Ihr liebt sie nicht - Belinda Bauer - E-Book

Ihr liebt sie nicht E-Book

Belinda Bauer

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Beschreibung

Es ist Jagdsaison im englischen Exmoor. Doch die Beute ist nicht das Wild. Es sind die Kinder …

Erst die dreizehnjährige Jesse, dann der neunjährige Pete. Innerhalb kurzer Zeit verschwinden zwei Kinder aus dem Auto ihrer Eltern. Zurück bleibt in beiden Fällen nur eine handgeschriebene Notiz: »Ihr liebt sie nicht
Mitten im Hochsommer fallen dunkle Schatten über Exmoor. Irgendjemand scheint Kinder zu stehlen – Jesse und Pete waren nur der Anfang. Es gibt keine Spuren, keine Erklärung, keine Lösegeldforderungen und keine Hoffnung. Der Polizist Jonas Holly versucht, sich in den Kopf des Entführers zu versetzen, um ihm auf die Spur zu kommen. Doch zumindest einer in dem kleinen Örtchen Shipcott ist überzeugt, dass der psychisch instabile Holly der Letzte ist, dem man vertrauen sollte …

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Seitenzahl: 568

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Mitten im Sommer fallen dunkle Schatten auf Exmoor, eine Gegend im Süden Englands: In dem kleinen Dorf Shipcott verschwinden Kinder aus den Autos ihrer Eltern. Als die Tochter eines Vorsitzenden des Jagdvereins entführt wird, glauben der aus der nächsten Kleinstadt hinzugezogene DI Reynolds und seine Kollegin DC Rice zunächst an einen Racheakt – der Mann ist äußerst unbeliebt und schuldet der halben Gegend Geld. Doch weder wird Lösegeld verlangt, noch nimmt der Täter anderweitig Kontakt zu den Eltern auf. Die wenigen Spuren – ein am Tatort hinterlegter Zettel mit den Worten »Ihr liebt sie nicht« sowie ein paar grüne Fasern – führen nicht weiter, und bald darauf wird der Sohn eines Touristenpaares als vermisst gemeldet. Immer mehr Kinder verschwinden, während Reynolds und Rice im Dunkeln tappen. Der ortsansässige Kollege Jonas Holly kann auch nicht weiterhelfen – er ist erst kürzlich wieder für diensttauglich erklärt worden, nachdem er offenbar von dem Mörder seiner Frau, deren Tod er mitansehen musste, schwer verletzt wurde. DI Reynolds ist nicht gerade begeistert über seinen psychisch instabilen Kollegen. Der Einzige, der noch größere Zweifel an Holly hegt als der ehrgeizige DI, ist der siebzehnjährige Steven. Denn an dem Abend, als Hollys Ehefrau starb, wurde er Zeuge eines Vorfalls, den er nicht so einfach vergessen kann …

BELINDA BAUER

Ihr liebt sie nicht

Psychothriller

Aus dem Englischenvon Marie-Luise Bezzenberger

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»Finders Keepers« bei Bantam Press,an imprint of Transworld Publishers, London

Manhattan Bücher erscheinen imWilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung August 2013

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Belinda Bauer

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Covergestaltung und Konzeption: buxdesign /München

unter Verwendung eines Motivs von Gettyimages / Sandy Jones

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Redaktion: Martina Klürer

ISBN 978-3-641-08744-9V003

www.manhattan-verlag.de

Für Dr. Robert Bracchi

Teil 1 Mai

1

Die Saison fürs Jagdreiten war fast schon vorbei. Allerdings ritt Jess Took gar nicht mit, sie schaute nur zu.

Wenn man das überhaupt so nennen konnte.

Jess war dreizehn, und im Laufe des letzten Jahres war »Jagden reiten« für sie zu einer Umschreibung dafür geworden, im Pferdetransporter ihres Vaters zu sitzen, fast taub von dröhnendem Hip-Hop und fast blind, weil die Scheiben in der Kälte eines frühen Frühlingsmorgens rasch beschlugen.

Obwohl es Mai war, hatte sich über Nacht ein Schleier aus funkelndem Raureif über das Exmoor gelegt; wie in Geschenkpapier gehüllt sah es aus, richtig weihnachtlich. Die aufgehende Sonne übergoss die Hügel mit Gold und machte glitzernde Edelsteine aus dem Tau. Touristen kamen von überall her, um so etwas zu sehen. So etwas wie das, was Jess Took gerade ignorierte. Sie reduzierte ihre Welt stattdessen lieber auf ein paar wenige Sinneseindrücke – das beschlagene Glas, einen fremdartigen Beat und den schwachen Geruch nach Pferdemist. Ein Geruch, den sie mit ihrem allerersten Atemzug in ihre feuchte Säuglingslunge gesogen hatte und den niemand aus ihrer Familie je ernsthaft aus ihrer Nase zu vertreiben versucht hatte.

John Took war Master des Jagdvereins Midmoor. Co-Master, wie Jess ihn gern erinnerte. Seit der Scheidung verbrachte sie nur noch die Wochenenden bei ihrem Vater, und dadurch hatte sie die nötige Distanz gewonnen, um einen kritischen Blick und ein fast unheimliches Geschick darin zu entwickeln, ihn da zu treffen, wo es wehtat. Zur Strafe dafür, dass er eine Affäre gehabt und ihre Mutter verlassen hatte, hatte Jess aufgehört, mit ihm Jagden zu reiten. Es fehlte ihr, doch sie war fest entschlossen, ihn leiden zu lassen.

Im Gegenzug erlaubte John Took ihr nicht, samstagmorgens allein zu Hause zu bleiben, wenn eine Jagd stattfand. Stattdessen lud er erst Blue Boy und dann Jess gleichermaßen ruppig in den Transporter; dann holte er das Pferd heraus und ließ sie auf irgendeinem Kiesparkplatz oder einem Grasstreifen zurück, je nachdem, wo sie an dem betreffenden Tag gerade geparkt hatten. Er machte ihr immer ein paar pappige Sandwiches, und um ihm eine Lektion zu erteilen, rührte sie sie nie an.

Jetzt, als sie den Zündschlüssel drehte, um ein bisschen Wärme auf die Füße geblasen zu bekommen, blinzelte Jess in den ganz frischen Sonnenaufgang, der durch die beschlagene Windschutzscheibe gedämpft wurde. Irgendwo da draußen brüllte ihr Vater jetzt Anweisungen und kommandierte die Leute herum, auf diese Art, die ihr so verhasst war. Bestimmt riss er Blue Boy zu heftig im Maul, um jene spektakulären Wendungen und Haltemanöver hinzulegen, von denen er glaubte, sie machten ihn zu einem besseren Reiter.

Sie seufzte. Manchmal hatte sie große Lust, diesen Krieg mit ihrem Vater einfach sein zu lassen. Allmählich hatte sie den Verdacht, dass ihr das Ganze mehr zusetzte als ihm. Auf jeden Fall kostete es mehr Mühe, als sie eigentlich auf irgendetwas in ihrem Leben verwenden wollte – von den SMS an ihre Freundinnen und den neuen UGG-Boots, die ganz oben auf ihrer Wunschliste standen, einmal abgesehen.

Jess überlegte, ob Viertel vor sieben zu früh war, um Alison eine SMS zu schicken und ihr zu berichten, wie beschissen ihr Leben war.

Wahrscheinlich.

Die jähe Dunkelheit eines Schattens füllte das undurchsichtige weiße Glas des Beifahrerfensters, und die Tür wurde aufgerissen. Jess öffnete den Mund und schickte sich an, ihren Vater grob anzupflaumen, weil er sie erschreckt hatte. Dann ließ sie ihn fassungslos offen stehen, als ein gesichtsloser Fremder durch die Tür griff, die Arme um sie schlang – und sie einfach aus dem Wagen zerrte.

Es ging alles so schnell.

Jess fühlte, wie ihre Füße auf dem Kies aufschlugen, und die Kälte traf sie ins Kreuz, als ihr Sweatshirt hochrutschte. Sie wand sich, trat um sich und versuchte, den Kopf zu drehen, um nach den starken Armen des Mannes zu beißen, doch alles, was dabei herauskam, war ein Mundvoll bittere Schmiere von seiner Wachsjacke.

Jess spürte, wie sie über den Boden geschleift wurde; halb versuchte sie, auf die Füße zu kommen, und halb, sich schwer und unhandlich zu machen. Die Ohrstöpsel des Kopfhörers waren herausgefallen, doch sie konnte den Beat noch immer hören – blechern und schwach, irgendwo an ihrem Hals, und außerdem das Scharren des Kieses und ihr eigenes gepresstes Atmen. Der Pferdetransporter ihres Vaters verschwand aus ihrem Gesichtsfeld, und sie sah die frühmorgendlichen Wolken, wie Wattebäusche an einem blassblauen Himmel. Mrs Barlows Anhänger tauchte kurz auf, und sie griff nach der Schlinge aus Strohschnur, die an der Seite befestigt war. Ihre Finger brannten, als sie losgerissen wurden. Sie quietschte auf.

Das hier war kein Traum.

Das hier passierte tatsächlich.

Das Quietschen erinnerte sie daran, dass sie eine Stimme hatte, und sie sagte »Hilfe«, in einem Tonfall, der zugleich zaghaft und eingeschnappt klang.

