Mädchenbeute - Belinda Bauer - E-Book

Mädchenbeute E-Book

Belinda Bauer

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Beschreibung

»Ruf deine Mutter an.« – »Was soll ich sagen?« – »Sag ihr Auf Wiedersehen.«

Die zehnjährige Ruby lebt mit ihren Eltern in Limeburg, einem beschaulichen Ort an der Küste von Devonshire. Das Dorfleben geht seinen Gang – bis albtraumhafte Vorfälle die Bewohner in Angst versetzen: Zwei junge Frauen werden kurz hintereinander überfallen. Der Unbekannte zwingt sie, sich auszuziehen und ihre Mütter anzurufen, um Lebewohl zu sagen. Bald schon folgt das erste Todesopfer – doch die Polizei tappt im Dunkeln. Rubys Vater beschließt, auf eigene Faust für Ordnung zu sorgen. Für Ruby klingt es wie ein großes Abenteuer: Sie darf ihn begleiten auf seiner Mörderjagd. Doch was, wenn der Killer schneller ist?

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Die zehnjährige Ruby lebt mit ihren Eltern in Limeburn, einem beschaulichen Ort an der Küste von Devonshire. Das Dorfleben geht seinen Gang – bis albtraumhafte Vorfälle die Bewohner in Angst versetzen: Zwei junge Frauen werden kurz hintereinander von einem Unbekannten mit einer Skimaske überfallen. Der Mann zwingt sie, sich nackt auszuziehen und ihre Mütter anzurufen, um Lebewohl zu sagen. Beiden gelingt die Flucht – doch bald schon folgt das erste Todesopfer. Die Polizei ermittelt, tappt aber im Dunkeln. Eine »Bürgerwehr« gründet sich, und Rubys Vater beschließt, auf eigene Faust für Ordnung zu sorgen. Für Ruby klingt es wie ein großes Abenteuer: Sie darf ihn begleiten auf seiner Mörderjagd. Doch was, wenn der Killer schneller ist?

BELINDA BAUER

Mädchenbeute

Psychothriller

Aus dem Englischenvon Marie-Luise Bezzenberger

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Facts of Life and Death« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, London

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung März 2015

Copyright © der Originalausgabe

2014 by Belinda Bauer

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign, München, unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/NTB scanpix

Redaktion: Alexander Behrmann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15672-5V004

www.manhattan-verlag.de

All meinen Schwestern und meinem heimlichen Bruder

1

Den ganzen Sommer hatte es nicht aufgehört zu regnen, und der schmale Bach, der Limeburn teilte, war tiefer, als Ruby Trick es in den zehn Jahren ihres Lebens jemals erlebt hatte.

Der Graben am Grund der Schlucht war normalerweise dreißig Zentimeter tief mit plätscherndem, gurgelndem Wasser gefüllt. Genug, um nasse Knie zu kriegen, aber keinen nassen Schlüpfer.

Dieser Sommer jedoch war anders. In diesem Sommer hatte die Sonne immer nur verlegen durch kurze Lücken in den schmutziggrauen Devonshire-Wolken geschienen, und der Bach floss schnell und tief und dunkel dahin. Und obgleich Adam Braund immer noch von einem Ufer zum anderen springen konnte, wenn er Anlauf nahm, scharten sich die Kinder alle zusammen, um zuzuschauen, denn wenn er jetzt hineinfiel, könnte er vielleicht sogar ertrinken.

Die Zufahrtsstraße, die sich steile anderthalb Kilometer weit durch den Wald zur Hauptstraße hinaufwand, spiegelte stets vor Nässe, während das Kopfsteinpflaster zwischen den kleinen Häusern, die am dichtesten an der Helling standen, die ganze Zeit seinen grünen Winterglanz behielt. Die Bäume, die Limeburns gut zwanzig Häuser in die gierige See am Fuß der Klippen zu drängen drohten, wurden überhaupt nicht mehr trocken. Blätter tropften, selbst wenn der Himmel es nicht tat; das Bachwasser schoss wie aus einem Feuerwehrschlauch über die Klippe, und die steilen, unbefestigten Wege, die sich von Limeburn aus durch den Wald zogen, waren nichts anderes als lebensgefährliche Rutschbahnen.

Nicht dass sich irgendjemand davon abhalten ließ, versteht sich.

Es gab nur fünf Kinder im Dorf, daher waren sie gezwungen, miteinander zu spielen, genauso, wie sie gezwungen waren, an diesem feuchten Ort zu leben, der nach Seetang roch.

Chris Braund war mit dreizehn der Älteste. Sein Bruder Adam war ein Jahr jünger, aber ein Jahr größer. Die Braunds stammten von Seeleuten der Armada ab, die in England angeschwemmt worden waren, und sie sahen alle aus wie Zigeuner. Dann kam Ruby mit ihrem roten Haarschopf, danach die siebenjährige Maggie Beer und ihre zwei Jahre alte Schwester Em, die sie alle ständig aufhielt. Beide waren klapperdürr und so blass, dass sie fast durchsichtig wirkten. Maggie musste auf Em warten, die Jungen gingen vor, und Ruby stand immer irgendwie dazwischen.

Im Westen durften sie den Weg durch den Wald bis zu dem gemauerten Zauntritt hinaufgehen. Dort schaute auf einer kleinen Lichtung eine Bank an den Klippen durch einen belaubten Rahmen auf den schwarzen Kiesstrand hinaus und bis zum Gore hinüber. Der Gore war ein schmaler, flacher Felsspieß, der hundert Meter weit in die Wellen hineinragte, ehe er abrupt abknickte und zu Ende war. Es hieß, der Teufel hätte versucht, eine Brücke nach Lundy Island hinüber zu bauen, wäre damit jedoch gescheitert, als seine Schaufel kaputtgegangen war.

Ruby mochte den Gore nicht, und die Geschichte auch nicht.

Wenn sie die hörte, musste sie immer überlegen, wo der Teufel jetzt wohl war.

Von einer alten Eiche neben der Bank hing eine ausgefranste Tauschlinge herab, an der sie schaukeln konnten – wenn sie sich gern die Handflächen wundscheuern und im Schlamm landen wollten. Trotzdem schaukelten sie meistens doch, denn etwas anderes gab es hier nicht zu tun.

Manchmal kletterten Chris und Adam über den Zauntritt und gingen den Pfad weiter hinauf. »Bis ganz nach Clovelly!«, hatte Chris ein paar Mal geprahlt, doch als Ruby ihn gebeten hatte, ihr einen Spielzeugesel aus dem Besucherzentrum mitzubringen, hatte er behauptet, die hätten da keine mehr gehabt.

Ruby ging nie weiter als bis zum Zauntritt. »Bis dahin und nicht weiter«, hatte ihre Mutter sie gewarnt. Zum Teil darum. Und zum Teil auch, weil der Wald hinter dem Zaun selbst an einem sonnigen Tag zu dunkel und zu still war – ein grüner Tunnel, an dessen einem Ende ein unsichtbarer Abgrund drohte und an dessen anderem verschlungenes Unterholz aufragte.

Die Feen im Wald würden einen im Kreis herumführen, wenn sie konnten – sogar über den Rand der Klippe hinaus. Man musste seinen Mantel umkrempeln, das Innere nach außen, um sie sich vom Leib zu halten.

Am Fuß des Pfades nach Clovelly war eine kleine Steinhütte, die die Form eines Bienenkorbs hatte. Sie wussten nicht, wozu sie da war, aber sie nannten sie die Bärenhöhle, weil sie selbst dann nach Bären roch, wenn es nicht regnete. Die Kinder quetschten sich abwechselnd durch die winzige Tür und saßen im Dunkeln, solange sie es aushielten, die hochgezogenen Knie unter dem Kinn.

Adam hielt den Rekord, eine halbe Ewigkeit.

Der Weg nach Peppercombe im Osten war sogar noch steiler – ein Serpentinenpfad aus Matsch und mit Holzbohlen als behelfsmäßigen Stufen zwischen dornigen Brombeerranken.

Auf halber Höhe war das Spukhaus, da durften sie nicht hin. Sie verbrachten viel Zeit dort, stöberten in der Asche im Kamin und schmissen bei Ebbe Glasscherben aus den leeren Fenstern, um sie dreißig Meter tiefer auf die nassen Kiesel klirren zu hören. Jedes Jahr ragte der wurmstichige Holzboden weiter und weiter über die abbröckelnde Steilküste hinaus. Es gab da eine Stelle, wo Ruby sich ausstrecken konnte, das Auge an ein Astloch im Boden gedrückt; dort war nichts zwischen ihr und dem dunkelgrauen Meer.

Es war wie Fliegen.

Oder wie Fallen.

Ruby Trick wohnte in einem winzigen Drei-Zimmer-Cottage. Es gehörte einer Familie in London, die es gekauft und »The Retreat« – Zuflucht – getauft hatte und dann der Ansicht gewesen war, es sei zu weit weg, zu trostlos und zu feucht, um dort Zuflucht zu suchen, und sei es nur einmal jeden Sommer. Also hatten sie das Häuschen vermietet, bis sie es gewinnbringend verkaufen konnten.

