach erst vor Kurzem mit ihrer Kollegin Sonja darüber, wie unangenehm Herr Wolden manchmal war. Sie fühlten sich beide unwohl, wenn sie sich mit dem Hausherrn in einem Zimmer befanden.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis seine Mutter in ein Hospiz kommt, dachte Rita. Dann müsste ich mir sowieso eine neue Stellung suchen. Und in einem anderen Haushalt arbeiten.

Michael lief an der Küche vorbei zu dem hinteren Zimmer. Er klopfte an die Tür und ging hinein.

„Hallo Mutter, wie geht es dir?“

Er ging zu ihrem Bett und legte sich vorsichtig auf die freie Seite neben ihr.

„Hallo mein Schatz“, begrüßte seine Mutter ihn und legte eine Hand auf seine Brust.

„Wollen wir uns gleich deinen Lieblingsfilm ansehen?“, schlug er vor und küsste sie liebevoll auf die Stirn. Sie drehte sich zu ihm und streichelte zärtlich seine Wange.

„Das ist eine wundervolle Idee“, antwortete sie mit schleppender Stimme.

Sie erinnerte sich an früher, als Michael klein gewesen war und Mia noch bei ihnen gewohnt hatte.

Mia war die Zwillingsschwester von Michael. Die beiden waren tagsüber nicht zu trennen und schliefen auch jede Nacht zusammen ein. Ihr Ehemann John holte sie später aus Michaels Bett und trug seine schlafende Tochter in ihr Zimmer zurück. Michael ließ damals nicht zu, dass Mia andere Freunde traf. Er konnte sehr böse werden, wenn er herausfand, dass sie sich mit anderen Kindern aus ihrer Schule verabredete.

Heute gab Mona sich selbst die Schuld daran, dass ihr Sohn noch nicht verheiratet war. Viel zu früh musste er die Verantwortung für sein Leben übernehmen. Sie hatte sich nie von dem Tod ihres Mannes erholt und war seitdem eine große Belastung für ihren Sohn.

Deshalb ging Michael selten aus dem Haus. Er wollte seine Mutter nicht lange alleine lassen. Und er lud nie seine Freunde ins Haus ein, stellte Mona schon vor langer Zeit fest. Von seinem Verantwortungsgefühl getrieben, wollte er ihr das Leben so leicht und schmerzfrei wie möglich machen. Sie war sich dessen bewusst und schämte sich, dass sie ihn so im Stich ließ. Mona war schon immer sehr sensibel gewesen. Sie lernte nie, eigene Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Immer gab es jemanden, der für sie entschied, was richtig für sie war. Sie merkte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb und hatte Angst, Michael alleine zurückzulassen.

„Du musst endlich ein hübsches Mädchen kennenlernen und heiraten“, verlangte Mona von ihm. „Ich wäre sehr froh, wenn du nicht alleine bist, wenn ich nicht mehr da bin“, bemerkte sie unglücklich.

Er machte ein trauriges Gesicht und nahm ihre Hand.

„Sag so etwas nicht. Du wirst noch ewig leben“, scherzte er und zwinkerte ihr zu.

Ihr Sohn sah seinem Vater so ähnlich, dass sie manchmal glaubte, er stände vor ihr. Sie beobachtete ihn, wie er ihren Lieblingsfilm in den DVD-Player legte.

„Komm, wir sehen uns den Film an. Dann kommst du auf andere Gedanken“, schlug er vor. Wenn er bei ihr war, vergaß sie für einen Moment ihre Schmerzen. Sie erinnerte sich gerne an früher, als sie noch eine glückliche Familie gewesen waren ...

Mona Wolden war 19 Jahre alt, als sie von zuhause wegging. John war 32 Jahre alt, als sie das erste Mal die Tankstelle betrat. Er verliebte sich sofort in sie, als er in ihre großen, braunen Augen sah. Er hatte sie ins Kino eingeladen und hinterher waren sie chinesisch essen gegangen.

Er hatte sie immer zum Lachen gebracht und war sehr lieb zu ihr gewesen.

Sie erzählte kaum von sich, war sehr zurückhaltend und hatte John alle Entscheidungen überlassen. Er hatte die Tankstelle von seinen Eltern geerbt, als sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Er war das einzige Kind von Walter und Isabel Wolden gewesen. Als er Mona kennengelernt hatte, war er zum ersten Mal wieder glücklich. Als Mona schwanger wurde, hatte John ihr einen Heiratsantrag gemacht, den sie glücklich annahm. Als die Zwillinge Mia und Michael zur Welt kamen, waren sie eine glückliche und zufriedene Familie.