Es war ihr peinlich, wie das Opfer in einem Film um Hilfe zu schreien, wo sie doch Jess Took war, und die war doch bloß ein ganz normales Mädchen in einer langweiligen Gegend. Trotzdem rief sie noch einmal, lauter, und der Mann drückte ihr die Hand so fest auf Mund und Nase, dass ihr die Augen tränten. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, dass ihr Gewalt angetan wurde, und zwar auf eine Weise, wie sie es nicht empfunden hatte, als sie aus dem Wagen ihres Vaters gezerrt und über ein Stück erdiges Heideland geschleift worden war. Die Hand war aus Wolle und roch nach Schmutz. Sie versuchte, sie abzuschütteln, doch der Mann fasste ihr Gesicht jetzt ganz fest – quetschte ihre Zähne in die weichen Lippen und drückte ihr die Luft ab; seine überwältigende Kraft nahm ihr das, was von ihrer eigenen noch übrig war.

»Wenn du schreist, schieß ich dir in den Kopf«, sagte er ihr ruhig ins Ohr.

Jess hatte mit einem Mal das Gefühl, Gummi in den Beinen zu haben. Sie schluchzte, gleichermaßen aus Angst und aus Scham.

Er drehte sie um und schob, anstatt zu ziehen. Etwas Hartes traf ihr Gesäß, und sie kippte nach hinten und landete ein kurzes Stück tiefer auf etwas, das sich wie ein harter Teppich anfühlte.

Ihre Beine wurden hochgehoben und hinterhergeschoben, und sie hatte gerade noch Zeit zu begreifen, dass sie sich im Kofferraum eines Autos befand, ehe der Deckel herunterklappte und mit einem einzigen metallischen Geräusch ihren Schrei, das Licht und jegliche Vorstellung davon abwürgte, wie ihre Welt einmal sein würde.

Die Jagd war eine Pleite.

Die Hunde folgten den von Männern auf Quadbikes gelegten Fährten bis zu ihrem enttäuschenden Ende und nahmen dabei nicht ein einziges Mal die Witterung eines zufällig vorbeigekommenen Fuchses auf. Blue Boy stolperte nach dem Sprung über den Bach unten beim Dorfanger von Withypool, und am Ende des Ritts ging er unklar. Der Huntsman, der die Meute führte, verschwendete eine Viertelstunde damit, einen Hund aus einem Stacheldrahtzaun herauszuschneiden. Und dieser Idiot Graham Gigman, der seine Pferde nie richtig unter Kontrolle hatte, überholte immer wieder das Feld und den Master auf seinem Zossen mit den vier weißen Beinen und den Fischaugen, den man John Tooks nicht ganz so bescheidener Meinung nach hätte schon abknallen sollen, als er aus der Stute geglitscht war.

Alles in allem war John Tooks Laune im Keller, als sie wieder am Fuß des Dunkery Beacon ankamen, wo sie die Pferdetransporter abgestellt hatten.

»Na, wenigstens hat’s nicht geregnet«, brüllte Graham Gigman, als sein grässliches Vieh zum letzten Mal seitwärts an Took vorbeitänzelte. Bis zum nächsten Mal.

Took beachtete ihn nicht und rutschte von Blue Boys Rücken. Das linke Vorderfußwurzelgelenk des Braunen war dick angelaufen.

Toll. Er würde Montag Scotty reiten müssen, und Scotty machte nicht halb so viel her wie Blue Boy.

Took knallte die Transportertür hinter Blue Boy zu, nahm die verschwitzte Reitkappe ab und öffnete die Tür der Fahrerkabine.

»Nicht ein einziger verdammter Fuchs«, meldete er Jess.

Nur das Jess nicht da war.

Stattdessen klebte ein Zettel auf dem Lenkrad. Ein gelbes Papierviereck.

John Tooks Mund wurde schmal. Diese verdammte Göre und ihre Teenager-Rebellion. Vor der Scheidung war sie so ein umgängliches Kind gewesen. Wohin war sie denn jetzt schon wieder abgehauen?

Er streckte die Hand aus und löste den Zettel vom Lenkrad. Als er las, was darauf stand, verwandelte sich sein verärgertes Stirnrunzeln in eines der Verwirrung. Die Botschaft bestand aus vier ungelenken Worten, die sowohl simpel als auch vollkommen mysteriös waren.

Ihr liebt sie nicht.

2

Es gab einen Ort zwischen Licht und Dunkelheit – zwischen Leben und Tod –, wo Jonas Holly lebte, nachdem seine Frau gestorben war.

Er war gespalten – in das, was sein Körper machte, und in das, was in seiner Seele vor sich ging. Zwischen beiden herrschte eine scharfe Trennung. Jeden Tag wachte er auf, stand auf, zog sich an, bewegte Arme und Beine und blinzelte, während seine Gedanken die ganze Zeit einfach nur reglos verharrten, wie in einer Warteschleife der großen Vermittlung des Lebens. Sie gingen nicht über das Unmittelbare und das Praktische hinaus: Es wurde dunkel, und er machte das Licht an, die Milch kam, und er holte sie herein, er hatte Durst und trank Wasser. Wenn er, was selten vorkam, Hunger hatte, aß er. Es dauerte fast zwei Monate, um alles aufzubrauchen, was im Gefrierschrank und in der Speisekammer war oder von Mrs Paddon auf seiner Türschwelle hinterlassen worden war. Sein ohnehin schon schlaksiger Körper wurde ausgemergelt, die Gürtellöcher gingen ihm aus. Dosentomaten auf Kidneybohnen kündigten schließlich das Ende der Lebensmittelvorräte und den Beginn einer Hungersnot an. Es sei denn, Jonas ging einkaufen. Es dauerte drei Tage, bis er sich dazu durchgerungen hatte und ins Dorf stapfte.

Er beschränkte sich aufs Allernötigste. Aufs reine Überleben. Er sprach kaum. Alle paar Tage beantwortete er Mrs Paddons nachbarliche Anfragen mit einem gemurmelten »Gut, danke« und ging dann sofort ins Haus. Einmal die Woche wurde er eine Stunde lang von der Psychologin bearbeitet und schaffte es, ihr so gut wie nichts zu erzählen. Der einzige Grund, warum er zu den Therapiesitzungen nach Bristol fuhr, war, dass er für diensttauglich befunden werden musste, ehe er wieder arbeiten konnte. Und der einzige Grund, warum er vorhatte, wieder zu arbeiten, war, dass er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst mit dem Rest seines Lebens anstellen sollte.

Kate Gulliver, die Psychologin, schien ganz in Ordnung zu sein, doch er traute ihr nicht. Es war nichts Persönliches – Jonas traute niemandem mehr, nicht einmal sich selbst.

Vor allem nicht sich selbst.

Gelegentlich schaute er unverwandt in den Badezimmerspiegel. Nie sah er etwas anderes als seine eigenen braunen Augen, die ihm fragend entgegenstarrten und sogar seine eigenen Erinnerungen an die Ereignisse anzweifelten. Er erinnerte sich an das Messer. Er erinnerte sich an das Blut. Er erinnerte sich daran, wie das eine zum anderen geführt hatte. Zumindest glaubte er, sich zu erinnern. Sein Gedächtnis war schon immer unzuverlässig gewesen, und angesichts des fehlenden Grauens bei diesen Bildern fragte er sich, ob das alles wirklich so passiert war oder ob es einfach bloß alles war, was sein Verstand im Augenblick bewältigen konnte. Vielleicht würden die Lücken sich später schließen, wenn er besser mit einer anderen Wahrheit umgehen konnte.

Hoffentlich nicht.

Für Jonas war es schon genug Wahrheit, dass er jedes Mal, wenn er in ihrem winzigen Cottage die Treppe hinaufstieg, über die Steinplatten hinter der Haustür gehen musste, wo Lucy gestorben war – und wo es ihm beinahe gelungen wäre, ihr zu folgen.

Manchmal ging er zum Pinkeln in den Garten und schlief auf dem Sofa.

Die Wahrheit wurde überschätzt.

Kate – die Jonas drängte, sie so zu nennen – redete von Trauerstadien und wollte, dass er seine Gefühle erforschte. Jonas hielt das für keine gute Idee. Er wusste, dass seine Gefühle irgendwo dort drinnen waren, auf dem obersten Regalbrett im Kleiderschrank seiner Psyche, doch es widerstrebte ihm, den Hocker zu holen, um an sie heranreichen zu können.

Er hatte Angst davor, was er dort finden würde.

Verdrängung, Zorn, Suche nach einem Schuldigen, Depression und Akzeptieren. Inzwischen kannte Jonas die Trauerphasen auswendig. Er konnte sie rückwärts aufsagen. Er konnte damit jonglieren wie mit Tellern. Das hieß nicht, dass er wusste, wie sie sich anfühlten.

Also hatte er stattdessen sein Bestes getan, im Laufe der acht Monate, in denen sie sporadisch miteinander zu tun gehabt hatten, die passenden Emotionen an den Tag zu legen, in den Zeitabständen, die er für angemessen hielt.

»Haben Sie jemals Schuldgefühle?«, fragte Kate.

»Natürlich«, antwortete er dann. »Ich hätte schneller dort sein sollen. Rechtzeitig. Um es zu verhindern.«

Dann nickte sie ernst, und er schaute auf seine Hände.

Drei Sitzungen verbrachte er in völligem Schweigen, starrte dumpf auf den billigen Teppich in ihrem Therapiezimmer, während sie mit großen Pausen behutsame Fragen stellte. Das würde als Depression aufgefasst werden, dachte er sich.

Bald würde er die Energie aufbringen müssen, sich an Zorn zu versuchen. Er schob es immer wieder hinaus.