Daraus würde nie etwas werden. Das Cottage abzureißen und wiederaufzubauen würde weniger kosten, als es instand zu setzen. Rubys Vater John Trick hämmerte Restholzstücke in zugige Fensterrahmen und klatschte Spachtelmasse in die immer breiter werdenden Risse in den Wänden, doch das Haus führte jedes Jahr einen aussichtslosen Kampf gegen die Natur.

Der Wald wollte sie hier nicht haben – das war Ruby sonnenklar. Während Clovelly ihn mit Größe und Industrie – und letzten Endes mit brutalem Tourismus – auf Distanz hielt, war ihm Limeburn einfach nur im Weg. Der Bach und die Straße und die dünne Häuserreihe würden nie ausreichen, um die Bäume auf dieser Seite des Kars davon abzuhalten, sich denen auf der anderen Seite anzuschließen. Es war bloß eine Frage der Zeit. Die Vorhut war bereits da. Farne sprossen wie kleine grüne Seesterne aus Steinmauern, während sich Rhododendren und Hortensien gegen Hintertüren drängten und rückseitige Fenster überwucherten. Und noch während die Bäume ihre Äste an Beile und Kettensägen verloren, wühlten sie hinterhältige Wurzeln unter den feindlichen Linien hindurch, brachen durch Wasserleitungen, lockerten Fundamente und brachten Wände aus dem Lot. Im Rock Cottage hatte sich der Wohnzimmerboden emporgewölbt und war schließlich gesplittert, so dass eine Eichenwurzel zum Vorschein gekommen war, so dick wie das Bein eines erwachsenen Mannes. Sie waren alle hingegangen, um sie anzuschauen, und hatten der alten Mrs Vanstone geholfen, die Möbel darum herum neu aufzustellen.

John Trick sagte immer, es gäbe Dinge, die ließen sich nun mal nicht aufhalten. Die Häuser weiter oben am Hügel waren bereits vom Wald verschluckt worden; ihre steinernen Kamine wurden jetzt vom Regen umspült, und sie beherbergten nur noch Spinnen und dicke Kröten, während die Häuser, die noch übrig waren, nirgendwohin ausweichen konnten außer ins Meer, das sich erbarmungslos in die Klippen unter ihnen fraß.

Die lange, gebogene Helling lockte das Wasser ins Dorf hinauf, und manchmal kam es auch. Bei Frühlingshochwasser und bei Sturmflut wurden hinter Holzplatten Sandsäcke dicht an dicht in die Türöffnungen gepackt, und die Leute nahmen ihre Erbstücke und Fernseher mit nach oben ins Bett, nur für alle Fälle.

Tagsüber war es leicht zu vergessen, dass die Bäume und das Meer auf der Lauer lagen. Tagsüber spielten die Kinder im Wald und stiegen vorsichtig über die riesigen Kiesel am Strand, um in den Felsenteichen umherzuwaten.

Nachts jedoch konnte Ruby fühlen, wie die Gezeiten an ihrem Bauch zerrten, während der Wald das Cottage prüfend abtastete, an den Fensterscheiben quietschte und auf die Fliesen klopfte.

Und sie überlegte, wie das wohl sein würde – wenn die Außenwelt schließlich nach innen durchbrach.

2

John Trick fuhr sie zur Hauptstraße hinauf, damit sie den Bus nehmen konnten – Ruby bis nach Bideford und ihre Mutter nur bis zu dem Hotel, aus dem sie so leckere Essensreste mitbrachte, dass Ruby manchmal mitten in der Nacht aufstand, um sie aufzufuttern.

Ihr Auto, einst weiß, war jetzt voller Rost. Anscheinend hasste es sie genauso sehr wie der Wald, und manchmal sprang es nicht an. Wenn doch, hustete und stotterte es die ganzen gewundenen anderthalb Kilometer lang.

Die Bergauffahrt von Limeburn zur Hauptstraße war wie eine Achterbahn. Ruby war einmal auf dem Jahrmarkt in Bideford gewesen. Die Achterbahn war nicht groß gewesen, aber groß genug, dass sie es mit der Angst zu tun bekommen hatte, und die Fahrt hatte ganz genauso angefangen – mit einem knirschenden, langsamen Anstieg, der von unten aus nach gar nichts aussah, der sich aber, als sie erst einmal in dem kleinen Wagen gesessen hatte, so steil anfühlte, dass sie dachte, sie würden gleich hintenüberkippen.

Sie waren immer angespannt, wenn sie im Auto saßen, und warteten darauf, dass es den Geist aufgab. Ihr Vater hockte geduckt hinter dem Lenkrad, und ihre Mutter umklammerte ihre Tasche auf ihrem Schoß, während Rubys Finger schmerzten, weil sie sie so fest um die Kopfstütze krallte. Sie beugten sich alle nach vorn, als würde das helfen, während das Auto unter einem düsteren, grünen Blätterdach in klemmenden Gängen um Haarnadelkurven zuckelte.

Auf halbem Weg war ein Stall, der aus einem alten Eisenbahnwaggon gebaut worden war, mit einem winzigen, matschigen Pferch daneben. Es standen nie irgendwelche Tiere darin, aber Ruby schaute trotzdem jedes Mal nach.

»Da stelle ich mein Pferd rein«, verkündete sie fünf Tage die Woche.

»Wie willst du es denn nennen?«, fragte ihr Vater jedes Mal.

»Kommt drauf an«, erwiderte Ruby, »auf die Farbe und auf sein Wesen.«

»Und wenn es schon einen Namen hat?«, wandte ihre Mutter ein. »Den kannst du doch nicht ändern.«

Ruby zog die Stirn kraus. Daran hatte sie nicht gedacht.

»Sie kann’s doch nennen, wie sie will, nicht wahr, Rübchen?«, sagte ihr Vater in den Rückspiegel. Dann schüttelte er den Kopf und brummelte: »Spielverderberin.«

Es gefiel Ruby, wenn Daddy Mummy zurechtwies. Mummy bildete sich ganz schön was ein, mit ihrem schicken Job in dem Hotel und ihrer schicken Köchinnenkluft. Angeben, nannte Daddy das.

Sie kamen an der steinernen Kapelle vorbei, wo dichter Efeu die Gräber miteinander verflocht, und tauchten dann aus dem Schutz der Bäume ins Tageslicht empor, gleich neben dem kleinen Laden, wo Ruby immer ihr Taschengeld ausgab. Ein Schild versprach Eis – allerdings war die Kühltruhe immer voller Fischstäbchen und Tiefkühlerbsen –, und in einem Drahtkäfig an der Tür hing die Schlagzeile der Lokalzeitung an der Wand. Sie änderte sich einmal die Woche, oder wenn Mr Preece eben daran dachte. Heute waren 1000 WOHNHÄUSER VON HOCHWASSER BEDROHT.

Das Auto hielt ruckelnd an, und sie stiegen aus. Ruby musste warten, bis Mummy ausgestiegen war, weil es nur zwei Türen gab. An der Bushaltestelle konnte sie bereits eine kleine Kinderschar sehen. Die Gruppe teilte sich in Die-von-oben – von den Höfen und aus den Dörfern oben auf den Klippen – und Die-von-unten, aus den Küstenorten an den Stränden und im Wald. Die von oben hatten WiFi und Ponys; die von unten stapelten bei Hochwasser Sandsäcke vor ihre Türen, und ihre Haare waren ständig salzverklebt.

Bevor sie die Tür zuschlug, bückte Mummy sich noch einmal und schaute wieder ins Auto. »Kannst du versuchen, das Badezimmerfenster hinzukriegen, John?«

Ruby verdrehte die Augen. Andauernd machte Mummy Stress wegen dem Fenster! Warum machte sie es denn nicht selbst heil, wenn es sie so störte?

»Wenn ich Zeit habe«, antwortete Daddy.

»Was hast du denn sonst zu tun?«, fragte Mummy, und Daddy beugte sich herüber und zog die Tür zu. Dann wendete er den Wagen in einem stockenden Kreis und tauchte unter den Bäumen ab.

Die Kinder von oben warteten, bis ihre Mutter aus dem Bus gestiegen war, bevor sie Ruby »fettes Schwein« und »rothaarige Hackfresse« nannten und ihr auf die schwarzen Schuhe und die weißen Strümpfe traten, bis alles ganz dreckig war.

John Trick war neunundzwanzig und hatte seit drei Jahren nicht mehr gearbeitet.

Früher war er Schweißer auf der Werft gewesen, und als es nichts mehr zu schweißen gegeben hatte, hatte er als Gerüstbauer gearbeitet, und als es keine Gerüste zu bauen gab, hatte er sich als Gelegenheitsarbeiter verdingt. Und als es keine Gelegenheitsarbeit mehr gab, hatte er angefangen, gar nichts zu tun.

Dann hatte er so lange gar nichts getan, dass er sich allmählich daran gewöhnt hatte, bis Gar Nichts schließlich das neue Irgendwas geworden war.