Jahre später klingelte es bei den Woldens an der Tür. Mona war gerade mit der Wäsche beschäftigt gewesen. Der damals 15-jährige Michael arbeitete in seinem Zimmer an einem Projekt für die Schule. Als sie die Tür öffnete, standen zwei Polizisten in Uniform vor ihr und fragten nach ihrem Namen.

„Bitte nicht“, flüsterte sie entsetzt, als einer der beiden Uniformierten sie mit ernster Miene ansprach:

„Es tut uns leid, Frau Wolden, wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist ...“

Michael hörte seine Mutter schreien und rannte los. Er sah den Polizisten, der seine Mutter gerade noch auffing, bevor sie ohnmächtig zu Boden glitt.

Wie in Trance überstanden sie die Beerdigung von John und versuchten, sich gegenseitig zu trösten.

Michael hatte sich geschworen, stark für seine Mutter zu sein. Doch Mona schaffte es nicht, über den schmerzhaften Verlust ihres Mannes hinweg zu kommen. Sie nahm schwere Beruhigungstabletten, um den Tag zu überstehen.

Mia vermisste ihren Vater sehr und musste mit ansehen, wie ihre Mutter sich immer mehr aufgab. Mona verschlief den halben Tag und stand am frühen Abend auf, um sich ihre erste Flasche Wein zu genehmigen. Dann verbrachte sie die halbe Nacht vor dem Fernseher, bis Michael sie volltrunken in ihr Bett trug.

Mia fühlte sich von ihr im Stich gelassen und wurde immer wütender auf ihre Mutter. Sie verstand Michael nicht, wie ruhig und verständnisvoll er mit ihr umging. Es machte ihm nichts aus, jeden Abend mit ihr zusammen zu sitzen und immer wieder die gleichen Geschichten zu hören. Ihre Mutter hatte erfolgreich ihre Zukunft ausgeblendet und lebte nur noch in der Vergangenheit.

Michael verteidigte seine Mutter immer, wenn Mia wieder einmal der Kragen platzte und sich bei ihm über sie beschwerte. Durch die Situation zuhause wurde Mia immer aggressiver. Sie schwänzte oft die Schule. Sie konnte sich niemandem anvertrauen, warum sie zuhause so unglücklich war.

Sie wollte nicht, dass jemand mitbekam, wie ihre betrunkene Mutter durch das Haus torkelte. Mit 17 Jahren hatte sie gerade mal so ihren Abschluss in der Schule geschafft, sich einen Job gesucht und war in eine eigene Wohnung gezogen. Michael hatte sie angefleht zu bleiben, aber Mia ließ nicht mit sich reden und verließ ihn und Mona.

Sie arbeitete tagsüber in einem Schnellimbiss und kam die erste Zeit noch vorbei, wenn sie ihren Zwillingsbruder vermisste. Aber als sie ihren ersten Freund kennenlernte, blieb Mia ganz weg und rief nur noch selten an. Mona fiel erst nach Wochen auf, dass ihre Tochter ausgezogen war. Sie wusste, dass Mia sie nicht mehr ertragen konnte und schämte sich dafür. Aber sie hatte keine Kraft mehr, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen.

Zehn Jahre später lag ein Brief in der Post, der ihr Leben verändern sollte. Der Absender war von einer renommierten Sozietät aus Manhattan.

Michael war mit seiner Mutter pünktlich zum vereinbarten Termin in der Rechtsanwaltskanzlei erschienen. Ihre Großtante Gilda hatte Mona ihr gesamtes Vermögen vermacht. Dazu gehörte auch das große Haus, in dem Gilda vor Kurzem verstorben war. Außerdem erbte Mona verschiedene Aktienpakete, die vor langer Zeit angelegt worden waren. Michael freute sich über diese Nachricht, während seine Mutter in Tränen ausbrach. Sie hatte darauf bestanden, dass ihrem Sohn Michael eine Generalvollmacht ausgestellt wurde. Sie hatte sich nicht in der Lage gefühlt, ihr Erbe anzutreten oder zu verwalten.

Als Michael und seine Mutter zum ersten Mal das Haus ihrer Großtante betraten, konnten sie ihr Glück kaum fassen. Mitten in Manhattan lag diese dreistöckige, alte Jugendstilvilla mit ihren sechs Zimmern und fünf Bädern. Das Haus war regelmäßig renoviert worden, sodass sich die Räume in einem guten Zustand befanden.

Kurze Zeit später verkaufte Michael die Tankstelle und zog mit seiner Mutter in das neue Haus.