In gewisser Weise hoffte er, dass das Vortäuschen von Gefühlen auf magische Weise die echten Emotionen hervorrufen würde, doch alles, was er seit dem Tod seiner Frau empfunden hatte, war ein seltsames Taubheitsgefühl, eine Milchglasbarriere vor der Realität.

Nur in seinen Träumen fühlte Jonas überhaupt etwas. In seinen Träumen fand er Lucy oft. Immer irgendwo, wo er es nicht erwartete. Er nahm den Bus nach Tiverton, und sie saß ganz vorn, mit Einkaufstüten zu ihren Füßen. Er stahl ein billiges Schmuckstück auf einem Basar in einem fremden Land, drehte sich um, und da stand sie plötzlich neben ihm. Einmal sah er sie durch die Fugen zwischen den Bohlen der Seebrücke von Weston, und sie hielten immer wieder aufblitzend Schritt miteinander – er oben und sie unten auf dem nassen Sand –, bis sie den Strand erreichten, wo sie sich umarmten.

Immer umarmten sie sich.

Immer weinten sie vor Freude.

Ich habe dich gefunden. Ich habe dich gefunden. Er wiederholte es, ohne die Lippen zu bewegen – ein Lied, das sein Herz sang und das seinen Körper vor Glück erbeben ließ.

Immer endete es auf dieselbe Weise. Lucy schluchzte ihm ins Ohr: »Du hättest nicht nach mir suchen sollen, Jonas.«

Und er merkte zum ersten Mal, dass ihr Körper kalt war, wo er doch warm sein sollte, und noch während das Grauen ihn traf, fühlte er, wie sie in seinen Armen zu einem Stück totes Fleisch wurde.

Dann wachte er auf, tastete noch immer nach ihr, das Kissen nass von Schweiß und Tränen, und rief »Ich liebe dich« in die Dunkelheit der Morgendämmerung hinein.

Von alldem erzählte Jonas der Psychologin nichts.

Er erzählte Kate Gulliver auch nicht, wie ihm die Zeit manchmal entglitt. Dass er zum Beispiel auf dem Sofa einschlief und in der Küche aufwachte, mit einem Messer in der Hand. Dass der Drang fast übermächtig war, sich die blitzende Klinge in den Mund zu schieben und auf seine Zunge, seinen Gaumen und seine Wangen einzustechen, bis das Blut aus ihm herauslief wie aus einem Wasserschlauch. Oder dass er mehr als einmal zugesehen hatte, wie seine eigenen Hände eine seiner Uniformhosen zu einer Schlinge zusammengedreht hatten. Es war eine alte Hose, und es fehlte ein Knopf daran – für niemanden von Nutzen, der nichts von Handarbeiten verstand oder eine Frau hatte, die nähen konnte.

Ganze Tage kamen ihm abhanden – verschwanden so spurlos in seinem Kopf, als wäre er von Außerirdischen entführt worden. Er wurde zurückgebracht, und nichts hatte sich verändert, außer dem Zeigerstand auf der Uhr.

Manchmal auch dem Datum auf dem Kalender.

All dies waren Dinge, von denen sein neues animalisches Selbst wusste, dass sie besser ungesagt blieben. Besser unerforscht blieben.

Und so sagte Jonas Holly nichts, fühlte nichts und hing zwischen Licht und Dunkelheit in der Schwebe – zwischen Leben und Tod –, bis zu der Zeit, da man ihm erlauben würde, wieder als Dorfpolizist auf dem Exmoor zu arbeiten.

3

Steven Lamb wusste nicht, was genau er für seine dreihundert Pfund erwartet hatte, aber das hier definitiv nicht.

Ronnie hatte ihm gesagt, dass das Motorrad nicht fahrtüchtig war. »Aber wir kriegen das Teil schon in Gang, kein Problem«, hatte er ihm versichert, als sie nach Minehead gefahren waren. Daran hatte Steven auch nicht gezweifelt. Ronnie Trewell konnte alles in Gang bringen – unzählige Autofahrer aus Somerset, deren Wagen trotz Schlössern, Alarmanlagen und Lenkradsperren geklaut worden waren, konnten das bezeugen.

Was Ronnie ihm jedoch nicht gesagt hatte, war, dass die Suzuki 125 in anscheinend tausend Einzelteile zerlegt war. Zwei Räder und den Rahmen konnte man identifizieren, alles andere jedoch – Motorteile, Kabel, Scheinwerfer und Lichter, der Tank, Stangen, Schrauben und Muttern – lag bunt durcheinander in zwei riesigen Plastikkästen.

»Is’ alles da, Alter«, behauptete der schmierige Mann mit den verschlagenen Augen, den Ronnie als »Gary« vorgestellt hatte. »’N Supertyp«, hatte er noch hinzugefügt, als sei das alles, was Steven als Sicherheit brauchte, um jemandem, dem er noch nie begegnet war, sein gesamtes Geld für eine Sammlung loser Teile anzuvertrauen.

»Da ist der Auspuff«, bemerkte sein bester Freund Lewis und spähte in einen der Kästen – als beweise das, dass der Rest des Motorrades ebenfalls da sein musste.

Steven dachte an all die Tage, an denen er morgens im Dunkeln aufgestanden war, um mit einer Tasche voller Zeitungen auf der Hüfte durch Regen und Schnee zu trotten. Um das Geld zu verdienen, das jetzt in der Tasche seiner Jeans steckte. Seit er dreizehn gewesen war. Vier Jahre taube Finger, blaugefrorene Zehen und stechende Schmerzen in den Ohren, die aus dem Schutz seines dunklen Haares hervorragten. Er hatte auch andere Dinge gekauft – ein Skateboard mit Bones-Swiss-Kugellagern, eine Halskette für seine Mum zum Geburtstag, einen neuen Einkaufswagen für seine Nan, und gelegentlich hatte er auch das eine oder andere Pfund für Davey herausgerückt, wenn sein Bruder bestochen werden musste. Aber auf ein Motorrad hatte er die letzten zwei Jahre gespart, und Steven hatte alles darangesetzt, das Geld zusammenzubekommen. Der Gedanke, Shipcott verlassen zu können, ohne auf Ronnie oder die Tithecott-Zwillinge als Fahrer angewiesen zu sein oder auf ruckelnde Überlandbusse voller blaugetönter alter Damen und Männer, die nach Kühen rochen – das war alles, was er als Motivation brauchte, um weiterzutrotten, weiterzuarbeiten, weiterzuwarten.

»Deal?«, fragte Gary und streckte ihm die Hand hin.

Steven sah erst Lewis an, der seinem Blick auswich – dieser elende Feigling –, und dann Ronnie, der aufmunternd nickte.

»Na schön«, sagte er unglücklich und versuchte, dem Mann die Hand zu schütteln, nur um verlegen festzustellen, dass dieser die Handfläche nach oben gedreht hatte, um das Geld entgegenzunehmen, nicht um den Handel zu besiegeln wie Gentlemen. Gary lachte, als er ungeschickt zurückzuckte, und Steven kam sich vor wie ein Halbwüchsiger unter Männern.

Ihm war ein wenig übel, als er den Briefumschlag voller Geldscheine hervorzog und ihn Gary reichte.

Eigentlich wollte er unbedingt um eine Quittung bitten, wie seine Mutter es ihm eingeschärft hatte, doch Gary hatte das Geld bereits in die Gesäßtasche gestopft und hob eine der Kisten auf.

»Ich fass mal mit an«, meinte er, als wolle er die Beweise so schnell wie möglich verschwinden lassen, bevor sein Betrug aufflog.

Lewis schnappte sich den Rahmen, das Leichteste, was zu tragen war, Ronnie nahm trotz seines Hinkebeins die zweite Kiste, und Steven griff sich mit jeder Hand ein Rad.

Sie luden das, von dem Steven verzweifelt hoffte, dass es sich um ein komplettes Motorrad handelte, in den Anhänger, den Ronnie sich von irgendwoher geborgt hatte, und stiegen in den Fiesta. Lewis saß vorn, und Steven quetschte sich hinten hinein, neben einen alten Windhund, der es offenbar gewohnt war, sich auf dem ganzen Rücksitz auszustrecken, und nur widerwillig Platz machte, ehe er sich wieder auf Stevens Beine plumpsen ließ.

Sie fuhren zu schnell zurück nach Shipcott, zu Ronnie nach Hause, und der knochige Ellenbogen des Hundes bohrte sich bei jeder heiklen Kurve in Stevens Oberschenkel.

4

Detective Inspector Reynolds machte sich Sorgen wegen seiner Haare. Um das Mädchen machte er sich natürlich auch Sorgen, doch mit den Haaren würde er leben müssen, während das Mädchen bloß ein Fall von vielen war, wie die Fälle davor und all die, die noch folgen würden. Wahrscheinlich war sie durchgebrannt. Das war meistens so. Wenn nicht, wenn sie wirklich entführt worden war, dann würde sie gefunden werden oder auch nicht. Sie würde leben, oder sie würde sterben – oder sie würde den Rest ihres Lebens so verbringen, dass sie sich wünschte, sie könnte sterben.

Das hörte sich herzlos an, doch so war es nun einmal mit vermissten Kindern. Natürlich würde Reynolds alles in seiner Macht Stehende tun, um sie zu finden, doch im Augenblick war das Schicksal des Mädchens eine Frage mit offenem Ausgang. Seine Stirnfransen dagegen waren von Dauer.

Hoffte er zumindest.

Er begutachtete sie im Spiegel und schob sie erst zur einen und dann zur anderen Seite. Es war ein kalter Morgen, also hatte er gekniffen und eine Wollmütze aufgesetzt. Doch er konnte sich nicht für alle Zeit verstecken. Irgendwie waren die Haartransplantate unter den kalten Leuchtröhren in der Herrentoilette der Polizeiwache von Taunton viel auffälliger als zu Hause in seinem Badezimmer.

