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Beschreibung

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist von einer "Zeitenwende" ebenso die Rede wie von einer "anderen Welt", in der wir am 24. Februar 2022 aufgewacht seien. War die Annahme, ein politisch, ökonomisch und kulturell weitgehend geeintes Europa als epochales Friedensprojekt schaffen zu können, also eine Illusion? In Heft 2/2023 wird der aktuelle Zustand Europas aus verschiedenen Perspektiven untersucht: Illusion Europa??

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Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser,

Illusion Europa?

Würde atmen

Die Zerrissenheit Europas vor dem Hintergrund politischtheologischer Konfliktlinien

Orthodoxie im postsowjetischen Raum: Kampf der Zivilisationen?

Perspektiven einer „europäischen Wertegemeinschaft“ im Horizont der Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie

Die militärische Invasion in der Ukraine und der internationale Kontext als Herausforderung für die auswärtige EU-Sicherheitspolitik

Vom Staunen zum Glauben

Das aktuelle theologische Buch

Besprechungen

Ausgewählte Neuerscheinungen

350 Jahre Theologie in Linz

Liebe Leserin, lieber Leser,

über friedensethische Fragen hinaus hat der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine eine Debatte über die Zukunft Europas ausgelöst. Zwar stehen Fragen über die energiepolitische und kulturpolitische Zusammenarbeit mit Russland, über wirtschaftliche Sanktionen und Waffenlieferungen weiterhin im Zentrum der gesellschaftlichen und politischen Diskurse. Zunehmend gewinnen aber grundsätzliche Probleme der geopolitischen und ökonomischen Neuordnung der Welt und damit der Zukunft Europas an Bedeutung. Dabei geht es immer mehr auch um die Frage der europäischen Binnenarchitektur. Analysiert und diskutiert werden dabei historische, politische und gesellschaftliche sowie insbesondere kulturell und religiös konnotierte Hintergründe. Nachdem sich – zumindest in Westeuropa – viele in der Gewissheit einer recht sicher eingehegten europäischen Friedenssituation eingerichtet hatten, gibt es nun Zweifel an der Stabilität, häufig gar an der Plausibilität eines kontinentalen Friedensprojekts. Zwar gab es auch nach dem Ende der Blockkonfrontation immer wieder Konflikte – wie etwa die Kriege im zerfallenden Jugoslawien, separatistische Bestrebungen in Nordirland und Katalonien oder religiös motivierte Terroranschläge. Der russische Überfall auf die Ukraine aber hat offensichtlich eine viel stärkere Wirkung als diese früheren Auseinandersetzungen – einschließlich der Annexion der Krim – auf das Selbstverständnis der Menschen in Europa. Von einer „Zeitenwende“ ist ebenso die Rede wie von einer „anderen Welt“, in der wir am 24. Februar 2022 aufgewacht seien, davon, dass der Kalte Krieg und die Blockkonfrontation nie richtig überwunden worden seien, ebenso wie von einer „historischen Zäsur“, die ein völliges Umdenken in Europa erfordere. Diese starken Ausdrucksweisen und semantischen Zuspitzungen zeugen – wie auch immer man sie bewertet – von der verbreiteten Wahrnehmung einer ernsthaften Krise des europäischen Zusammenlebens. War die Annahme, ein politisch und kulturell weitgehend geeintes Europa schaffen zu können, also eine Illusion? Ist mit der gescheiterten gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur und der gescheiterten Diplomatie zwischen dem Westen und Russland auch insgesamt die Vision eines dauerhaften Friedens in Europa an ihr Ende geraten?

Die Redaktion hat die Autor:innen des vorliegenden Heftes gebeten, die Entwicklungslinien eines „Projekts Europa“ zu analysieren und dabei mögliche Bruchlinien und Gefahren besonders zu berücksichtigen. Auf die Formulierung des Hefttitels „Illusion Europa?“ geht Ingeborg G. Gabriel, emeritierte Sozialethikerin der Universität Wien, im ersten Beitrag ein. Sie zeigt Spannungen auf, etwa zwischen einem geographischen und einem politischen Verständnis Europas, zwischen Identitätspolitiken und ethischem Universalismus, zwischen Nationalstaatlichkeit und europäischer Gemeinsamkeit, auch zwischen politischem und wirtschaftlichem Liberalismus.

Was sich hier andeutet und in den späteren Beiträgen zunehmend zu einem zentralen Gesichtspunkt wird, greift Clemens Sedmak, Theologe und Philosoph an der Keough School of Global Affairs der University of Notre Dame in den USA, positiv und produktiv auf: Den Westen und den Osten Europas stellt er als zwei Lungenflügel des Kontinents nebeneinander und in eine Art Komplementarität. Vor dem Hintergrund der bei den Traumata der jüngeren Geschichte – Shoah und Kommunismus – prägten zwei unterschiedliche, aber zusammengehörende Gesichtspunkte die Entwicklung Europas, nämlich die Orientierung an der Freiheit einerseits und die Orientierung an der Menschenwürde andererseits.