Er traf sich mit seiner Schwester und versuchte sie zu überreden, mit nach Manhattan zu ziehen. Aber Mia konnte den Gedanken nicht ertragen, mit ihrer Mutter unter einem Dach zu wohnen. Sie wollte nicht miterleben, wie ihre Mutter dahinvegetierte und langsam ihren Verstand verlor. Sie bewunderte Michael insgeheim, dass er so stark war und ihre Mutter aufopfernd pflegte.

Er bestand darauf, ihr eine Eigentumswohnung zu kaufen und zahlte ihr jeden Monat Unterhalt. So bestand für sie die Möglichkeit, sich in Ruhe zu überlegen, wie sie ihr weiteres Leben gestalten wollte.

Mia war froh darüber, dass sie keine finanziellen Engpässe mehr ertragen musste. Sie hatte schon länger überlegt, noch mal zur Schule zu gehen. Da sie jetzt regelmäßig Unterhalt von Michael bezog, konnte sie ihre Pläne verwirklichen.

Sie war ihrem Bruder sehr dankbar dafür. Aber schämte sich gleichzeitig, dass sie ihn mit ihrer Mutter im Stich ließ. Sie wollte Michael überreden, ihre Mutter in ein Pflegeheim zu geben. Aber da stieß Mia bei ihm auf taube Ohren. Mia machte es traurig, dass Michael kein eigenes Leben mehr führen konnte und nur noch für seine Mutter da war.

Als Michael sich wieder zu seiner Mutter aufs Bett legte, nahm sie liebevoll seine Hand. Sie sah ihn dankbar an.

„Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich verloren“, sagte sie. „Ich hoffe, du wirst mit deiner zukünftigen Frau so glücklich, wie ich es mit deinem Vater war.“

„Ja, das werde ich bestimmt“, entgegnete er zuversichtlich.

Kapitel 2

C

ecilia war schon seit einiger Zeit wach und ignorierte die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg ins Zimmer bahnten. Sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke ein und war noch nicht bereit, ihr warmes Bett zu verlassen. Ihr rotblondes, langes Haar schimmerte glänzend auf ihrem Kissen.

Cecilia Wood hatte vor Kurzem ihren 23. Geburtstag gefeiert. Sie wohnte mit ihrem Vater in einem gelben Sandsteinhaus aus dem 19. Jahrhundert an der Upper East Side in Manhattan. Sie lebten dort mit einigen Angestellten, die das Haus gut in Schuss hielten, wie ihr Vater immer zu sagen pflegte. Ein Gärtner versorgte die Pflanzen auf der riesigen Dachterrasse und kümmerte sich um die Pflege des Swimmingpools.

Mit einem Mal hörte sie den Weckruf ihres Handys. Es war Zeit für sie aufzustehen. Cecilia rollte sich noch einmal im Bett herum und griff nach ihrem Handy. Sie schlug die Decke zurück, schwang ihre schlanken Beine über die Bettkante und setzte sich auf.

Mit beiden Händen schob sie sich ihr langes Haar aus dem Gesicht und machte sich einen Zopf. Ihre großen, blauen Augen standen weit auseinander. Sie besaß eine kleine, gerade Nase und volle Lippen. Ihre strahlenden, weißen Zähne wurden durch ihre sonnengebräunte Haut noch betont. Und ihrem durchtrainierten Körper sah man an, dass sie regelmäßig Sport trieb. Bei einer Größe von 1,73 m wog sie gerade einmal 57 Kilo.

Eigentlich wollte sie ihr Zimmer nicht verlassen, das so schön nach Lavendel roch. Das war der Lieblingsduft ihrer verstorbenen Mutter gewesen. Cecilia trauerte lange um sie. Die ersten zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter waren die schwersten ihres Lebens gewesen. Sie war kaum aus dem Haus gegangen und hatte alle Einladungen ausgeschlagen.

„Du musst dich ablenken, um deinen Schmerz zu überwinden“, hatte man ihr gesagt. Diesen Spruch konnte Cecilia nicht mehr hören. Als wenn es so einfach wäre, über den Tod eines geliebten Menschen hinweg zu kommen.

Cecilia wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ihr Handy klingelte. Ihre Freundin Julie war am Telefon.

„Ich hoffe, du hast unsere Verabredung nicht vergessen? Um 10.00 Uhr im Club“, erinnerte Julie sie.

„Ich bin wach und mache mich gleich fertig. Ich freue mich schon darauf, dich auf dem Platz zu schlagen“, lachte Cecilia ins Telefon. „Wer das Match verliert, muss den Brunch bezahlen.“

Julie lachte mit.