Er schob den Pony wieder zur anderen Seite. Es änderte nichts. Reynolds seufzte. Vielleicht hätte er sie sich nicht so kurz schneiden lassen sollen, doch der Gedanke an Elton Johns grässliche Moppfrisur hatte ihn zu einer ganz untypischen Machoreaktion verleitet.

Scheiß drauf.

Er hatte fast viertausend Pfund von seinen sauer verdienten Ersparnissen für die verdammten Dinger ausgegeben – da konnte er sich doch nicht den ganzen Tag auf dem Klo verstecken.

DI Reynolds atmete tief durch und kam türenknallend aus der Toilette gestürmt, um die Suche nach Jess Took zu leiten.

Ihr liebt sie nicht.

Reynolds hatte den Zettel bei sich, sicher in einer Beweismitteltüte verwahrt. Er hatte befohlen, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringen sollte. Wenn Jess Took entführt worden war, dann war der Zettel ein Detail, das nützlich sein könnte, um ihren Kidnapper bei einer Lüge zu überführen. Oder er könnte dazu dienen, die Spinner auszuschließen, die das Verbrechen vielleicht als ihr Werk ausgeben wollten.

Er hatte ihn hundertmal betrachtet, als sie von Taunton aufs Exmoor gefahren waren. Jess Took wurde erst seit sechsunddreißig Stunden vermisst, und der Handschriftenexperte hatte sich nicht festlegen wollen, bevor nicht weitere Nachforschungen angestellt worden waren. Doch er hatte gesagt, in Anbetracht der sorgfältigen Buchstabenführung stamme er wahrscheinlich nicht von jemandem, der jeden Tag schrieb. Sehr hilfreich. Das grenzte das Feld wirklich ungeheuer ein. Wer zum Teufel schrieb denn schon jeden Tag – oder überhaupt noch – mit Papier und Stift? Reynolds selbst konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Kugelschreiber mit einer anderen Absicht in die Hand genommen hatte, als damit ein paar Notizen hinzukritzeln oder beim Nachdenken darauf herumzuklicken. Heutzutage lief doch alles per Tastatur. Worte wurden erschaffen und verschwanden in einem Kasten, und dann schaltete man ihn ab und wieder an und hoffte, dass sie noch da waren. Reynolds war sehr für das papierlose Büro, doch aus irgendeinem Grund schien in der Abteilung für Schwerverbrechen der Polizei von Taunton jede Woche mehr Papier im Umlauf zu sein. Ein Enigma, dachte er, eingehüllt in endlos viele DIN-A4-Blätter.

Er lächelte innerlich und wünschte sich, er hätte so etwas Cleveres laut sagen können, vor einem Publikum, das dergleichen zu schätzen wusste. Detective Sergeant Elizabeth Rice war bei Weitem nicht dumm, doch sie war nicht so belesen wie er.

Allerdings war Rice eine umsichtige Autofahrerin, und er gab ihr jedes Mal die Schlüssel. Dann konnte er nachdenken, ohne von dem »Rückspiegel, blinken, abbiegen«-Mantra heimgesucht zu werden, das sein Vater ihm so nachhaltig in den Schädel gehämmert hatte, dass es nie wieder hinausgefunden hatte.

Die Straßen begannen, sich in Kurven zu winden, sobald sie von der Autobahn abgefahren waren. Es gab keinen Übergang: Eben waren sie noch im 21. Jahrhundert, und dann kam man sich vor wie in den Fünfzigern. Dornenbüsche und Hecken quetschten schmale Straßen zwischen sich wie schwarze Zahnpasta, die sich übers Exmoor schlängelte, und Reynolds wusste genau, dass in seiner Tasche sein Handy bereits wild nach einem Netz suchte.

»Fühlt sich komisch an, wieder hier zu sein.«

Rice hätte seine Gefühle nicht akkurater beschreiben können.

Reynolds war nicht mehr hier gewesen, seit ein Killer eine brutale Schneise durch das Moor geschlagen hatte. Nicht mehr, seit er Jonas Holly vor etwas über einem Jahr vom Krankenhaus nach Hause gefahren und ihm geschworen hatte, dass sie den Mann fassen würden, der seine Frau ermordet hatte.

Das war nicht geschehen.

Doch er hatte Jonas dreimal angerufen – und dabei jedes Mal mehr den Verdacht gehabt, dass der Mann bei manchen Anrufern einfach nicht abnahm. Eigentlich war Reynolds das ganz recht gewesen; er hatte nie irgendwelche guten Nachrichten für ihn gehabt. Aus den wenigen dürftigen forensischen Spuren hatte sich nichts ergeben, und obgleich der Fall noch nicht offiziell als ungelöst zu den Akten gelegt worden war, wusste Reynolds doch genau, dass ein Riesenglücksfall oder ein weiterer Mord nötig wären, damit er wieder ganz oben auf der Liste des Morddezernats landete.

Ihm fiel wieder ein, dass sogar noch diesen Januar – ein Jahr nach ihrem Tod – auf Jonas’ Anrufbeantworter die Stimme seiner Frau zu hören gewesen war: »Hi, Sie haben die Nummer von Jonas und Lucy gewählt. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, und wir rufen Sie zurück. Oder Sie können Jonas unter seiner Handynummer erreichen …«

Die Stimme eines Geistes.

Reynolds fand das gruselig.

»Stimmt«, pflichtete er Rice bei. »Sehr komisch.«

Außerdem fühlte es sich merkwürdig an, in einem schmuddeligen weißen Lieferwagen zu sitzen und nicht in einem Zivilfahrzeug der Polizei. Der Lieferwagen war ein Firmenwagen des Bauunternehmens RJ Holding & Sons aus Taunton. Roger Holding war ein Cousin des diensthabenden Sergeants und hatte ihnen das Fahrzeug angeboten, damit sie unerkannt zu den Tooks fahren konnten. Entführungen, bei denen Lösegeld gefordert wurde, kamen heutzutage so gut wie nie mehr vor, außer irgendwo in Osteuropa, doch es war besser, sich an die Vorschriften zu halten, bis sie genau Bescheid wussten. Wie dem auch sei, Reynolds fand, dass Elizabeth Rice zu attraktiv war, um hinter dem Lenkrad eines Baufirmen-Lieferwagens zu sitzen, selbst in Jeans und Sweatshirt, das lange blonde Haar zu einem praktischen Pferdeschwanz zurückgebunden. Er hätte Tim Jones aus dem Drogendezernat mitnehmen sollen, der sah aus wie ein Hilfsarbeiter und roch auch so.

Der Lieferwagen war mit Fastfood-Packungen zugemüllt, und zu seinen Füßen lag eine in jedem Wortsinne schmutzige Zeitschrift. Reynolds hatte sie beim Einsteigen entdeckt und während der ganzen Fahrt versucht, so viel von dem Titelbild wie möglich mit den Füßen zu verdecken, damit Rice keinen Anstoß daran nahm oder – noch schlimmer – Witze darüber riss.

Er schob den Zettel wieder in die Akte mit der Aufschrift JESS TOOK, die auf seinem Schoß lag, und starrte das Foto des Mädchens an.

Wenn es um verschwundene Teenager ging, stand das Wort »Ausreißer« auf der Liste der Möglichkeiten immer über dem Wort »Entführt«. Wenn sie bei jedem vermissten Teenager von einem Kidnapping ausgingen, würden sie ihr ganzes Leben damit verbringen, mürrische Kids unter den Betten ihrer besten Freunde hervorzuziehen oder sie mit großen Netzen auf den Londoner Busbahnhöfen einzufangen, das wusste selbst ein erklärter Liberaler wie Reynolds. Die Wahrheit war, dass die meisten Jugendlichen einfach wieder nach Hause gingen. Also gab es – sofern keine eindeutigen Beweise für eine Entführung vorlagen – inoffiziell ein Zeitfenster von vierundzwanzig Stunden, in denen man davon ausging, dass genau das passieren würde.

In diesem Fall war es nicht passiert. Noch nicht. Der Akte entnahm Reynolds, dass der zuständige Streifenbeamte verständigt worden war und den Ball behutsam ins Rollen gebracht hatte – dass er Freunde und Verwandte angerufen und den Wald und die Ställe und Schuppen in der Nähe von Jess’ Zuhause abgesucht hatte. Wäre sie acht gewesen, so wären sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt worden. Aber dreizehn? Bei Teenagern sah man das anders. Also war der Sonntag ein Tag des Wartens gewesen, man würde schon sehen. Man würde darauf warten, dass Jess kalt wurde, dass sie Hunger bekam oder klein beigab, und dann würde man sehen, wie sie entweder bei ihrem Vater oder ihrer Mutter die Auffahrt heraufmarschiert kam. Als sie bis Sonntagabend bei beiden nicht aufgetaucht war, hatte man die Dienststelle in Taunton verständigt, Reynolds war der Fall zugewiesen worden, und das Ganze hatte offizielle Dringlichkeit angenommen.

