Ich will dieses Leben! In geil! - Caren Jeß - E-Book

Ich will dieses Leben! In geil! E-Book

Caren Jeß

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Beschreibung

Caren Jeß presst leuchtendes Leben aus dem grauen Alltag. Die weiblichen Figuren straucheln immer wieder, aber sie geben nicht auf. Im Gegenteil. Sie suchen sich ihre Nischen. Eleonore verkriecht sich im Katzenfell. Brünnhilde klettert zu den Walküren in schwindelige Höhen. Und Ann Kudann baut sich mit Sara Sams ein Heartship, um dem Patriarchat davonzusegeln. Sie alle wollen dieses Leben, aber eben »In geil!«. Die dramatische Emanzipation vom omnipräsenten Wahnsinn ist bei Caren Jeß – was für ein Glück – einfach nicht mehr aufzuhalten. Folgende Theaterstücke sind abgedruckt: Die Katze Eleonore Die Walküren Heartship

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Caren Jeß

Ich will dieses Leben! In geil!

Dramatische Emanzipation

Herausgegeben von Friederike Emmerling und Stefanie von Lieven

 

 

Biografie

 

 

Caren Erdmuth Jeß, geboren 1985 in Eckernförde, studierte Deutsche Philologie und Neuere deutsche Literatur in Freiburg und Berlin. Mit der Grazer Uraufführung ihres ersten Stücks Bookpink wurde sie 2020 für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert und zur Nachwuchsautorin des Jahres erklärt. 2023 gewann sie mit Die Katze Eleonore den Mülheimer Dramatik- und Publikumspreis. Sie schreibt u. a. Auftragsarbeiten für das Schauspielhaus Zürich, das Thalia Theater Hamburg, das Deutsche Theater Berlin und das Residenztheater München. Caren Jeß lebt in Dresden.

 

Weitere Informationen zu Caren Jeß:

Instagram @c.e.jess

www.fischer-theater.de

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

www.fischertheater.de

Covergestaltung: Sanaz HazeghNejad · [email protected]

Coverabbildung: Caren Jeß

ISBN 978-3-10-492319-2

 

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Inhalt

Die Katze Eleonore

Anmerkungen:

Akt I – Die Niederkunft der Katze

1. | Bild

2.

3.

4. | Bild

5.

6. | Bild

7.

8.

9. | Bild

10.

Akt II – Herrn Wildbruchs Näherung

1.

2.

3.

4. | Bild

5.

6. | Bild

7.

8. | Bild

9.

10.

11. | Bild

12.

13. | Bild

14.

15.

Akt III – Eleonores Allnacht

1. | Bild

2. | Bild

3. | Bild

4. | Bild

5. | Bild

6. | Bild

Hemerophile 3

Die Walküren

Prolog

Erster Aufzug

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Zweiter Aufzug

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Dritter Aufzug

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Vierter Aufzug

Erste Szene

Zweite und letzte Szene

Hemerophile 1

Heartship

[DRUCK]

love you

1. Dezember. Im Heartship, einer Kneipe, auf der Bühne.

2.

3.

4.

5. In einem Sportclub, Aerobic-Kurs. Sara kommt verspätet dazu, postiert sich neben Ann.

6.

7. Im Sportclub beim Aerobic.

love you

8. April. Im Heartship auf der Bühne.

9. Im Sportclub beim Aerobic.

10.

11. In einem Zoo.

12. Mai. Im Heartship auf der Bühne.

13.

14. Im Sportclub beim Aerobic, Sara enthusiastisch, Ann unsicher.

15. In einem Restaurant.

love you

16. In ihrer Wohnung erliegt Ann einem Dermatillomanieanfall, nach und nach drückt sie die Pickel an ihren Beinen aus – währenddessen denkt sie:

17. Im Sportclub beim Aerobic.

18.

19.

love you

20.

21.

love you

22.

23.

24.

25.

26.

love you

27. September. Im Heartship auf der Bühne.

love you

28.