„Wer´s glaubt, wird selig. Das wollen wir doch erst mal sehen, wer hier wen fertigmacht.“

„Okay, ich zieh mir schnell etwas an und fahr dann gleich los“, erwiderte Cecilia fröhlich.

Julie Barton war Cecilias beste Freundin. Als die beiden Mädchen klein waren, hatten sich Frau Wood und Frau Barton angefreundet. Sie hatten sich fast täglich getroffen. Seitdem waren sie und Julie unzertrennlich.

Schnell lief Cecilia ins Bad, machte sich frisch und zog sich ihren Tennisdress an. Sie lief hinunter in die Küche, wo die langjährige Haushälterin Martha auf sie wartete. Sie legte für Cecilia ein Omelette auf den Teller und holte Saft aus dem Kühlschrank.

„Guten Morgen Martha, wie geht es dir heute?“, fragte Cecilia. Sie drückte sie kurz an sich.

„Guten Morgen“, begrüßte die Haushälterin sie. „Ich habe dir dein Lieblingsomelette gemacht.“

„Nein danke, ich habe keine Zeit mehr.“

Cecilia nahm sich einen Apfel vom Tisch, griff nach ihrem Wagenschlüssel und lief hinaus zur Garage. Dort stieg sie in ihren kleinen Flitzer, startete den Wagen und fuhr los.

Das Clubhaus lag 20 Minuten von ihrem Haus entfernt. Sie musste sich beeilen, um noch pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt zu kommen. Sie fuhr wie üblich ein wenig zu schnell auf der kurvigen Straße am Wasser entlang.

Als sie beim Sportclub ankam, ging sie gleich zu den Tennisplätzen. Dort stand ihre Freundin Julie, die schon auf sie wartete.

„Hey, du Langschläfer, hast es gerade noch geschafft, oder?“, neckte Julie sie.

Sie nahm ihre Freundin in die Arme und drückte sie fest an sich.

„Na ja, du kennst mich doch, ich bin kein Frühaufsteher“, entschuldigte sich Cecilia bei ihr.

„Was ist das für ein riesiger Klunker an deiner Hand?“, scherzte sie und sah sich Julies Ring an. „Bist du etwa schon verlobt?“, fragte Cecilia ihre Freundin erstaunt.

Julie erzählte ihr, dass am Wochenende wie geplant ihre Verlobung stattgefunden hatte. Und dass die Hochzeit zwischen ihr und Niklas nun beschlossene Sache war.

„Meine Güte, damit solltest du aber nicht schwimmen gehen. Mit so einem Ring geht man bestimmt gleich unter“, zog Cecilia ihre Freundin auf.

Julie grinste. Sie war froh, dass durch ihre Hochzeit mit Niklas die finanziellen Probleme ihres Vaters verschwunden waren. Er war seit ihrer Verlobung wie ausgewechselt. Durch diese Heirat musste er sich keine Sorgen mehr um seine Firma machen. Nach der Verlobung hatte er seine Tochter liebevoll in die Arme genommen und hatte sie dankbar an sich gedrückt.

Julie erzählte ihrer Freundin, wie Niklas vor ihr auf die Knie gegangen war und ihr einen Antrag gemacht hatte. Und wie glücklich er war, als er ihr den Ring an ihren Finger steckten durfte. Julie glaubte nun fest daran, dass ihre Ehe mit Niklas funktionieren konnte.

„Wann heiratest du?“, fragte Cecilia sie.

„Wahrscheinlich im Juni. Wir haben noch kein Datum festgelegt“, teilte Julie ihr mit. Ihre Mutter hatte sich mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter verbündet. Sie planten eine große Hochzeit. Und telefonierten pausenlos miteinander. Jede wollte die andere von ihrer eigenen Vorstellung überzeugen, wie die Hochzeit gestaltet werden sollte. Julie wusste, dass sie sich den Wünschen ihrer dominanten Mutter nicht widersetzen konnte. Nur bei der Wahl ihres Brautkleides ließ sich Julie nicht beeinflussen. Sie wollte sich selbst ihr Hochzeitskleid aussuchen.

„Du wirst bestimmt in Weiß heiraten“, vermutete Cecilia.

„Ja, genau. Und du wirst meine Brautjungfer“, sagte Julie zu ihr.

Cecilia freute sich sehr darüber. Sie wollten sich schon Anfang nächster Woche verabreden und auf die Suche nach Brautkleidern gehen.