Jetzt – am Montagmorgen – würde es ernsthaft losgehen: die förmlichen Befragungen von Freunden und Angehörigen, das Organisieren der Suche und der Dutzenden von Freiwilligen, die sich ganz sicher melden würden. Die diskrete, aber eingehende Untersuchung jedes einzelnen dieser Freiwilligen, für den Fall, dass einer von ihnen der Entführer sein könnte, der versuchte, sich in die Ermittlungen einzuschmuggeln. Oder die Entführerin, dachte Reynolds. Was das betraf, war man wohl am besten für alles aufgeschlossen. Obwohl natürlich Frauen, die Kinder entführten, im Allgemeinen Babys kidnappten, aus einer Art urwüchsiger Verzweiflung heraus. Männliche Kindsentführer dagegen …

Reynolds machte sich nicht die Mühe, den Gedanken zu Ende zu denken. Sich vorzustellen, was vielleicht gerade mit Jess Took geschah, war kontraproduktiv bis zum Wahnsinn. Er musste ein wenig Distanz zu den grausamen Details solcher Ermittlungen halten, um mit klarem Kopf Entscheidungen treffen zu können.

Rice hatte nichts zu seinen Haaren gesagt.

Reynolds war sich nicht sicher, ob das gut war oder nicht.

Rice pfiff leise, als sie in John Tooks Auffahrt einbogen. »Nicht schlecht«, bemerkte sie, und das stimmte auch.

Ein weiß getünchtes Langhaus stand an der Kieszufahrt, dicht mit Blauregen bewachsen. Daneben stand ein Stall mit einem halben Dutzend Boxen. Der große Garten war gemäht und beschnitten bis zum Anschlag. Drei andere Wagen standen in der Auffahrt – keiner davon kostete weniger als das Jahresgehalt eines Detective Inspectors.

Sofort setzte Reynolds »Lösegeld« auf Platz zwei seiner Liste möglicher Motive für die Entführung von Jess Took.

Innen war das Haus mit zu viel Geld und zu wenig Geschmack eingerichtet worden. Etliche karierte Sofas, ein Dutzend kitschige Jagdszenen; ein Couchtisch aus Messing und Glas ächzte unter dem Gewicht eines Bronzepferdes, das so groß war, dass man fast darauf reiten konnte.

John Took war ein massiger Mann mit einem geröteten Gesicht, wie man es vom Trinken oder von Wind und Wetter bekommt. Reynolds fragte sich im Stillen, welches von beiden wohl der Grund war. Möglicherweise beides. Es waren noch zwei Frauen im Haus – Jess’ Mutter Barbara und Tooks Freundin Rachel Pollack, die mit ihren großen blauen Augen und dem langen blonden Haar lediglich eine jüngere, schlankere Version von Barbara war.

Schlanker und dümmer, stellte Reynolds nach nur ein paar Minuten Unterhaltung mit den beiden fest. Genau das Richtige für einen Mann in der Midlife-Crisis. Reynolds war nie verheiratet gewesen, doch er war sich ziemlich sicher, dass er das besser hinkriegen würde als die meisten anderen Männer. Er hatte mal einen Aufkleber gesehen, auf dem stand: EINE EHEFRAU HAT MAN FÜRS GANZE LEBEN, NICHT NUR FÜR DIE FLITTERWOCHEN. Nur allzu wahr.

Die Dynamik innerhalb dieses Dreigespanns war hochinteressant. Obgleich Rachel die ganze Zeit Johns Hand umklammert hielt und damit an Aufsicht grenzendes Mitgefühl demonstrierte, war deutlich zu sehen, dass die wahre Verbindung hier – die familiäre Verbindung – zwischen John und seiner Exfrau bestand. Sie teilten dieselbe zittrige Anspannung miteinander, dieselbe brüchige Hoffnung, dieselbe Gleichgültigkeit allem gegenüber, das nichts mit Jess zu tun hatte. Mehr als einmal sah Reynolds, wie Rachel beleidigt den Mund zusammenkniff, während sie den beiden zusah.

Es hatte sich niemand bei ihnen gemeldet, der behauptet hätte, Jess in seiner Gewalt zu haben.

»Wenn es so wäre, würden wir uns besser fühlen«, sagte Barbara Took, und Reynolds ging es genauso. Wissen war immer besser als Nichtwissen. Und sie hätten etwas, wo sie anfangen könnten.

»Hat Jess einen Freund?«, erkundigte er sich, und beide Eltern schüttelten entschieden die Köpfe.

»Sie ist doch erst dreizehn«, verwahrte sich Took.

»Das wüsste ich«, behauptete Barbara.

Reynolds machte in seinem Notizbuch ein Fragezeichen hinter das Wort »Freund«.

Er bat, Jess’ Zimmer sehen zu dürfen – das beste im ganzen Haus und unordentlich, wie nur Teenager es hinbekommen. Der Anblick ging Reynolds durch und durch, und er war froh, dass er keine Kinder hatte.

»Mr Rabbit!«, stieß Barbara Took unter Tränen hervor und hob ein altes Stofftier vom Boden auf. »Sie würde Mr Rabbit niemals zurücklassen.«

Das war natürlich totaler Blödsinn. Sogar Reynolds wusste das. Teenager waren ein selbstsüchtiger Haufen, und es war unwahrscheinlich, dass ein Spielzeug aus ihrer Kindheit sie zurückhielt, wenn irgendwo ein Freund auf sie wartete.

Barbaras Exmann drehte sich um, um sie tröstend in die Arme zu nehmen, und Rachel streckte die Hand aus und streichelte der anderen unbeholfen die Schulter, mit Fingern, die in leuchtend roten Krallen endeten.

»Wo ist ihr Handy?«, fragte Reynolds.

»Ich hab’s neben dem Pferdetransporter gefunden«, antwortete Took. »Es muss ihr runtergefallen sein. Ihre Leute haben es jetzt.«

»Was ist mit ihrem Make-up?«, erkundigte sich Elizabeth Rice.

»Sie trägt keins«, erwiderte Barbara und sah dann John Took fragend an. »Jedenfalls nicht bei mir.«

»Bei mir auch nicht«, beteuerte Took sofort und ließ sie los.

Auf dem Nachttisch stand ein kleiner Spiegel, doch in der Schublade darunter war nur Krimskrams – ein bisschen Modeschmuck, Schlüsselringe mit Zeichentrickfiguren daran, Kleingeld, Cremes, ein kaputtes Handy und ungefähr fünfzig verschiedene Haarspangen.

Rice bemerkte einen Rucksack am Fußende des Bettes. »Ist das ihre Schultasche?«

»Ja. John bringt sie montags hin, und ich hole sie ab.«

Rice kramte in dem Rucksack und förderte rasch ein kleines rosafarbenes Make-up-Täschchen zutage, das Erdbeer-Lipgloss, Wimperntusche und zwei Fünf-Pfund-Noten enthielt. Barbara Took funkelte ihren Exmann zornig an, doch Reynolds und Rice wechselten einen Blick ganz anderer Art. Wenn Jess Took durchgebrannt wäre, wären Make-up und Geld tausendmal wichtiger gewesen als Mr Rabbit.

Hintereinander gingen sie wieder nach unten, und Reynolds erklärte ihnen das weitere Prozedere. Wie das Ganze ablaufen würde, wie die Suche organisiert werden würde, ein ähnlicher Besuch bei Barbara Took, die Zuteilung eines Verbindungsbeamten für die Familie und schließlich was sie im Fall einer schriftlichen oder telefonischen Lösegeldforderung tun sollten.

»Ich habe kein Geld«, meinte Took. »Das geht alles für die Pferde drauf.«

Das war eine so lächerliche Behauptung, dass – unter den gegebenen Umständen – alle im Raum Anwesenden ihm die Höflichkeit erwiesen, sie zu ignorieren.

Reynolds fragte Took und seine Exfrau, ob sie Feinde hätten. Das war eine Standardfrage, die nur selten bejaht wurde.

Barbara schüttelte den Kopf, doch John Took antwortete leichthin: »Klar. Wer hat die nicht?«

Reynolds war verblüfft. Barbara offenbar auch.

»Aber doch niemanden, der Jess entführen würde!«

Took zuckte die Achseln. »Wer weiß das heutzutage schon? Die Leute sind solche Arschlöcher.«

Und das Geheimnis der Feinde ist rasch gelöst, dachte Reynolds.

Am Fuß von Dunkery Beacon stand John Tooks einsamer Pferdetransporter. Der Eingang des behelfsmäßigen Parkplatzes war mit einem Stück Polizeiabsperrband abgeriegelt worden. Ein paar Autos und ein leerer Land Rover der Polizei waren am Straßenrand geparkt. Von dem dazugehörigen Beamten war nichts zu sehen.

Nachdem sie einen Moment lang dagestanden und sich ziellos um die eigene Achse gedreht hatten, zeigte Rice auf etwas Leuchtfarbenes, das hinter einem Ginsterbusch aufblitzte, und sie sahen zu, wie ein untersetzter Officer den Reißverschluss seiner Hose hochzog und dann hinter dem Busch hervorkam, um zu seinem Wagen zurückzukehren. Er beschleunigte seine Schritte, als ihm klar wurde, dass er nicht mehr der einzige Vertreter der Polizei von Avon & Somerset am Dunkery Beacon war.

Reynolds stellte sich und Rice vor, lehnte es jedoch demonstrativ ab, dem Mann die Hand zu geben.

»Wenn Sie sich schon in der Öffentlichkeit erleichtern, dann ziehen Sie vorher Ihre Signalweste aus, in Ordnung? Man kann Ihnen verdammt noch mal von Wales aus beim Pinkeln zuschauen.«

»’Tschuldigung, Sir.«

»Wann ist der Tatort abgesperrt worden?«

»Gestern Abend.«

Scheiße. Fast achtundvierzig Stunden, nachdem Jess verschwunden war. Die Spurenauswertung würde der reinste Witz sein.