Danke

Du erkennst mich dann an einer Nelke im Knopfloch

»Liebe ist nicht banal«

Erstaufführungsdaten

Weitere Publikationen

[Abbildung]

Die Katze Eleonore

Monolog

Anmerkungen:

Besetzung

Zwar ist Die Katze Eleonore ein Monolog. Doch wird für seine Inszenierung zusätzlich eine männliche Stimme benötigt, die die Mailbox-Nachrichten des Psychologen Wildbruch (Szenen II/11 und III/6) einspricht. Eine weitere Stimme für die Nebentexte in Akt III ist optional. Akt III kann auch – bis auf den Mailbox-Text – sprachlos eingerichtet werden. Die Zitate, die Eleonore in ihrem Monolog anbringt, werden von ihr selbst wiedergegeben.

Bühne

Die Bühne bildet Eleonores Haus und Garten ab. In Akt I und Akt II befinden wir uns im Inneren des Hauses. Durch eine Katzenklappe gelangt man in den Garten, in dem Akt III spielt. Die hintere Wand muss sich öffnen oder die Bühne sich drehen können.

Das Haus ist clean, der Garten ist wild.

 

Die Katze Eleonore ist keine komische Figur.

Akt I – Die Niederkunft der Katze

/ Im ersten Akt trägt Eleonore nur bei Nacht ihr Fell. /

1. | Bild

Lecken

/ Nacht. Anfang September. /

 

/ Eleonore sitzt im Lichtkegel einer Lampe auf dem Boden. Sie leckt sich das Fell. /

2.

[waʊ̯]

/ Tag. Einige Tage später, September. /

 

/ Eleonore bürstet ihren Mantel mit einer Fusselrolle. Sie geht dabei sehr bedacht vor. /

Ich habe es erst vor einem Jahr richtig verstanden,

obwohl ich es schon immer wusste,

ich meine intuitiv,

ohne es in Worte fassen zu können.

Es war an einem Abend im September.

Ich sah aus dem Fenster

und beobachtete eine Katze.

Sie saß auf dem

gegenüberliegenden Trottoir

im Schein einer Straßenlaterne,

als hätte sie jemand für mich dort hingesetzt;

leckte sich die Pfote.

Und ich dachte an meine Mutter.

Und

wieso ich ihr passiert war.

Meine Gedanken an sie waren

ein autodynamisches Patchwork

ihres Geredes

über die Arbeit

die Nachbarn

die Wahl

der Spinat

das Ozonloch

Prozentzahl

Prozentzahl

war damals

die Modernisierung

als dürfte man nicht mehr

bin ich denn jetzt

nie gehört

Postpaket

Eitelkeit

Gruppenchat

einfach wegen Geld

ist das jetzt

macht jetzt ein Update

darf man doch

ich denn jetzt schuld daran?

Gisela

Anne-Helene

die geht auf die Straße

nicht Prostitution

nein Protest

haha, das ist doch dummdreist

komm ehrlich, ja?, ehrlich

und Klaus sagt das auch

wobei neulich, da hab ich

eins, zwei, eins, zwei, allez hopp

das war bestens, ich sag dir, du wärst

hin und weg

und am Flughafen

weißt ja, nie würd ich

der Tante

also deiner nicht meiner

hahahahaha

die wird sich noch wundern

die rechnet ja nun wirklich am allerallerwenigsten damit

ach, schau mal

aber ehrlich, das musst du ja selbst – na ja

Eleonore

das Hochzeits- guck an!

auf keinen Fall werden wir ihr das Haus

er sagte ja damals

der Fisch war

und Jodsalz

und Essig

und sagte ich schon?

igitt

wirklich ih

ih ih ih

ija

[v]ub

[w]ab

[w]ab[w]ab[w]ab [w]lab

[waʊ̯]

blaa blaa blaa

bääh bäääh

ääia

a.

Und dann,

unwillkürlich,

leckte ich mir den Teil meiner Hand

zwischen Daumen und Zeigefinger,

wo es weich ist,

wo Fleisch und Sehnen sind.

Und erst im Lecken

fiel mir auf, dass ich leckte.

Ich stutzte.

Die Worte im Kopf wurden breiig’breiiger’teigig’klebrig’hefig’eklig,

egal, waren

eigentlich völlig ereignislos.

Mein Magen knurrte.

Ich kreiste die Schultern und

sah geradeaus, und da blickte der Katze ich plötzlich direkt

in die Augen.

Sie saß auf dem Fenstergesims.

Uns trennte

die Scheibe aus Glas.

3.