Peter Cornelius Mayer-Tasch

Von Glanz und Elend der Gnade

Ein Beitrag zur Politischen Theologie

96 S., kart., ISBN 978-3-7917-3395-1

auch als eBook

Unter Berufung auf die göttliche Gnade wurde seit jeher sowohl geistliche Lehr- und Heilsautorität als auch weltliche Herrschaft legitimiert. Für das Christentum ist die Vorstellung eines spirituellen Gnadentransfers von existentieller Bedeutung. Mit der Glaubwürdigkeitskrise der Kirche und durch die wachsende religiöse Indifferenz geraten aber auch die um den Begriff der Gnade kreisenden Glaubenswahrheiten ins Visier eines kritischen Zeitgeistes.

Um welche Frag-Würdigkeiten es dabei geht, beleuchtet der Münchner Rechts-, Politik- und Kulturwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch eindrucksvoll und bietet einen Tiefenblick auf die Politische Theologie des Abendlandes.

Achim Buckenmaier

Priester

Beruf und Berufung auf dem Prüfstand

232 S., kart., ISBN 978-3-7917-3397-5

auch als eBook

Die Figur des Priesters ist heute vielen suspekt. Gängige Klischees zeigen frustrierte Männer in Macht- und Leitungspositionen, Manager des Glaubens, die andere bevormunden, schlimmstenfalls Täter und Vertuscher in den Missbrauchsskandalen. Wie konnte es zu einer solchen Verzerrung dessen kommen, was ein Priester in der Kirche eigentlich ist oder sein soll?

Um eine tragfähige Antwort auf diese Frage zu finden, durchstreift der Autor die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Priestertums mit wachem Blick für vergessene, übersehene und verdrängte Aspekte. Dazu gehört das gemeinschaftliche Leben ebenso wie ein weltlicher Beruf oder eine neue Sicht auf das, was Leitung von Gemeinde meint.

Oliver Hidalgo, Politikwissenschaftler an der Universität Passau, analysiert dagegen stärker die Konfliktanfälligkeit unterschiedlicher identitätspolitischer Tendenzen innerhalb Europas, die sich jeweils auf das Christentum als identitätsstiftende Ressource beziehen. Im Anschluss unter anderem an Carl Schmitt werden politisch-theologische Konfliktlinien offengelegt, an denen sich Freund-Feind-Gegensätze etablieren konnten. Frappierend ist dabei, dass auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation die Spannung zwischen Ost und West eine zentrale Rolle spielt. Die Bedeutung, die dabei die christlichen Konfessionen haben, arbeitet die Theologin Regina Elsner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, heraus. Es geht dabei um Entwicklungsprozesse vor allem nach dem Zerfall der Sowjetunion in den verschiedenen orthodoxen Kirchen Mittel- und Osteuropas, die – nach zuvor kooperativen Tendenzen sowohl innerhalb der Orthodoxie als auch zwischen orthodoxen Kirchen und nicht zuletzt der katholischen Kirche – teilweise zu einer Verhärtung geführt hätten, deren Zuspitzung die Legitimierung des russischen Angriffskriegs durch die Russische Orthodoxe Kirche im Jahr 2022 gewesen sei. Anhand einer analytischen Trennung der miteinander verwobenen Prozesse wirbt die Autorin dafür, diese Zuspitzung und die damit verbundene Konfrontation nicht als „Zivilisationsgrenze“ mitten durch Europa zu verstehen, sondern als Brüche und Verbindungen innerhalb Europas.

Einen dezidiert theologisch-ethischen und dabei insbesondere auf das Menschenrechtsethos setzenden Zugang zum Thema wählt Peter G. Kirchschläger, Professor für Theologische Ethik an der Universität Luzern und Research Fellow an der University of the Free State, Bloemfontein (Südafrika). Mit einer friedensethischen Perspektive auf die militärische Invasion in der Ukraine als Herausforderung für die auswärtige EU-Sicherheitspolitik schließt Marco Schrage, der Research Fellow am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg sowie Beamter der Kurie des Heiligen Stuhls ist, den thematischen Teil des Heftes.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, Religionen haben sowohl friedensstiftendes als auch gewaltaffines Potenzial. Die Beiträge zeigen: Auch innerhalb Europas bleiben christliche Konfessionen, ungeachtet aller Säkularisierungstendenzen, relevant für die Qualität des Zusammenlebens. Wir hoffen, dass Ihnen dieses Heft bei der Analyse und Einordnung religiöser Gesichtspunkte und Perspektiven im Hinblick auf die europäischen Friedens- und Konfliktdynamiken eine Hilfe sein kann.

Ihr Christian Spieß

Im Namen der Redaktion

Einem Teil dieser Ausgabe liegen Prospekte des Verlags Friedrich Pustet bei. Wir bitten um Beachtung.

Ingeborg G. Gabriel

Illusion Europa?