»Sie haben das Handy der Kleinen?«

»Davon weiß ich nichts, Sir. Da müssen Sie mit dem Kollegen von der Streife sprechen, der den Vorfall gemeldet hat.«

»Jonas Holly?«

Der Mann machte erst ein überraschtes, dann ein bedächtiges Gesicht. »Nein, Sir. Der ist doch krankgeschrieben.«

Immer noch? Reynolds schwieg. Er wollte lieber nicht erklären, dass er der Mann war, der es nicht geschafft hatte, den Mörder von Jonas’ Frau zu schnappen. Oder anders gesagt: Wenn er seinen Job gemacht hätte, dann hätte Jonas jetzt vielleicht schon wieder arbeiten können. Trotzdem, Reynolds war unwillkürlich erleichtert, dass es nicht so war. Er brauchte keine Erinnerung an früheres Versagen. Oder an diese Umarmung – Gott bewahre. Als er den Mann das letzte Mal gesehen hatte, hatte Reynolds ihn umarmt, eine Umarmung, an der ganz allein er beteiligt gewesen war, Jonas nicht. Hatte ihn umarmt und ihm versprochen, den Mörder seiner Frau zu finden. Jetzt konnte Reynolds sich nicht entscheiden, welche dieser leeren Gesten ihm peinlicher war.

Er sagte dem Polizisten, dass das Team von der Spurensicherung in der nächsten Stunde eintreffen würde. Bis dahin dürfe niemand den Bereich hinter dem Absperrband betreten. Offenkundig.

»Wem gehören diese Autos?«

»Wanderern. Ich kriege schon den ganzen Vormittag Stress, weil der Parkplatz geschlossen ist.«

Reynolds hätte fast darüber gelächelt, dass das flache Stück nackter Erde als Parkplatz bezeichnet wurde.

Er wollte unbedingt einen Blick in den Pferdetransporter werfen, doch sie würden in diesem Fall möglicherweise ohnehin nur wenige Spuren finden, auch ohne dass er und Rice ihre Fußabdrücke im Staub neben dem Transporter hinterließen.

Sie würden warten.

Reynolds hatte sich auf seine Geduld schon immer etwas eingebildet.

5

In seiner Klasse war ein neues Mädchen. Emily Carver.

Steven versuchte, sie nicht anzusehen, doch selbst beim Nicht-Hinsehen wurde er verlegen. Als keine Gefahr mehr drohte, starrte er ihren Hinterkopf an, wo ihr dichtes braunes Haar locker von einem grünen Samtband zusammengehalten wurde.

Mr Peach musste seinen Namen zweimal aufrufen, ehe er bestätigte, dass er anwesend war.

Nichtsdestotrotz erregte Emilys plötzliches Auftauchen in der Klasse kaum Aufsehen, was daran lag, dass Jess Took gleichermaßen plötzlich verschwunden war.

Diese Neuigkeit verbreitet sich in der Schule wie ein Lauffeuer. Erregung knisterte in jeder Klasse wie Süßigkeiten im Kino. Die ADS-Kids, die ADHS-Kids und alle Kids, die es einfach nur auf eine Sonderbehandlung anlegten, nutzten die Gelegenheit, um besonders »fordernd« zu sein. Mädchen standen in Trauben vor den Klassenzimmern und umarmten sich gegenseitig unter Tränen, als hätten sie Jess alle persönlich gekannt – sollten die Jungen und die Lehrer es nur wagen, diese Schwesternschaft in Frage zu stellen. Aus Rache verlegten sich die solcherart ausgeschlossenen Jungen auf schaurige Spekulationen. Wörter, die für Mädchen oder Erwachsene zu krass waren, um laut ausgesprochen zu werden, machten unter den Jungen die Runde. Katastrophenszenarien wurden die Flure hinuntergebrüllt oder freimütig auf dem gänseblümchenbewachsenen Sportplatz durch die Gegend gekickt.

»Die finden sie nie.«

»Die ist längst tot.«

»Ich wette, ihr Dad war’s. Jess hat immer gesagt, er kann sie nicht ausstehen.«

Steven machte nicht mit. Er konzentrierte sich auf den Ball und schoss dank der Unaufmerksamkeit der gegnerischen Mannschaft zwei Tore. Er wollte nicht über ein vermisstes Kind spekulieren. Vor vielen Jahren wäre er beinahe selbst zu einem solchen Kind geworden. Oben auf dem Hochmoor hinter dem Haus hatte sich ein Mann namens Arnold Avery einmal alle Mühe gegeben, Steven Lamb zu ermorden, und seitdem war er vorsichtiger, als es ihm vom Alter her zukam.

Seine Freunde bremste das nicht.

Lewis war natürlich der Wortgewaltigste und hatte unzählige Ideen, was passiert sein könnte, wie es passiert war, warum es passiert war und was die Polizei jetzt wohl unternehmen würde. Lalo Bryant erzählte, seine Schwester dürfe nicht mehr allein aufs Moor, und alle Jungs, die ebenfalls Schwestern hatten, bestätigten nickend, dass das eine weise Vorsichtsmaßnahme sei und dass sie sofort die Rolle des Vormundes übernehmen würden, sobald sie nach Hause kamen. Den Tithecott-Zwillingen kam das ganz gelegen, denn ihre Schwester war eine notorische Nervensäge und definitiv reif für als Bruderliebe getarnte drakonische Kontrolle.

Erst als es schon geklingelt hatte und sie wieder zum Unterricht stiefelten, fragte Lalo Bryant: »Habt ihr die Neue gesehen, Emma?«

»Emily«, verbesserte Steven.

»Von mir aus. Die ist echt scharf.«

»Der würd ich’s glatt besorgen«, behauptete Lewis.

Es gab kaum ein lebendes weibliches Wesen, dem Lewis es nicht besorgen würde; für einen Siebzehnjährigen mit flammender Akne hatte er bemerkenswerte Selbstwertreserven. Trotzdem verspürte Steven einen Stich des Zorns und hatte plötzlich das Bedürfnis, das braune Haar und das grüne Samtband zu verteidigen.

»Ja, aber würde ich es dir besorgen?«

Die Jungen drehten sich um und erblickten Emily Carver ein paar Schritte hinter sich. Steven errötete bis zu den Haarspitzen, und die anderen scharrten mit den Füßen und schauten weg.

Unerschütterlich wie immer, prahlte Lewis lahm: »Na klar, aber hallo.«

Emily Carver blieb stehen, musterte ihn mit neugieriger Miene bedächtig von oben bis unten und platzte dann laut heraus.

Es war niederschmetternd. Nichts, was sie hätte sagen können, hätte Lewis gnadenloser vernichten können, und seine Akne glühte förmlich auf. Steven war ein loyaler Freund, deshalb schaute er weg, um sein Grinsen zu verbergen.

Noch immer kichernd schritt Emily zwischen den Jungen hindurch und strebte auf die Klassenzimmer zu.

Lalo knuffte Lewis gegen die Schulter. »Die hat’s dir aber gegeben, Sackgesicht.«

Lewis knuffte um einiges fester zurück. »Danke, dass du mir gesagt hast, dass sie da war, du Wichser.«

»Ich bin doch nicht deine Mummy.«

»Verpiss dich.«

Steven hielt sich raus. Lewis war sein bester Freund, doch es war schön, ihn hin und wieder auf die Nase fallen zu sehen. Das hatte er nötig. Sonst wäre er unausstehlich. Unausstehlich war ein gutes Wort. Steven hatte es gerade gelernt und bemühte sich, es überall anzubringen. Hierfür war es perfekt.

Er sah Emily Carver vor ihnen hergehen und war sich bewusst, dass seine kleine Gruppe in unausgesprochenem Einverständnis langsamer geworden war, damit sie sie nicht einholen würden. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sie besiegt hatte.

Für Steven fühlte es sich eigentlich gar nicht wie verlieren an.

Als er nach Hause kam, hatte Davey Mum und Nan bereits von Jess Took erzählt.

Typisch.

Davey war das Nesthäkchen und verwöhnt noch dazu – eine Doppelbelastung, die bedeutete, dass er ohne viel Achtung für die Gefühle, Gedanken oder Wünsche anderer durchs Leben segelte.

Steven hatte diese Achtung. Achtung vor der Tatsache, dass Billy, der Sohn seiner Nan, entführt und ermordet worden und lang draußen auf dem Moor verschollen gewesen war. Und Achtung vor der Tatsache, dass er selbst bei dem Versuch, seine Leiche zu finden, beinahe ums Leben gekommen wäre.

Und deswegen hätte er es ihnen behutsam beigebracht. Hätte das Thema gestreift, um zu sehen, ob sie schon Bescheid wussten oder ob er der Überbringer schlechter Nachrichten sein würde – und dann hätte er ihnen gerade eben genug erzählt, dass sie vom Klatsch der Nachbarn nicht kalt erwischt wurden oder von den Zeitungen in Mr Jacobys Laden. Obgleich Steven diese Zeitungen jeden Morgen in der Umgebung von Shipcott austrug, belieferte er sein eigenes Zuhause nicht. Seine Mutter Lettie hatte zu viel zu tun, um zu lesen, und Nan kaufte immer solche fledderigen Zeitschriften voller unmöglicher Kreuzworträtsel; das sei das Einzige, was sie jemals von einer Zeitung gewollt habe, sagte sie.

Steven wäre subtil vorgegangen.