Das Fell

/ Tag. Ein Tag später, September. /

Am nächsten Tag kaufte ich mir ein Fell.

Es ist schwarz,

samtig glatt,

Echthaar.

Ich brachte es

zu einer Schneiderin,

die nestelte an ihrer

Brille herum,

(SCHNEIDERIN:) Darf man fragen, für welchen Anlass?

kicherte sie,

süß oder so, sagte sie, fände sie Katzen.

Ich legte ihr

für die wirklich herausragend gearbeitete Spezialanfertigung zwei-

  tausendachthundertsechzig

  Euro auf den Tisch und

  sagte

Nein.

Ich trug das Fell heim

wie ein ohnmächtiges Tier,

das es zu reanimieren galt.

.

Ich dachte, es würde verwachsen

mit meiner erbärmlichen Menschenhaut.

Tut es aber nicht.

Nun gut,

man geht

Kompromisse ein.

Das bleibt auch als Katze nicht aus.

.

Es war unglaublich

wahr,

das erste Mal

in meinem

Fell, und

ich leckte es,

schmiegte mich

reckte und

streckte und

lag in der Ecke

und dachte an nichts.

Da klingelte plötzlich das Telefon, klingelte’klingelte’klingelte

oh so erbarmungslos.

(WARANTSCHOW:) Eleonore?! In der Heinrichstraße 87 warten

Kunden, was ist los, kommst du noch?

Warantschow,

sagte ich,

ruhig,

ich komme nie wieder.

4. | Bild

Da

/ Nacht. Einige Nächte später, September. /

 

/ Eleonore liegt da in ihrem Fell. Sie döst. /

5.

Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

/ Tag. Einige Tage später, September. /

Frau Erdigenbach schob einen Stift durch die Luft,

und ich folgte ihm

mit meinem Blick.

(ERDIGENBACH:) Schildern Sie mal den Verlauf Ihrer

Schwindelattacken?

Und so schilderte ich

meinen Schwindel,

kein Schmerz, nur

kein Gleichgewicht,

dreht, alles dreht sich, nur

ich dreh mich nicht,

dann erbreche ich,

kommt einfach über mich,

aus mir,

im Ernst,

vorher kannte ich

Schwindel nicht, ach

und

er kommt nach dem

Schlaf.

Erdigenbach machte Notizen,

der Schwindel sei

gutartig,

danke,

wie schön, was

kann besser sein, als sich einem Taumel ausgeliefert zu sehen,

dessen Erträglichkeit spannt wie die Eihaut der

Fruchtblase kurz vor dem Riss, und ist gutartig,

gut, ist nicht böse dabei, gebt mir mehr

davon

Erdigenbach stellte die Krankschreibung aus,

könne wieder passieren.

Gut, noch was anderes,

sagte ich,

ja?,

fragte sie, und ich sah

ihre Nägel,

perfekt manikürt,

blass rosé auf bedrucktem Papier,

Befreiungsmanöver stand oben, darunter

war etwas, das aussah wie Yoga.

Sie schob es mir rüber,

(ELEONORE:) Ich bin eine Katze.

.

Erdigenbach, bass erstaunt saß sie da wie Gelee,

Sekunden

vergingen,

dann fragte sie,

(ERDIGENBACH:) Was?

Eine Katze.

.

Weiß auch nicht,

es war ein Versuch,

dieser Frau zu erzählen,

was los ist

mit mir.

Und so fragte ich,

ob unter den Voraussetzungen

meiner menschlichen Physis

ein Leben als Katze

bedenklich sei.

Frau Doktor Erdigenbach überlegte,

zumindest

sah es so aus.

.

So ich mich mit Nährstoffen reichlich versorgte viel tränke Banane

Brot Vitamin-C ist mein Eisengehalt denn in Ordnung

Bewegung Beruhigung mal Gurke aufs Auge heraus-

fordernd ja das Soziale das sei sicher sei

so so ist das da sehe sie nun und beruf-

lich wie wollen Sie das also ich

meine nur meine als Katze?

Erdigenbach stieß ein Lachen auf.