Überlegungen zur gegenwärtigen Situation

Auch wenn angesichts von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg die Zustimmung zur EU grundsätzlich gestiegen ist, machen aktuelle Krisen die Fragilität eines europäischen Projekts sichtbar, das auf stabile gemeinsame Werte und geteilte Vorstellungen und Narrative angewiesen bleibt. Im Beitrag geht es um eine kritische und differenzierte Vergewisserung der Herausforderungen des Einigungsprozesses und deren nicht zuletzt auch historische Bedingungen. Den nach dem Ende des Kommunismus fortbestehenden Bruchlinien zwischen Ost und West und ihrer Bedeutung für das politische und soziale Handeln sowie einer entsprechenden Erinnerungskultur kommt dabei besondere Bedeutung zu, so das Plädoyer der Autorin. Nur so bleibt die Einigung Europas zukunftsfähig und wird nicht zur Illusion. (Redaktion)

1. Fragen an die Frage: eine Vorbemerkung

Gerade das Kurze, Schlagworthafte verlangt nach Präzisierung. „Illusion Europa?“ – aufs Erste scheint klar, was damit gemeint ist. Doch unversehens wird die Frage fraglich: Stellt Europa geografisch eine Illusion dar? Die Rede vom Eurasischen Kontinent, die in der russischen Welt gegenwärtig Konjunktur hat, könnte eine derartige Sicht nahelegen. Insofern die Grenzen Europas zu Asien hin in der Tat nicht klar bestimmbar sind, ist sie nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Der Antrag Georgiens auf Mitgliedschaft in der EU verweist politisch konkret auf diese Problematik. Oder haben sich die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen politischen Institutionen als Illusion erwiesen? Die Frage würde trotz mancher enttäuschter Erwartungen von den meisten Menschen verneint werden. Der Krieg in der Ukraine und das damit verbundene Gefühl der Bedrohung hat das Vertrauen in die EU laut Eurobarometer sogar auf den höchsten Stand seit 2008 steigen lassen.1 Sowohl die Europäische Union wie andere europäische Institutionen, so der Europarat und die gegenwärtig durch die Blockade Russlands und den Ukraine-Krieg allerdings gelähmte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), lassen sich demnach aus Europa nicht wegdenken. Ihre Auflösung oder auch nur Erosion würde das Ende Europas als jenes friedlichen und wohlhabenden Kontinents bedeuten, wie wir ihn kennen. Und schließlich könnte man fragen: Haben wir uns hinsichtlich der Fundamente des sozialen und politischen Zusammenhalts in Europa, von Süd und Nord, Ost und West, einer Illusion hingegeben und was waren die Gründe dafür? Angesichts der vielfältigen Krisen dieser Jahre sowie wachsender zentrifugaler Kräfte scheint die letzte Fragestellung als passendste Deutung des vorgegebenen Themas. Sie wird daher den Grundtenor der folgenden Überlegungen bilden.

Doch auch das Wort Illusion ist mehrdeutig. Vom Lateinischen in-ludere hergeleitet, meinte es ursprünglich eine spielerische, unernste Angelegenheit. In der Folge hat sich der Bedeutungsschwerpunkt hin zu einer nichtzutreffenden oder falschen Wahrnehmung beziehungsweise Beurteilung der Wirklichkeit verlagert. Wenn jemand sagt, er habe sich Illusionen gemacht, schwingt ein gewisses Maß an Kritik, oft auch an Selbstkritik, angesichts von Fehleinschätzungen mit. Ich/wir hätte/n es besser wissen müssen. Damit ist freilich noch nicht geklärt, ob die Grundannahme selbst oder die politischen Entwicklungen beziehungsweise die eigenen Entscheidungen der Wirklichkeit nicht gerecht wurden. Vor welchen Realitäten hat man die Augen verschlossen, den Kopf in den Sand gesteckt? Warum hat man sich in falscher Sicherheit gewiegt, sodass man desillusioniert zurückbleibt? Diese Fragen haben durch drei Jahre Corona-Pandemie und nach einem Jahr des russischen Aggressionskriegs in Europa an Brisanz gewonnen. Sie setzen das europäische Projekt und – so sei hinzugefügt – das globale Projekt einer Weltgemeinschaft einem einmaligen Stresstest aus, bei dem noch unklar ist, ob und wie sie ihn bestehen werden. Dies stellt vor die Grundsatzfrage, ob die Wertegrundlagen des europäischen Projekts insgesamt defizitär bzw. illusionär sind. Ich möchte darauf ausführlicher eingehen und einige der bestehenden Desiderate benennen, die die Fundamente des sozialen und politischen Zusammenhalts in Europa betreffen – eines Zusammenhalts, der sich insbesondere auch in den europäischen Institutionen widerspiegeln sollte. Es handelt sich dabei, so sei vorweg betont, in keiner Weise um eine Infragestellung des Projekts der europäischen Einigung in allen ihren Dimensionen, wie sie von Euroskeptikern verschiedener Couleurs gegenwärtig betrieben wird. Sie wäre in höchstem Maße unverantwortlich, wie die Kritik im Vorspann zeigen wird. In den folgenden Abschnitten soll dann auf drei, die zentrifugalen Entwicklungen fördernde Dynamiken eingegangen werden: jene zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus, jene zwischen Universalismus und Nationalismus und – damit verbunden – jene, die sich durch nationalistische Geschichtsnarrative ergibt, die ihn auf je spezifische Weise begründen.