Davey jedoch hatte nichts Subtiles an sich. Steven wusste, wie Davey Neuigkeiten verkündete – er hatte es hundertmal erlebt. Kam türenknallend zur Haustür hereingestürzt, schmiss seine Schultasche hin und brüllte Mu-um! Mu-um! Dann kam er in die Küche gefegt und überschlug sich fast, um die Worte herauszubringen. Die lebenswichtige Nachricht von dem Tor, das er beim Fußball geschossen hatte, seine erderschütternde Zwei in Computerkunde, sein Insiderwissen über die Entführung von Jess Took.

Steven wusste, wie das abgelaufen war.

Daher war er nicht überrascht, als er in die Küche kam und seine Mutter wie wild rauchend am Spülbecken vorfand, während seine Nan über einem halbfertigen Kreuzworträtsel blicklos ins Leere starrte und Davey vergnügt Tomatensoße über etwas verteilte, das nach mehr als seinem gerechten Anteil an Fischstäbchen aussah.

Sie wussten Bescheid.

»Hi«, sagte er.

»Hallo, Stevie.« Die Stimme seiner Mutter war heiser.

Nan blickte zu ihm auf, die Augen wässrig vor Erinnerungen.

Steven liebte seinen Bruder, aber – Scheiße – manchmal hatte er ja solche Lust, ihm eine zu knallen!

Nan streckte schwach die Hand aus, und als Steven sie ergriff, zog sie ihn zu sich und fasste ihn fest um die Taille.

»Gut, dass du zu Hause bist«, sagte sie und ließ ihn dann los. Doch Steven blieb bei ihr stehen und ließ eine Hand auf ihrer Schulter ruhen.

An diesem Abend sahen Steven und Davey fern und hatten den Fernseher leiser gestellt als üblich. Nan runzelte die Stirn über ihren Rätseln, und Lettie breitete das, was sie ihre »Wertsachen« nannte, auf dem Couchtisch aus: eine versilberte Teekanne und vier nicht zueinanderpassende Kerzenhalter. Sie rieb sie alle mit Silberpolitur ab, bis ihre Finger ganz schwarz waren.

Noch hatte niemand ihn nach dem Motorrad gefragt. Das war ihm nur recht. Nan hatte gesagt, sie würde ihm einen Helm kaufen, als verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Steven glaubte nicht, dass ihr klar war, wie viel Motorradhelme kosteten. Er konnte doch nicht guten Gewissens zulassen, dass sie Geld für einen Helm ausgab, bevor er ein fahrtüchtiges Motorrad hatte. Sie würde erwarten, dass er ihn trug. Würde erwarten, ihn mit dem Helm auf dem Motorrad zu sehen.

Das er gar nicht besaß.

Hätte irgendjemand doch gefragt, so hätte er sagen müssen, dass er zwei Räder und ein Metallteilsortiment erstanden hatte.

Also hatte Jess Tooks Entführung ihn letzten Endes vor einer unguten Situation bewahrt.

Voll abartig.

Weil sie sich in Shipcott besser auskannten als überall sonst auf dem Moor, hatte Rice ihnen Zimmer im Red Lion gebucht.

Das war in jeder Hinsicht ein Fehler.

Billig, laut und mit Matratzen, die von schweren Schläfern im Laufe der Jahre in der Mitte fast vollständig durchgelegen und dann in dem fehlgeleiteten Versuch, den Schaden zu beheben, umgedreht worden waren. Es war, als schliefe man auf einem Riegel Toblerone. Am ersten Morgen rollte Reynolds sich auf die Seite, verlor den Halt – und rutschte die Westflanke hinab ins Wachsein hinein.

Sie trafen sich in der verlassenen Bar zum Frühstück – die klassisch-englische Variante für Rice, Croissants für Reynolds. Beides reichte nicht, um den Landkneipenmief nach abgestandenem Bier, Hunden und alten, in den Teppich getretenen Chips zu überdecken.

Reynolds wünschte, sie hätten irgendwo anders Quartier bezogen. Er erhob sich, bevor Rice anfangen konnte, Baked Beans mit ihrem Röstbrot aufzutunken. Sie war ja leidlich hübsch und hatte viele angenehme Angewohnheiten, dies jedoch war keine davon.

»Wir treffen uns am Auto«, sagte er.

Draußen zwang einen die Sonne bereits, die Augen zusammenzukneifen. Was für ein Unterschied. Als er das letzte Mal hier gewesen war, war es mitten im Winter gewesen – ein bitterkalter Januar. Es hatte angefangen zu schneien und dann immer weitergeschneit, so dass er gedacht hatte, es würde vielleicht nie mehr aufhören. Der Himmel war abwechselnd weiß oder dunkelgrau oder blassblau gewesen – und nichts davon hatte darauf hingedeutet, wie das Wetter eine halbe Stunde später sein würde.

Bei diesem strahlenden Sonnenschein verspürte er stichelnde Gewissensbisse, wie vergessene Nadeln in einem neuen Hemd.

In diesem Pub hatten sie gestritten und sich an Strohhalme geklammert, während der Killer ungehindert am Werk war. Keine hundert Meter entfernt war die Sunset Lodge, wo vier Menschen umgekommen waren, während die Polizei herumgeeiert war. Reynolds konnte sogar das Fenster im ersten Stock sehen, wo der Killer den Riegel weggeschoben hatte. Dort, neben der Türschwelle, hatte der Mörder sich in einem Schneehaufen das Blut von den Händen gewaschen, und dort hatte er sich in einer Seitengasse versteckt.

Das Dorf war ein Mosaik aus Erinnerungen, die er lieber vergessen würde. Damals hatte nichts geklappt. Das Team – angeführt von DCI Marvel – war von Anfang an hinterhergehinkt und hatte nie aufholen können. Der Killer war leise aufgetaucht, hatte geräuschlos getötet und war verschwunden, wie eine Schneeflocke, die an sich einzigartig war, am Boden jedoch in der Menge unterging. Der einzige Beweis dafür, dass er überhaupt existierte – außer den blutigen Tatorten –, waren die Zettel, die er für Jonas Holly zurückgelassen hatte und in denen er ihn wegen seiner Unfähigkeit verspottete, das Morden zu beenden. Und als endgültigen Sieg hatte er Jonas’ Frau umgebracht – eine grausame Strafe für das Versagen des jungen Polizisten. Reynolds hatte sich noch nie so verloren oder besiegt gefühlt, von einem Fall, von einem Verbrechen, von einem Ort.

Die Haare waren ihm büschelweise ausgegangen.

Jetzt berührte er fast unbewusst seine Stirnfransen, tastete nach der Bestätigung weicher Strähnen anstelle von kahlen Kopfhautflecken.

Reynolds kehrte Shipcott den Rücken zu und betrachtete stattdessen das Moor, das hinter dem Pub anstieg, auf der anderen Seite des Baches, wo Jonas Holly eine im Eis festgefrorene Leiche gefunden hatte. Das alles kam ihm vor wie eine leere Bühne, auf der einst ein Stück mit Mord und Totschlag aufgeführt worden war, denn an einem Tag wie diesem war es fast unmöglich sich vorzustellen, dass hier irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Mit dem tiefblauen Himmel, dem glitzernden Tau auf dem leuchtenden Ginster und der völligen Stille kam man sich vor wie auf einem Filmset – einer von diesen Jane-Austen–Filmen, die dauernd auf BBC Four liefen. Die Szenerie darin erschien ihm immer ebenso überspannt wie die Handlung, doch das Exmoor im Frühsommer war genauso ein Ort, gefangen in der Zeit. Ein Felsen bewegte sich dicht unter dem nahen Horizont, und Reynolds’ Augen passten sich an und machten das kleine Hirschrudel aus, das dicht an der Grenze zwischen Himmel und Erde graste.

Von diesem Anblick beruhigt, spürte Reynolds, wie das Puzzle in seinem Kopf Gestalt annahm. Jetzt, nachdem er Jess Tooks Vater kennengelernt hatte, neigte er eher zu einem Rache- als zu einem sexuellen Motiv. Das war gut. Wirklich gut. Wenn Jess Took aus Rache oder um eines Lösegeldes willen entführt worden war, standen die Chancen, sie lebend zurückzubekommen, sehr viel besser. Und ein Erfolg bei einem Entführungsfall würde sich in seiner Akte sehr viel besser machen.

Ja, Rache war das wahrscheinlichste Szenario und das, bei dem ein gutes Ende am wahrscheinlichsten war. An einem Tag wie heute konnte man einfach nur optimistisch sein.

Rice kam über den Parkplatz auf ihn zu und machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als ihr Handy ein vorüberhuschendes Netzsignal einfing und zum Leben erwachte.

Sie zog es aus der Tasche und betrachtete stirnrunzelnd das Display, dann wartete sie, bis es aufhörte zu klingeln, und steckte es wieder ein.

Bestimmt Eric.

Reynolds dachte, Rice hätte mit Eric Schluss gemacht. Sicher war er sich nicht, doch vor ein paar Monaten hatte es mal eine Zeit gegeben, wo sie morgens oft rote Augen gehabt hatte, und sie hatte sich ein paar Tage freigenommen. Dies hier war seitdem nicht das erste Mal, dass er erlebte, wie sie nicht ans Telefon ging.

Er war froh, dass der Empfang hier auf dem Moor so miserabel war. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass Rice wegen Liebeskummer weinerlich und abgelenkt war, während sie versuchten, Jess Took zu finden.

Die Hirschkühe zogen über den Hügelkamm davon; jede hob sich kurz als Silhouette gegen den Himmel ab, ehe sie verschwand. Ganz oben auf dem Kamm drehte sich der große Leithirsch um und schaute über die Schulter, sah ihn direkt an. Detective Inspector Reynolds war unerwartet gerührt. Es fühlte sich an wie ein Segensspruch – wie ein Erfolgsversprechen.