Das neue Irgendwas bestand aus der Fahrt den Hügel hinauf und zurück und aus Frühstück vor dem Fernseher. Es bestand aus Treibholzsuchen am Strand und daraus, Napfschnecken als Köder zu sammeln. Es bestand aus einem Sixpack Strongbow, das in einem Felsenbecken kaltgestellt war, und daraus, wie ein gestrandeter Schiffbrüchiger ins Meer zu pissen.

Nach einer Weile fragte er sich, wie er jemals Zeit für einen Job gefunden hatte.

Und an Tagen wie diesem passte ihm das sehr gut. Der morgendliche Regen hatte aufgehört, und die Wolkendecke war dünner geworden, so dass sie das Sonnenlicht lediglich verwässerte, anstatt es vollständig abzuhalten – eine Erinnerung daran, dass irgendwo da oben der Sommer so war, wie er sein sollte. In der geschützten Felsenbucht war es immer wärmer als oben auf den Klippen, und die Feuchtigkeit war bereits in dünnen Dampfschwaden auf dem Rückweg vom Land zum Himmel.

Durch billige Ohrhörer sangen Johnny Cash und Willie Nelson ihm etwas von richtigen Männern vor, und von den Frauen, die sie schlecht behandelten. Manchmal – wenn es windig war – sang er mit.

Kurze Liedfetzen, die von der Gischt davongetragen wurden.

Er hatte ein halbes Dutzend Napfschnecken gesammelt, und jetzt holte er mit dem Taschenmesser eine davon aus ihrem Gehäuse und steckte sie an den Haken. Die Außenhaut war zäh, und das Tier pulsierte zwischen seinen Fingern, als er die Widerhaken durch seinen Leib schob.

Er warf die Angel aus und spürte, wie das Gewicht am Ende den Grund berührte, dann holte er die Schnur ein, bis sie unter Spannung stand, und ließ sich auf seinem alten Campingstuhl aus Nylonstoff nieder.

John angelte meistens am Gut, einer nahezu viereckigen Wunde im Fels, die vor zweihundert Jahren mit Schießpulver dort hineingesprengt worden war, damit die Schiffe hier ihre Fracht aus Kalk und Anthrazit löschen konnten. Die Öfen, wo der Kalk gebrannt worden war, waren noch da, zu beiden Seiten der Helling in die Ufermauer gebaut – über zwölf Meter hohe, festungsartige Steinöfen, in denen jetzt Ratten und Möwen hausten. Durch deren Scheiße waren sie so versaut, dass nicht einmal die Kinder dort spielten.

Makrelen waren sein häufigster Fang, gleich danach kamen Weißfische. Beide schmeckten gut, und wenn er sich die Mühe machte, sich bis zum Ende des glitschigen Gore vorzutasten, konnte er Aale fangen, so lang wie sein Arm, und Dornhaie. Felsenlachse wurden die in Nobelrestaurants genannt, und manchmal rief Alison Mr Littlejohn im Hotel an, und der sagte dann Ja oder Nein. Wenn er Ja sagte, gab er Trick einen Zehner pro Fisch. Dann zerschnitt er sie in jeweils acht dicke Steaks, die er für zwanzig Pfund pro Stück vertickte.

John schnaubte an seiner selbstgedrehten Zigarette vorbei. Hundertsechzig Piepen für einen Fisch, den er gefangen und den seineFrau zubereitet hatte. Er verstand nicht, wie Mr Littlejohn nachts schlafen konnte, dieser miese, alte Dieb.

Er hätte die Dornhaie auch dem Red Lion in Clovelly verkaufen können, doch er fuhr nie nach Clovelly, obwohl er es von hier aus sehen konnte, auf der anderen Seite der flachen Wölbung der Bucht. Clovelly war der Lieblingssohn und Limeburn der ungeliebte Kümmerling, und keines der beiden Dörfer vergaß das jemals.

Das grellgelbe Rutenende vibrierte, und er spannte sich tatbereit an. Doch die Spitze schnellte wieder zurück, zeigte mit einem zitternden Finger himmelwärts.

John ließ sich wieder zurücksinken.

Verdammte Krabben.

Irgendwann würde er die Schnur einholen, den Köder überprüfen und es woanders noch mal versuchen, doch das schien ihm eine Menge Arbeit zu sein, wo doch die Luft so warm war und der Cider so kühl.

John schloss die Augen und wartete.

Er schlief ein.

An diesem Abend ging der Streit wegen dem Fenster wieder los. Erst wegen dem Fenster, dann darum, wie viel der neue Reifen am Auto gekostet hatte, dann wegen der Schweinerei, die Daddy beim Putzen der Fische im Spülbecken veranstaltet hatte. Ruby ging ins Nebenzimmer, bevor der Job drankam.

Immer wenn der Streit anfing, ging es am Ende um den Job.

Dazu kam es auch ohne sie.

3

Miss Sharpe schrieb zwei Worte auf das Whiteboard, und Ruby übertrug sie sorgfältig auf den Einband ihres brandneuen, blauen Heftes.

Mein Tagebuhc.

»Ihr solltet jeden Tag Tagebuch schreiben«, sagte Miss Sharpe, begleitet vom Aufstöhnen der Jungen. Sie legte den Filzstift weg und ging zwischen den Tischen hindurch. Ruby hatte es gern, wenn Miss Sharpe herumlief, das machte es Essie Littlejohn nämlich schwerer, sie mit dem Bleistift zu pieken. Essies Daddy gehörte das Hotel, wo Mummy arbeitete, und Ruby konnte sie nicht ausstehen, mit ihren großen Ohren und ihren tollen Wachsmalkreiden und ihren Blähungen von all dem Nobelessen.

»Alles, was ihr tut, und alle Gedanken, die euch durch den Kopf gehen«, fuhr Miss Sharpe fort. »All eure geheimen Träume und eure Pläne für die Zukunft.«

Ruby sah, dass sie ganz hellen Perlmuttlack auf ihren kurzen Fingernägeln hatte. Ruby durfte sich die Nägel nicht anmalen, weil so was nur Schlampen machten, aber Miss Sharpe sah gar nicht aus wie eine Schlampe. Sie hatte hässliches braunes Haar und war überhaupt nicht geschminkt, und der einzige Schmuck, den sie trug, war ein Armband, an dem kleine Glücksbringer klingelten, darunter auch ein silbernes Hufeisen. Ruby fand das Hufeisen toll, und Miss Sharpe infolgedessen auch, deshalb war ihr nicht klar, wie Miss Sharpe eine Schlampe sein könnte. Vielleicht war Nagellack ja nur etwas Schlampiges, wenn es eine French Manicure war, wie bei den Mädchen aus dem College, die immer im Bus rauchten.

Miss Sharpe sah, dass Ruby ihre Glücksbringer betrachtete, und lächelte ihr schiefes Lächeln. Sie war erst seit Beginn des Schuljahres hier, also hatte sie noch keine Zeit gehabt, unglücklich zu werden.

David Leather meldete sich und fragte, ob er über seine Milchflaschen-Sammlung schreiben könne, und Shawn Loosemore erkundigte sich, ob er darüber schreiben dürfe, wie er David Leathers Michflaschen-Sammlung zertrümmerte, und alles lachte – außer David und Miss Sharpe, die in die Hände klatschen musste, damit alle still waren.

»Natürlich, David. Über Hobbys, oder darüber, was du am Wochenende gemacht hast, oder was du dir zum Geburtstag wünschst, oder über deine Haustiere. So ähnlich wie Facebook, aber nur für die 5B. Und dann«, setzte sie hinzu, »können diejenigen, die das möchten, ihre Tagebücher im Unterricht vorlesen, und wir erfahren etwas über …«

Es klingelte, und Miss Sharpe musste lauter sprechen, um das Stühlescharren zu übertönen.

»… den Alltag der anderen! Schönes Wochenende!«

Ruby stopfte Mein Tagebuhc in ihrenPlüschrucksack, der aussah wie ein Pony, dann zottelte sie hinter den anderen her aus dem Klassenzimmer.

Die anderen Kinder interessierten sich ganz bestimmt nicht für sie oderihren Alltag.

Es aufzuschreiben, würde daran nichts ändern.

Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Cowboy.

Der Cowboy-Abend war der schönste Abend der Woche.

Am Cowboy-Nachmittag stieg Ruby immer aus dem Bus und ging in den Laden, um unter Mr Preeces misstrauischem Blick ihr Taschengeld auszugeben. Sie mochte Mr Preece nicht, dem kräuselten sich nämlich Haare aus den Ohren, und seine Augen sahen hinter der dicken Brille viel zu groß aus. Jeden Freitag brauchte sie eine Ewigkeit, um sich immer dieselben zwei Dinge zu kaufen: ein Mars und Pony & Rider, das gönnte sie sich immer für die Woche.

Wenn sie bei der kleinen Kapelle ankam, hatte sie das Mars immer schon aufgegessen.