2. Ein Vorspann: Antihegemoniale Identitätsdiskurse und das Ende normativer Differenzierungen

Der ethische Universalismus, der den europäischen Institutionen zugrunde liegt, wird heute theoretisch vielfach durch Identitätsdiskurse in Frage gestellt. Als Beispiel dafür sei ein Essay von Ivan Krastev, einem in Wien lebenden bulgarischen Intellektuellen, und dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Stephen Holmes genannt, das unter dem suggestiven Titel „Das Licht, das erlosch“ („The Light that Failed“) erschienen ist.2 Für die Autoren hat sich das liberale Projekt als Illusion erwiesen, insofern es auf Nachahmung des hegemonialen American Way of Life beruht. Die globale wie europäische Ordnung wird (mit Blick auf Ostmitteleuropa) post-kolonialistisch als demütigende Überstülpung und Destruktion des je Eigenen gedeutet. Ein als alternativlos erklärtes, von außen aufgezwungenes liberales Gesellschaftsmodell führe jedoch, so die Autoren, zu Wut und Enttäuschung der Unterdrückten. Der Intention wie dem Inhalt nach lässt sich diese postmoderne Abrechnung mit jener einer Gruppe von Intellektuellen vergleichen, die damit ihre Abkehr vom Kommunismus begründeten. „Ein Gott, der keiner war“3 meint nun den „Gott des Liberalismus“. Wie die marxistische wurde die liberale Ideologie durch Anmaßung und Überheblichkeit ihrer ‚Gläubigen‘ zu Fall gebracht: „[N]ackte Machtasymmetrien sind an die Stelle angeblicher moralischer Asymmetrien“ getreten.4 Das Schlüsselwort „angeblich“ zeigt, dass es sich hier keineswegs nur um eine Kritik der Praxis handelt, sondern der Anspruch auf normative Überlegenheit zur Debatte gestellt wird. Angesichts beobachtbarer Missstände in den „alten Demokratien“, vor allem den USA und Großbritannien (unter Donald Trump und Boris Johnson), erweise sich die Grundannahme, dass es sich bei Demokratie und Menschenrechten um ein besseres politisches Modell handle, als verfehlt. Eine derartige Sicht ist freilich in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen aufgrund der mangelnden Unterscheidung von Praxis und Theorie. Zum anderen insofern die Gleichsetzung höchst unterschiedlicher politischer Ansätze und Systeme deren ethischen Gehalt grundsätzlich nivelliert. Sie macht den Raum des Politischen so zu einem Ort, an dem alle Kat zen gleich schwarz sind. Die Imitations- oder Hegemoniethese führt zudem zur Frage, welche politischen Institutionen an die Stelle der bestehenden treten sollen. Eine gegen die westliche Hegemonie gerichtete Insistenz auf Verwirklichung der je eigenen Identität im Politischen leistet dabei, selbst wenn dies nicht intendiert ist, nationalistischen Tendenzen Vorschub, die ja gleichfalls das je Eigene zur Grundlage der Politik machen wollen. So versteht sich das kulturell-politische Narrativ der „Ruskij Mir“, der „Russischen Welt“, gleichfalls als Kritik an der westlichen Hegemonie und liberalen Demokratie sowie an den Menschenrechten. Dennoch ist eine Anfrage ernst zu nehmen, die europaweit an Relevanz gewinnt und vor allem auch in Ostmitteleuropa verbreitet ist. Die Herausforderung besteht darin, sie mit dem universalistischen Leitbild zu konfrontieren, das auch den europäischen politischen Institutionen zugrunde liegt.