Das hier würde anders laufen. Das hier war bereits anders. Ein Serienmörder alter, gebrechlicher Menschen war kein Kindsentführer. Und jetzt hatte er das Sagen – und nicht irgend so ein Primitivling, der noch nicht mal studiert hatte.

Er würde den Fall lösen, Jess Took würde gefunden werden, er würde ein Held sein. Er würde den Schatten des Killers im Schnee bannen.

Es stellte sich heraus, dass John Took wirklich kein Geld hatte. Er war einfach nur sehr gut darin, das Geld anderer Leute auszugeben. Von den neun Leuten auf der Liste, die er ihnen gegeben hatte, waren acht Gläubiger – von denen vier ihm tatsächlich gedroht hatten, von »Sehen Sie sich bloß vor« bis zu »Ich fackele Ihnen Ihr verdammtes Haus ab.«

Bis Dienstagmittag hatten Reynolds und Rice mit all diesen vieren gesprochen. Drei hatten Alibis, die sich leicht überprüfen ließen. Am Samstagmorgen versuchten selbst die Leute auf dem Land, länger als bis sieben Uhr im Bett zu bleiben, und die meisten hatten Ehepartner und/oder Kinder, die das bestätigen konnten.

Der Vierte, Mike Haddon, war der Hufschmied der Gegend. Er war nicht groß, daher konnten seine Muskeln nirgendwo anders hin, als sich nach außen wölben, was ihm das Aussehen eines für einen Breitbildfernseher zurechtgedehnten Bodybuilders verlieh.

Er blätterte einen dreckigen Kalender durch, mit Händen, die so knorrig und von tiefsitzender Schwärze gezeichnet waren, dass Reynolds sie beinahe bewunderte. Es waren Hände wie die des unglaublichen Hulk, nur eben nicht grün.

»Zwei am 12., noch mal zwei am 22.«, sagte Haddon, während er die Seiten umblätterte, um ihnen seine dicht gedrängten Eintragungen zu zeigen. »Drei am 2. – und da war auch dieser verdammte Scotty dabei, für den berechne ich immer was extra, der schlägt nämlich und stützt sich auf. Noch mal zwei am 16., und dann noch einer am 23. …«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, unterbrach Reynolds ihn. Ihm war klar, dass Haddon ihnen jeden nicht bezahlten Hufbeschlag vorlesen würde, wenn er ihm nicht Einhalt gebot, und sie waren immer noch beim Januar. »Was schuldet er Ihnen insgesamt?«

»Elfhundertneunzig Pfund.«

»Meine Fresse!«, entfuhr es Rice. »Wie viel kosten die Eisen denn?«

»Fünfundsechzig für einen normalen Vollbeschlag. Wenn er Stollen oder Eiereisen haben will, wird’s mehr, und alle sechs bis acht Wochen wird neu beschlagen.«

Rice blieb der Mund offen stehen, und Reynolds sah erheitert, wie sie versuchte, die schiere Geldverschwendung für Hufeisen zu erfassen. Er selbst fragte sich, ob das für ein Entführungsmotiv wirklich ausreichte.

»Das scheint mir nicht so wahnsinnig viel zu sein«, meinte er.

»Für mich schon«, knurrte Haddon mit einem abschätzigen Blick. »Und für Sie wär’s auch viel, wenn Sie sich’s im Schnee verdient hätten, mit ’ner halben Tonne Pferd im Kreuz.«

Da war etwas dran.

»Also haben Sie Mr Took gedroht?«

Haddon blieb einen Moment lang stumm, dann zuckte er die Achseln. »Jep.«

Reynolds sah in seinen Notizen nach. »Er sagt, Sie hätten gesagt, Sie würden ihm die verdammten Beine brechen, wenn er Sie nicht bezahlt.«

»Jep«, antwortete Haddon trotzig. »Mach ich auch noch.«

»Sie könnten bestimmt eine bessere Methode finden, diesen Disput zu klären, Mr Haddon«, sagte Reynolds scharf.

»Besser vielleicht. Aber nich’ schneller.«

»Sie wissen, dass wir Sie jetzt sofort wegen dieser Drohungen festnehmen können, oder?«

Haddon bedachte Reynolds lediglich mit einem unheilvollen Blick.

»Und Sie wissen, dass Mr Tooks Tochter vermisst wird?«

»Na ja«, brummte Haddon und sah zum ersten Mal ein bisschen verunsichert aus. »Ich würd schon warten, bis sie wieder da is’.«

Rice prustete los und versuchte, einen Husten daraus zu machen. Reynolds runzelte die Stirn, doch Haddon sah Rice an und zwinkerte ihr zu. Das Lachen hatte ihn entspannt.

»Schauen Sie«, sagte er. »Took ist ein Arschloch. Da könn’ Sie jeden fragen. Der schuldet allen möglichen Leuten überall auf’m Moor Geld, aber er fährt mit diesen verdammten Riesenschlitten durch die Gegend und hält sich sechs Pferde, während mein Transporter auseinanderfällt. Das geht einem auf’n Sack, das is’ alles. Und ich kenn diese Typen – derjenige, der ihm am meisten Angst macht, wird als Erster bezahlt. Mehr ist da nich’ dran. Fragen Sie mal Bill Merchant oben in der Futterhandlung von Dulverton. Dem schuldet Took Tausende, aber er macht nie Stunk, also kann der die Kohle abschreiben. Ehe Sie sich’s versehen, behauptet Took, er wär bankrott, und wir finden raus, dass alles auf den Namen seiner Freundin läuft oder irgend so’n Quatsch, und wo bleiben wir dann? Dann sind wir am Arsch, genau da sind wir.«

Haddon hielt inne. Er sah aus, als wäre er erstaunt über seine eigene Beredsamkeit, und starrte erst Rice, dann Reynolds und dann wieder Rice an – forderte sie heraus, seine Worte anzuzweifeln.

Das konnten sie nicht.

»Sie haben also keine Ahnung, wo Jess Took sein könnte?«, erkundigte sich Reynolds ein wenig schwach.

Haddon sah aufrichtig überrascht aus. »Sie glauben, ich hätt’ mir seine Kleine geschnappt, damit er zahlt?«

»Das ist bloß eine Routinefrage, Mr Haddon.«

Haddon furchte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich doch nich’«, sagte er. »Aber ich sag Ihnen was – ich wette, das würde verdammt noch mal funktionieren.«

Alle vier weniger offenkundig bedrohlichen Gläubiger waren zwar empört, schienen sich jedoch damit abgefunden zu haben, dass sie auf ihr Geld würden warten müssen.

»Andere Gläubiger haben Mr Took gedroht«, sagte Reynolds zu Wilf Cooper, der Took Holz im Wert von neunhundert Pfund geliefert hatte, um seine Reitbahn zu reparieren.

Cooper lächelte. »Die Mafia is’ nicht nötig. Ich hab kleine Mahnverfahren gegen ihn eingeleitet, so mach ich’s mit all meinen säumigen Kunden. Ein Monat Warten, ein Brief, und dann kriegen sie den Mahnbescheid. Er bezahlt jetzt oder irgendwann später; da mach ich mir keine Sorgen. Bei Männern wie dem passiert das andauernd.«

»Was meinen Sie mit ›Männer wie dem‹?«, wollte Rice wissen.

»Männer, die sich scheiden lassen und sich ’ne jüngere Freundin zulegen. Plötzlich fangen sie an, Geld auszugeben, als gäb’s kein Morgen. Tooks Freundin – wie heißt die gleich noch?«

»Rebecca«, sagte Reynolds.

»Rachel«, sagte Rice.

»Jep, also, egal, sie will reiten, versteh’n Sie? Keine Jagden oder so – was ja vernünftig wär, wo er doch Master is’ –, sondern Turniere, Dressur und so. Also muss er plötzlich ganz neue schicke Pferde für sie anschaffen und ’n ganz neuen schicken Sattel, und er muss ’n Reitplatz bauen und ’n Reitlehrer anheuern und bla, bla, bla, versteh’n Sie? Nur damit sie weiter mit ihm vögelt und so tut, als ob sie’s toll findet. ’Tschuldigung, Miss.«

Rice tat es mit einem Achselzucken ab.

»Und es sind nich’ nur die Pferde«, fuhr Cooper fort. »Ha’m Sie gesehen, was der jetzt anhat? Kommt vor’n paar Monaten auf’n Hof und hat Cowboystiefel an!« Er lachte bei der Erinnerung. »Versucht, auf jung zu machen, versteh’n Sie? Und versucht, auf reich zu machen. Das wird ’ne Weile klappen, denke ich. Und dann nich’ mehr, und er wird die Dressurpferde verkaufen und den Reitlehrer feuern, und das Mädchen wird ihn sitzen lassen, und alle werden bezahlt. So läuft so was.«

Cooper wirkte so umgänglich, dass Reynolds nicht ganz klar war, wieso er überhaupt auf der Liste stand.

»Wer weiß?«, meinte Cooper mit einem ausladenden Schulterzucken. »Took is’ ’n echt gestörter Trottel.«

Zu sowohl Reynolds’ als auch Rices Überraschung war die neunte Person auf Tooks Liste kein Gläubiger. Es war Jonas Hollys alte Nachbarin Mrs Paddon.

»Die muss doch mindestens achtzig sein«, meinte Rice. »Wieso ist die denn sein Feind?«

»Er hat gesagt, sie hätte eine Kampagne für die Auflösung des hiesigen Jagdvereins angeführt.«