Pony & Rider hielt länger, und Ruby schlenderte den Hügel hinunter und beneidete die hübschen Mädchen mit den langen Beinen, die um die Flanken makellos geputzter Ponys gelegt waren. Sie hielt Ausschau nach schönen Bildern, die sie ausschneiden und über ihr Bett hängen könnte, bis sie wegen des dürftigen Lichts, das im Wald herrschte, nicht mehr genug sehen konnte. Dann beeilte sie sich den Rest des Weges nach Limeburn und ließ sich von der Schwerkraft nach Hause tragen.

Daddy saugte sich Spaghetti in den Mund, in langen Schlangen, die bis zum Teller hinabreichten, und Ruby tat es ihm nach, aber Mummy schimpfte »Ruby!«, und sie musste damit aufhören. Mummy wickelte ihre Spaghetti immer um die Gabel, so dass es sich anfühlte, als schiebe man sich ein nasses Wollknäuel in den Mund. Das machte nicht mal halb so viel Spaß.

»Mmm«, meinte Dad, »das war lecker, vielen Dank.« Er lehnte sich zurück und spielte auf seinem Bauch Trommel. Manchmal musste Ruby raten, welches Lied er spielte.

»Mehr?«, fragte Mummy.

»Ja, bitte.« Er reizte einen Rülpser bis zum Äußersten aus, und Ruby kicherte. Daddy konnte »Bulawayo« sagen, bevor er fertig gerülpst hatte. Er lachte auch; am Cowboy-Abend hatte Daddy immer gute Laune.

Mummy stand auf und ging zum Herd. Daddy sah ihr die ganze Zeit zu. Als sie mit der zweiten Portion zurückkam, fragte er: »Wofür sind die denn?«

»Was?«

»Neue Schuhe.«

Mummy schaute nach unten, als wäre sie ebenfalls überrascht.

»Ach«, sagte sie und strich sich das Haar hinters Ohr.

Ruby beugte sich von ihrem Stuhl, um die Schuhe zu sehen. Mummy trug immer flache Schuhe, weil sie zu groß war. Die da waren alles andere als flach und hatten jede Menge dünne Riemchen. Sie sahen aus wie die Schuhe, die die Models in Zeitschriften anhatten.

»Mum hat mir zum Geburtstag Geld geschenkt«, sagte Mummy. »Du weißt doch.«

»Das ist doch Monate her.«

»Ich hatte keine Zeit, Schuhe kaufen zu gehen.«

»Bisschen hoch, oder?«, bemerkte Daddy.

Mummy schaute unter den Tisch auf ihre Füße. »Sie sind wirklich ein bisschen höher, als sich’s im Laden angefühlt hat. Ich dachte nur, es wäre schön, ein gutes Paar Schuhe zu haben, falls …«

Sie verstummte.

»Falls was?«, fragte Ruby.

»Falls wir mal ausgehen«, meinte Mummy achselzuckend.

Daddy saugte die neuen Spaghetti ein.

»Kann ich auch noch mehr Spaghetti haben?«, erkundigte sich Ruby.

»Wie heißt das Zauberwort?«, gab Mummy zurück.

»Bitte.«

»Hast du immer noch Hunger?«, fragte Mummy. »Das war eine ganz schön große Portion für ein kleines Mädchen.«

»Lass sie doch essen, wenn sie Hunger hat«, knurrte Daddy.

»Ich hab wirklich Hunger«, beteuerte Ruby.

»Siehst du?«

Mummy schürzte die Lippen, und Ruby war sauer, weil solche Gesichter sie immer daran erinnerten, dass sie dick war. Nicht fett wie David Leather, dessen Beine beim Laufen so sehr aneinanderrieben, dass seine Schulhose immer durchgescheuerte Stellen hatte, aber dick genug, dass ihr Rock- und Hosenbünde und Spiegel verhasst waren. Daddy meinte, das sei Babyspeck und so was sei niedlich, aber Ruby wusste, dass das nicht stimmte.

Mummy stand auf, holte den Topf und tat noch ein paar Spaghetti auf Rubys Teller. Sie setzte sich nicht wieder hin, sondern blieb stehen und schaute auf die Küchenuhr.

»Also«, sagte Daddy und schaute ebenfalls auf die Uhr. »Für was für einen besonderen Anlass sind die denn nun?«

»Für gar keinen«, erwiderte Mummy. »Ich dachte nur, ich ziehe sie heute Abend an, um Mum zu zeigen, was ich mir von ihrem Geld gekauft habe, das ist alles.«

Ruby wickelte die Spaghetti auf ihrem Teller um die Gabel. »Die sind zu hoch, Mummy«, sagte sie. »Damit fällst du auf dem Kopfsteinpflaster bestimmt hin.«

»Und brichst dir den Knöchel«, stimmte Daddy ihr zu.

Mummy starrte ihre Füße an und biss auf ihrem Daumennagel herum. Der Nagel war schon ganz kaputt, und sie machte jeden Tag ein frisches blaues Pflaster darum, wenn sie zur Arbeit ging.

Daddy schob seinen Stuhl zurück, und Ruby saugte den letzten Mundvoll Spaghetti ein und sauste hinter ihm her die Treppe hinauf, um ihm beim Umziehen zuzusehen.

Ruby liebte Daddy jeden Tag, am Cowboy-Abend jedoch liebte sie ihn noch mehr, mit seinen schwarzen Sachen und dem schwarzen Hut und den unechten Messingpatronen, die an seiner Taille schimmerten.

Cowboys war das Spiel, das sie im Wald am liebsten spielte, auch wenn sie keinen Hut hatte und keine Stiefel und keinen Revolvergurt. Sie hatte Stöcke, die wie Pistolen geformt waren und die sie in die Taschen ihrer Jeans steckte, als wären die ein Revolverhalfter.

Daddy rückte seinen schwarzen Stetson zurecht, so dass er tief über den Augen saß, dann zog er die unterste Schublade auf. Ruby reckte den Hals, um zu sehen, was daraus hervorkam, denn sie durfte die Schublade nicht aufmachen. Daddys Cowboysachen durfte sie nicht anfassen.

Es war der schmale texanische Schlips mit dem Rinderschädel aus Türkis und den Silberspitzen unten an den Schnurenden. Daddy trat vor den fleckigen Spiegel, der innen an der Schlafzimmertür hing, und zog ihn sich über den Kopf, dann setzte er den Hut wieder auf – und vergewisserte sich vor dem Spiegel, dass er genau richtig saß.

»Wow!«, stieß Ruby hervor.

Er grinste und tippte an die Hutkrempe.

»Schön’ Dank auch, Miss Ruby«, knarzte er, so dass sie kichern musste.

Dann setzte er sich aufs Bett und zog seine Cowboystiefel an. Schwarz, mit schicken, weißen Stickereien. Mummy hatte sie in einem Second-Hand-Laden gefunden, aber sie passten wie angegossen.

»Du brauchst Sporen«, stellte Ruby fest.

»Meinst du wirklich?«

Natürlich meinte sie das wirklich, er hatte es schließlich schon oft genug gesagt.

»Mummy hat neue Schuhe«, bemerkte sie.

»Na ja.« Daddy zuckte die Achseln, sagte aber nichts weiter.

Ihr Vater sprach es zwar nie direkt aus, doch sie wussten beide, dass sie alle Sachen haben würden, die sie sich wünschten, wenn die Arbeit ihrer Mutter nicht so saisonabhängig wäre. Während der Urlaubssaison arbeitete sie fast jeden Abend, und manchmal auch tagsüber. Im Winter nur an den Wochenenden, und dann aßen sie so viel Fisch, dass Rubys Kopfkissen richtig danach roch.

Daddy zog die Schublade noch mal auf und holte den Revolvergurt aus schwarzem Leder heraus. Er legte ihn sich locker um die Taille, so dass das Halfter ganz tief an der Hüfte hing.

»Darf ich’s festbinden?«, bat Ruby und kniete sich neben sein Bein.

Es war schwierig, das Lederband zu einem Knoten zu schlingen, und es wurde eine lockere halbe Schleife daraus.

»Gut gemacht, Süße.«

Ruby lächelte strahlend zu ihm auf. »Klar doch, JT.« Dabei versuchte sie sich an seinem Akzent, doch der wand sich um ihre Zunge, und die Worte kamen als eine Art Miauen hervor.

Früher hatte Daddy mal einen Revolver am Gürtel getragen. Keinen echten, aber das war egal – die Regierung hatte verfügt, dass alle Gunslingers ihre Waffen abgeben mussten, bloß weil irgend so ein Blödmann irgendwo ganz weit weg auf irgendwelche Leute geschossen hatte. Und der Mann war noch nicht mal ein Cowboy, das war also richtig unfair.

Aber auch ohne Revolver fand Ruby irgendetwas an Daddys Hut und seiner Cowboystimme und seinem unrasierten Kiefer immer auf eine Art und Weise aufregend, für die sie keine Worte wusste. Er sah aus wie ein Filmstar. Sogar die blassen Narben, die sich durch seine rechte Augenbraue und über die Wange bogen, sahen am Cowboy-Abend gut aus. Ruby fand, dass er damit fast noch besser aussah. Gefährlicher.