Dass ich kündige, sagte ich,

schaute sie an,

die sich sammelte,

sammelte sich wie die matschigen

Pflaumen

vom Rasen,

doch leider

gelang es ihr nicht, und sie

fing an

zu faseln:

Nun ja Frau Garazzo ach so ja verstehe wie ist das denn dann wenn

dann äm also ja dann gut finanziell? für eine Er-

werbsminderungsrente hm sei kompliziert sei die

DRV pingelig Reha PT wird eventuell nun ja

eventuell wissen Sie das kann nicht jeder

für sich denn berufsunfähig das sei-

en streng genommen seien Ver-

sicherte deren Erwerbs-

fähigkeit wegen Krankheit bla

bla Behinderung körperlich geistig

und seelisch das nun der die das die

Erwerbsfähigkeit und da seh ich bei Ihnen

nun ja keinen Grund

.

Ich brauch keine Rente, ich

habe Vermögen,

das

reicht für ein

Leben als Katze.

Ich binde mir doch

keine Extralast

Bürokratie ans Bein.

Da sagte sie, sie

begegne der Bürokratie

mit Humor, ob ich die

Sonatine Bureaucratique kenne,

Erik Satie,

nein, sagte ich,

nur die

Musique d’ameublement kenne ich,

fände ich

aber nicht witzig.

.

Also gut,

Frau Garazzo,

wenn Schwindel Sie plagt,

kommen Sie einfach

zu mir,

und ihr Blick war so

matt wie ihr

Nagellack,

aber

eins noch,

ergänzte sie,

(ERDIGENBACH:) Ich überweise Sie zu einem Therapeuten, Gerald Wildbruch. Vielleicht kann der Ihnen helfen.

Denn der kenne sich aus

mit Identitäts-

hier stockte die Ärztin,

-themen.

Mein Mundwinkel

bog sich, ich

gab ihr die Hand,

sie mir

Schweigepflicht,

warte nur,

Erdigenbach,

mit dem

Wildbruch

hab ich was

gemeinsam.

.

Ich hatte den Eindruck, sie schwankte, als ich sie verließ –

vielleicht hat sie ja

auch diesen benignen paroxysmalen

Lagerungsschwindel,

wer weiß.

6. | Bild

Trinken

/ Nacht. Eine Nacht später, September. /

 

/ Eleonore schleckt – mehr zur Übung denn aus Hunger – Milch aus einem Napf. /

7.

Molke

/ Tag. Einen Tag später, September. /

Herr Wildbruch blickte mich an wie ein Hund.

(HERR WILDBRUCH:) Sie glauben – Sie sind eine Katze?

Ich blickte aus dem Fenster,

ignorierte ihn.

Ja, hatte ich

doch gerade gesagt.

.

(HERR WILDBRUCH:) Frau Garazzo – das müssen Sie mir erklären.

Ich will nichts erklären,

es reicht nicht und

langweilt mich.

Was sollen sie schon,

die Worte,

was können sie.

.

Wie anmaßend eitel wie altklug naiv ja wie wenig wie albern wie

lächerlich lächerlich lachhaft die Menschen meinen

sie würden Abwechslung schaffen durch ihre Worte

ihre ach ach! ihre ach so mannigfachen Worte

dabei erzählen sie immer das Gleiche

c’est tout

(HERR WILDBRUCH:) Aber das Leben einer Katze ist doch noch

viel gleichförmiger.

Ein Katzenleben gleichförmig?

Nicht im Geringsten.

Meine zarten Vibrissen nehmen Schwingungen wahr,

davon träumen Sie nur,

meine Sinne sind fein,

filigran.

Sie zittern.

Sie schnurren.

Sie beben.

Sie

elektrisieren.

Mein Instinkt unbeirrbar,

ich wittere Gefahr,

ich fühle das Wetter.

Durch mein Blut rauscht ein Heersturm lebendiger Sinne sie bäumen sich auf wie Satyrn deren feucht-süße Nüstern wie

Blütensaft lecken und scharf wie ein Gift der

Verführung sich ätzen wie Flusssäure tief in

die Haut und darunter die Knochen zer-

fressen und nagen an deinem

Verstand

Meine Sinne sind Gold.

Ich spüre, wie

Sie

sich

fühlen,

und wenn ich mich rege,

dann nimm dich in Acht.

Mein Instinkt ist

gewaltig,

ich fange die Maus

nicht mit Käse und Speck.

.

Das sagte ich ihm natürlich nicht so ausführlich.

Ein Blick

reicht da.