Sie standen auf ihrem Tennisplatz, als Freunde auf sie zukamen. Tony und Jack spielten auf dem Tenniscourt nebenan. Tony entdeckte den Ring an Julies Finger und gratulierte ihr zur Verlobung. Er spielte mit Niklas seit Jahren zusammen Hockey in der Clubliga. Niklas hatte ihm erzählt, dass er bald heiraten würde. Danach prahlte Tony vor den anderen wieder damit, dass er bis zum Morgengrauen in den angesehenen Clubs unterwegs gewesen war. Und wen er bei seinem nächtlichen Streifzug alles getroffen hatte. Eigentlich schwärmte er schon lange für Cecilia, aber sie ließ ihn regelmäßig abblitzen. Cecilia mochte es nicht, wenn er vor ihr mit seinen neuesten Errungenschaften angab. Selbst hier im Club liefen ihm die hübschesten Mädchen hinterher. Cecilia sah ihm nach, als er mit Jack vom Platz ging. Sie nickte Julie zu und machte ihren ersten Aufschlag. Sie spielten drei Sätze. Es war Cecilia schon vorher klar gewesen, wer das Match gewinnen würde. Beide Mädchen nahmen schon lange Trainingsstunden beim Tennislehrer hier im Club. Doch während Julie sehr gut spielen konnte, fiel es Cecilia schwer, mit ihr mitzuhalten. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie erst anderthalb Jahre später wieder in den Club gegangen.

Nachdem Julie sie klar besiegt hatte, gingen sie zu den Umkleidekabinen, um zu duschen. Danach wollten sie sich auf die Terrasse des Clubhauses setzen, um etwas zu essen.

Sie suchten sich an einen sonnigen Platz aus und bestellten sich etwas zu trinken. Im Clubhaus gab es eine eigene Küche. Für die Clubmitglieder stand ein umfangreiches Buffet mit kalten und warmen Speisen bereit.

Als ihre Getränke kamen, stießen sie auf Julies Sieg an. Sie unterhielten sich gerade über die neueste Mode, als eine vertraute Stimme sie unterbrach.

„Hey Mädels, sind noch zwei Plätze bei euch frei?“, fragte Tony lachend und kam auf sie zu.

Cecilia verdrehte die Augen und sah Julie dabei an.

„Lade die beiden bloß nicht an unseren Tisch ein. Tony will sich immer mit mir verabreden“, flüsterte Cecilia ihrer Freundin schnell zu.

„Ist ja gut, das habe ich gar nicht vorgehabt“, versprach Julie ihrer Freundin.

„Na ihr beiden. Wer hat das Match gewonnen?“, fragte Julie die beiden Jungs freundlich.

„Jack hat mich heute haushoch besiegt“, gab Tony zähneknirschend zu. Er beugte sich zu Cecilia hinunter und schaute ihr tief in die Augen. „Wann geht mein Traummädchen mit mir essen? Nun erhöre mich doch endlich, Cecilia, und sag ja!“, flüsterte er ihr leise ins Ohr.

Genervt schob sie ihn von sich und sagte laut zu ihm:

„Nicht in diesem und auch nicht im nächsten Leben, Tony.“

Theatralisch griff er sich an die Brust und beteuerte ihr seine ewige Liebe. Er stützte sich auf seinen Freund und erklärte feierlich:

„Du weißt doch, mein Schatz. Ich gebe nicht auf. Irgendwann wirst du mich erhören.“

Tony zwinkerte ihr zu und ging mit Jack zu einem anderen Tisch, wo Freunde auf sie warteten.

Cecilia musste zugeben, dass Tony in seinem Sportdress sehr gut aussah. Anthony Dayton, kurz Tony genannt, hatte vor zwei Jahren seinen Master in Wirtschaft gemacht. Kurz darauf war er in die Firma seines Vaters eingetreten. Er war 1,90 m groß und hatte einen sportlichen, durchtrainierten Körper. Tony war immer gut aufgelegt und sehr beliebt bei seinen Freunden. Sie wussten, dass er für jeden Spaß zu haben war. Er ging für seine Freunde durchs Feuer. Jeder wusste, dass man sich auf ihn verlassen konnten, wenn es mal Probleme gab.

Wenn Tony nur nicht so ein eingebildeter Snob wäre, dachte Cecilia. Dann hätte sie nichts dagegen, seine Einladung zum Essen anzunehmen.

„Hast du eigentlich auch so einen Hunger wie ich?“, unterbrach Julie ihre Gedanken. „Lass uns mal ans Buffet gehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und zog Cecilia von ihrem Platz hoch.

***

An einem der hinteren Tische saß Michael mit Sonnenbrille und Käppi vor seinem Kaffee.