»John?«, rief ihre Mutter von unten. »Es ist Viertel nach.«

Daddy sah Ruby an und verdrehte die Augen, und Ruby tat es ihm nach. Nanna und Granpa kamen um halb. Granpa wollte immer, dass sie auf seinem Schoß saß, und Nanna fand, Obst sei dasselbe wie Süßigkeiten.

»Kann ich mitkommen?« Die Worte platzten einfach so aus Ruby heraus. Sie hatte gelernt, nicht oft zu fragen, aber jetzt hatte sie das doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr getan.

Daddy, der gerade vor dem Spiegel seinen Gurt zurechtgerückt hatte, hörte damit auf und machte ein Gesicht, als denke er darüber nach. Sie hielt den Atem an.

»Diesmal nicht, Rübchen«, sagte er.

»Wann dann?«, wollte sie wissen, durch sein Zögern mutig geworden.

»Wenn du älter bist.« Er sagte immer dasselbe.

»Ich bin doch schon älter. Ich werde doch die ganze Zeit älter.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und Ruby dachte schon, sie wäre zu weit gegangen. Doch dann drehte er sich zu ihr um und grinste.

»Nein, tust du nicht!«, widersprach er und fing an, sie abzukitzeln. »Du wirst überhaupt nicht älter!«

Sie kicherte und wand sich. Er hatte seinen Cowboyakzent vergessen, und das Einzige, was in seiner Stimme mitschwang, war der Tonfall des West Country, während er sie vor lauter Spaß leiden ließ.

»Du bist doch mein kleiner Cowboy«, sagte er, während sie kreischte. »Du wirst immer mein kleiner Cowboy sein.«

»John? Sie sind bestimmt gleich da.«

Daddy hörte mit dem Kitzeln auf und seufzte. Ruby ließ sich keuchend aufs Bett plumpsen, sie kicherte immer noch und war ganz außer Atem.

»Großnase und Ping Pong sind auf dem Kriegspfad«, flüsterte Daddy, und Ruby lachte. So nannten sie die beiden – natürlich war das ihr Geheimnis –, weil Granpas Nase echt groß war und Nannas Augen vorquollen wie Tischtennisbälle.

Er richtete sich auf. »Dann muss ich wohl losreiten«, knurrte er, wieder ganz in seiner Cowboyrolle. »Und du amüsier dich gut, hörst du?«

Ruby schnitt eine Grimasse. »Wie alt muss ich denn sein, damit ich mitkommen kann?«

Daddy rückte sehr lange an seinem Gurt herum, und als er antwortete, tat er es nicht mit seiner Cowboystimme.

»Hab’s bloß nicht zu eilig mit dem Erwachsenwerden, Rübchen«, sagte er. »Da wartet nichts Gutes auf dich.«

Er zog sich den Hut tief über die Augen und legte abermals seinen Akzent auf. »Bleib schön zu Hause, Miss Ruby. Und mach ja kein’ Ärger.«

In der Tür fuhr Daddy herum wie ein Revolverheld, griff in sein Pistolenhalfter und zielte auf Ruby.

»Peng! Peng-Peng!«

Statt eines Revolvers zog er ein Mars aus dem Halfter und warf es ihr behutsam zu. Sie schnappte vor Entzücken nach Luft – und war dann sofort still, als er den Finger an die Lippen hob.

»Sag’s Mummy nicht.«

Dann tippte er sich ein letztes Mal an die Hutkrempe, stakste die Treppe hinunter und pfiff dabei »Red River Valley«, weil das ihr Lieblingslied war.

Rubys Lächeln verschwand zusammen mit der Melodie.

Wie konnte Daddy sagen, sie solle es mit dem Erwachsenwerden nicht eilig haben? Der hatte leicht reden! Wahrscheinlich hatte er ganz vergessen, wie es war, klein zu sein, das Dicksein und die Fieslinge und die Hausaufgaben.

Sie dachte an all das Tolle, was auf sie wartete, wenn sie älter wurde. Das Erste, was sie tun würde, wäre, sich ein Pony zu kaufen, damit sie zur Arbeit reiten konnte, wenn sie sich einen Job gesucht hatte. Und mit dem Geld, das sie mit … mit irgendwas verdienen würde, würde sie sich ihre eigenen Schokokekse kaufen und nicht dauernd suchen müssen, wo Mummy ihre versteckt hatte. Sie würde in einem warmen Haus wohnen, auf einer sonnigen Wiese, wo die Wände nicht schwarz angeschimmelt waren und der Wind nie durch die Fenster jaulte.

Daddy irrte sich bestimmt, was das Erwachsenwerden betraf.

Sie konnte es gar nicht erwarten.

4

Der Legende nach waren im Jahr 878 Wikinger unter der Führung von Hubba dem Dänen mit dreiunddreißig Schiffen genau hier gelandet, in der breiten Mündung des Torridge, und waren den steilen Hügel hinaufstiegen, um Kenwith Castle anzugreifen. Sie kamen kaum eine Meile weit, ehe sie auf die Engländer trafen, die ihnen entgegenkamen. Die Männer des Königs waren im Vorteil, weil sie von oben angriffen, und die Räuber wurden zurückgeschlagen, jedoch nicht bevor die Schlacht Tausende das Leben gekostet hatte, sowohl Sieger als auch Verlierer.

Die toten Sieger wurden nach Kenwith zurückgetragen, unter der ersten Adler-Standarte, die jemals in einer Schlacht erobert worden war, während die Dänen dort verscharrt wurden, wo sie gefallen waren – in Massengräbern, die sich in der von dem Gemetzel aufgeweichten Erde so leicht ausheben ließen, dass die Stelle heute noch als Bloody Corner bekannt ist.

Seitdem war in Appledore nicht mehr viel passiert.

Vielleicht zwölfhundert Jahre lang hatte sich das kleine Dorf genau jenen Hügel hinaufgedrängt wie eine sehr viel langsamere, respektvollere Invasion. Die erste Reihe kleiner Häuser erhob sich direkt aus dem Schlamm der Flussmündung, und zweimal täglich plätscherte die Flut gegen gestrichene Hausmauern und sickerte in die Keller.

Appledore hatte ein Postamt, drei Kirchen und sechs Pubs, das übliche Mischverhältnis. Im Sommer machten kleine Galerien und Souvenirläden in den Wohnzimmern der Leute auf, wo hausgemachte und von Hand gefertigte Mitbringsel verkauft wurden, allerdings waren Haus und Hand meistens in China angesiedelt. Nicht wie Hocking’s Eiscreme, die aus großen, goldenen Butterbergen direkt hier im Dorf hergestellt und von einer ganzen Flotte Eiswagen verkauft wurde.

Und nicht wie die Schiffe.

Die Leute aus Appledore hatten seit Generationen Boote gebaut, und zu Hochzeiten hatten die Schiffsbauer von Appledore über zweitausend Mann beschäftigt: so viele, dass ein Dorf allein die Nachfrage gar nicht befriedigen konnte und Männer von weit her aus der Umgebung kamen, rund um die Uhr im Schichtdienst arbeiteten und auf billigen, alten Motorrollern zur Werft fuhren, die die Leute morgens um vier wie Kreissägen aus dem Schlaf rissen. Ein halbes Jahrhundert lang hatte das gewaltige Metallgebäude den Fluss beherrscht und die Bäume zu Bonsais gemacht. Riesige Kriegsschiffe rutschten daraus hervor in den Fluss und ließen vorbeifahrende Jachten schwanken und schaukeln wie Spielzeugboote. Das Trockendock war einst das größte in ganz Europa gewesen, und es hatte den Anschein gehabt, als würden die guten Zeiten niemals enden.

Aber alles hat einmal ein Ende – besonders gute Zeiten.

Und als sie in Appledore endeten, verloren fünfzehnhundert Männer ihre Arbeit.

Von einem Tag auf den anderen.

Fünfzehnhundert Ernährer. Fünfzehnhundert gelernte Schweißer und Mechaniker und Zimmermänner und Maschinisten waren plötzlich arbeitslos, in einer Gegend, wo das Jobcenter regelmäßig nur Stellen in Bars, als Gelegenheitsarbeiter und als Babysitter anbot.

Viele der Männer fanden nie wieder Arbeit. Jedenfalls keine legale. Die Arbeit fehlte ihnen, und das Geld natürlich auch, mehr als das jedoch fehlten ihnen ihre Kumpels und die Art und Weise, wie Männer sich anderen Männern gegenüber geben konnten – und das war nicht so, wie sie sich geben mussten, wenn sie mit Frauen zusammen waren.

Also fanden sie andere Treffpunkte. Manche trafen sich im Wettbüro, manche in den Pubs, manche in den Billardsalons.

Und manche schlossen sich den Gunslingers an.

Die Gunslingers waren eine lockere Gruppierung aus vielleicht zwanzig Männern, die sich einmal die Woche als Cowboys verkleideten und sich im George in Appledore trafen – so wie die Shootists im Bell in Parkham und die Outlaws im Coach and Horses in Barnstaple.