3. Quadratur des Kreises: Politischer versus wirtschaftlicher Liberalismus

Ralf Dahrendorf bezeichnete das Verhältnis von wirtschaftlichem und politischem Liberalismus einmal treffend als Quadratur des Kreises. Während die national, heute in Ansätzen supranational verankerte Demokratie auf dem Grundsatz der Gleichheit der Wähler:innen beruhe, sei das liberale Wirtschaftsmodell per definitionem antiegalitär, da es unausweichlich zu Vermögenskonzentrationen führe.5 Diese dem liberalen Denken von Anfang an eingestiftete Spannung verschärft sich radikal durch die Globalisierung, die seit Ende der 1980er Jahre an Fahrt gewonnen hat. Die Nachkriegsordnung der sozialen beziehungsweise ökosozialen Marktwirtschaft (sowie der spezifischen Sozialpartnerschaft in Österreich) förderte einen nationalen – nicht zuletzt durch die Angst vor dem Kommunismus vorangetriebenen – sozialen Ausgleich. Die damals bestehende (teilweise) Deckungsgleichheit von Nationalstaat und Nationalökonomie bildete dafür die Voraussetzung. Durch die Globalisierung wurde sie, wie auch andere gesellschaftliche Institutionen und Wertsphären, aus den Angeln gehoben. Deregulierung und Privatisierung unter wirtschaftsliberalen Prämissen – der Soziologe Ulrich Beck hat unterscheidend von „Globalismus“ gesprochen – verhinderten einen ideologiefreien Diskurs hinsichtlich der für das nationale, europäische und globale Gemeinwohl förderlichen Eingriffe in den Markt, um unter anderem öffentliche Güter bereitzustellen und „systemrelevante“ Rohstoffe in Krisenzeiten verfügbar zu halten. Gerade Letzteres erweist sich angesichts von Unterbrechungen in den Lieferketten, zum Beispiel im medizinischen Bereich, heute als problematisch. Produktivitätssteigerungen durch Auslagerung in Niedriglohnländer und hohe Gewinne überdeckten die Risikoanfälligkeit dieses liberalen Wirtschaftsmodells. Sie führten seit Jahrzehnten zu Nahrungsmittel-, Energie- und Finanzkrisen außerhalb Europas, die nun – verstärkt durch den Krieg – auf Europa überschwappen. Zugleich wird deutlich, dass der globale Markt auf zwischenstaatlichen Frieden angewiesen ist, ihn aber selbst nicht garantieren kann (auch wenn – nach Kant – der Handel zwischen Nationen ihn fördert). Bisher konnten viele der Krisen durch Subventionen (und „Bankenrettungen“) aus nationalstaatlichen und europäischen Budgets entschärft werden. Allerdings geraten die Staatsfinanzen, die zudem durch den zwischenstaatlichen Wettbewerb und ein „race to the bottom“ bei den Gewinn- und Unternehmenssteuern tendenziell schrumpfen, dadurch weiter unter Druck. Hohe Vermögenskonzentrationen wirken sich zudem negativ auf andere staatliche Bereiche aus, so auf Justiz und Medien (unter anderem durch die Möglichkeit, eine große Zahl von Rechtsanwälten zu bezahlen, Klagen wegen Rufschädigung zur Einschüchterung einzureichen und Ähnliches mehr). Dazu kommt eine Verunglimpfung der Demokratie und staatlicher Behörden in neoliberalen Diskursen als „ineffizient“, die den Generalverdacht gegen Politik und Staat fördert. In kaum einer Ausgabe konservativ-liberaler Tageszeitungen wurde in den letzten Jahrzehnten dieses abwertende Narrativ nicht bedient. Weitere Bereiche, in denen die eingangs thematisierte Spannung zwischen politischem und wirtschaftlichem Liberalismus konkret wird, ließen sich benennen.

Die EU hat die Herausforderung der politischen und wirtschaftlichen Integration von dreizehn Ländern, davon elf in Ost- und Mitteleuropa, in den Erweiterungen 2004, 2007 und 2013 rückblickend überraschend gut bewältigt. Man hat damit Neuland betreten und die Ungewissheit war dementsprechend groß. Ein damals kursierendes Diktum lautete: „Wie man aus Fischen eine Fischsuppe macht, ist bekannt, nicht aber wie aus einer Fischsuppe Fische.“ Die in etwa zeitgleich mit der Implosion der kommunistischen Regime einsetzende neue Phase der Globalisierung erschwerte jedoch die Konsolidierung der EU in der Folgezeit. Die Tatsache, dass die Sozialpolitik ausschließlich in nationaler Kompetenz war und ist, behinderte einen effektiven sozialen Ausgleich. Liberalistische ‚Schocktherapien‘ und der Abbau sozialer Sicherheiten, nicht nur, aber vor allem in den ehemals kommunistischen Staaten, führten in den 1990er Jahren zu tiefen Zäsuren im Leben vieler Menschen und bilden weiterhin eine Hypothek für den europäischen Zusammenhalt. Wirtschaftspolitik basiert auf Entscheidungen, die in der EU als weltweit drittgrößtem Wirtschaftsblock trotz Globalisierung bis zu einem gewissen Grad steuerbar sind. Das zeigen nicht zuletzt die Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine. Eben dadurch werden jedoch die Versäumnisse in der Sozial- und Gesundheitspolitik in der Vergangenheit offenkundig. Eine stärkere Vergemeinschaftung wäre hier nicht nur Ausdruck von Solidarität gewesen, sondern hätte die Identifikation mit der EU in breiten Bevölkerungsschichten gefördert. Die Einhegung von Finanzspekulationen, die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Begrenzung prekärer Arbeitsverhältnisse sowie eine „Option für die Armen“, das heißt vor allem die Unterstützung von kinderreichen Familien, Pensionist:innen, Arbeitslosen und Pflegebedürftigen durch eine soziale Politik, hätten die für die meisten Menschen zentralen sozialen Themen auf die europäische Ebene gehoben. Gleiches gilt für die Jugendarbeitslosigkeit, die im südlichen und südöstlichen Europa (mit über 30 % in Spanien und Griechenland und 23 % in Italien und Rumänien) beunruhigend hoch ist und sich sozial desintegrierend auswirkt.6