Er hat mich verstanden,

er saß da,

Herr Wildbruch,

und starrte mich an wie

eine Doku

über sein Lieblingstabu.

Wie er da

saß,

sich die Haut von den Nägeln und

mich nicht durchdrang.

Da hatte er sich doch gerade ein Bild von mir gemacht –

Immobilien Geld Geltung Geld Vaterkomplex –,

und jetzt wischte sie seine Analyse einfach vom Tisch

wie eine aus unzähligen Scherben mühsam zusammengeklebte

Vase,

[mi:aʊ̯].

(HERR WILDBRUCH:) Also lassen Sie es sich gutgehen? Oder –

beschreiben Sie das doch mal, was fühlen Sie, wenn Sie auf

der Heizung liegen und sich das Handgelenk lecken?

Ich seufzte.

Die Uhr ging,

er sprach, und

ich schwieg mich

um Kopf und

um Kragen,

doch dann,

ganz am Ende der Stunde,

da sagte ich ihm,

ich sei nicht Privatiere,

sei Katze,

ja?, das sei ein Unterschied.

Was er wolle, wisse ich nicht,

ich jedenfalls schüttle die

Bürokratie

ab

wie getrocknete Molke.

8.

Der Baum

/ Tag. Einige Tage später, September. /

Einmal war da dieser Junge,

da hätte ich es eigentlich schon merken können.

Er trat einem morschen Baum die Äste ab

und hatte

offenbar Spaß daran,

aggressiven Spaß.

Spaß und Aggression liegen oft ja nicht weit auseinander.

Der Junge zertrat den Baum,

er trat, und er trat.

Der letzte Ast war kantig gegabelt.

Der Junge trat zu, und

der eine Astarm brach ab, und

der andere stach sich ihm heftig ins Bein.

Er schrie,

äußerst laut.

Ich sah, wie das Blut rann.

.

Und da schoss mir sehr plötzlich eine Erinnerung in den Kopf,

ein Erlebnis aus meiner Kindheit.

Witzig,

das hatte ich

völlig vergessen.

Auf dem Weg zur Schule,

ich war acht,

kam ich immer

an einer morschen

Eiche vorbei.

In ihrem Schoß

lag einst ein

schwangeres Kätzchen,

wartend,

erwartend

das Leben.

Sie warf sieben Junge,

und eines davon

befasste ich

mit meinem Handschuh.

Da nahm die Mutter es

nicht mehr zurück,

sie verstieß es,

es starb,

und ich schämte mich

sechs Tage lang.

Am siebten dann kam ich zurück zu ihr,

sagte,

liebe Katze, es tut mir so leid, dass ich dir ein Kind genommen

hab, aber ich schwöre,

versprech dir, ich mach’s

wieder gut, du wirst sehn,

Katze, warte nur.

Warte.

9. | Bild

Intensität

/ Nacht. Ein paar Nächte später, September. /

 

/ Eleonore steigt durch die Klappe aus dem Garten ins Innere ihres Hauses, schleicht ein paar Schritte nach vorn. Reglos wie eindringlich starrt sie geradeaus. Wenn sie dabei zufällig den Blick eines Menschen im Publikum trifft, wird es sicherlich dieser sein, der zuerst wegschaut. /

10.

Das Ende der Arbeit

/ Tag. Ende September. /

Mein Name ist Eleonore.

Dieses Jahr bin ich vierzig geworden.

Für eine Katze ist das sehr alt.

Ich habe zwölf Jahre als Maklerin gearbeitet,

Immobilien.

Mir hat der Job nie wirklich gefallen.

Aber andere,

da bin ich mir sicher,

hätte ich weniger noch gemocht.

In meinem Job ist mir niemand zu nah gekommen.

Bei einem hohen Aufkommen von Seriosität verhält sich der

Mensch meist wie ein

kastrierter Hund.

Ich sah immer gut aus,

ein Klischee

im Kostüm,

unter dem mich niemand erkannte.

Meine Nägel waren

immer lackiert,

manchmal rot

rosa

beige

nude,

dass ich daran ja niemals kaute.

Es ist kein Jahr her,

da tat ich das noch.

Ich bog mit den Händen den Fuß an den Mund

und kaute mir sämtliche Nägel

ab.

Oft

war es blutig und manchmal entzündet sogar.