In North Devon gab es reichlich Cowboys, das war mal sicher. Die ganze Woche lang arbeiteten sie in Banken oder verdingten sich in allen möglichen Jobs, der Cowboy-Abend jedoch versetzte sie für ein paar wenige Stunden in den Wilden Westen, wo die Männer Männer, die Frauen drall und vollbusig und die Gefängnisse aus Holz waren.

Als die Gunslingers aufgetaucht waren, hatten sie die Einwohner von Appledore zuerst ein bisschen nervös gemacht, diese Männer in Stiefeln und schwarzen Hüten, die da jeden Freitagabend den schmalen Canyon der Irsha Street hinunterstolzierten. Doch nach ein paar Wochen zuckten die Gardinen nicht mehr jedes Mal, wenn ein Cowboy auf dem Weg zum Pub durch das kleine Fischerdorf kam, und es blieb einer kleinen Bande Halbstarker überlassen, zu lachen und Beleidigungen zu grölen.

Aus sicherer Entfernung.

Im George betranken sich die Gunslingers, gaben an und flirteten mit den Kellnerinnen und unterhielten sich auf Cowboyart über Cowboythemen.

Über Mode zum Beispiel.

Wie Hausfrauen aus Beverly Hills stürzten sie sich auf jedes neue Cowboykleidungs- oder Ausrüstungsstück und studierten es eingehend hinsichtlich Stil und Authentizität. Finanzielle Mittel und geografische Gegebenheiten sorgten für gewöhnlich dafür, dass es den fraglichen Gegenständen an beidem mangelte. Nellie Wilsons Revolverhalfter stammte aus alten Armeebeständen, Scratch Mumfords Poncho hatte seine Mutter gehäkelt, und Blacky Blackmores Cowboyhut trug ein Pixar-Logo unter der Krempe.

Das Authentischste an den Gunslingers war, wenn Frank »Whippy« Hocking auf seinem zotteligen Braunschecken Tonto durchs Dorf geritten kam und ihn draußen vor dem George anband. Dort machten Touristen Fotos von ihm, und kleine Kinder fütterten ihn mit Zucker und Ketchup und allem, was es an Gewürzen im Pub noch umsonst gab. »Keinen Senf«, wies Whippy sie jedes Mal an. Wenn er den Pub mit reichlich Schlagseite verließ, kamen die anderen Gunslingers stets mit nach draußen und halfen, Whippy in den gepunzten Ledersattel zu hieven. Dazu waren immer mindestens drei Mann nötig, denn Whippy gehörte zum Eiscreme-Clan, und Qualitätskontrolle war sein Leben.

Wenn sie sich nicht spreizten und zur Schau stellten wie Pfauen, spielten die Gunslingers ein lockeres Pokerspielchen um Pennys und stritten sich hingebungsvoll über alte Fernsehwestern – abwechselnd ging es um Bonanza, High Chaparral und Die Leute von der Shilo Ranch. Zusammen waren sie im Besitz sämtlicher raubkopierter DVD-Sammelboxen. Was Filme betraf, schieden sich die Geister an Clint Eastwood oder Gary Cooper, an John Wayne oder Jimmy Stewart. Nicht einig waren sie sich immer wieder über Kevin Costner, der so oft so viel versprochen hatte – und es dann irgendwie immer wieder geschafft hatte, mit Kiemen oder einer verkorksten Frisur alles zu versauen.

Wenn ein Mann den Gunslingers beitrat – und nicht absolut unbeliebt war –, gaben sie ihm einen Cowboynamen. Ob es ihm nun passte oder nicht. Die meisten Namen wurden aus Gründen verliehen, die die Fantasie nicht übermäßig beanspruchten. Blacky Blackmore fuhr Kohle aus, und Hick – »Hinterwäldler« – Trick wohnte ganz hinten im Wald, während Daisy Yeo ständig laut und grundlos muhte. Das war eine Art ländliches Tourette-Syndrom; im Supermarkt konnte man ihn über mehrere Gänge hinweg hören.

Manche Männer hatten ihren Cowboynamen bereits parat, wenn sie beitraten, aber auf so was ließen die Gunslingers sich nicht ein. Tatsächlich neigten sie sogar dazu, derartige Anmaßungen zu bestrafen, deshalb war auch Len »Pussy« Willows’ Mitgliedschaft nur kurz und unersprießlich gewesen und hatte mit einer denkwürdigen Schlägerei geendet, die sie aus dem George hinaus- und die ganze Irsha Street hinuntergeführt hatte.

Wie richtige Cowboys.

Das war vor sechs Monaten gewesen, und sie brachten das Ereignis noch immer jede Woche in mindestens einem Gespräch unter.

Wenn der Abend und das Bier seinen Lauf nahm, pflegten die Gunslingers darüber nachzusinnen, wie viel besser das Leben doch wäre, wenn North Devon offenes Weideland und voller Vieh wäre – am besten Vieh, das regelmäßig von einem Ende der Grafschaft zum anderen getrieben werden musste. Sie ließen Willie und Johnny in trauriger Endlosschleife aus der Jukebox ertönen und seufzten in ihre leeren Gläser und leeren Revolverhalfter und sehnten sich nach den guten alten Zeiten, bevor Schurken angefangen hatten, kleine Kinder abzuknallen, und alle so verdammt nervös geworden waren – sogar wenn es um unechte Knarren ging.

5

Das nackte Mädchen saß am menschenleeren Strand.

Es herrschte Ebbe; das Wasser war so weit draußen, dass es mit den niedrigen grauen Wolken verschwamm, und der Sand war hart und nass vom ständigen Nieselregen.

Mit überkreuzten Beinen saß sie vornübergebeugt da. Frierend und schniefend, den Rücken dem unsichtbaren Meer zugewandt und die Hände unter ihre eiskalten Pobacken geklemmt.

»Ruf deine Mutter an«, sagte der Mann.

Das Mädchen schluchzte von neuem los, und der Mann sah auf die Uhr. Wieder stupste er sie mit dem Handy an. Ein iPhone. Besser als jedes Handy, das er jemals besessen hatte. Und die Kleine war wie alt? Sechzehn? Siebzehn? Lächerlich.

»Ruf deine Mutter an«, wiederholte er langsam.

Das Mädchen weinte jetzt so sehr, dass er es nicht verstehen konnte, als es versuchte, etwas zu erwidern.

»Was?« Konzentriert runzelte er die Stirn, doch ihre Worte schafften es nicht an dem Weinen vorbei.

»Ach, verdammt noch mal! Hör auf zu flennen und sprich deutlich!«

»Sie werden mich umbringen!«

»Ja, das stimmt«, bestätigte er. »Ruf deine Mutter an.«

Sie heulte nur noch lauter.

»Willst du dich denn nicht verabschieden?«, erkundigte er sich fast freundlich.

Das Mädchen hob trotzig das rotzverschmierte Gesicht.

»Halten Sie die Klappe!«, schrie sie und fuhr auf seine Beine los. Sie bekam die Hände nicht schnell genug unter ihrem Hinterteil hervor und kippte vornüber auf Schulter und Gesicht.

Er richtete sie mit der rechten Stiefelspitze grob wieder auf. Die linke Seite ihres Gesichts war von einer körnigen, braunen Maske bedeckt, und sie blinzelte und japste, als wäre sie aus dem Meer aufgetaucht, nicht aus dem Sand.

Er hob das Handy, damit er ein Foto machen konnte.

»Acht Megapixel«, stellte er fest. »Auf ’nem Scheißhandy.« Er zeigte ihr das Foto. »Vielleicht schick ich das ja an deine Freunde. Was meinst du? Hier sind doch alle ihre Telefonnummern drin.«

Ihr Gesicht erschlaffte vor Verzweiflung.

»Bitte nicht«, flüsterte sie. »Bitte schicken Sie das niemandem.«

»Dann ruf deine Mutter an.«

Wieder begann das Mädchen zu weinen – heftig und unablässig. Dann lehnte sie sich zur Seite, zog eine Hand unter ihrem Hintern hervor und nahm das Handy, das er ihr hinhielt. Sie zitterte so sehr, dass sie drei Versuche brauchte, um die richtige Nummer zu erwischen. Auf dem Display vibrierte ein altmodisches Telefon im Takt des Klingeltons. Unter dem surrenden Bild standen die Worte »Anruf bei Mum«.

»Es klingelt«, schluchzte sie.

»Ach, wirklich?«, fragte er sarkastisch.

»Was soll ich denn sagen?«

»Verabschiede dich.«

»Darf ich ihr sagen, dass ich sie lieb habe?«

»Wenn das stimmt.«

»Ich hab sie doch wirklich lieb!«, stieß das Mädchen hervor. »Kann ich auch mit meinem Dad reden?«

»Wir sind hier doch nicht bei Wer wird Millionär?«

Das Klingeln verstummte, und ein Gesicht erschien auf dem Display.

»Mum?«, fragte das Mädchen.

»Seh ich vielleicht aus wie Mum, Spatzenhirn?«

»Ricky, hol Mum.«

Plötzlich war das Mädchen ganz ruhig.