Eine derartige an sozialen Belangen orientierte Politik hätte zudem den Menschenrechten in ihrer Gesamtheit entsprochen. Durch die einseitige Betonung der Freiheitsrechte wurden sie gewissermaßen halbiert. Sowohl die Universale Erklärung der Menschenrechte (1948) wie auch sie konkretisierende Menschenrechtsdokumente umfassen jedoch Freiheits- und demokratische Partizipationsrechte sowie soziale Rechte. Alle diese Rechte sind laut dem Dokument der Menschenrechtskonferenz von 1993 unteilbar und interdependent. Die Einseitigkeit der vergangenen Jahrzehnte stellt vor die Frage, ob eine derartige europäische Solidaritätspolitik illusionär ist oder ob dafür die moralische Vision und der politische Wille fehlen. Die sich zuspitzenden sozialen Probleme in Europa zeigen zudem den Ernst der Frage und sollten neue Anstöße geben, die durch eine christliche Sozialethik gefördert werden. Die gegenwärtige Situation könnte diesbezüglich ein „Weckruf für Europa“ sein.7 Ein weiterer Anstieg sozialer Unzufriedenheit aufgrund von Energieknappheit, Inflation und anderer, teils kriegsbedingter Verwerfungen würde zweifellos die zentrifugalen Kräfte in der EU stärken und die Zukunft der Demokratien Europas, die auf Verteilungsgerechtigkeit angewiesen sind, gefährden. Das gilt besonders für jene Teile Europas, in denen aufgrund des früheren Staatskommunismus weiterhin hohe Erwartungen an die innereuropäische soziale Solidarität bestehen. Die Übernahme großer Teile des Staatseigentums durch die frühere Nomenklatura ließ dort zudem oligarchische Strukturen entstehen, die die anfängliche Hoffnung auf einen „Kommunismus ohne Kommunisten“ (Władysław Bartoszewski) zunichtemachten. Wiewohl die wirtschaftliche Performance heute vielfach besser ist als in den ‚alten‘ Ländern der EU, sind viele der Wunden, die der Systemwechsel mit sich brachte, noch nicht verheilt.

Die europäische Politik der letzten Jahrzehnte stand unter dem Vorzeichen der Wohlstandsvermehrung auf der Basis des ökonomischen Liberalismus. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg führen heute zu Einbrüchen und gefährden die Grundlagen dieser vor allem wirtschaftlichen Ausrichtung des europäischen Projekts. Die Stagnation der politischen Integration, ein vielfach beklagtes, aber nie überwundenes Demokratiedefizit in den europäischen Institutionen, das Fehlen europäischer Parteien sowie einer europäischen Öffentlichkeit – und damit gesamteuropäischer Diskurse – erweisen sich zudem in einem geopolitischen Umfeld konkurrierender Hegemonialansprüche (vor allem Russlands und Chinas) als beachtliche politische Schwächen. Dazu kommen neue protektionistische Strategien, vor allem in den USA, die den Standort Europa empfindlich schwächen.8 Eine Stärkung bundesstaatlicher europäischer Strukturen, last but not least zur Stabilisierung der Wirtschaft und zum Erhalt der Sozialsysteme, ist aufgrund des in den meisten Bereichen geltenden Einstimmigkeitsprinzips im Europäischen Rat, dessen Revision vom Europaparlament kürzlich wiederum gefordert wurde, jedoch nicht in Sicht. Nicht weniger beunruhigend als die genannten strukturellen Defizite erscheint die im vorigen Abschnitt angesprochene Skepsis hinsichtlich der normativen Überlegenheit der „europäischen Werte“ und Institutionen. Die mutige Gegenwehr der Ukraine gegen die russische Invasion führt hier zwar zu einem gewissen Umdenken, da dieses Land den Beitritt zur EU (und NATO), also zu den europäischen Institutionen, als für seine Zukunft lebenswichtig erachtet.9 Ebenso erinnern Demokratiebewegungen weltweit (Myanmar, Iran, Hongkong, Belarus) daran, dass Demokratieskepsis, die in Europa Hand in Hand mit einer Europaskepsis geht, vor allem dort verbreitet ist, wo demokratische Grundwerte bereits verwirklicht sind, nicht jedoch dort, wo man ihre Realisierung ersehnt.