Doch meine Hände,

die musste ich schonen partout.

Was denken die Kunden, die

kaufen ja nichts

von einer mit krüppligen Nägeln.

Jetzt hab ich den Kratzbaum.

.

Mein Erscheinungsbild passte

zur Leere der Räume.

Ich hasste es,

belebte Räume zu vertreten

oder abzunehmen.

Und wenn da dann auch noch

Zeug herumlag,

Hefte

Geschirr

Zahnpasta

Druckerpapier

Haargummis

Tetrapaks

Mülleimer

Geige

Zigarettenfilter

Briefe mit Namen drauf

Hundenapf

Messer

Gabel

Blumentopf

.

Diese verzweifelten Dinge.

.

[w]ub

ist das komisch,

wenn ich daran denke,

wie albern das war,

diese Arbeit.

All die Verträge,

die Deals,

dieser Handschlag, der zwischen zwei Menschen ins Nichts fällt

wie ein Hammer, dem gleich ist,

ob er auf Stahl oder

pulswarme Herzen schlägt.

.

Mensch,

was machst du beruflich?

Ich tu so als ob, und

du tust so als ob, und dann

kommen wir ins Geschäft.

Wer sich umdreht oder lacht,

wird gerügt und schreibt

hundertmal

Authentizität

an die Tafel.

.

.

.

Es geht mir so gut.

.

Ich schlafe auch nicht mehr

acht Stunden am Stück.

Wie seltsam auch.

/ Lacht. /

.

(HERR WILDBRUCH:) Also, was mir noch einfiel zu Katzen: Die

sind ja sehr beliebt.

Was mir noch einfiel,

was dir noch einfiel,

was mir noch einfiel,

die Katze tritt die Treppe krumm, krumm tritt die Katze die

  Treppe.

Die Katze verleiht dir Gefühle,

zum Beispiel die Zärtlichkeit.

Du gibst ihr Futter

aus Dosen,

glaub ja nicht,

sie wäre dir

dankbar

dafür,

Mensch, sie frisst das bloß,

kackt und

hat einfach nur

den

Mechanismus kapiert.

.

Ich sorge jetzt nur noch für mich.

Bei Licht mache ich es

mir schön,

sauge, wasche,

wische,

mal hier,

mal dort,

mal mehr, mal

weniger,

damit ich bei Nacht ich selbst sein kann.

Ich habe keinen Alltag mehr.

Für mich nur noch Allnacht.

Akt II – Herrn Wildbruchs Näherung

/ Ihr Fell trägt Eleonore jetzt immer öfter auch tagsüber. Ihre zivilisierte Betriebsamkeit wird schwächer. /

1.

Die schicke Lady

/ Tag. Mitte Oktober. /

Die Objekte waren es nicht,

die mich an meinem Job störten.

Aber die ständigen Menschen

und ihr

Verhalten,

ich meine,

na ja,

wollen dies,

wollen das

und riechen komisch.

.

(HERR WILDBRUCH:) Wie geht es Ihnen denn ohne Arbeit, Frau

Garazzo?

Ach, Wildbruch,

ich bin eine Katze,

wie soll es mir gehen –

gut.

(HERR WILDBRUCH:) Aber vielleicht könnte die Arbeit Sie

ablenken.

Ich will keine

Ablenkung, will

an den Spitzen

meiner Vibrissen

spüren,

was vorgeht.

(HERR WILDBRUCH:) Aber, ich weiß nicht, ob ich das mit der,

ich nenne das jetzt mal beruflichen oder sozialen Abstinenz

auf Dauer für gut befinde, Frau Garazzo.

Das müssen Sie auch nicht,

Wildbruch,

so dachte ich, holte

aus meiner Tasche

die Scherbe

aus Stein –

dieser Stein hat die Form eines Fisches,

eines scharfen und

kantigen Fisches –

und feilte mir daran die Nägel,

den Blick latent auf Wildbruch

gerichtet.

Er faltete krampfig die Hände.

Bald sah er es ein und

gab nach.

Und im Nachhinein war es mir klar, völlig

klar,

weshalb ich dieses Spiel

gewann.

.

Instinkt sticht Vernunft.

.

Trotzdem

bekomme die Arbeit ich nicht aus dem Kopf.

Die Erinnerungen daran belasten mich

wie schmutzige Wäsche.