»Bin ich dein Sklave, oder was?«

»Hol Mum, Ricky. Das ist ein Notfall.«

Der Bengel hatte eine gepiercte Augenbraue. Verzogene Bälger, alle beide.

»Wie heißt das Zauberwort?«

»Das Zauberwort heißt Scheißbitte, du beschissenes Arschloch!«

»Das sag ich Mum, dass du das gesagt hast. Du sitzt ja so was von in der Scheiße.«

»Ich weiß«, antwortete das Mädchen und fing von neuem an zu weinen. »Ich weiß.«

Ricky drehte den Kopf und brüllte: »Mum! Kelly ist am Telefon!« Dann folgten ein paar Bilder der Zimmerdecke, ehe das fröhliche Gesicht einer Frau erschien.

»Hi, Kelly-Schatz.«

»Mummy?« Das war alles, was das Mädchen herausbrachte, bevor die Tränen sie vollkommen überwältigten.

Augenblicklich überflutete panische Angst das Gesicht der Frau.

»Kelly, was ist denn los? Wo bist du?«

»MummyMummyMummyMummy …« Rotz und Spucke trieften von den Lippen des Mädchens auf das Handy.

»Verabschiede dich«, ermahnte der Mann sie scharf.

»Kelly, wer war das? Wer ist da bei dir? Wo bist du?«

»Er wird mich umbringen, Mummy. Ich musste dich anrufen, um mich zu verabschieden.«

Das Gesicht der Frau verzerrte sich vor Entsetzen.

Das war schon besser.

»Ich hab dich lieb, Mummy!«

»KELLY! Brian! Ruf die Polizei! BRIAN! Kelly, Schatz – warte! Wer ist da? Wer ist da bei dir?«

Das Mädchen kippte das Handy in Richtung des Mannes, und er grinste und winkte.

»Hallo«, sagte er. »Ich mache Ihre Kleine hier jetzt kalt, vor Ihren Augen.«

»NEIN!«, kreischte die Frau. »Nein! Warten Sie! Warten Sie! Halt! Brian! BRIAN! Jemand hat Kelly entführt! BRIAN!«

Er lachte los. Ihre Hysterie war so blechern und so winzig; es war, als sähe man einem Salinenkrebs dabei zu, wie er in einem kleinen Aquarium einen Wutanfall kriegte.

»Tun Sie ihr nichts«, stammelte die Frau hemmungslos. »Bitte tun Sie ihr nichts. Was wollen Sie? Ich geben Ihnen alles, was Sie wollen. Was wollen Sie? Geld? Bitte sagen Sie mir doch einfach, was Sie wollen. Sie kriegen alles, was Sie wollen. BITTE!«

Er wollte sonst gar nichts, doch er konnte nicht antworten, so sehr musste er lachen. Er krümmte sich vornüber und verschluckte sich fast vor Heiterkeit.

Das Mädchen sah seine Chance. Es sprang auf und rannte davon.

Fort von dem Kleiderstapel und auf Westward Ho! zu. Zurück zur Helling, zum Bingosaal und zu dem Eiswagen von Hocking’s.

Der Mann richtete sich auf und rannte ihr ein paar lockere Schritte hinterher, dann jedoch blieb er stehen und sah ihr nach – schwabbelnder Arsch, fuchtelndes Handy, und alle paar Schritte ein hohes, dünnes »Hilfe!«, das aus ihr hervorquoll.

Es war mit das Komischste, was er jemals gesehen hatte.

Er zog sich die Skimaske herunter und lachte, bis er schließlich mit langen Seufzern der Heiterkeit verstummte. Dann wischte er sich die Augen und schaute über den platten, braunen Sand, wo er selbst kilometerweit am höchsten emporragte. Dabei musste er an Gullivers Reisen denken. Als Kind hatte er das Buch besessen und es nie gelesen – aber die Bilder hatte er sich wieder und wieder und wieder angesehen.

Jetzt kam er sich selbst vor wie Gulliver, der all diese kleinen Menschlein niedertrampelte, sie von Klippen schnippte, sie zwischen seinem gigantischen Daumen und Zeigefinger an den Füßen hochhob.

Sie zwang, alles zu tun, was er wollte.

Er fühlte sich mächtig.

6

Es war Samstag, deshalb lag Ruby auf dem Boden und sah zu, wie das Meer tief unter dem überhängenden Zimmer des Spukhauses wirbelte.

Das Wasser war schiefergrau mit weißen Adern, und wenn es sich zurückzog, zischte es, und es gab ein ganz tiefes, klickendes Geräusch, wenn die großen Steine am Strand unter den Wellen herumkullerten.

Es war richtig hypnotisierend.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier war. Vielleicht eine Stunde. Allmählich wurde es dunkel, und ihr wurde kalt, doch sie wartete auf immer noch eine Welle, immer noch ein Zurückströmen.

Noch eine.

Noch eine.

Ruby rückte sich auf dem modrigen Boden ein bisschen zurecht. Die Brust tat ihr weh.

Schon wieder.

Das erste Mal hatte sie den Schmerz bemerkt, als sie Pony & Rider gelesen hatte, auf dem alten Teppich, der dieselbe Farbe hatte wie die großen Spinnen, die jedes Jahr in der ersten Septemberwoche ins Haus marschiert kamen, als hätten sie dort ein Zimmer gebucht. Ein scharfes Stechen, als würde sie auf so einem Haargummi mit Kugeln dran liegen. Doch als sie nachgeschaut hatte, war da nichts gewesen.

Jetzt zog Ruby genau wie damals die Ellenbogen unter die Seiten, um die Brust zu entlasten.

Noch eine Welle.

»Kann ich auch mal gucken?«

Ruby hob das Gesicht von dem Astloch im Boden und sah Adam Braund neben ihr stehen.

Er lachte. »Du hast voll so ’nen roten Ring ums Auge rum.«

Sie wurde rot und betastete ihr Gesicht, fühlte jedoch nichts.

»Ist nicht weiter schlimm«, meinte er. »Geht bestimmt wieder weg.«

Sie rückte zur Seite, und Adam streckte sich aus und legte das Auge an das Loch. Ruby lag neben ihm auf dem Bauch, auf die Ellenbogen gestützt, und starrte die Wand an. Früher war da mal Tapete dran gewesen – mit gelben Narzissen und lila Krokussen drauf. Jetzt waren die Blumen verblasst und braun, genau wie echte, und von der Feuchtigkeit schwarz gesprenkelt.

»Wir sollten hier noch ein Loch reinmachen«, sagte Adam. Seine Stimme klang undeutlich, weil er in die Bodendielen hineinsprach. »Dann können wir beide zugucken.«

»Okay«, erwiderte Ruby.

Er stand auf, und Ruby tappte hinter ihm her durch das Haus, während er Trümmer aufhob und an Fensterrahmen rüttelte. Viel war nicht mehr übrig, was die Kinder nicht bereits ins Meer geschmissen hatten.

»Scheiße!« Adam saugte an seinem Daumen, und als er ihn aus dem Mund nahm, quoll ganz schnell wieder Blut heraus und lief dann durch die winzigen Kanäle in seiner Haut ab. Ruby wurde ein bisschen schlecht, als sie das sah.

»Tut’s weh?«

»Nein«, sagte Adam. Er wischte das Blut an seiner Jeans ab und fing an, an einer Geländerstrebe zu zerren. Sie löste sich mit einem unverhofften Ruck, und sie lachten beide. Dann folgte Ruby ihm zurück zu dem überhängenden Zimmer.

Adam suchte eine Stelle dreißig Zentimeter neben dem Astloch aus, wo zwischen zwei Dielen eine Fuge klaffte und bereits Licht hereindrang. Er schob die Strebe hinein und drehte und hebelte, bis das morsche Holz barst und sich ein neues Loch auftat, ungefähr zehn Zentimeter groß. Dann pulte er an den Rändern herum, bis die schlimmsten Splitter weg waren. »So«, meinte er und schob die Geländerstrebe durch das neue Loch. »Schauen wir uns das mal an.«

Beide streckten sich von neuem bäuchlings auf dem Boden aus – die Ellenbogen angelegt und die Hände neben den Ohren zu Fäusten geballt – und zählten gemeinsam rückwärts.

»Drei.«

»Zwei.«

»Eins!«

Adam ließ die Strebe los, und sie spießte in die nächste Welle und verschwand. Dann sahen sie sie noch einmal, ganz kurz, wie sie im Schaum herumtrudelte, ehe sie für immer aufs Meer hinausgezogen wurde.

»Cool«, stellte Ruby fest.

»Ja«, sagte Adam. Er rückte ein wenig herum, um es bequemer zu haben, und sein Bein stupste Rubys an. Sie stupste zurück, und er hielt dagegen. Ohne die Augen von ihren Gucklöchern zu nehmen, kicherten sie, während sie in einer gespielten Balgerei Waden und Knöchel gegeneinanderpressten, dann gaben sie es auf und verstummten.