4. Nationalismus versus Universalismus: ein (nicht nur) europäisches Dilemma

Die Spannung zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus wurzelt in einem doppelten Dilemma. Die Menschenrechte, einschließlich des demokratischen Rechts auf Partizipation, basieren auf der Annahme ihrer universalen Geltung. Insofern es jedoch keine globale polis gibt, werden sie notwendig innerhalb regional begrenzter Nationen sowie supranationaler Einheiten wie der EU grundrechtlich verwirklicht. Die katholische Sozialverkündigung fordert durchaus folgerichtig seit der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) eine – wie auch immer geartete – Weltautorität. Recht und Institutionen, so wichtig diese für das konkrete Leben von Menschen sind, schaffen zudem, und hier liegt ein zweites grundlegendes Problem, keine Identität und damit Beheimatung. Der von Jürgen Habermas eingemahnte „Verfassungspatriotismus“ ist nur begrenzt emotional attraktiv. Die „Kultur des Sozialismus“ bot verglichen damit ein stärkeres Identifikationspotenzial. Der ideologische Zusammenbruch hinterließ nicht zuletzt aufgrund ideologischer Enttäuschungen ein tiefes gesellschaftliches Misstrauen im Sinne eines postkollektivistischen Syndroms verbunden mit der Sehnsucht nach einer egalitäreren Gesellschaft mit mehr sozialem Zusammenhalt. Was hier von Ostmitteleuropa gesagt wird, trifft – wenn auch in anderer Weise – ebenso auf andere Ländern Europas zu. Das Bedürfnis nach emotionaler Beheimatung wird vom Liberalismus weder in seiner politischen noch in seiner ökonomischen Dimension befriedigt. Beide sind, um nochmals Ralf Dahrendorf zu zitieren, „kalte, ja eisige Projekte“10. In dieses Vakuum stoßen nationalistische Kräfte vor, die Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Dies geschieht vor allem durch nativistische Geschichtskonstruktionen. Diese legitimieren autochthone Sonderwege durch die Fiktion einer russischen, germanischen oder hunnischen Frühzeit, in der das je Eigene seinen unüberbietbaren Ursprung hat. Damit verbindet sich eine ideele wie praktische politische Abkoppelung vom Universalismus. Der Essay des Präsidenten der Russischen Föderation, Vladimir Putin, vom Juli 2021 zeigt dies exemplarisch.11 Damit werden zugleich die potenziell verheerenden politischen Folgen eines derartigen Geschichtsbildes deutlich. Die marxistische Ideologie hatte die nationalistischen Geschichtskonstruktionen des 19. und 20. Jahrhunderts durch das progressistische und universalistische Narrativ einer zukünftigen Weltrevolution und klassenlosen Gesellschaft ersetzt. Ein überzeugendes europäisches Geschichtsnarrativ und entsprechende Gedächtniskulturen, die eine europäische Identität stiften, fehlen hingegen bisher weitgehend. Die Lücke wird durch Nationalismen gefüllt, die die Integrationskraft der EU langfristig auf die Probe stellen.

Denn antieuropäische Parteien machen in allen Ländern Europas heute jeweils andere Nationen für Versagen der EU verantwortlich. Demokratische Prozesse, die auf Konsens, Kooperation und Kompromiss sowie auf der Annahme des Wahrheitsgehalts auch gegnerischer Positionen basieren, werden durch eine polarisierende, ‚manichäische‘ Geisteshaltung in Frage gestellt. Ein Diskurs, der Politik ausschließlich als an Interessen orientierten Gewinn von Macht versteht und nicht als auf Gemeinwohlziele hin orientiertes Handeln, zerstört notwendig deren rationalen Gehalt sowie die ihr eigene Dignität. Nicht mehr Problemlösungen, sondern die Angst vor und die Ablehnung des Anderen werden zu Leitmotiven des Handelns.12 Dies zeigt sich paradigmatisch in den Migrations- und Asyldebatten, in denen die Spannung zwischen dem universalen Anspruch von Menschenrechten und den national/europäisch verankerten Grundrechten sowie die Frage, wer in ihren Genuss kommen soll und aufgrund welcher Kriterien (Sprache, Werte, Aufenthalt), unüberwindbar scheint. Dies führt zu immer schärferen Polemiken und spaltet die europäischen Gesellschaften. Hinzuzufügen ist eine andere, im Westen vielfach übersehene Problematik. In Ostmitteleuropa führt Migration zu einem beachtlichen brain drain qualifizierter Arbeitskräfte, vor allem im Gesundheitssektor, bei gleichzeitig schrumpfender Bevölkerung und damit einhergehenden Ängsten vor dem Verschwinden der eigenen Kultur. Auch dies ist ein Grund dafür, dass – während im westlichen Teil Europas darüber Einhelligkeit besteht – die Wende von 1989/90 in Ostmitteleuropa nur bedingt als Beginn einer Erfolgsgeschichte gesehen wird.