.

Es gab diesen Abend,

da lud Warantschow uns ein

ins Perroquet,

der Franzose Sperling Ecke Chopin.

Der ganze Champagner ging

auf ihn,

und Michaela hatte diesen Cousin mitgebracht.

.

Wir sprachen über

das Objekt, in dem

die Schicke Lady wohnte.

So nannten sie sie.

Die Schicke Lady,

die lebte zur Miete

in dieser Mansarde,

diesem Kämmerlein unterm Dach;

schlecht isoliert,

kein Geld

hatte die Lady,

die gerade mal

zwanzig war.

Kauzig

nannten sie sie.

Die Wohnung wurde verkauft

an uns, und die

Lady, die musste dann raus.

Sie lachten so

quirlig und busy

wie die Perlen im Glas

über die wollenen Röcke,

ihr Barett,

diesen Geruch nach

Getreide

Acrylfarbe

Früchtetee,

vor allem aber über ihre Naivität.

Wir kamen ständig mit Interessenten vorbei,

auch unangemeldet,

und die Schicke Lady hielt stets

den Damen und Herren im Anzug

die Tür auf,

sehr artig und

schüchtern,

als wäre das Ganze ein

Märchen,

das ihr in die Stube weht und sicher gut ausgeht

am Ende,

das die Armen und Hässlichen, Einsamen schließlich

gewinnen lässt.

Was auch immer mit deren Phantasie nicht stimmte,

das Objekt wurde modernisiert, exklusives Design dieses Grauen

von Teppich raus eins zwei drei Böden das Bad alle

Türen Komplettpaket Sticker drauf nobel reprä-

sentativ ein edles kleines Sahnehäubchen wie

heißt dein Baby Rita Rendite Schicke Lady

passé

und Warantschow

goss Champagner nach,

lachte,

wir lachten;

wenn das Gelächter

der Menschen

wie Urwald klingt,

Wilderness

zivilisiert.

Nur Elas Cousin

lachte nicht.

Er schaute sehr skeptisch,

und dann fing er an,

über Dinge zu reden,

die Armut

die Künstler

und Autos

und Abgas

und Abgas

und Abgas

und Autos

Elektro

und Flieger

und Klima

und Heizung

die Künstler

und Erdgas

und Windkraft

und U-Bahn

und S-Bahn

und durch defekte Fahrstühle verursachte Einschränkung der

Barrierefreiheit

Polizeiauto

Rettungsdienst

Einsatzkommando

scheuchte uns über seinen imaginären Autoteppich, der

Junge, was willst du,

Feuerwehrmann werden?

Warantschow knackte Pistazien,

stand sein Gerede aus

wie einen Schauer,

und Ela bestellte Pernod.

.

(HERR WILDBRUCH:) Da ging es jetzt sehr plötzlich um Autos,

Frau Garazzo. Aber noch einmal zurück zu der Mieterin. Sie

sagen, Ihre Kollegen hätten sich lustig gemacht. Aber wie

fanden Sie denn diese Frau? Diese Schicke Lady?

.

Mutter, ich stopfe mir

Moos

in die Scheide,

wenn ich meine Tage hab.

.

2.

Katzenminze

/ Tag. Einen Tag später, Oktober. /

/ Eleonore telefoniert. /

Korrekt. Ja.

Das Geld kann ich sofort überweisen, das ist überhaupt kein Problem.

Genau. Ja, das ist meine Privatadresse. Fasanenweg 7, nicht 17, das Haus am Ende der Straße. Klein, sachlich gebaut, nicht zu verfehlen.

Sicher, ja. Ein Teil der Paletten kann im Keller, ein Teil im Wohnraum untergebracht werden, das habe ich alles ausgemessen, Sie können das alles hier abladen. / Lacht souverän. / Ja.

Prima, dann hätten wir das.

Ja. Auf Wieder- nein, Moment! Bringen Sie bitte noch einen Topf Katzenminze mit. Zur Pflege der Zähne. Danke.

Wiederhören. / Eleonore beendet das Telefongespräch. /

.

It’s all about the ingredients.

Zuerst fraß ich Tierfutter,

doch

welch Tier zöge

kein

salzarmes

Wildragout vor.

3.

Das Ende der Therapie

/ Tag. Einen Tag später, Oktober. /