Fünf weitere Minuten lang sahen sie dem Meer zu, dann fiel Ruby wieder ein, wie kalt ihr war. Sie wollte gerade aufstehen und nach Hause gehen, als Adam etwas sagte. Seine Lippen waren so dicht über dem Boden, dass Ruby ihn bitten musste, es noch mal zu wiederholen, also hob er den Kopf und sah sie an.

»Weißt du, warum es hier drin spukt?«

»Nein.«

Er sah sie an. »Möchtest du’s wissen?«

Ruby kniff die Lippen zusammen und überlegte. Sie hatte gedacht, Spukhaus wäre einfach nur so ein Name für das verfallene alte Gebäude. Klar, es war verlottert und unheimlich und voller Spinnweben und komischer Geräusche, und es zog und tropfte hier drin, doch bis zu diesem Moment hatte sie niemals wirklich in Erwägung gezogen, dass hier richtige Gespenster spuken könnten. Die Vorstellung war grässlich und aufregend zugleich. Schon jetzt konnte sie es im Nacken kribbeln fühlen, wenn sie daran dachte, und das Nein lag ihr bereits auf der Zunge, als ihr klar wurde, dass Adam Braund es ihr erzählen wollte, also sagte sie stattdessen Ja.

Er rollte sich auf die Seite, so dass er ihr zugewandt war, den Ellenbogen unter dem Ohr, also tat Ruby es ihm nach. Ihre Knie berührten sich, doch diesmal achteten beide nicht darauf.

»Mein Dad hat’s mir erzählt«, fing Adam an und stellte damit gleich klar, dass es wahr war. »Das war vor hundert Jahren, da war so ein Hausierer …«

»Was ist ein Hausierer?«, wollte Ruby wissen.

»So was wie ein Vertreter. Aber eben damals. Er ist den Hügel runtergekommen, mit dem ganzen Zeug, das er verkauft hat, auf einem Esel.«

»Viel Zeug kann er ja nicht gehabt haben.«

»Damals hatte niemand viel«, meinte Adam, und Ruby nickte, weil das stimmte.

»Was denn für Zeug?«, fragte sie.

»Weiß nicht«, erwiderte Adam. »Klopapier und Putzmittel und so. Eben Sachen für den Haushalt.«

»Okay.«

»Er ist also den Hügel runtergekommen, und hier in diesem Haus haben so zwei alte Schwestern gewohnt, und die haben ihm angeboten, bei ihnen zu übernachten.«

»In diesem Haus?«

»Ja«, bestätigte Adam.

»Warum denn?«

»Na, weil’s Nacht war, und draußen hat’s geregnet.«

»Okay.«

Ruby hätte sich gern im Zimmer umgeschaut, doch dafür war ihr allmählich zu beklommen zumute – wenn sie nun irgendetwas Unheimliches erblickte? Das hier war noch lange keine Gruselgeschichte, doch sie war auf alles gefasst …

»Also hat er seinen Esel angebunden und hat hier übernachtet.«

»Okay«, sagte Ruby argwöhnisch.

Adam senkte die Stimme. »Und niemand … hat … ihn … jemals … wiedergesehen.«

Die Worte hingen zwischen ihnen in der salzigen Luft.

»Wo ist er denn hin?«, flüsterte Ruby.

»Niemand weiß es«, flüsterte Adam zurück. »Sein Esel war am nächsten Morgen noch da, aber all die Hausierersachen waren weg, und sein Geld auch. Irgendjemand hat alles gestohlen.«

»Und wer?«, wollte Ruby wissen.

Adam zuckte geheimnisvoll die Achseln, dann fuhr er fort. »Jetzt wird’s richtig gut. So fünfzig Jahre später, als die alten Schwestern gestorben sind, hat ein anderer Mann das Haus gekauft und wollte es renovieren, aber dann hat er angefangen, Geräusche zu hören, aus dem Obergeschoss, wenn da überhaupt niemand war.«

Ängstlich schielte Ruby zu dem hinauf, was von der Decke noch übrig war. »Was denn für Geräusche?«

»Na, so Rumpeln. Stöhnen. Du weißt schon, Gespenstergeräusche«, antwortete Adam leichthin. »Und eines Abends ist er raufgegangen und wollte nachsehen, was los war, und die Schlafzimmertür ist hinter ihm zugeknallt, obwohl er ganz allein im Haus war, und er hat sie nicht wieder aufgekriegt, obwohl der Schlüssel innen gesteckt hat.«

Ruby starrte Adam an; ihr Mund war plötzlich ganz trocken.

»Und dann ist irgendwas in dem Zimmer auf ihn losgegangen.«

»Was denn?«, hauchte sie.

»Das weiß keiner. Er war ein erwachsener Mann, aber er hat so laut geschrien, dass die Leute vom Dorf raufgerannt gekommen sind und schauen wollten, was da abgeht, aber sie haben die Schlafzimmertür nicht aufbekommen, und sie konnten bloß dastehen und zuhören, wie er gebrüllt und geschrien hat, bis es Morgen wurde.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte Ruby mit vor Angst zitternder Stimme.

»Am Morgen ist die Tür plötzlich ganz von selbst aufgegangen, und sie haben den Mann da drin gefunden, ganz blutig und so. Er lag unterm Bett und hat voll gezittert. Er war total verprügelt worden, aber außer ihm war niemand im Zimmer.«

»Scheeeiiiiße«, stieß Ruby hervor, obwohl sie das eigentlich nicht durfte.

»Er hatte so viel geschrien, dass er gar nicht mehr sprechen konnte. Und dann«, verkündete Adam und stemmte sich des besseren Effekts wegen hoch, »und dann rennt er plötzlich an den Leuten vorbei, raus aus dem Zimmer und die Treppe runter, und fängt an, mit bloßen Händen im Kamin zu buddeln, in der Asche, und die war noch voll heiß, vom Feuer am Abend davor, aber das war ihm egal, und er hat gewühlt, bis seine Hände ganz blutig waren und die Nägel abgefallen sind.«

Ruby fror richtig vor Angst. Sie konnte Adam nicht mehr drängen weiterzuerzählen; sie starrte ihn einfach nur an, konnte den Blick nicht von seinem ernsten Gesicht abwenden.

»Und unter der Asche und den Steinplatten hat er ein Versteck gefunden, ein Loch in der Erde, und da war das Skelett von dem Hausierer drin.«

Adam machte eine Pause, damit sie nach Luft schnappen konnte, und das tat Ruby auch prompt.

»Die alten Ladys haben ihn ermordet und sein Geld und all seine Sachen geklaut, und es war sein Geist gewesen, der so wütend gewesen war, dass er den Mann da raufgelockt und irgendwie gemacht hat, dass er wusste, wo er nach ihm suchen musste, damit seine Leiche gefunden und richtig begraben werden konnte.«

Ruby schauderte, und Adam auch, obwohl er die Geschichte doch schon kannte.

»Voll krass, wie?« Er grinste.

Doch Ruby schaute bloß über seine Schulter hinweg und fragte langsam: »In dem Kamin da?«

Adam rollte sich herum und folgte ihrem Blick.

Schweigend starrte der Kamin sie an, gedrungen und viereckig und grau, mit Asche in der Mitte und überall ganz schwarz von Jahrhunderten der Gluthitze.

Jetzt war er kalt.

Unten krachten und zischten die Wellen, und die Steine rumpelten, und plötzlich war sich Ruby der Tatsache sehr bewusst, dass sich zwischen ihr und der See nur zweieinhalb Zentimeter morsches Holz und dreißig Meter Tiefe befanden.

Hastig kam sie auf die Beine. »Ich will nach Hause.«

»Hab doch keine Angst«, sagte Adam. »Ist ja bloß ’ne Geschichte.«

»Das weiß ich«, gab Ruby zurück. »Ich hab keine Angst, ich muss Hausaufgaben machen.«

»Ich auch«, sagte Adam und stand auf.

Beide vermieden es, den Kamin anzusehen, und Ruby wusste ganz genau, dass sie, wenn sie keine Angst gehabt hätten, jetzt in der Asche herumwühlen und die Steinplatten anheben würden, um das geheime Versteck zu finden, das groß genug für den Leichnam eines Ermordeten war.

»Du zitterst ja«, stellte Adam fest.

»Mir ist kalt«, sagte Ruby.

»Willst du meine Jacke anziehen?« Die war dick und rot, und hinten stand BIDEFORD COLLEGE drauf.

Ruby nickte, und Adam zog die Kapuzenjacke aus, und Ruby zog sie an. Sie versuchte gar nicht erst, den Reißverschluss zuzumachen, falls sie am Ende nicht passte und Adam sah, wie fett sie war. Trotzdem, das Fleecefutter war kuschlig und roch nach Waschpulver und warmem Jungen.

Weniger vorsichtig als sonst stiegen sie die schlammigen Stufen mit all den Brombeerranken ins Dorf hinab. An der steilsten Stelle griff Adam nach oben und nahm ihre Hand.

Als sie das Gartentor des Cottages erreichten, gab sie ihm seine Jacke zurück und sagte Danke.