5. Historische Amnesie und die Geisel des Krieges in Europa

In einem persönlichen Gespräch anlässlich eines Besuchs in den 1990er Jahren in Wien meinte Irina Scherbakowa, eine der Gründerinnen von Memorial, jener russischen NGO zur Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, die 2022 den Friedensnobelpreis erhielt: Wenn die sowjetische Zeit nicht aufgearbeitet wird, führt dies längerfristig zum Krieg. Ihre Vorhersage hat sich als prophetisch erwiesen. Die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 hat die politische und wirtschaftliche Situation in Europa grundlegend verändert. Ihre Folgen sind heute ebenso wenig absehbar wie die weitere Entwicklung des Krieges. Es ist jedoch offenkundig, dass sich die innereuropäischen Beziehungen – sicherheitspolitisch, ökonomisch wie im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis – neu formieren. Die Erfahrung, dass der Friede in Europa nicht selbstverständlich ist, schafft eine so seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gekannte tiefgreifende Unsicherheit. Dass der Friedensbruch durch Russland seine Ursache im Versuch einer Geschichtsrevision hat, muss angesichts der vielen in Europa weiterhin bestehenden potenziellen ethnischen Konflikte besonders beunruhigen. Ein weiteres friedliches Zusammenleben in Europa ist demnach nicht nur auf materiell befriedigende Interessenübereinkünfte, sondern vor allem auch auf eine Sicht der Vergangenheit angewiesen, die unter dem ethischen Vorzeichen der Versöhnung steht. Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen. Dieses vielzitierte Diktum des amerikanischen Philosophen George Santayana erweist sich so als nicht voraussetzungslos. Eine Erinnerung der Vergangenheit unter nationalistischen Vorzeichen führt zur (Über-)Betonung des erlittenen Unrechts sowie von Niederlagen und legitimiert das Streben nach einer Revision bestehender Grenzen und nach Rache. Da die meisten Verbrechen des 20. Jahrhunderts unter kommunistischen Regimen nicht thematisiert werden durften, gibt es hier im wahrsten Sinne des Wortes noch mehr ‚Leichen im Keller‘ als in anderen Regionen. Diese unaufgearbeitete kollektive Geschichte wird gegenwärtig von Nationalist:innen dreist instrumentalisiert. Der Krieg in der Ukraine führt – gleichfalls aus historischen Gründen – zudem zu neuen Bruchlinien innerhalb der EU. Er hat die Angst vor dem großen Nachbarn in den ehemals von Russland und der Sowjetunion okkupierten, ex-kommunistischen Gebieten, wie dem Baltikum und Polen, wieder aufleben lassen. Ein Gemisch aus Angst und nicht beglichenen historischen Rechnungen aufgrund jahrzehntelanger sowjetischer Hegemonie lässt die russische Aggression in einem noch düstereren Licht erscheinen, als dies in Westeuropa der Fall ist. Zudem hat Geschichte in Ostmitteleuropa – und dies ist zuerst einmal zur Kenntnis zu nehmen – einen um vieles höheren Stellenwert als in anderen Teilen Europas. Ihre Ausblendung durch eine universalistische marxistische Ideologie, die sich mit dem Anspruch fiktiver Brüderlichkeit verband, schuf zudem ein Gefühl kultureller Enteignung, wie das eingangs analysierte Buch von Krastev und Holmes zeigt. Wie unterschiedlich (und willkürlich) historische Erfahrungen freilich eingesetzt werden, zeigt ein Vergleich zwischen der Geschichtspolitik Polens, die vor allem den deutschen Nationalsozialismus und den russischen Kommunismus anprangert, und jener Ungarns. Die Zeit der sowjetischen Dominanz spielt in ihr kaum eine Rolle. Stattdessen steht die Zerschlagung Großungarns durch den Vertrag von Trianon (1920) im Zentrum. Nicht nur ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst Taxifahrer in Budapest dies als nie überwundenes nationales Trauma beklagen. Die Überzeugung, Opfer der Geschichte zu sein, ist in Ost- und Mitteleuropa als eine der Hypotheken des 19./20. Jahrhunderts verbreitet und belastet unterschwellig die politischen Beziehungen in Europa. Der über weite Strecken progressistischen beziehungsweise technokratischen Ausrichtung europäischer Diskurse fehlt hierfür schlicht das Instrumentarium – und den Gesprächspartner:innen das Gespür. Der Brückenschlag zwischen nationalen Identitäten, die in kollektiven historischen Erfahrungen verankert sind, und dem „Friedensprojekt Europa“ erweist sich jedoch so lange als illusionär, als die unterschiedlichen nationalen Geschichtserfahrungen nicht aufgearbeitet werden. Um hier einen Wandel herbeizuführen, bedürfte es bewusster und weitreichender Anstrengungen. Historiker:innenkommissionen, gemeinsame Geschichtsbücher, Bildungskonzepte (über ERASMUS und ERASMUS+ hinaus) sowie mediale Initiativen (über ARTE hinaus), die ein europäisches Geschichtsnarrativ vermitteln, müssten daher ein wesentlicher Teil des europäischen Projekts sein. Derartige Initiativen blieben jedoch auf wenige Beispiele beschränkt und wurden nie in größerem Umfang in Angriff genommen. Diese Leerstelle bietet Nationalisten aller Couleurs eine offene Flanke und gefährdet die europäische Integration. Der Verweis auf „europäische Werte“ allein erweist sich als unzureichend. Er müsste rückgebunden werden an ein europäisches Narrativ, das die ideell höchst komplexe Geschichte Europas, vor allem auch das Verhältnis von Christentum zur liberalen Kultur der Moderne auf breiter Basis thematisiert.13 Wie schwierig dies ist, zeigen nicht zuletzt divergierende kirchliche Positionen in diesem Bereich. Traumatisierungen durch Unterdrückung, zu der die Korruption von Teilen der Kirchen durch Integration in das kommunistische System gehörte, verhindern bis heute eine effektive Beteiligung der Kirchen an der Aufarbeitung der Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Versöhnung und machen christliche Akteur:innen nationalistisch vereinnahmbar.